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Entstehung und Struktur des indischen Parteiensystems unter der britischen Kolonialherrschaft von Jakob Rösel und Clemens Jürgenmeyer 1 Vorbemerkung zur Parteienbildung Demokratisierungsprozesse und damit die Entstehung offener Mehrparteien- systeme tragen zur Entwicklung und deshalb zu wachsender Autonomie, Un- vorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit von Gesellschaften und der sie kon- stituierenden Gruppen bei. Aber nicht nur das Resultat dieses Prozesses, son- dern auch seine Rahmenbedingungen, Antriebsfaktoren und Formen entzie- hen sich einem einfachen und verallgemeinerungsfähigen Erklärungsmuster. Ein wichtiges, allerdings auf westliche Staaten und Gesellschaften zugeschnit- tenes Modell der Entstehung demokratischer Parteien und Parteiensysteme haben Seymour Lipset und Stein Rokkan bereits 1967 vorgelegt. Vor dem Hintergrund spezifisch europäischer historischer Erfahrungen und Struktu- ren beschreibt dieses Modell die Rahmenbedingungen und Konfliktlinien der Parteienbildung: Prozesse der Parteienbildung finden im Rahmen der nach- einander geschalteten Prozesse des nation-(state-)building und der massiven Industrialisierung statt. Es bestehen wie überall vielfältige Konfliktlinien und -potenziale, aber nur bestimmte bringen zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen, am Ende stabile Parteien hervor. Dabei zeigen sich im eu- ropäischen Kontext vier typischerweise aufeinander folgende Konfliktlinien: Es besteht zunächst eine zwischen expandierendem nationalen Zentrum so- wie lokalen und regionalen, kulturellen und ethnischen Peripherien verlaufende 39

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Entstehung und Struktur desindischen Parteiensystemsunter der britischenKolonialherrschaft

vonJakob Rösel und Clemens Jürgenmeyer

1 Vorbemerkung zur Parteienbildung

Demokratisierungsprozesse und damit die Entstehung offener Mehrparteien-systeme tragen zur Entwicklung und deshalb zu wachsender Autonomie, Un-vorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit von Gesellschaften und der sie kon-stituierenden Gruppen bei. Aber nicht nur das Resultat dieses Prozesses, son-dern auch seine Rahmenbedingungen, Antriebsfaktoren und Formen entzie-hen sich einem einfachen und verallgemeinerungsfähigen Erklärungsmuster.Ein wichtiges, allerdings auf westliche Staaten und Gesellschaften zugeschnit-tenes Modell der Entstehung demokratischer Parteien und Parteiensystemehaben Seymour Lipset und Stein Rokkan bereits 1967 vorgelegt. Vor demHintergrund spezifisch europäischer historischer Erfahrungen und Struktu-ren beschreibt dieses Modell die Rahmenbedingungen und Konfliktlinien derParteienbildung: Prozesse der Parteienbildung finden im Rahmen der nach-einander geschalteten Prozesse des nation-(state-)building und der massivenIndustrialisierung statt. Es bestehen wie überall vielfältige Konfliktlinien und-potenziale, aber nur bestimmte bringen zivilgesellschaftliche Organisationenund Bewegungen, am Ende stabile Parteien hervor. Dabei zeigen sich im eu-ropäischen Kontext vier typischerweise aufeinander folgende Konfliktlinien:

Es besteht zunächst eine zwischen expandierendem nationalen Zentrum so-wie lokalen und regionalen, kulturellen und ethnischen Peripherien verlaufende

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Konfliktlinie, die im Einzelfall regionalistische und ethnische Bewegungen undParteien gegenüber überregionalen Parteien einer nationalen Sammlung undIntegration entstehen lässt.

Sodann zeigt sich eine weitere Konfliktlinie in all jenen Ländern, in deneneine nach wie vor universalistische, politisch und religiös dominierende Kir-chenorganisation, wie z.B. die katholische Kirche, besteht. Diese Linie verläuftzwischen einem expandierenden und laizistischen Staat, der das Monopol derkatholischen Kirche auf Erziehung, ihren Einfluss auf das Rechtssystem undihre gesellschaftliche Vorrangstellung bestreitet, und einer defensiven katho-lischen Kirchenorganisation, die in wachsendem Maße Parallelorganisationenund eine eigene, auf die Sicherung ihrer Einflussgebiete und ihres Status’ aus-gerichtete Partei hervorbringt. Eine solche Konfliktlinie und Parteientwick-lung ist in Staaten, in denen eine erfolgreiche protestantische Revolution zurEntstehung einer protestantischen Nationalkirche, zu einer Trennung staatli-cher und kirchlicher Institutionen und einem auf religiöse Toleranz gegründe-ten gesellschaftlichen Konsens geführt hat, nicht gegeben.

Eine dritte Konfliktlinie entsteht mit dem Einsetzen der industriellen Re-volution. Sie verläuft zwischen Agrar- und Industriesektor und lässt eigenstän-dige Bauernorganisationen und „Agrarparteien “ dann entstehen, wenn natio-nale Parteien oder Unternehmerparteien bäuerlichen Interessen nicht entspre-chen oder Agrareliten nicht kooptieren können.

Der Fortgang und die Vollendung von Industrialisierungs- und Urbanisie-rungsprozessen begründet schließlich die Konfliktlinie zwischen Kapital undArbeit, also Unternehmern und Lohnarbeitern, und lässt zwangsläufig, wennauch in unterschiedlicher Stärke und Konfliktintensität, Gewerkschaftsorgani-sationen und Arbeiterparteien entstehen.

Selbst in dem scheinbar homogenen Milieu westlicher, sich konsolidieren-der und industrialisierender Staaten treten nicht alle Konfliktlinien auf, führenKonfliktpotenziale nicht zwangsläufig zur Bildung entsprechender Parteien,und diese werden von den jeweiligen Konfliktlinien nicht ausschließlich ge-prägt. Eine Abfolge gesamtgesellschaftlicher Konfliktlinien stellt damit Wahr-scheinlichkeiten, aber keine Gewissheiten für eine entsprechende Parteienbil-dung bereit. Hinzu tritt aber, dass diese Parteibildungsprozesse zumindestzwei dynamischen, also die generellen Rahmenbedingungen laufend umgestal-tenden Zusammenhängen ausgesetzt bleiben:

Die bereits entstandenen, vom jeweiligen Ancien Régime bekämpften odertolerierten politischen Bewegungen und Parteien, also die Insider, determi-nieren die terms of trade, also die Chancen, Marktnischen und Spielregelnfür die jeweils Zu-spät-Gekommenen. Das politische System selbst, also dasWahlrecht, das Wahlsystem, die Struktur von Parteien und die demokrati-schen Spielregeln, befindet sich noch in der Entwicklung. Das bedeutet aufdie Parteien gemünzt, dass Insider wie Outsider den Systemausbau einerseits

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mit gestalten und andererseits beständig und umfassend von diesem geprägtwerden.

Mit anderen Worten: Selbst kleine Unterschiede in den historischen Aus-gangsbedingungen dieser Parteienbildungsprozesse, verbunden mit der jeweilsunterschiedlichen Auswirkung der vier Konfliktlinien, mussten auf Dauer so-gar in Westeuropa höchst unterschiedliche demokratische Herrschaftsformenwie auch Parteiensysteme hervorbringen.

Diese die Differenziertheit der Ausführungen von Lipset und Rokkan starkverkürzenden Vorbemerkungen sind notwendig, um deutlich zu machen, dassdas angesprochene Modell selbst im scheinbar überschaubaren europäischenKontext den Prozess der Parteienbildung zwar interpretieren, aber nicht alsDeterminismus rekonstruieren kann. Bei einer Übertragung in die außereuro-päische Welt, hier in das koloniale und postkoloniale Indien, zeigt sich nebender „Unterdeterminiertheit “ des Modells ein weiteres Problem: Es setzt histo-rische Ausgangsbedingungen wie den europäischen Territorialstaat, Entwick-lungsprozesse wie nation-building und Industrialisierung sowie gesellschaftli-che Strukturen wie Amtskirche und Nation voraus, die in einem kolonialenRahmen nicht gegeben sind oder dort zwangsläufig zu anderen Wirkungenführen. Der Tatbestand der kolonialen Unterwerfung erweist sich also als tiefgreifend: Er schließt die Existenz bestimmter Strukturen aus oder gibt ihneneine andere Funktion. Das Modell wird damit mit Rahmenbedingungen undEntwicklungen konfrontiert, für das es eigentlich nicht geschaffen wurde. Dasmacht aber eine Interpretation kolonialer und nachkolonialer Parteienbildungin Indien im Lichte des Modells keineswegs unsinnig. Die Übertragung ineinen kolonialen und nachkolonialen Kontext kann vielmehr dazu beitragen,wesentliche Elemente des Modells so zu reorganisieren, dass außereuropäischeParteienbildungsprozesse interpretiert werden können und deren Unterschied-lichkeit gegenüber europäischen bestimmt werden kann.

Dieser und der folgende Beitrag bilden eine Einheit, indem sie anhand desModells von Lipset und Rokkan die Entstehung und Struktur eines Partei-ensystems in Indien seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu rekonstruierenversuchen. Der erste Beitrag behandelt die Phase der britischen Oberherr-schaft, der zweite die Zeit seit der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947. Daszugrunde gelegte Modell dient dabei als eine Art Orientierungshilfe für dieAnalyse der unterschiedlichen Prozesse, ohne gleich die universelle Gültigkeitvon Verlauf und Struktur von Prozessen der Parteienbildung unterstellen zuwollen.1 Sein heuristischer Wert wird durch diese geographische Beschränkungvielleicht geschmälert, aber keineswegs aufgehoben.

1Die Grenzen der Übertragbarkeit des Lipset-Rokkan-Modells auf Indien werden aus-führlich diskutiert in Rösel/Jürgenmeyer (2001). Auf eine Wiedergabe der Argumente wirdhier verzichtet.

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2 Britische Kolonialherrschaft und indische In-teressenvertretung

Die schiere Größe und die enorme religiöse, kulturelle, ethnische und sozialeVielfalt des Subkontinents, unterschiedliche, vorrangig regional konsolidierteStaatsformen und Geschichtstraditionen und die Form der kolonialen Erfas-sung Indiens mussten hier eventuellen Parteibildungs- und Demokratisierungs-prozessen eine eigenständige Gestalt und Dynamik geben. Der Subkontinent,traditionell von Dutzenden von Regionalreichen beherrscht und politisch wiekulturell von diesen geprägt, wird von der Mitte des 18. bis zur Mitte des19. Jahrhunderts von einer britischen Monopolhandelsgesellschaft, der EastIndia Company, zu weiten Teilen militärisch erobert oder durch Verhand-lung bzw. Beschluss annektiert. Die militärische und administrative Erfas-sung bleibt aber unvollständig, da zwei Fünftel des Territoriums und etwasüber ein Fünftel der Bevölkerung Südasiens in den Princely States und da-mit außerhalb des direkten britischen Herrschaftsbereiches verbleiben. Nachdem Großen Aufstand von 1857/58 bis zur Unabhängigkeit und Teilung desSubkontinents 1947 tritt die British Raj an die Stelle der Company Raj, unddie britische Beamtenelite legt von nun an die Rahmenbedingungen fest, in-nerhalb deren ein bürokratisches und technisches state-building, ein kolonialtoleriertes ebenso wie manipuliertes nation-building, Prozesse der sozialen undpolitischen Mobilisierung und schließlich der Parteibildung und einer Demo-kratisierung von oben vorangetrieben oder gesteuert werden.

Eine an Lipset/Rokkan orientierte Einschätzung dieser jetzt nachhaltigenModernisierungsprozesse müsste eigentlich zu dem Ergebnis kommen, dass zu-nächst Prozesse einer infrastrukturgestützten, bürokratischen und zentralisie-renden Territorialerfassung regionale, ethnische oder religiöse Abwehrhaltun-gen und Widerstandsbewegungen auslösen. Diesem Prozess folgt im Maßstabder Durchsetzung eines nicht nur kontrollmächtigen, sondern auch laizisti-schen Staates die Gegenwehr großer organisierter Glaubensgemeinschaften,und dieser Mobilisierung, Organisation und Interessenartikulation folgen wie-derum in dem Maße, in dem Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozesseauftreten, diejenige von Agrareliten oder ländlichen Magnaten und am Endediejenige eines industriellen (Lumpen-)Proletariats. Weder diese Abfolge nochdiese einfachen Wirkungszusammenhänge sind in Britisch-Indien gegeben. DieGröße und Heterogenität Indiens, das späte Einsetzen und damit die fortlau-fende Gleichzeitigkeit der Prozesse, die relative Bedeutungslosigkeit von Urba-nisierung und Industrialisierung und der immer ausschlaggebende Tatbestandkolonialer Beherrschung – also der unübersehbare Interessen- und Identitäts-gegensatz zwischen Herrschern und Beherrschten – verhindern eine einfacheProzessabfolge und gestalten die eventuellen Wirkungszusammenhänge neuund unvorhersehbar.

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Die Größe Britisch-Indiens bringt es unter anderem mit sich, dass dieKontroll- und Zentralisierungstendenzen nicht von einem kolonialen Zentrum– zuerst Calcutta, später New Delhi –, sondern vorrangig von den Zentren deradministrativen Großeinheiten, den Presidencies, ausgehen. Regionale, eth-nische oder religiöse Widerstandsbewegungen gewinnen damit eine Doppel-funktion. Während sie auf der gesamtindischen Ebene als Abwehrreaktion ge-genüber zentralisierenden Erfassungs- und Modernisierungsprozessen geltenkönnen, können sie in den einzelnen Presidencies bzw. Provinzen als bewusstoder unbewusst vorangetriebene Prozesse eines etwa bengalischen oder ta-milischen nation-building eingeschätzt werden. Als Prozess eines regionalennation-building werden sie so den Widerstand noch kleinerer ethnischer Ge-meinschaften oder Subregionen wecken.

Die Ausdehnung und vor allem die Heterogenität Britisch-Indiens, also dasVorherrschen der kleinen vor den großen Traditionen, bewirken zudem, dassdie Durchsetzung eines über den religiösen Gemeinschaften stehenden laizisti-schen Staates keine und wenn, dann zumindest ganz unterschiedliche Reak-tionen auslöst. Hinduismus und Islam sind keine bürokratischen, amtscharis-matischen Organisationen. Sie zerfallen in zahllose lokale und soziale Milieus,deren Mitglieder mit den fremdgläubigen Nachbarn mehr gemeinsam habenals mit dem Glaubensbruder in einer anderen Region. Hinzu kommt, dass derHinduismus aufgrund seiner – gemessen an einer katholischen Amtskirche –Organisationsschwäche immer zur religiösen Toleranz verpflichtet war, eineAdaptionsstrategie, bei der ihm der indische Islam weitgehend gefolgt ist. Ei-ne koloniale Fremdherrschaft, die aus Gründen der Herrschaftsbewahrung ei-nem im Wesentlichen passiven Säkularismus folgt, löst damit keine zwingendeund eindeutige Gegenwehr aus. Zeigen sich dennoch religiöse – reformerische,restaurative oder fundamentalistische – Mobilisierungen, so sind es Minder-heitenbewegungen, die nicht von einem Laizismus, sondern von der kolonialenFremdherrschaft und Überlegenheit ausgelöst werden. Diese Bewegungen set-zen darauf, ihre jeweilige Hindu- oder Muslimgemeinschaft so modernisierenund organisieren zu können, dass am Ende eine eventuelle Hindu- oder Mus-limnation den Kolonialherren gleichberechtigt zur Seite oder an deren Stelletreten kann.

Eine grundlegende ökonomische Modernisierung – die Durchsetzung derGeldwirtschaft, eines Grundstückmarktes, der Warenwirtschaft –, aber nichteine massive Industrialisierung und Urbanisierung lässt aufgrund der GrößeIndiens und der kolonialen Rahmensetzung wiederum andere soziale und po-litische Reaktionen, Identitätsbestimmungen und Organisationen entstehen:England will in Britisch-Indien Industrieprodukte absetzen, es kann und willauf dem Subkontinent keine Industrialisierung auslösen. Damit fehlt auch dasräumliche, soziale und kulturelle Korrelat eines solchen Prozesses, eine mas-sive Urbanisierung. Eine begrenzte Industrialisierung geht überwiegend von

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hinduistischen Händlerfamilien und -kasten aus, sie stützt sich aber auch aufKapital, das die britischen Agency Houses bereitstellen und das zum Auf-bau eines Bergwerks- und Teeplantagensektors beiträgt. Die Kolonialmachtlöst lediglich eine – ihren Herrschaftsimperativen entsprechende – begrenzteUrbanisierung aus: Mit den Kolonialzentren Calcutta, Madras, Bombay undNew Delhi entstehen Primate Cities, von denen aus Britisch-Indien erfasst undbeherrscht sowie der Warenaustausch organisiert wird. Auf der Distriktebeneschließlich stützt sich die Herrschaft auf die Kutchery Towns, die Distriktzen-tren, zumeist ehrwürdige Klein-, Tempel- oder Residenzstädte.

Der schwachen Urbanisierung und Industrialisierung müsste damit, so ei-ne plausible Erwartung, eine ebenso schwache oder fehlende Konfliktlinie zwi-schen organisiertem Industrieunternehmertum und Agrariern und zwischenArbeitgebern und Arbeitnehmern entsprechen. Organisierte und eventuell ein-flussreiche Agrarlobbys, -organisationen und -parteien müssten ebenso fehlenwie starke Gewerkschaften und kommunistische oder sozialistische Parteien.Auch hier zeigt sich, dass die Größe und Komplexität Indiens, vor allem aberder Grundtatbestand der Kolonialisierung, unterschiedliche Kontexte bildenund andere Wirkungszusammenhänge auslösen.

Der westliche Territorialstaat kann sich im Prozess administrativer Expan-sion und bürokratischer Konsolidierung auf eine Vielzahl alter und immer wie-der neuer Träger, Eliten und Klientelgruppen stützen. Nicht so der kolonialeStaat, insbesondere einer von der Größenordnung Britisch-Indiens. KolonialeHerrschaft lässt sich angesichts der winzigen Zahl britischer Beamter hier nurausweiten und konsolidieren, wenn eine mehrheitlich aus Einheimischen rekru-tierte und in die Distrikte hineinreichende Kolonialbürokratie errichtet wirdund wenn – weitaus bedeutsamer – die Masse der städtischen und regiona-len Eliten Indiens bereit ist, die koloniale Herrschaft zu ertragen, zu tolerierenund zu nutzen. Diese Eliten sind aber in dieser großen und alten Bauerngesell-schaft überwiegend Agrareliten. Die auf Berechenbarkeit und Stabilität, nichtvorrangig auf Entwicklung und Effizienz angewiesene Kolonialverwaltung hatvon Anfang an den Interessenausgleich mit diesen Eliten angestrebt, sie hatden Meinungsaustausch mit deren Vertretern kultiviert und sie in das Systemder Verwaltung und der politischen Beratung kooptiert. Gleichzeitig hat siedie Bildung entsprechender Organisationen und Parteien mit unterstützt. Re-gionale Agrarierverbände entstehen damit nicht in Abwehr einer bedrohlichenIndustrialisierung und Urbanisierung, sie entstehen, weil dominante Kasten,ländliche Magnaten und Großgrundbesitzer ihre Macht und ihr Einkommenim Schatten der Kolonialmacht maximieren wollen und die Kolonialmachtihre wichtigsten Ansprechpartner und Stabilitätsgaranten organisiert sehenmöchte. Im Gegenzug entstehen kleine, aber wort- und einflussreiche Unter-nehmerorganisationen, einerseits in Abwehr der Dominanz dieser Agrarver-bände, andererseits aus eben dem gleichen Kalkül: Auch diese Industrie- und

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Handelsunternehmer wollen ihre Stellung absichern und ausbauen, und dieKolonialmacht will diese für die Infrastruktur, den Warenaustausch und diefiskalische Entwicklung der Städte unverzichtbare Minderheit organisiert se-hen.

Vergleichbares gilt für die in den Industrieenklaven der Primate Cities ent-standenen kleinen und oft zersplitterten Gewerkschaften. Sie sind numerischbedeutungslos, aber ihre Präsenz in den kolonialen Zentrumsstädten und derTatbestand, dass sie in einem kolonialen Herrschafts- und Wirtschaftssystemauftreten, kompensieren die fehlende Bedeutung: Die Kolonialmacht beziehtihre Autorität und Machtfülle aus der Allianz mit der Agrarelite, sie stütztsich aber, was ihre physische Präsenz, administrative Effizienz und militäri-sche Gewalt betrifft, auf die Städte. Der koloniale Kontext und die Zwängeder kolonialen Herrschaftssicherung führen zu einer Situation, in der die ent-lang der Konfliktlinie „Kapital vs. Arbeit “ auskristallisierten Arbeitgeber- undArbeitnehmerorganisationen, obwohl statistisch unbedeutend, strategisch be-deutsam werden.

Vier das Lipset/Rokkan-Modell konstituierende Prozesse – territoriale Er-fassung, Durchsetzung eines Laizismus, Urbanisierung und Industrialisierung– treten also in Britisch-Indien nicht nur unvollständig und verzögert, sondernwegen der Größe Indiens und der kolonialen Herrschaftssituation jeweils ab-gewandelt auf. Die Wirkungen, die von den vier Prozessen bezüglich einer po-litischen und sozialen Mobilisierung und Organisationsbildung ausgehen, sinddeshalb, verglichen mit dem Lipset/Rokkan-Modell, anders, widersprüchlichund unvorhergesehen.

Ein ideales, allerdings auch in Westeuropa selten vorliegendes Ablaufmo-dell hätte parallel zur Konfliktlinie „Zentrum vs. Peripherie “ eine nationaleSammlungsbewegung sowie ethnische und regionalistische Gegenbewegungen,mit der Konfliktlinie „Staatslaizismus vs. organisierte Religionsgemeinschaf-ten “ eine laizistische Bewegung und auf der Gegenseite defensive oder offen-sive Kirchenparteien entstehen lassen müssen. Entsprechend der Konfliktlinie„Urbaner Sektor und städtische Interessen vs. Agrarsektor und Agrarinteres-sen “ wären spezifisch bürgerliche und unternehmensorientierte Parteien einer-seits und Verbände der Bauern und Magnaten andererseits entstanden. Mitder durch den Fortgang der Industrialisierung entstandenen vierten Konflikt-linie „Industriekapital vs. Industriearbeit “ wären schließlich Interessenverbän-de und Parteien der Arbeitgeber einerseits und der Arbeitnehmer andererseitsentstanden.

In Indien aber fehlt sowohl diese Sequenz als auch der auf jeder Stufe ope-rierende Zwang der wechselseitigen Interessenabgrenzung und spezifischen In-teressenbestimmung. Deshalb soll vor dem Hintergrund gleichzeitiger sozialerund politischer Modernisierung und Mobilisierung im Folgenden die Bildungvon Interessenorganisationen, die Entstehung der Unabhängigkeitsbewegung

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und kolonialer Demokratisierungsprozesse sowie am Ende die Entstehung vonParteien geschildert werden.

Die Kolonialmacht, die Nordindien nach dem Großen Aufstand 1858 müh-sam zurückerobert, liquidiert nicht nur den Anachronismus der Company Rajund macht Indien zur Kronkolonie, sie leitet aus dem Aufstand auch ver-schiedene, für die Zukunft handlungsbestimmende Herrschaftsmaximen ab.Da die Kolonialmacht davon überzeugt ist, dass die Muslime vorrangig fürden Aufstand verantwortlich sind und, im Gegensatz zu den Hindus, fortdau-ernd einem Glauben anhängen, der es ihnen verbietet, gegenüber fremdgläu-bigen Herrschern vollständig loyal zu sein, optiert die Kolonialmacht jetzt füreine getrennte Behandlung dieses Fünftels der indischen Bevölkerung. Nach-dem sie zunächst marginalisiert wird, wird der Muslimelite seit 1870 beson-dere Förderung zuteil. Indien gilt nicht mehr als Heimstätte hunderter vonEinzelgemeinschaften und Sekten, Kasten und Regionalgruppen, über derenfriedlichen Umgang und Austausch die Kolonialmacht zu wachen hat, Britisch-Indien gilt jetzt vielmehr als die Heimat zweier Nationen, der Hindus und derMuslime, deren Interessen nicht harmonieren können und sollen. Die beidenNationen, „separate but equal “, sollen von der Kolonialmacht in der Balancegehalten werden, damit die Kolonialherrschaft nicht noch einmal durch dengemeinsamen Aufstand einzelner Sektionen beider Gruppen erschüttert wird.Die Kolonialmacht ist des Weiteren davon überzeugt, dass eine Serie rascher,im Kern laizistischer und sozialer Reformen mit zu dem Großen Aufstandbeigetragen hat. Diese Reformen hatten ihrer Meinung nach gerade jene re-ligiösen, politischen und vor allem agrarischen Eliten verunsichert, auf derenGefolgschaft sich die British Raj unbedingt stützen musste. Reformen soll-ten deshalb künftig nicht vermieden werden, aber sie sollten sich auf ein Zielausrichten, mit dem eine Interessenkonvergenz zwischen Kolonialmacht undAgrarelite gesichert werden könne.

Dies und die generelle Sicherung eines Herrschaftskonsenses zwischen denländlichen Eliten und der Kolonialmacht setzen neue Formen der Kontakt-aufnahme, Beratung und Elitenkooptation voraus. Die Kolonialmacht öffnetjetzt fast alle Beratungsgremien auf Distrikt-, Provinz- und zentraler Ebenefür sogenannte Appointed Members. Ernannt werden native gentlemen, diefür eine jeweils führende Kaste oder strategische Interessengruppe sprechenkönnen, die über einen angemessenen Grad westlicher, zumeist juristischerBildung verfügen und insgesamt als loyal gelten. Die Kolonialmacht weiß aberauch seit dem Aufstand, dass es nicht ausreicht, einzelne Vertreter lokaler Ka-sten und Interessenvereinigungen zu hören, sondern dass es vielmehr daraufankommt, die großen agrarischen Interessengruppen regional, auf der Ebeneeiner ganzen Presidency, und dabei sowohl kasten- als auch religionsübergrei-fend zu organisieren. Nur so kann sie sich auf das Gewicht der Meinungen

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verlassen und sich auf eine Organisation stützen, die ihre jeweiligen Gesetzeund Reformen trägt oder zumindest toleriert.

Der Ausbau von Eisenbahn, Post und Telegrafie, die Zunahme der liberalprofessions und der für sie notwendigen westlichen Bildung, die Gründungvon Kastenhotels und Zeitungen, die Ausbreitung eines äußerlich britischenVereinswesens, alle diese Entwicklungen haben aber seit der Mitte des 19.Jahrhunderts dazu beigetragen, dass zumindest innerhalb der PresidenciesNetzwerke von Verwaltungs-, Markt- und Zentralstädten entstanden sind, indenen sich eine regionalsprachige oder anglophone Provinzelite begegnet undfür bestimmte Zwecke organisieren kann. Diese Organisationsneigung geht inzwei Richtungen, in eine von der Kolonialmacht begrüßte und in eine eherbeargwöhnte. Die größten Grundbesitzer – die Rajas, ländlichen Magnatenund Absentee Landlords, aber auch die Führer dominanter Kasten – gründenformal kasten- und religionsneutrale Verbände, mit deren Hilfe sie Einfluss aufeine Gesetzgebung nehmen wollen, die eventuell ihre lokale Machtbasis unter-gräbt. Obwohl viele Mitglieder ihren ausgedehnten Besitz allein der machtpo-litischen Entscheidung der East India Company verdanken, Grundsteuerpäch-ter durch einen Federstrich zu Großgrundbesitzern zu erheben, gelten sie inden Augen der britischen Beamtenelite als „born to rule “ und als unverzicht-bares Fundament der Kolonialherrschaft. Mit nur geringer Sympathie könnendagegen die zahlreichen Interessenvereinigungen sowie die Kulturorganisatio-nen der liberal professions, der Richter, Anwälte, Ärzte, aber auch die Händlerrechnen.

Diese Vereinigungen werden getragen von den gebildeten anglophonen Mit-gliedern der eigenen Kolonialbürokratie, die entsprechend den Verwaltungs-zwängen und Entwicklungsaufgaben immer weiter anwächst. Vor allem daskoloniale Rechtssystem hat mit seinen Gerichtshöfen und Verwaltungsstättenneue Machtarenen, Pfründen und Berufe geschaffen, in die die traditionellenBildungsschichten und oft der Nachgeborene einer Großgrundbesitzerfamiliedrängen. Die zunehmende Organisations- und Artikulationsbereitschaft einesPersonals, das erst im Schatten der britischen Kolonialherrschaft entstandenund notwendig geworden ist, erfüllt die britische Kolonialelite aber mit Ab-scheu: Diese „braunen Herren “, Brown Sahibs, verfügen über keine traditio-nell legitimierte Stellung, kein Land und keine ländlichen Gefolgschaften. Siesprechen damit nur für sich und verbreiten unter den Schlagworten improve-ment, education und social up-lift– weniger der teeming masses of India alsihrer eigenen Familien – Unruhe in einer paternalistischen Verwaltung. DieKolonialmacht ist aber klug genug zu wissen, dass sie diese in und um ih-ren Apparat entstandenen Interessengruppen nicht verbieten kann, sondernsteuern muss.

In dieser Situation einer zunehmenden Organisation der einflussreichenGroßgrundbesitzerinteressen und der Artikulation städtisch gebildeter, büro-

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kratischer und merkantiler Einzelinteressen wird 1885 eine erste lose, im An-spruch gesamtindische politische Interessenvereinigung gegründet, der IndianNational Congress. Die Gründung war von einem pensionierten hochrangi-gen britischen Mitglied der Kolonialverwaltung selbst betrieben worden. Al-len Octavio Hume hoffte, eine solche Vereinigung könne einen berechenbarenund konstruktiven Meinungsaustausch zwischen den gesamtindisch legitimier-ten und jetzt sichtbaren indischen Interessenvertretern und der Kolonialmachtetablieren. Diese Erwartung erweist sich als richtig, und es ist gerade dieserErfolg, der, je nach Standpunkt, den Beginn eines genuinen Unabhängigkeits-kampfes entweder 30 Jahre lang verhindert oder aber langsam und unmerklichvorbereitet.

Der Indian National Congress kristallisiert sich während des jeweiligenJahrestreffens in einer der großen Städte Indiens für wenige Tage heraus. Übereinen bürokratischen Apparat, eine Parteizentrale und eine berechenbare Dis-ziplin oder Mitgliedsbeiträge verfügt der Congress nicht. Seine lose Struktur,sein „Ereignischarakter “ und seine in seiner Symbolik, nicht in seiner Akti-vität begründete Langlebigkeit machen es aber möglich, dass eine Vielzahlregionaler Einzelpersönlichkeiten und Organisationen sich ihm zuwenden so-wie Rivalitäten und Konflikte in regionalen Einzelorganisationen zunehmendunter Berücksichtigung des Stellenwertes der Konkurrenten in der Dachor-ganisation entschieden werden. Die Jahrestreffen und die eher symbolischeMitgliedschaft geben den aus den unterschiedlichsten lokalen und regiona-len, sozialen und beruflichen Milieus, aber immer aus den höheren Kastenstammenden anglophonen Aktivisten des Congress zum ersten Mal eine ge-samtindische Identität. Allein es fehlen die führenden Muslime, denn die vorallem auf die United Provinces konzentrierte Muslimelite hat sich seit 1906 inenger Absprache mit der Kolonialmacht eine eigenständige politische Platt-form geschaffen: die All-India Muslim League. Damit sind zwei rivalisierende,aber unterschiedlich starke Honoratiorenbewegungen bereits vor Beginn desUnabhängigkeitskampfes und der Parteienbildung entstanden.

Beides setzt dann endgültig, aufgrund einer unvorhersehbaren Kette vonEreignissen und Entscheidungen, während und unmittelbar nach dem erstenWeltkrieg ein. Britisch-Indien hat die britischen Kriegsanstrengungen poli-tisch, militärisch und wirtschaftlich in starkem Umfang unterstützt. DieseLoyalität der einheimischen Elite und des Congress will die Kolonialmachthonorieren, und so beginnt sie bereits vor Ende des Krieges mit der Vorberei-tung einer ersten Dyarchie, Doppelherrschaft genannten Reformmaßnahme.Das Projekt sieht vor, auf der Ebene der Provinzen, nicht des Zentrums, einerwinzigen wirtschaftlichen und gebildeten Elite – weniger als 3% der erwach-senen Bevölkerung in den Provinzen Britisch-Indiens – eine politische Mitbe-

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stimmung einzuräumen.2 Dyarchie wird die Reform deshalb genannt, weil aufder einen Seite gewählte Provinzparlamente von nun an mit Indern besetz-te Provinzregierungen stellen sollen, die aber lediglich für die wirtschaftlicheEntwicklung und für die für die Parteienpatronage wichtigen Ressorts – Land-wirtschaft, Bau, Bildung und lokale Selbstverwaltung – zuständig sind, undweil auf der anderen Seite die herrschaftsstrategischen Ressorts – vor allemJustiz, Finanzen, Polizei und Presse – nach wie vor vom ernannten britischenGouverneur und seinem Exekutivrat kontrolliert werden. Nichts liegt den Be-gründern dieser Reformmaßnahme ferner als eine künftige Unabhängigkeit In-diens. Die Doppelherrschaft zielt vielmehr darauf, die für die Kolonialmachtstrategischen Eliten stärker in die Verantwortung zu nehmen, ihnen neue Be-reiche des politischen und wirtschaftlichen Engagements und der Patronagezu öffnen und sie eventuell gegeneinander auszuspielen.

Ohne es vorauszusehen, setzt die Kolonialmacht mit dieser Demokratisie-rung von oben einen Prozess in Gang, der insbesondere durch das AuftretenM.K. Gandhis und die von ihm betriebene Umwandlung des Congress fortanbeständig radikalisiert wird und drei Jahrzehnte später in die Unabhängig-keit Indiens mündet. Noch während des Ersten Weltkrieges war Gandhi ausSüdafrika nach Indien zurückgekehrt und von der Congress-Elite eher mitBangen als mit Begeisterung empfangen worden. Seitdem hatte er erfolgloseinen Interessenausgleich zwischen Congress und Muslimliga im Rahmen dessogenannten Lucknow-Paktes (1916) zu erzielen versucht. Im Rahmen der so-genannten Khilafat-Agitation hatte er auf Dauer ebenso erfolglos versucht,die wachsende Kluft zwischen orthodoxen Muslimen und den überwiegendhinduistischen Congress-Anhängern zu überbrücken.

Gandhi hatte seine Strategie des zivilen Ungehorsams den besonderen Be-dingungen des Subkontinents inzwischen angepasst und sich eine nur ihm ei-gene gesamtindische Autorität, eigene Finanziers und Gefolgsleute gesichert.Er kann deshalb sowohl von außen wie von innen auf den noch immer loseorganisierten Congress einwirken. Gandhi lehnt die britischen Reformen abund fordert statt dessen in einem ersten gesamtindischen Satyagraha-Feldzugdie sofortige Unabhängigkeit. Die Agitation bricht zwar nach wenigen Mo-naten zusammen, aber Gandhi hat der zerstrittenen und handlungsunfähi-gen Congress-Elite und der Kolonialmacht nun bewiesen, dass er der einzigeFührer von gesamtindischer Statur ist, der Mitglieder der unterschiedlich-sten Sprach-, Regional- und Kastengruppen hinter das Ideal der Unabhängig-keit, einer politisch und religiös gefärbten „Selbstherrschaft “ (Svaraj), scharenkann.

2Die Zahl der Wahlberechtigten betrug 5,34 Mio. im Jahr 1920 und 6,375 Mio. im Jahr1931. Die Gesamtbevölkerung belief sich in den Jahren 1921 und 1931 auf 318,9 bzw. 352,84Mio. In der Zeit von 1909 bis 1919 durften lediglich 31.727 Personen an den Wahlen zu denLegislative Councils teilnehmen. Bis 1946 stieg dann die Zahl der Wahlberechtigten auf 41,0Mio an. Siehe: Morris-Jones 1957, S.72; Rothermund 1965, S.88; Natarajan 1972.

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Ende 1920 gibt Gandhi auf der Grundlage einer Serie von Reformmaßnah-men dem Congress eine demokratische Satzung und Organisationsstruktur.Es dauert allerdings noch Jahre und verschiedene gesamtindische Satyagraha-Kampagnen, bis sich diese Bürokratisierung und Demokratisierung des Ap-parates auch auf der Ebene der Distrikte oder Kleinstädte durchsetzt. Damitist der Congress die erste und über Jahrzehnte hinweg einzige politische Or-ganisation, die über einen gesamtindischen Charismatiker, eine indienweitepolitische Mobilisierungschance und Mechanismen der internen Konfliktbe-wältigung verfügt. Ihm fällt wie von selbst die Führungsrolle im Unabhängig-keitskampf zu. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kann er die Ver-handlungsrunden mit der Kolonialmacht auf indischer Seite dominieren unddadurch den Prozess einer „Demokratisierung von oben “ vorantreiben und fürsich nutzbar machen.

Dieser sich über fast drei Jahrzehnte erstreckende Prozess stellt den Con-gress vor immer wieder neue Probleme: Er muss sich intern konsolidieren, ermuss seine dominante Rolle als Verhandlungspartner der Kolonialmacht fort-während verteidigen und er muss die zwangsläufig zentrifugalen Tendenzen,hervorgerufen durch seine Massenmobilisierungen, immer wieder zurückdrän-gen. Schließlich muss er die mächtigen Großgrundbesitzer, gegen die er imRahmen seiner Agitation „antiimperialistisch “ Front macht, um die Masseder verarmten Bauern zu gewinnen, in seiner Organisation halten.

Auf diesen fortwährenden und nie unter seiner alleinigen Kontrolle stehen-den Balanceakt des Congress kann im Folgenden nicht eingegangen werden. ImLichte des Lipset/Rokkan-Modells soll aber gezeigt werden, welche Wirkungenvon der politischen Vorrang- und expansiven Zentralstellung des Congress aufdie Entstehung des indischen Parteienspektrums ausgingen. Die Kongresspar-tei beteiligt sich schließlich trotz der anfänglichen Ablehnung Gandhis an denunter der Dyarchie durchgeführten Wahlen, und er beteiligt sich vorbehaltlosan den zwei unter einem erweiterten Reformwerk seit 1936/37 durchgeführ-ten Wahlrunden. Im Rahmen dieses Reformwerks, des Government of IndiaAct 1935, erhält rund ein Fünftel der erwachsenen indischen Bevölkerung inden Provinzen Britisch-Indiens bereits das Wahlrecht, und die Parteien, alsodie von ihnen gestellten Provinzregierungen, erhalten jetzt die volle Entschei-dungsgewalt über alle den Provinzen zustehenden Ressorts.

Die Kongresspartei operiert damit sowohl durch immer wieder neue Kam-pagnen als auch innerhalb des von der Kolonialmacht ausgelösten, aber baldnicht mehr kontrollierten Demokratisierungsprozesses. Im Verlauf dieses Pro-zesses kann sie ihre Vorrangstellung durch den Gewinn von Stimmen unterBeweis stellen und durch Machtausübung beständig ausbauen. Sie kann abertrotz ihrer Fähigkeit zu ideologischer Expansion, Toleranz und Integrationnicht verhindern, dass außerhalb ihrer Organisation alte Konkurrenten fort-bestehen, neue sich bilden oder im Einzelfall eigene Fraktionen sich temporär

52 Parteiensystem unter der britischen Kolonialherrschaft

oder auf Dauer zu selbstständigen Parteien formieren. Die vier nach Lip-set/Rokkan für die Parteienbildung konstitutiven Konfliktlinien werden dabei,wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung und unerwarteter Konstellation,für die Kongresspartei zu einem fortwährenden Integrationsproblem. Im Fol-genden soll die Entwicklung der Kongresspartei und die Entstehung weitererParteien entlang der vier Konfliktlinien des Lipset/Rokkan-Modells dargestelltwerden.

3 Die vier für Parteibildungen konstituierendenKonfliktlinien

3.1 Zentrum vs. Peripherie

Die Kongresspartei ist eine nationale und antikoloniale Sammlungsbewegung.Sie muss also bei allen Provinzwahlen und gegenüber der Kolonialmacht un-ter Beweis stellen, dass sie die eine und religiös ungeteilte indische Nationrepräsentiert. Sie verfügt aber in erster Linie in Nordindien, vor allem in denUnited Provinces, dem heutigen Uttar Pradesh, und seit dem Aufstieg Gand-his in Gujarat über eine konsolidierte Basis. Seine seit 1920 zunehmende Prä-senz und Mobilisierungskraft können, müssen allerdings nicht, in den übrigenRegionen Abwehrreaktionen und Gegenbewegungen auslösen. Die Kongress-partei muss diese Kräfte, ihre Forderungen, Politik oder Regionalidentitätenmarginalisieren, absorbieren oder kopieren, will sie ihren nationalen Allein-vertretungsanspruch nicht gefährden. In jeder der Provinzen stellt sich dasProblem anders: In Südindien, in der Madras Presidency, haben sich seit demErsten Weltkrieg ein traditioneller tamilischer Regionalismus und ein neu-er Antibrahmanismus politisch organisiert. Die Justice Party, getragen vonnichtbrahmanischen Rajas und Honoratioren, ist entstanden, die den Brah-manen ihre dominante Stellung im Kolonialdienst neidet, Angst hat, künftigvon der Kongresspartei majorisiert zu werden und deshalb gegen sie als ei-ne von Nordindien und Brahmanen dominierte Organisation polemisiert. DieKongresspartei kann zwar diese aufgrund exzessiver Korruption und Patrona-ge zerfallende Honoratiorenpartei rasch marginalisieren, aber das ideologischeAntriebsmoment, die Abwehr der vorgeblich den Süden bedrohenden nordin-dischen Bania-Brahmin-Allianz, kann von ihr nicht absorbiert, entpolitisiertund zum Aufbau einer eigenen „südindischen “ Authentizität und Wahlkampf-folklore verwendet werden. Eine neue nach dem Vorbild der Kongressparteimassendemokratisch organisierte, aber regionale Partei wird diesen Tamilna-tionalismus später nutzen, um gegen Ende der 1960er Jahre der Kongresspar-tei in Tamil Nadu die Macht zu entreißen.

Jakob Rösel und Clemens Jürgenmeyer 53

In der größten, bevölkerungsreichsten und lange Zeit strategisch entschei-denden Bengal Presidency liegen die Probleme wiederum anders. Eine ausSchreibern und Brahmanen gebildete Intelligenz und einheimische Beamten-schaft hat sich hier seit dem 19. Jahrhundert als Avantgarde einer nicht nurbengalischen, sondern auch indischen kulturellen und politischen Erneuerunggesehen. In dem Maße, in dem sie einsehen musste, dass nicht sie, sondern dieeinflussreichen Anwälte und Magnaten Nordindiens, am Ende gar ein Hindisprechender und volkstümlicher Mahatma Gandhi die Kongresspartei domi-nierten, hatte sich diese Bhadralok genannte Elite von der Kongressparteiabgewandt und ihre Unterstützung regionalen Parteien und einer stabilen re-gionalen Parteienkoalition zugesichert. Da in Bengalen der religiöse Gegensatzzwischen Hindus und Muslimen von einer gemeinsamen Bengali-Identität nochlange Zeit überwölbt wird, gelingt es einer bengalischen Parteienkoalition, biskurz vor den letzten Wahlen unter kolonialer Herrschaft 1946 die regionale po-litische Arena zu dominieren und der Eskalation kommunalistischer Massakerzwischen Hindus und Muslimen entgegenzutreten.

Der frühzeitig radikalisierten bengalischen Intelligenz erscheint der Konsti-tutionalismus der Kongresspartei anachronistisch und die religiös eingefärbteSatyagraha-Strategie von Gandhi wirkungslos. Die 1920 von einem Bengalengegründete Communist Party of India (CPI) nehmen die Extremisten inner-halb dieser Gruppe sehr rasch als eine sowohl effektivere als auch regionalansprechendere Alternative wahr. Im Rahmen oder im Schatten des regio-nalen Parteienbündnisses etabliert sich die Kommunistische Partei deshalbfrühzeitig als eine sowohl sozialistische als auch regionale Partei, die sich bisheute mehr oder weniger auf eine grundbesitzende, linksorientierte Intelligenzstützt.

Wiederum eine andere Kräftekonstellation findet sich im in ökonomischerund militärischer Hinsicht für den Erhalt der British Raj unverzichtbarenPunjab. Hindu- und Muslimbevölkerung halten sich hier, wie in Bengalen,fast die Waage. Daneben besteht die kleine, aber einflussstarke Minderheit derSikhs. Der Punjab ist der Kornspeicher Britisch-Indiens. Seine Agrarelite, diesich nicht nur aus Großgrundbesitzern und Magnaten, sondern auch aus ausder Jat-Kaste stammenden „Kulaken “, erfolgreichen Mittel- und Großbauern,zusammensetzt, ist noch nicht religiös gespalten. Dies macht die Bildung einerreligiös neutralen regionalen Partei, der Unionist Party, möglich, die bis kurzvor der Unabhängigkeit fast durchgängig an der Macht bleibt und mit der sichdie Kongresspartei ebenso wie die Muslimliga bis zu der alles entscheidendenWahl 1946 arrangieren muss. Eher im Schatten der Unionist Party ist zugleichseit den 1920er Jahren eine religiöse Protestbewegung und spätere Partei derSikhs, die Akali Dal, entstanden. Bedeutung gewinnt diese religiöse Parteiaber erst nach der Unabhängigkeit.

54 Parteiensystem unter der britischen Kolonialherrschaft

In den drei großen Presidencies trifft die Kongresspartei damit auf re-gionale Abwehrreaktionen oder Parteien, die ihren Einfluss langfristig oderkurzfristig zurückdrängen und ihren nationalen Führungsanspruch negierenoder relativieren. In allen drei Presidencies entstehen oder bestehen regiona-le parteipolitische Sonderkulturen, die sich nach der Unabhängigkeit in altenoder neuen Formen entfalten: Im Punjab wird nach der Unabhängigkeit undvor allem nach der Schaffung eines Gliedstaates für die Sikhs die Akali Dal zurzweitwichtigsten Partei. In Westbengalen steht die Kongresspartei seit 1947in Konkurrenz zur Communist Party of India (CPI), später der CommunistParty of India (Marxist) (CPM-M), an die sie seit 1977 bis heute die Machtabgeben muss. Damit entsteht ein weltweites Unikum: Lediglich in Westben-galen schafft es eine kommunistische Partei, seit 25 Jahren in demokratischenWahlen fortlaufend wiedergewählt zu werden – allerdings als eine vorrangigregionale, bengali-nationalistische Kaderorganisation. In Tamil Nadu schafftes schließlich eine Dravida Munnetra Kazhagam (DMK) genannte tamilna-tionalistische Partei, deren ideologische Genealogie bis auf die Justice Partyzurückgeht, 1967 die Kongresspartei von der Macht zu drängen. Sie und ih-re Abspaltung, die All-India Anna Dravida Munnetra Kazhagam (AIADMK),beherrschen Tamil Nadu bis heute. Der durch den Aufstieg der Kongressparteiunausweichlich gewordene Konflikt zwischen nationalem Zentrum und regio-naler Peripherie begründet bereits seit Beginn des Unabhängigkeitskampfesin den 1920er Jahren drei bis heute wirksame regionale Sonderkulturen, Ge-genbewegungen und Regionalparteien.

3.2 Säkularismus vs. Glaubensgemeinschaft

Die Kongresspartei ist nicht nur eine nationale, sie ist notgedrungen auch einelaizistische Unabhängigkeitsbewegung. Nichts erscheint vordergründig leich-ter, als die rund 70% der damaligen indischen Bevölkerung, die statistischals Hindus gelten, unter ihrer Hinduidentität gegen die fremdgläubige Ko-lonialmacht zu mobilisieren. Enorme praktische, strategische und moralischeProbleme stehen allerdings dagegen. Der „Hinduismus “ ist ein Fremdbegriffund eine religionswissenschaftliche Abstraktion. Was indienweit zählt, sinddie jeweiligen sozialen, lokalen, sektarischen, also „kleinen Traditionen “, keinein der Sakralsprache Sanskrit manifeste „große Tradition “. Unter einer ein-deutigen Hinduidentität lassen sich deshalb die „Hindus “ von Nordindien bisSüdindien nicht organisieren. Der Versuch müsste zudem die ebenso schwerbestimmbare und organisierbare Muslimgemeinschaft entfremden, sie auf dieSeite der Kolonialmacht treiben, lokale kommunalistische Unruhen verschär-fen und der Kolonialregierung eine neue Schiedsrichter- und Schutzherrenrolleübertragen.

Jakob Rösel und Clemens Jürgenmeyer 55

Aber nicht nur aus strategischen Gründen, sondern auch aus Überzeugunghält die Elite der Kongresspartei seit jeher daran fest, dass die Muslime, trotzdes Widerspruchs der Muslimelite, für eine einheitliche, von der Kongress-partei dominierte Unabhängigkeitsbewegung gewonnen werden müssen. Dieoft in dritter und vierter Generation westlich geprägte und anglophone Eliteder Kongresspartei will den modernen demokratischen Verfassungsstaat auflaizistischer Grundlage. Was sich in den, verglichen mit Indien, religiös undkulturell weit homogeneren Staaten Europas als notwendig erwies, erscheintin dem von vier Schriftreligionen und zahllosen Sekten geprägten Indien, solles künftig nicht in lokalen oder nationalen Bürgerkriegen untergehen, unaus-weichlich. Hinzu kommt eine soziale und fast „ständische “ Rahmenbedingung:Die Elite der Kongresspartei hat ihr öffentliches Erscheinungsmodell und ihrenpolitischen Habitus nach demjenigen des britischen, des laizistischen Gentle-man geformt, also nach dem Vorbild eines Mannes, dem sowohl politischeGesamtverantwortung als auch private religiöse Überzeugung so wichtig sind,dass er gelernt hat, beides auseinander zu halten. Als solche native gentlemensind sie in ihrer Rolle als Privilegierte Gesprächspartner der Kolonialherren,und diese, über alle Konfrontationen fortdauernde wechselseitige Anerkennungund Gesprächsbereitschaft wollen sie nicht verlieren.

Das Bekenntnis zum Laizimus verlangt ihnen zudem angesichts der sozia-len Komplexität und religiösen Offenheit des Hinduismus keine Opfer ab. Inden Augen dieser oft brahmanischen und zugleich westlich geprägten Elitegeht es im Unabhängigkeitskampf und vor allem in Zukunft darum, den Hin-duismus zu modernisieren und zu reformieren: Da nach ihrer Auffassung dasGebot der religiösen Toleranz zum innersten Wesen des Hinduismus gehört,erwächst aus dem Nebeneinander von toleranter Religion und laizistischemStaat eine Symbiose und keine Konfrontation. Bei dieser Lesart bildet die Ge-stalt und Strategie Gandhis für die einen eine Bestätigung, für die andereneine Provokation. Der Mahatma tritt mit einem religiösen und volkstümli-chen Habitus und Idiom auf, als politischer, also weltzugewandter Asket hater aber das Gebot religiöser Toleranz und der individuellen Wahrheitssuchezum Fundament seiner Lehre und seiner Agitation gemacht.

Was den aufgeklärten Hindu in der Kongresspartei mithin als eine Allego-rie der Reformierbarkeit des Hinduismus und eines religiös toleranten, unab-hängigen Indien erscheint, muss dem durchschnittlichen Muslim als die sanfteÜbernahme eines laizistischen Staates durch eine diffuse, aber immer im Hin-duismus lokalisierte Volksfrömmigkeit und Toleranzverpflichtung erscheinen.Die Kontrollmacht eines laizistischen Staates müssen die Muslime höher schät-zen als den Glauben an die Toleranzfähigkeit des mehrheitlichen Hinduismus.Der von Programm, Satzung, Rhetorik und Überzeugung getragene Säkula-rismus der Kongresspartei steht aber in Konkurrenz mit anderen religiösenErneuerungsprojekten, die sich zumeist nicht mit ihm vereinbaren lassen. Ne-

56 Parteiensystem unter der britischen Kolonialherrschaft

ben dem Glauben an die Modernisierbarkeit der Religion – aufgegriffen undpolitisch instrumentalisiert durch die Elite der Kongresspartei – steht der Ver-such der orthodoxen Reform, und es entwickelt sich später die Hoffnung aufeine fundamentalistische Transformation des Hinduglaubens. Versuche einersolchen orthodoxen Reform oder fundamentalistischen Transformation findensich nicht nur im Hinduismus, sondern auch im Islam.

Im Hinduismus geht ein orthodoxes Reformprojekt vorrangig von der 1875in Nordindien entstandenen und dort wirksamen Arya Samaj aus. Da dieProduktivität und Plastizität des Hinduismus aber die Entstehung eines all-gemein verbindlichen orthodoxen Kerns immer verhindert hat, bleiben derBegründer Dayananda Saraswati und seine Bewegung im Wesentlichen dar-auf angewiesen, eine Orthodoxie zu erfinden. Die Bewegung kommt über be-grenzte städtische und nordindische Milieus nicht hinaus und kann lediglicheine breitenwirksame, gegen die Muslime gerichtete Agitation, die sogenannteKuhschutzbewegung, aber keine eigene Partei begründen. Die Bewegung stehtzudem in Konkurrenz zu einer weiteren Organisation, der Hindu Mahasabha.Diese Organisation kann sich als Partei formieren, mit mäßigem Erfolg inverschiedenen Provinzen an den Wahlen teilnehmen. Das Projekt einer na-tionalistischen Transformation des Hinduglaubens wird in den 1920er Jahrenvon dem Ideologen V.D. Savarkar und dem Organisator K. Hedgewar initi-iert, der 1925 die Kaderorganisation Rashtriya Svayamsevak Sangh (RSS –„Nationale Freiwilligenunion “) ins Leben ruft. Erst nach der Unabhängigkeit– im Jahr 1951 – gelingt es dem Nachfolger Hedgewars, M.S. Golwalkar, ei-ne hindunationalistische Partei, die Bharatiya Jana Sangh, später BharatiyaJanata Party (BJP), zu gründen.

Entsprechende orthodoxe Reformversuche und erst in den 1940er Jahreneine fundamentalistische Transformation zeigen sich auch im indischen Islam.Der Versuch einer orthodoxen Reform kann sich, im Gegensatz zum Hin-duismus, auf ein weitgehend unstrittiges Bild der Glaubenstreue berufen. Ei-nem solchen Versuch stellen sich daher praktische, aber keine unüberwindba-ren religiösen Probleme entgegen. Von der Ausbildungsstätte für Koran- undRechtslehrer in Deoband, im heutigen Uttar Pradesh, war seit 1867 eine solcheorthodoxe Reformbewegung ausgegangen. Unter dem Eindruck der ersten pro-muslimischen und antikolonialen Protestbewegungen – die Agitation für dieTeilung Bengalens und die Khilafat-Bewegung – hatte sich schließlich aucheine übergreifende Organisation, die Jamiyyat al-ulama-i Hind (JUI), her-ausgebildet. Zu den vielen Paradoxien des indischen Unabhängigkeitskampfesgehört, dass diese 1919 gegründete Organisation fast bis zur Teilung poli-tisch auf der Seite der Kongresspartei stand: Einem orthodoxen islamischenReformprojekt verpflichtet, will die Organisation, dass der gläubige Muslimseine Kontakte mit Glaubensfremden, insbesondere der Kolonialmacht, mög-lichst einschränkt. Der gläubige Muslim soll sich auf die universale Umma, also

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die länderüberspannende religiöse Gemeinschaft aller Muslime, und nicht aufdie diese Umma zerschneidenden modernen Territorialstaaten ausrichten. Esgilt, den eigenen religiösen Garten zu bestellen und sich ansonsten einer auchfremdgläubigen Herrschaft friedlich zu unterstellen, wenn diese die religiöseFreiheit der Muslime garantiert. Diese Garantie sieht die JUI bei der Kongres-spartei gesichert. Auf der anderen Seite verachtet sie den religiösen Laizismusder Muslimliga-Honoratioren und misstraut den religiösen Modernisierungs-bestrebungen der Muslimliga-Intelligenz. 1941 gründet schließlich MaulanaMaududi, aus den Reihen der Deoband-Bewegung und der JUI kommend,seine Jamaat-i Islami, die auf einen islamischen Fundamentalismus zielt.

Die Kongresspartei verfügt zwar über ein laizistisches Staatsideal und einebürokratisch-demokratische Satzung, aber es bedarf noch vieler Anstrengun-gen und Kampagnen, um beides innerhalb der Partei, also vor allem in denDistrikten und Regionen, durchzusetzen. Seine Provinz- und Distriktkomiteeskönnen und wollen nicht verhindern, dass sich Anhänger der Arya Samaj undder Hindu Mahasabha auf mittlerer und unterer Ebene in der Kongressparteiengagieren. Die Spitze, das All-India Congress Committee, sieht es dagegenals vorteilhaft an, die islamisch-orthodoxe JUI auf der Seite der Kongress-partei zu halten. Die Kongresspartei kann deshalb nicht verhindern, dass sieauf mittlerer und unterer Ebene von Hindus nicht nur dominiert erscheint,sondern dass die angesichts der Größe Indiens kaum kontrollierbaren Aktivi-täten einzelner Distriktkomitees eine orthodox-restaurative, in vielen Fällenantimuslimische Stoßrichtung annehmen.

Wie sehr die Meinungen über die Muslime und den Säkularismus zwi-schen Parteispitze und Fußvolk auseinander klaffen, zeigt indirekt ein Endeder 1930er Jahre von Nehru initiierter letzter Versuch, die Masse der Muslimefür die Kongresspartei zu gewinnen: In einer (Muslim) Mass Contacts Cam-paign sollen auf lokaler Ebene die Muslime für die Kongresspartei als Mit-glieder oder Wähler mobilisiert werden. Die Kampagne kommt im Gegensatzzu den antikolonialen Satyagraha-Aktionen nicht in Schwung, weil die loka-len Hindugefolgschaften sich nicht beteiligen. Die These, die Kongressparteiverdanke ihre Führerschaft der Unabhängigkeitsbewegung und ihren Erfolgihrem unbeirrten Festhalten am Säkularismus, ist deshalb eine der Congress-Ideologie entsprechende bequeme Halbwahrheit. Größe und Geschick der Kon-gresspartei bestanden vielmehr darin, dass sie mit einem programmatischenund rhetorischen Säkularismus den Unabhängigkeitskampf aufnahm und zuEnde brachte, während sie in der Praxis, in den Distriktkomitees und in denKampagnen, beständig mit hindurestaurativen Kräften zu koalieren gezwun-gen und auch bereit war. Hinzu tritt noch, dass die Kongresspartei wie selbst-verständlich die stärkste religiöse Kraft, die jeder Reform abgeneigten tradi-tionellen Träger des Hinduglaubens, die Dorfbrahmanen und Tempelpriester,für ihre Ziele zu mobilisieren verstand.

58 Parteiensystem unter der britischen Kolonialherrschaft

Die Größe der Kongresspartei und ihrer Strategie des Säkularismus bestehtmithin darin, dass sie die unterschiedlichen Spielarten des authentischen wiedes Reformhinduismus mobilisieren und zugleich dominieren konnte. Dieserin der Unabhängigkeit und der Begründung eines laizistischen Staates mani-feste Erfolg hinterlässt zugleich eine politische Hypothek. Denn es ist nichtauszuschließen, dass die Behauptung der Kongresspartei, säkularer Staat undmodernisierungsfähiger Hinduismus entsprächen und stützten einander, vonParteien, die sich auf einen restaurativen oder fundamentalistischen Hinduis-mus berufen, in Zweifel gezogen wird. Solche Parteien könnten dann eine ent-sprechende Umbildung und Anpassung des indischen Säkularismus verlangen.Unterschiedliche Auffassungen des Hinduismus machen somit den Weg frei füreine angemessene Indisierung, d.h. Einschränkung des Säkularismus, wie siein den vergangenen Jahrzehnten von der BJP eingefordert wurde.

3.3 Stadt vs. Land

Urbanisierung und beginnende Industrialisierung lassen eine Konfliktlinie zwi-schen Stadt und Land, städtischem und agrarischem Sektor entstehen, die imZuge einer Demokratisierung zur Entstehung von Parteien führen kann, diespezifisch städtische und oft freihändlerische bzw. spezifisch agrarische und oftprotektionistische Interessen verfolgen. In Indien setzen aber von oben initiier-te Prozesse der Demokratisierung und der antikoloniale Kampf der Parteienzu einem Zeitpunkt ein, zu dem Urbanisierung und Industrialisierung relativbedeutungslos sind. Dennoch existieren aufgrund der kolonialen Herrschafts-absicherung bereits recht gut organisierte agrarische Interessenverbände. DieKongresspartei ist nicht nur eine nationale und formal laizistische Unabhän-gigkeitsbewegung, seit dem Reformwerk von 1920 ist sie auch Partei: IhrenHerrschafts- und Alleinvertretungsanspruch muss sie deshalb jetzt vorrangigauf Wahlsiege stützen.

Die Wählerstimmen finden sich aber auf dem Land und – dank eines ex-trem eingeschränkten Stimmrechts – bei den Großgrundbesitzern und Magna-ten, die in den traditionell probritisch orientierten Agrarverbänden organisiertsind. Um den Druck auf die Kolonialmacht aufrechtzuerhalten und weitereDemokratisierungsschritte zu erzwingen, muss sich die Kongresspartei auf dieMasse der Inder stützen, also auf die von den Agrareliten ausgebeuteten undbeherrschten mittleren und Kleinbauern, Pächter oder Landarbeiter. Um aberbei Wahlen erfolgreich zu sein, muss sie sich zumindest in Zeiten der Dyarchiemit eben diesen Magnaten politisch verbünden. Dies stellt die Kongresspar-tei vor eine Zerreißprobe. Sie rettet die Heterogenität Indiens, also die vonRegion zu Region unterschiedlichen agrarischen Herrschaftsverhältnisse, dieihr bei Wahlen immer wieder andere Allianzen, Versprechungen und Konzes-sionen gestatten. Sie rettet aber auch eine angesichts des immer noch losen

Jakob Rösel und Clemens Jürgenmeyer 59

Parteizusammenhalts jetzt perfektionierte Strategie: einerseits „getrennt mar-schieren, vereint schlagen “, andererseits „erst ermutigen, dann fallen lassen “.

Aufgrund der Imperative der Massenmobilisierung und des Drucks ihrereigenen linksgerichteten Anhänger muss die Kongresspartei die dünne Schichtder Großgrundbesitzer, die in Nordindien oft zwei Drittel des bebauten Bo-dens besitzen, als Unterdrücker der Tiller of the Soil und als Parteigänger derKolonialmacht anklagen. Aber diesen großen Worten folgen nur kleine Taten:In den Programmen zur Agrarreform wird den besonderen Agrar- und Herr-schaftsverhältnissen der jeweiligen Provinz Rechnung getragen und werdenlediglich begrenzte Reformen gefordert. Bei Protestkampagnen hält sich dieKongresspartei als Aktivistin zurück und überlässt das Feld eigenständigenOrganisationen. Sind diese erfolgreich, so werden sie unterstützt, kooptiertund unter Kontrolle gebracht. Sind diese Organisationen radikalisiert und mi-litant, werden sie fallen gelassen sowie politisch und juristisch ausgeschaltet.

Für den Erfolg des Unabhängigkeitskampfes entscheidend ist aber, dassdurch diese Strategie den indischen Agrareliten auf lautlose Art und Weisemitgeteilt wird, dass ein neuer Machtfaktor und künftiger Garant oder Zer-störer ihrer Stellung entstanden ist. Sie müssen überlegen, ob sie weiterhinbedingungslos auf der Seite der British Raj verharren oder von nun an inflexibler Äquidistanz zwischen Kolonialmacht und Kongresspartei operierenwollen.

Seit Beginn der 1930er Jahre hat die Mehrheit der Agrareliten, aber nichtdie Spitzengruppe der Großbauern und Großgrundbesitzer, diese Botschaftverstanden. Sie oder zumindest der eine oder andere ihrer Söhne drängenjetzt in die Kongresspartei. Die Kongresspartei gewinnt damit den Charaktereiner Unabhängigkeitsbewegung und einer Bauernpartei zugleich, sie wird zueiner nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land verankerten Mas-senpartei, die sich bei Aktionen auf dem Lande keine Sorgen um Teilnehmer,Finanzierung und Ressourcen machen muss. Die Autorität und Macht dieserländlichen Honoratioren sowie mittleren oder kleineren Grundbesitzer stüt-zen jetzt die Kongresspartei im eigentlichen, im ländlichen Indien. Sie beginntnun, im Binnenraum ihrer regionalen Apparate, in ihren Pradesh Committees,die ländliche Herrschafts- und Kastenordnung widerzuspiegeln.

Der Government of India Act 1935 erweitert das Wahlrecht auf rund 20%der erwachsenen indischen Bevölkerung. Das verstärkt diesen Prozess und ent-hebt die Kongresspartei der Aufgabe, die Agrarelite abwechselnd warnen undhofieren zu müssen. Wahlberechtigt ist jetzt nicht mehr eine dünne Schicht,sondern die Gesamtheit der traditionellen dörflichen Machthaber und ein gutTeil der dominanten Kasten. Mit diesen nach Millionen zählenden Gruppenim Rücken kann die Kongresspartei jetzt Pläne für eine Landreform, vor al-lem für eine zamindari abolition, vorbereiten, die nach der Unabhängigkeitden exzessiven Landbesitz der größten Grundbesitzer (ca. 1% der ländlichen

60 Parteiensystem unter der britischen Kolonialherrschaft

Bevölkerung) auf eine breite und der Kongresspartei wohlgesinnte Agrarelite(ca. 20% der ländlichen Bevölkerung) umverteilen soll. Zuerst mit einer am-bivalenten Strategie, dann durch diese Reform sichert sich die Kongressparteiihre dominante Stellung auf dem Land, also den Status einer indienweitenBauernpartei. Auf Jahrzehnte hinaus kann sie ca. 20% der Wählerstimmender mittleren und hohen Bauernkasten gewinnen.

Der Schlüssel für Massenmobilisierung und Wahlsiege liegt also auf demLand. Das De-facto-Zusammenspiel mit dominanten Kasten, Großbauern undtraditionellen Autoritätsträgern bei gleichzeitiger antiimperialistischer Rheto-rik gegen jenes dünne Stratum der allergrößten Magnaten, Rajas und Zamin-dare, auf die sich die britische Herrschaft vorrangig stützt, bedeutet jedochzugleich, dass sich die Kongresspartei allenfalls vordergründig zur Anwältinder Armen und Rechtlosen der indischen Bauernbevölkerung, der landlosenErntearbeiter, Tagelöhner und jederzeit kündbaren Pächter, machen kann.Diese fast immer unberührbaren Gruppen zählen neben anderen zu den de-pressed classes, die nach Angaben des Census von 1921 zwischen 55 und 60Mio. Menschen bzw. rund 18% der Gesamtbevölkerung von 319 Mio. ausma-chen.

Der Sozialreformer B.R. Ambedkar hat inzwischen eine Unberührbaren-bewegung ins Leben gerufen. Aber auch Gandhi hat die Unberührbaren, inseinen Augen die „Kinder Gottes “, die Harijans, in das Zentrum seiner so-zialen und moralischen, nicht aber seiner politischen Reformbemühungen ge-stellt. Der Logik interessengeleiteter Parteimobilisierung folgend, wird damit– parallel zur Verschärfung des Unabhängigkeitskampfes – eine Konfrontati-on denkbar. Der „nationalen “ Unabhängigkeitsbewegung, die sich inzwischenmaßgeblich auf die Agrarelite stützt, droht eine indienweite Unberührbaren-vereinigung gegenüberzustehen, die umfassende Landreformen, vor allem abereine die Herrschaftsordnung des ländlichen Indiens umstürzende soziale undwirtschaftliche Gleichbehandlung der Unberührbaren verlangt. Sowohl ausÜberzeugung als auch aus Kalkül unterstützt die Kolonialmacht Ambedkarund ist bereit, ihm einen eigenständigen Platz in den Verhandlungsrunden ein-zuräumen, in denen über weitere politische Reformschritte verhandelt werdensoll.

Die Entstehung einer separaten Unberührbarenpartei wird aber von Gand-hi und der Kongresspartei erbittert bekämpft. Die Kongresspartei sieht ihrenfür den Unabhängigkeitskampf unverzichtbaren Alleinvertretungsanspruch be-droht. Gandhi wiederum will das Los der Unberührbaren durch eine umfas-sende Reform des Hinduismus und eine moralische Neubestimmung des Ka-stensystems, nicht aber durch konfliktträchtige „getrennte Wählerschaften “und Agrarreformen verbessern. Es ist bezeichnend, dass Gandhi seine mo-ralisch so wirkungsvollen Satyagraha-Kampagnen immer nur gegen kolonial

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verursachte, aber nie gegen traditionell sanktionierte Unterdrückungssystemeauf dem Lande durchführt.

In langwierigen Verhandlungen und unter dem massiven Druck Gandhis,sein Fasten notfalls bis zum Tode weiterzuführen, gelingt es schließlich derCongress-Führung, Ambedkar dazu zu bringen, die Forderung nach getrenn-ten Wählerschaften für die Unberührbaren zu Gunsten der Regelung der re-served seats aufzugeben und die Frage einer umfassenden Besserstellung derUnberührbaren bis zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit zu verschieben. Mitdieser Übereinkunft, dem sogenannten Poona-Pakt von 1932, vermeidet dieKongresspartei, dass ihr in der entscheidenden Mobilisierungs- und Machta-rena, im Agrarsektor, eine konkurrierende Organisation entgegentritt, die ih-ren Klassencharakter offen legt, soziale Protestbewegungen provoziert und dieGlaubwürdigkeit des Mahatma, jener unersetzbaren Integrationsklammer, un-tergräbt.

3.4 Kapital vs. Arbeit

Prozesse der Urbanisierung und Industrialisierung haben, wie bereits erwähnt,in Britisch-Indien in äußerst begrenztem Umfang eingesetzt. Die Urbanisie-rung stellt der Kolonialmacht ihre Kontrollzentren bereit, und die begrenzteIndustrialisierung konzentriert sich auf diese Kolonialstädte. Diese sind für diePräsenz und Selbstdarstellung der Kolonialmacht bzw. für die Stabilität die-ser Herrschaftszentren von ausschlaggebender Bedeutung: In den modernenIndustrieenklaven in Calcutta, Madras und Bombay sind eine Fülle kleiner,stark zersplitterter Gewerkschaften entstanden. Zudem hat sich das britischeund vor allem das indische Handels- und Industriekapital, getragen von indi-schen Händler- und Geldverleiherkasten und einzelnen herausragenden Unter-nehmerfamilien, in den Chambers of Industry and Commerce frühzeitig eineOperationsbasis geschaffen. Zwangsläufig instabile Zusammenschlüsse von Ge-werkschaften bilden in Zeiten der Dyarchie und des Government of India Act1935 ephemere Parteien, die sich an den Wahlen zu den Provinzparlamentenzumeist erfolglos beteiligen. Nachdem die Kongresspartei und die Kommu-nistische Partei Gewerkschaftsdachverbände gegründet haben, versuchen siediese zahllosen lokalen und sektoralen Einzelgewerkschaften indienweit zu er-fassen.

Die großen indischen Unternehmerfamilien und die verschiedenen Händler-gruppen hingegen stellen keine eigene Partei auf, vielmehr schlagen sie sichverdeckt oder offen bald auf die Seite der Kongresspartei: Die Kolonialmachthat indische Industrialisierungsinitiativen nie nachhaltig unterstützt und denfür ihren Machterhalt entscheidenden Agrareliten weit größere Aufmerksam-keit, Auszeichnungen und Konzessionen zuteil werden lassen. Bestimmte Kam-pagnen Gandhis, wie der Boykott britischer Fabrikwaren oder die durch die

62 Parteiensystem unter der britischen Kolonialherrschaft

Svadeshi-Bewegung propagierte Herstellung eigenen Garns und eigener Stof-fe, kommen diesen Geschäftsleuten direkt oder symbolisch entgegen. Für dieKongresspartei ist die Unterstützung seitens dieser Kreise weit bedeutsamerals eine Unterstützung seitens der zahlreichen, lediglich lokal und episodischeinflussreichen Gewerkschaften. Sie wie auch einzelne Magnaten tragen in star-kem Umfang zur Finanzierung bei, verfügen über eine hohe Kompetenz undindienweite Perspektive und stellen auch deshalb, allerdings den größten Land-besitzern nachgeordnet, wichtige Ansprechpartner der Kolonialmacht dar. Diezunehmende Annäherung dieser Kreise an die Kongresspartei verschiebt einweiteres Mal die Machtverhältnisse zu Ungunsten der British Raj.

Die Doppelstellung der Kongresspartei als eine mit der Kolonialmacht ver-handelnde und gegen sie agitierende Kraft, also eines Insiders und Outsidersder anlaufenden, noch kolonial kontrollierten Demokratisierung, legen es ihrnahe, ihren Zugang zu den Industrieenklaven und Congress-nahen Gewerk-schaften dennoch zu kultivieren. Vergleichbar ihrer Operationsweise auf demflachen Lande rettet sie auch hier die schiere Größe Indiens, also die fast un-überbrückbare Distanz zwischen dem zentralen All-India Working Committeeund den Distriktkomitees. Auf der Ebene des Working Committee fallen dieEntscheidungen über die Kampagnen und die nächsten Züge im Verhand-lungsspiel, auf der Ebene der Distriktkomitees gilt es, die Kampagnen erfolg-reich zu initiieren und anschließend zu kontrollieren.

Auf der höchsten Ebene etablieren sich mithin der Meinungsaustausch unddie Kooperation der Wirtschaftselite, während auf der lokalen Ebene, insbe-sondere in den großen Städten, die Effektivität und Mobilisierung der Kon-gresspartei unter Beweis gestellt werden muss. Dazu ist aber ein Zusammen-gehen mit den Gewerkschaften, vor allem in Bombay, Calcutta und Madras,absolut notwendig. Die Achillesferse kolonialer Herrschaft zeigt sich in demnur ihr eigenen Zwang, von wenigen Zentren aus, die zweifelsfrei unter ihrerKontrolle stehen, weite Territorien beherrschen zu müssen. Diese Verletzbar-keit verschafft den zahlenmäßig bedeutungslosen Gewerkschaften und über sieder Kongresspartei eine einzigartige Agitations- und Demonstrationschance.Lange bevor die Kongresspartei auf dem Lande präsent und mobilisierungs-fähig ist, kann sie in diesen Schaufenstern der Kolonialmacht zeigen, dass diebritische Herrschaft verwundbar und ihr Herrschaftsanspruch unglaubwürdigist.

4 SchlussbetrachtungVier grundlegende Bestandteile des Modernisierungsprozesses – die admini-strative und technische Durchdringung des Staatsterritoriums, die Errichtungeines laizistischen Staatswesens, die Ausdehnung und das Primat städtischerLebensformen sowie die Durchsetzung einer industriell-kapitalistischen Pro-

Jakob Rösel und Clemens Jürgenmeyer 63

duktion und Gesellschaft – schaffen nach Lipset/Rokkan Konfliktlinien, dieunausweichlich, wenn auch nicht unüberwindbar sind. Die Konflikte sind un-ausweichlich, weil die genannten Prozesse notwendigerweise bestimmte Grup-pen, Gruppeninteressen oder Gruppenkulturen bevorzugen bzw. benachteili-gen. Die Prozesse stellen somit Themen und Ressourcen potenzieller politi-scher Mobilisierung bereit, auch wenn ein jeweiliger Kontext die Form desKonfliktes und der Parteien determiniert. Der Kontext wird durch die Formund den Wirkungsgrad der Prozesse, die Struktur des betreffenden Landes,die Gestalt des jeweiligen Demokratisierungsprozesses und die Organisationvon Interessengruppen und Parteien bestimmt.

Der hier dargestellte Fall Indien unterscheidet sich von denkbaren euro-päischen Analogien in doppelter Hinsicht: Zwei konfliktauslösende Prozesse,die Urbanisierung und die Industrialisierung, sind kaum gegeben, und alleProzesse, in welcher Intensität auch immer, finden im Wesentlichen zeitgleichstatt. Vor allem aber: Die genannten Prozesse treten in einem Kontext auf,der sich in Größe und Herrschaftsform grundsätzlich von europäischen Fällenunterscheidet. Britisch-Indien ist ein Subkontinent und deshalb polyzentrischorganisiert, und die vier Modernisierungsprozesse spielen sich unter einer ko-lonialen Herrschaft ab, die darüber hinaus einer immer stärkeren Unabhän-gigkeitsbewegung gegenübersteht.

Angesichts dieser Unterschiedlichkeit erst der Prozesse und dann des Kon-textes wäre zu erwarten, dass weder die charakteristischen Konfliktlinien nochdie ihnen entsprechenden Interessengruppen und Parteitypen entstanden sind.Im Gegensatz dazu hat unsere Betrachtung allerdings die folgenden, oft ver-wirrenden Entwicklungslinien aufgezeigt:

Eine von mehreren Zentren, nicht von einem Zentrum ausgreifende kolo-nialstaatliche Territorialerfassung lässt erste regionale Organisationen, Iden-titätsmuster und Interessengemeinsamkeiten entstehen. Sie werden getragenund artikuliert von regionalen Honoratiorenschichten, die mit der Kolonial-macht kooperieren. Auf gesamtindischer Ebene können sich diese Netzwerkeund Organisationen in einzelnen Fällen und im Maßstab politischer Beteili-gungsrechte als regionalistische Bewegungen artikulieren, in ihren Provinzendagegen neigen sie dazu, die entsprechenden Subkulturen und „kleinen Tra-ditionen “ entweder auszugrenzen oder zu absorbieren. Da sich allerdings derCongress frühzeitig als eine Organisation mit gesamtindischem Anspruch ausdiesen Honoratiorenkreisen heraus entwickelt, gelingt es ihm in fast allen Fäl-len, die Entstehung eigenständiger und dauerhafter Regionalparteien und Ko-alitionen zu verhindern. Misslingt dies, so kann die Kongresspartei sich vonSeiten dieser Parteien doch immerhin die Unterstützung des gesamtindischenUnabhängigkeitskampfes sichern und mit diesen taktisch koalieren.

Nicht der Laizismus, sondern die umfassende Überlegenheit der Kolonial-herrschaft löst bei Minderheitssektionen der Hindus und Muslime moderni-

64 Parteiensystem unter der britischen Kolonialherrschaft

sierende, restaurative oder fundamentalistische Reformbewegungen, aber zu-nächst keine Parteien aus. Die Mehrheit der Hindus und Muslime verharrtdagegen in einem religiösen Traditionalismus. Der Laizismus der Congress-Führung verbindet sich zugleich mit dem Glauben, der Hinduismus sei mo-dernisierbar, und mit der Auffassung, ein vorrangig auf Toleranz gegründeterHinduismus sei mit einem Staatslaizismus innerlich verwandt und politischkompatibel. Diese Auffassung, verbunden mit dem Erscheinungsbild und denKampagnen Gandhis, muss einer zunehmenden Masse auch dogmatisch in-differenter Muslime genau in dem Maße als suspekt erscheinen, wie dieseZweckinterpretation und das Charisma Mahatma Gandhis der Kongresspar-tei Massenerfolge und moralischen Respekt verschaffen. Die meisten Muslimeverlangen schließlich einen säkularen Staat, in dem sie und nicht die Hindusdie Mehrheit stellen. Die von der religiös indifferenten Muslimliga und M.A.Jinnah seit 1940 erhobene Forderung nach einem Pakistan entspricht dieserdefensiven Neigung der Muslimminderheit.

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