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(Aus dem Erl)liche K~ilteliihmung. Von M. Lewandowsky. Garnisonlazarett I Berlin [Chcfarzt: Oberstabsarzt Dr. Sclrmidt].) ( Eingegangen am 1. Mai 1916.) Der in dieser Arbeit beschriebene Fall 1) geh6rt zu den seltenen Erkrankungen, welche durch die Mobilmachung aus der Verborgenheit ihrer Heimat ans Licht gezogen wurden. H. W..... r aus Gelsenkirchen, geb. 1896, leidet seit seiner friihesten Jugend an eiuer Erkrankung, welche in der Familie der Mutter seit vielen Generationen erblich ist. Auf eine Anfrage bei der Familie des Patienten wurde geantwortet, dal~ die Grol3mutter der Mutter, also die Urgrogmutter des Pat. schon dasselbe Leiden gehabt habe, dab es aber nach der Uberlieferung sehon in noch fruheren Generationen vorhanden gewesen ware und sich in jeder Generation vererbt, nie- mals eine Generation iibersprungen habe. So hatte auch die Mutter der Mutter das Leiden, ferner die Schwester der Mutter. (Diese ist kinderlos. Genauere An- gaben uber die Anzahl der Mitglieder fruherer Generationen sind leider nicbt zu bekommen.) Unser Pat. ist eins von 15 Gesehwistern, von denen 6 tot sind, 9 leben; er und eine Sehwester sind mit dem Leiden behaftet, die anderen davon frei (uber die gestorbenen ist nichts zu erfahren). Eine Schwester leidet an Epi- lepsie, eine andere ist idiotisch. Die anderen ftinf lebenden Geschwister sind gesund, verheiratet und haben gesunde Kinder. Pat. ist das erste m~nnliehe Mitglied der Familie, das, soweit die Erinnerung reieht, jemals vonder Krankheit befallen worden ist. Soweit bekannt, ist das Leiden immer in der gleiehen Form und auch immer in der gleichen St~rke bei den davon Befallenen aufgetreten. Das Leiden besteht in einem Einflu2 der KMte auf die Kontraktionsfahigkeit fast der gesamten Kdrpermuskulatur. Im Freien ist W. nur w~thrend der Monate Juli und August arbeitsf~thig. Den iibrigen Tell des Jahres ist er gezwungen, sich in m6glichst warmer Stube aufzu- halten. Dureh diese Wetterempfindlichkeit ist, wie jetzt seine Erwerbsfahigkeit, frtiher aueh der Schulbesuch sehr efschwert gewesen. W. ist ein lang aufgeschossener Mensch, die Muskulatur ist keineswegs beson- ders kraftig, eher etwas schwachlieh. Die Behaarung an den Geschlechtsteilen ist far sein Alter sehr schwach, Bartentwicklung besteht noch nicht; sonstige sichtbaren Anomalien bestehen nieht, an den inneren Organen niehts Regelwidriges. Pat. ersebeint seeliscb ein wenig besehrankt, gr6bere seelisehe Anomalien bestehen aber nieht. Wie sehon bemerkt, weehselt der Zustand der Muskulatur des W. mit der Augentemperatur. Eine Krankengesehiehte ware also sinnlos2). Es soll im folgen- 1) Demonstriert in der Berl. Gesellseh. f. Psych. u. Nervenkrankh. Dez. 1915. 2) Aus der inneren Abteilung eines hiesigen Krankenhauses ist W. zwar als ,,gebessert" entlassen worden.

Erbliche kältelähmung

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(Aus dem

Erl)liche K~ilteliihmung. Von

M. Lewandowsky.

Garnisonlazarett I Berlin [Chcfarzt: Oberstabsarzt Dr. Sclrmidt].)

( Eingegangen am 1. Mai 1916.)

Der in dieser Arbeit beschriebene Fal l 1) geh6rt zu den seltenen

Erk rankungen , welche durch die Mobi lmachung aus der Verborgenhei t

ihrer He imat ans Licht gezogen wurden.

H. W . . . . . r aus Gelsenkirchen, geb. 1896, leidet seit seiner friihesten Jugend an eiuer Erkrankung, welche in der Familie der Mutter seit vielen Generationen erblich ist. Auf eine Anfrage bei der Familie des Patienten wurde geantwortet, dal~ die Grol3mutter der Mutter, also die Urgrogmutter des Pat. schon dasselbe Leiden gehabt habe, dab es aber nach der Uberlieferung sehon in noch fruheren Generationen vorhanden gewesen ware und sich in jeder Generation vererbt, nie- mals eine Generation iibersprungen habe. So hatte auch die Mutter der Mutter das Leiden, ferner die Schwester der Mutter. (Diese ist kinderlos. Genauere An- gaben uber die Anzahl der Mitglieder fruherer Generationen sind leider nicbt zu bekommen.) Unser Pat. ist eins von 15 Gesehwistern, von denen 6 tot sind, 9 leben; er und eine Sehwester sind mit dem Leiden behaftet, die anderen davon frei (uber die gestorbenen ist nichts zu erfahren). Eine Schwester leidet an Epi- lepsie, eine andere ist idiotisch. Die anderen ftinf lebenden Geschwister sind gesund, verheiratet und haben gesunde Kinder. Pat. ist das erste m ~ n n l i e h e Mitglied der Familie, das, soweit die Erinnerung reieht, jemals vonder Krankheit befallen worden ist.

Soweit bekannt, ist das Leiden immer in der gleiehen Form und auch immer in der gleichen St~rke bei den davon Befallenen aufgetreten.

Das Leiden besteht in einem Einflu2 der KMte auf die Kontraktionsfahigkeit fast der gesamten Kdrpermuskulatur.

Im Freien ist W. nur w~thrend der Monate Juli und August arbeitsf~thig. Den iibrigen Tell des Jahres ist er gezwungen, sich in m6glichst warmer Stube aufzu- halten. Dureh diese Wetterempfindlichkeit ist, wie jetzt seine Erwerbsfahigkeit, frtiher aueh der Schulbesuch sehr efschwert gewesen.

W. ist ein lang aufgeschossener Mensch, die Muskulatur ist keineswegs beson- ders kraftig, eher etwas schwachlieh. Die Behaarung an den Geschlechtsteilen ist far sein Alter sehr schwach, Bartentwicklung besteht noch nicht; sonstige sichtbaren Anomalien bestehen nieht, an den inneren Organen niehts Regelwidriges. Pat. ersebeint seeliscb ein wenig besehrankt, gr6bere seelisehe Anomalien bestehen aber nieht.

Wie sehon bemerkt, weehselt der Zustand der Muskulatur des W. mit der Augentemperatur. Eine Krankengesehiehte ware also sinnlos2). Es soll im folgen-

1) Demonstriert in der Berl. Gesellseh. f. Psych. u. Nervenkrankh. Dez. 1915. 2) Aus der inneren Abteilung eines hiesigen Krankenhauses ist W. zwar als

,,gebessert" entlassen worden.

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den versueht werden, die versehiedenen Zustande, wie sic jederzeit dureh den Weehsel der Temperatnr bei dem W. erzeugt werden kSnnen, nebeneinander zu schildern.

An einem w a r m e n T a g e naeh einer gut durehsehlafenen Naeht ist weder bei akt iven noeh bei passiven Bewegungen, weder an den geflexen, noeh in bezug auf die elektrische Erregbarkei t irgend etwas yon der Regel Abweiehendes lest- zustellen. Aueh die robe Kraf t ist dann eine entsprechende.

Ieh habe den E i n f l u B d e r K ~ l t e , um den Pat. nieht zu q u ~ l e n - er be- kommt dabei n ieht nu t L/ihmungszust~tnde, sondern aueh heftige Sehmerzen - - , n ieht iil~ertrieben. Es ist wohl mSglich, da6, wenn man den Pat. zwingen wtlrde, bei sehr groger K/ilte lange Zeit sieh ausgekleidet im Freien aufzuhalten, noeh sehwerere und vor allen Dingen ausgedehntere L~hmungen zur Erseheinung kommen wtirden, als ieh sie beobaehtet habe. Das Wesentliehe aber ist dureh die nachfolgende Sehilderung gentlgend gekennzeiehnet.

D e r s e h w e r s t e Z u s t a n d , den ieh i iberhaupt beobachtet habe, wurde sehon durch einen etwa 20 Minuten dauernden Aufenthal t des W. bei einer Temperatur von 6 Grad W~trme und naBkalter Wit terung erzeugt. Dieser Zustand besteht an den o b e r e n E x t r e m i t ~ t t e n , und zwar an beiden gleiehm~Big in einer s e h l a f f e n L ~ h m u n g. Die H~nde hingen im Handgelenk herunter, k6nnen akt iv nieht er- hoben, die Finger nieht gestreekt und nur spurweise gebeugt werden. Bei passiven Bewegungen fiihlt man keinen Widerstand. Die Bewegungen im Ellenbogen- und Sehultergelenk sind nieht so aufgehoben wie die der Hand, aber sehwaeh. Die Sehnenreflexe an den oberen Extremit~tten fehlen in diesem Znstand, die Sensi- bilit~tt ist ungestort. Die elektrisehe Untersuehung ergibt vSllige A u fhe b u n g d e r f a r a d i s e h e n u n d g a l v a n i s e h e n E r r e g b a r k e i t in den Hand- und Finger- streckern sowie in s~mtliehen Muskeln der Finger, ~uBerst gesunkene Erregbarkei t in den Handbeugern, s tark verminderte in den Oberarmmuskeln, weniger ver- minderte in der Sehultermuskulatur. Ob vom Nerven aus oder vom Muskel gereizt wird, ist in diesem Zustande gleiehgiiltig.

Vom Normalzustand bis zu ,l~ . . . . ,, L'il,l,,,,,,a.=,,.t ,w,,1 ,turchl~tuft die Musku- la tur aber, wenigstens zum Tell, ,,,,. I, I1,, t . : . , t , ~ . , , t . t ,t,,I,

Der Beginn des krankhaf ten Zustandes ist dutch ziehende S c h m e r z e n ge- kennzeichnet. Schon nach Aufenthal t von einer Viertelstunde in nal~kalter Witte- rung klagt der Pat. fiber solche Schmerzen, daft er es im Freien nicht mehr aus- hal ten kSnne. K o m m t er dann in eine warme Stube, so hSren die Sehmerzen bald auf, der krankhaf te Prozeg an der Muskulatur geht aber weiter. Die Hau t der Hande ist dabei hellrot, yon gesundem Aussehen, ftthlt sich kalt an, aber nieht anders wie die Hande anderer Personen bei entsprechendem Wetter.

Mit den Sehmerzen und ebenso nachdem diese dutch Verbringung des W. in einen warmen Raum beseitigt worden sind, klagt der W. fiber ein Geftihl yon , , B e k l e m m u n g " , wie er sieh ausdrtlckt, in der Hand. Lggt man ihn jetzt aktive Bewegungen mit den Fingern oder mit der Hand maehen, so sieht man auch, wie diese Bewegungen erstens zwar sehwach, zweitens aber gegen einen sichtliehen Widerstand ausgeftihrt werden mussen. Der Widerstand ist gr6ger in den Beugern beim Versuch zur Streckung als bei der Beugung in den Streckern. Wenn man yon vornherein einen etwas anderen Eindruek hat., als bei einer typisehen T h o m s e n- sehen Krankheit , so diirfte das daran liegen, dab zu gleicher Zeit mit der Klamm- heit eine erhebliche Schw~tche der Muskulatur deutlieh wird. Von der typischen myotonischen StOrung unterseheidet sich die Steifigkeit in unserem Falle aueh dadureh, dab sic bei wiederholten akt iven Bewegungsversuehen durchaus nieht abnimmt, vielmehr sieh nach Angabe des Pat. nu t steigert. In den Muskeln, die den Unterarm gegen den Oberarm und denen, welehe die Schultern bewegen,

Erbliehe Kiiltel:ihmung. 109

wurden deutliehe Steifigkeitszusthnde nieht beobaehtet, viehnehr tr i t t hier an- seheinend yon v o r n h e r e i n nut eine einfaehe Sehwaehe ein.

W~hrend diese Erseheinungen, also insbesondere die Steifigkeit, aber aueh eine mhgige Sehwfiehe der Muskulatur sieh ausgebildet haben, ist nun eine Ver- i~nderung der elektrisehen Erregbarkeit eingetreten. D ie e l e k t r i s e h e E r r e g - b a r k e i g , dim, wie oben bemerkt, ja sehlieglieh in einer Anzahl yon Nuskmln ganz verlorengeht, ist z u n a e h s t n u t v e r m i n d e r t sowohl yore Nerven wie vom Muskel aus. Zu gleieher Zeit aber hat sieh in denjenigen Muskeln, welehe der Steifigkeit verfallen sind, eine N a e h d a u e r de r K o n t r a k t i o n bei f a r a d l s e h e r R e i z u n g sowohl yore Muskel als yore Nerven aus eingestellt. Diese Naehdauer konnte mehr als eine Minute betragen. Be i g a l v a n i s e h e r R e i z u ng vom Nerven aus sieht man nut sehwaehe und vielleieht etwas gedehnte Kontraktionen. Das VerhMtnis yon KSZ. zu ASZ. bleibt dabei das normale. Bei Muskelreizung dutch den galvanisehen Strom sieht man zuerst bei der Reizung mit der Kathode, bei wenig st~trkerem Strom abet aueh mit Anode einen S e h l i e l 3 u n g s t e t a n u s w/ih- rend der ganzen Dauer des Stromsehlusses. Wiederholte oder lfinger daueHlde faradisehe Reizung seheint in einem gewissen Stadium den Muskel leieht zu ermuden. Eine m e e h a n i s m h e ~bererregbarkeit konnte niemals beobaehtet welden.

An den B e i n e n , die im iibrigen niemals der kalten Temperatur direkt aus- gesetzt wurden - - viehnehr ging der Pat. immer in der iibliehen Lazarettkleidung - - war die Stitrke des krankhaften gusto;ndes eine wesentlieh geringere, im Wesen aber durehaus gleiehe, und zwar kam zustande eine Sehw~tehe der gesamten Mus- kulatur nlit I t e r a b s e t z u n g d e r E r r e g b a r k e i t ; die gleiehe m y o t o n i e a r t i g e V e r g n d e r u n g der elektrisehen Erregbarkeit wie in den Muskeln der H~inde wurde i n de n k l e i n e n F ug m us ke l n festgestellt. Naeh wiederholten aktiven Streek- und Beugebewegungen des FuBes tr i t t regelmM]ig ein typiseher, sehr sehmm z- hafter W a d e n k r a m p f bei dem W. auf, w~hrend die Klammheit der iibrigen Muskulatur, ebenso die dureh den elektrisehen Strom bewirkte Naehdauer der Kontraktion an den iibrigen Muskeln sehmerzlos ist. Pat. gibt noeh an, dab er bei Versuehen zu laufen, manehmal plOtzlieh Hemmungen in der Beinmuskulatur verspurt habe, so dab er mine Zeitlang warren muBte. Diese Hemmungen wiiren etwas anderes wie der Wadenkrampf; Genaueres dartiber aber konnte im Lazarett nicht ermittclt werden.

Die unter dem EinfluB der K/rite in den Extremitfiten zur Ausbildung gekom- menen Lhhmungs- und Steifigkeitszustfinde gehen mit dem Aufh6ren der Khlte keineswegs zuriiek, sondern sic d a u e r n , einmal ausgebildet, je nach Starke und Dauer des Kaltereizes mehrere, manchmal v ide S t u n d e n . Nach Angabe des Pat. fiJhlt er sich subjektiv, wenn er an einem Tage ttberhaupt einmal der KMte ausgesetzt gewesen ist, v611ig frei erst wieder am anderen Morgen nach eincr gut und warm durchschlafenen Naeht.

Im Unterschiede yon diesen langdauernden krankhaften Erscheinungen an den Extremit~tten sind die an den M u s k e l n des K o p f e s zu beobachtenden nur y o n k i i r z e r e r D u u e r ; nach Aufenthalt in kalter Witterung tri t t hier eine Starre in der ganzen Gesichtsmuskulatur ein, so dab eine Art Grinsen entsteht. Dabei sind die Augen a/4 geschlossen und kSnnen nicht geSffnet werden. Aueh in der Gesiehtsmuskulatur konnten w~thrend dieses Zustandes die gleichen elektrischen Ver~nderungen wie an der Muskkflatur der Extremititten, wenn auch nicht bis zum Verluste der elektrischen Erregbarkeit, festgestellt werden. Die krankhaften Erscheinungen im Gesicht gehen aber sehon wenige Minuten naeh Verbringung des Kranken in die Wi~rme wieder vollstandig voriiber. Er gibt noch an, dab er naeh starker KMteeinwirkung aueh nicht ordentlieh essen kSnne, sondern dab ihm die Kiefer aufeinander stehenblieben. Besehwerden beim Sehlueken hat er hie gehabt. Ebenso aueh keine StSrungen beim Urinlassen.

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Er selbst behauptet, dab irgendwelehe Einf l i i s se auBer der Kg l t e fiir die Entstehung und den Ablauf der krankhaften Zust/tnde nicht in Betraeht k/~men, weder Alkoholgenul], Nahrungsaufnahme, noch sonstige Einfliisse. Er leugnet auch den Einflui] seelischer Erregung. Es wurde jedoch beobaehtet und er best/~tigte, dab er naeh einer starken Erregung einmal stundenlang so schwaeh war, dab er kaum die Treppe hcraufgehen konnte.

Es sei dann noeh ein Versueh besehrieben, bei welchem die reehte H a n d des Pat. zehn M i n u t e n in Eiswasser g e t a u e h t wurde. Schon nach wenigen Minuten gibt der Pat. ein Gefiihl yon heftigen ziehenden S e h mer z e n in der Hand und naeh dem Unterarm hinauf an. Dabei tritt auch sogleieh die S t e i f i gke i t und Schw~ehe der Hand ein mit der vorher geschilderten pathologischen elektri- schen Reaktion. Unter der Einwirkung der K~tlte ist die Hand jetzt hellrot, nicht bla6. Schon mthrend der elektrisehen Priifung, etwa 10--15 Minuten naeh Beginn der K/~lteeinwirkung, gibt Pat. an, aueh in der a n d e r e n H a n d das Gefiihl der Beklemmung zu verspilren und auch hier ergibt die Prtifung der Beweglichkeit wie aueh die elektrische Untersuchung, wenn auch zun/~chst geringe, so doch zweifel- lose Ver/inderungen. Nachdem der Pat. dann 11/2 Stunden in der W/~rme geblieben war, besteht in der direkt abgekiihlten Hand der gleiehe, wenn auch etwas ab- geschw/~chte Zustand, wie sofort naeh der K/~lteeinwirkung. Dagegen ist, trotzdem also die K/~lte in der ganzen Zcit weder auf die eine noch auf die andere Hand mehr eingewirkt hat, in der rechten Hand der regelwidrige Zustand inzwisehen schlimmer geworden, so dab eine wesentliche Verschiedenheit zwisehen den beiden H~tnden jetzt nieht mehr besteht.

Es ist kein Zweifel, dab der beschriebene Fal l zu einer Gruppe ge-

h6rt, welche zuerst yon E u l e n b u r g im Jahre 1886 beobachte t und

als P a r a m y o t o n ie bezeichne~ worden ist. An Stelle und in Erweite-

rung dieser Bezeichnung schlage ich auf Grund der folgenden Aus-

f i ihrungen den N a m e n : , , E r b l i c h e K ~ l t e l ~ h m u n g " vor. Versueht man n u n freilieh, diese Gruppe und in ihr die einzelnen

bisher besehriebenen F~lle zu kennzeichnen, so ergeben sich in diesem kleinen Gebiet gleichsam in der NuB alle Schwierigkeiten, welche auch der Klass i f ikat ion anderer gr6Berer Gruppen entgegenstehen.

Eins ist sieher, dab die ganze Gruppe in das Gebiet der H e r e d o - d e g e n e r a t i o n gerechnet werden muB. I n fast allen bisher von E u 1 e n - bu rg1 ) , D e l p r a t 2 ) , l~ieh3), v. S61der4), H l a w a c z e k S ) , M a r t i u s e)

1) E u l e n b u r g , tJber eine famili/~re, dureh seehs Generationen verfolgbare Gruppe kongenitaler Paramyotonie. Neur. Centralbl. 1886, S. 265. Ganz neuer- dings hat E u 1 e n b u rg noch einmal ein Mitglied der gleiehen von ibm vor 30 Jahren untersuchten Fanfilie zu untersuehen Gelegenheit gehabt. Neur. Klinik 1916, Nr.19.

2) D e l p r a t , Thomsensehe Krankheit in einer paramyotonischen Familie. Deutsche reed. Wochensehr. 1892, S. 158.

3) Rich, An unic form of motor Paralysis to cold. Med. News ref. Centralbl. f. inn. Med. 1894, Nr. 46.

a) v. S61der, Zur Kenntnis der Paramyotonia congenita. Wiener klin. Wochensehr. 1895, S. 97.

5) H lawaezek , Ein Fall von Myotonia eongenita kombiniert mit Para- myotonie. Jahrb. f. Psych. 14. 1895; ref. Neurol. Centralbl. 1895, S. 917.

e) Mar t iu s und H a n s e m a n n , Myotonia congenita intermittens. Virchows Archiv 117, 578.

Erbliche K5lteliihmung. I i i

besehriebenen F~llen war eine geh~ufte Erbliehkeit festzustellen. Nur in dem drit ten Fall von v. S S l d e r war sehon fiber die Eltern des Patien- ten niehts Sieheres mehr zu erfahren. Wenn es auch immer mSglich bleibt, daB es aueh ,,freistehende" FMle gibt, so war in den oben ge- nannten F~llen die Erbliehkeit immer eine direkte, keine Generation wurde tibersprungen. In dem von E u l e n b u r g mitgeteilten Stamm- baum konnte die Erblichkeit bis in den Beginn des 18. Jahrhunder ts zurfiekverfolgt werden. Die Krankhei t kann vom Vater und yon der Mutter vererbt werden. In dem S tammbaum von D e l p r a t ha t te von zwei Zwillingsgesehwistern nur das eine die Krankheit . In dem- selben S tammbaum hatten zwei Mitglieder der Familie auBer der Para- myotonie typische eehte T h o m s e nsche Krankheit . Inwieweit andere Krankhei ten in den betreffenden Familien vorgekommen sind, ist aus den Mitteilungen nicht zu ersehen. Es ist daher merkenswert, dab unter den Geschwistern meines Patienten ein Epileptiker und eine Idiotin, Patient selbst fibrigens leicht beschri~nkt war.

Innerhalb der heredodegenerativen Gruppe ist nun ftir die uns be- sch~ftigende Untergruppe noch die a u s l S s e n d e B e d e u t u n g d e s K M t e e i n f l u s s e s ffir den Eintr i t t krankhafter Muskelzust~nde er- sichtlich yon beherrschender Bedeutung.

Trotzdem macht schon die Einteilung nach diesem K~lteeinfluB einige Schwierigkeiten, denn es sind unter den beschriebenen F~llen schon einige, welche a u eh in d er R u he einen pathologischen Befund der Muskelerregbarkeit zeigten. So fand E u l e n b u r g die faradische Muskelreizbarkeit auch in der l~uhe herabgesetzt, v. S S l d e r hat bci seinen beiden ersten, der gleichen Familie angehSrenden F~llen eineu Dauerzustand, bestehend in einer Abnahme der motorischen Kraf t und einer Nachdauer der spontanen und elektrischen Erregung mit sehr schneller ErschSpfbarkeit festgestellt. In dem zweiten Falle v. S 51- d e r s hatte sich die pathologische Reaktion auf Kalte mit dem fort- schreitenden Alter ganz verloren, und es war nur ein leichter, fast un- beschwerlicher Dauerzustand fibriggeblieben. W~re in diesem Falle die Anamnese nicht gewesen, so h~tte man ihn nicht mehr richtig ein- reihen kOnnen. Dazu kommen dann noch die beiden obenerw~hnten F~lle yon D e l p r a t , in denen die Ki~ltezusti~nde mit einer echten T h o m s e n s c h e n Krankhei t verquickt waren. Eine typische Myotonie neben der K/ilteerkrankung zeigt der Fall H l a w a c z e k s , so dab seine ZugehSrigkeit zu uuserer Gruppe zweifelhaft bleibt. Denn auch sonst wird vielfach berichtet, dab die echte T h o m s e n s c h e Krankhei t unter dem EinfluB yon Ki~lte besonders schwer aussieht.

Bei der uns beschi~ftigenden Krankheitsgruppe hat die K M t e einen im w e s e n t l i c h e n a u s l S s e n d e n E i n f l u B . Zwar muB sie einige Zeit, wenn auch nur wenige Minuten, einwirken, und eine l~ngere

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Einwirkung verstarkt und verlangert die Erscheinungen, aber keines- wegs kehrt der Muskel in seinen frfiheren Zustand zurfick, sobald die Kalte aufgehSrt hat, sondern man kann nachweisen, daI~ auch nach Beseitigung des Kalteeinflusses der Zustand noch f o r t s c h r e i t e t . Ubereinstimmend werden in den beschriebenen Fallen schon recht geringe KMtegrade als krankmachend bezeichnet, also .Temperaturen von 10--12 ~ Warme. In E u l e n b u r g s Fall gentigte die Bertihrung eines kalten Gegenstandes, mn einen, wenn auch wohl geringen Kalte- zustand auszulSsen. Der Fall yon R i c h zeigte die Reaktion nicht immer, sondern die Kaltewirkung schien abh~ingig yon der ,,jeweiligen Disposition".

Nun hat die K ~ l t e in diesen Fallen zwei Einf l~ isse auf die Muskulatur. Die Muskulatur wird erstens s c h w a c h u n d l a h m , zweitens aber k l a m m . Es wird das bereits yon E u l e n b u r g er- wahnt, und auch, daft in einzelnen Muskeln die Klammheit, ..in anderen die Lahmung tiberwiegt. Wegen des nur durch seine Sel- tenheit zu erklarenden symptomatologischen Interesses des ,,myoto- nischen" Zustandes hat man aber diesem fast alle Aufmerksamkeit zugewendet und im Zusammenhang damit haupts~chlich die Frage behandelt, in welchem V e r h a i t n i s diese Kaltekrankheit zu de r e c h t e n T h o m s e n s c h e n K r a n k h e i t stande, ob sie als Unter- gruppe, als abnorme Form derselben anzusehen ware usw.1). So wird bei M a r t i u s , der seinen Fall als Myotonia congenita intermittens bezeichnet, die von dem Patienten angegebene Schwache weiter gar nicht gewtirdigt2). PelzS) will den dritten Fall v. SS lde r s , in dem die Steifigkeit nur in der Gesichtsmuskulatur hervortrat, in den Armen nur eine schlaffe L~hmung, daher fiberhaupt aus der uns beschaftigen- den Gruppe herausweisen, da er zu wenig Myotonisches an sich habe.

Demgegent~ber mSchte ich die sog. m y o t o n i s c h e n S y m p t o m e n u r als e in s e k u n d a r e s M e r k m a l , das mehr oder weniger fehlen

1) Die Ubersehatzung der myotonischen Symptome bei der Klassifizierung hat sich auch bei der ,,Myotonia atrophica" gezeigt, die zuerst ich (Deutsche med. Wochenschrift 3~', 521. 1911:) und R. t t irschfeld (Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 5, 682. 1911), dann erst, ein Jahr spater, H. Curschmann als eine ganz besondere Krankheitsform in Anspruch genommen haben. Sie steht yon der Thomsenschcn Krankheit so welt ab, dab man sic lieber als Atrophia muscu- 1 a r i s m y o t o n i c a - - Myotonische Muskelatrophie - - bezeichnen sollte.

~) Der auch sonst yon dem Typus abweichcnde, aber mir nur im Referat zug~tngliche Fall yon Rich zeigte tonische Spasmen mit Fixation bald in Beuge-, bald in Streckstellung. Ob auch hier eine L~hmung vorhanden war, ist aus dem Referat, das mir allein zuganglich ist, nicht zu ersehen. Auch fiber das elektrische Verhalten findet sich darin nichts.

3) Pelz, (~ber atypische Formen der Thomsenschen Krankheit. Archiv f. Psych. 4~, 704. 1907.

Erbliche KMtellihmung. 113

kann, betrachten. Das W e s e n t l i c h e des Kraukheitszustandes scheint mir d ie L i ~ h m u n g zu sein. Die wiedergegebene genaue Beobachtung meines FMles dtirfte dMtir recht beweisend sein, sie zeigt nicht nur, wie das auch in den E u 1 e n b u r g schen u nd v. S 51d e rschen FMlen war, da3 in den einzelnen Muskeln entweder die Steifigkeit oder die L~th- mung iiberwiegt, bzw. die Li~hmung allein in Erscheimmg tritt , sie zeigt welter, dab die K l a m m h e i t in der Handmuskula tur n u t e i n e n L ~ b e r g a n g s z u s t a n d z u r v S l l i g e n L ~ i h m u n g darstellt.

Der fortschreitenden Schwi~che der Muskulatur entspricht ersicht- tich eine Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit im Anfall, welche bereits in geringem Maine von E u l e n b u r g und v. S S l d e r beobachtet worden ist. Me in F a l l i s t d e r e r s t e , in w e l c h e m d i e s e H e r a b - s e t z u n g d e r e l e k t r i s c h e n E r r e g b a r k e i t b i s z u r v 6 ] l i g e n A u f - h e b u n g g e t r i e b e n w e r d e n k o n n t e .

Durch diese Aufhebung der elektrischen Erregbarkeit wird sofort eine B e z i e h u n g der uns beschiiftigenden Krankheitsgruppe zu einer anderen ersichtlich, welche, weil man immer nur an die Beziehung zur Myotonie gedacht hat , bisher nicht beachtet worden ist, niim- lich die zu d e r G o l d f l a m s c h e n p a r o x y s m a l e n f a m i l i ~ r e n L S h m u n g . Denn diese ist bisher die einzige Krankheitsform ge- wesen, bei welcher das zeitweise ErlSschen der elektrischen Erregbar- keit beobachtet und sogar kennzeichnend war. G o l d f l a m 1) berichtet auch, da~ auch bei seiner Krankhei t myotonische Zust~nde vorkommen. I m iibrigen freilich sind die beiden Gruppen schon deswegen vonein- ander v611ig zu trennen, weil bei der G o l d f l a m s c h e n Krankheit die KSlte ohne jeden Einflul~ auf die Erzeugung des krankhaften Muskel- zustandes ist (vielmehr in einem Falle das Einschlafen, in einem anderen die Ftillung des Magens yon Einflul~ war, die eigentliche Ursache abet wohl noch unbekannt ist).

Die l~bereinstimmung in dem schliel~lichen Muskelzustand bleibt freilich bestehen, und wenn man die htiologischen und symptomato- togischen Beziehungen der einzelnen heredit~iren Erkrankungen sich deutlich machen wollte, so rniii3te man ihre einzelnen Merkmale in Koordinatensysteme eintragen, dann wfirde aus der Stellung der Er- krankung in diesem und jenem System ihre verwandtschaftliche Be- ziehung sich quant i ta t iv ergeben. Auch innerhalb einer einheitlicheu Krankheitsgruppe, wie der K~ltegruppe, k6nnte man ftir jeden ein- zelnen S tammbaum und selbst innerhalb des S tammbaums fiir die eiu- zelnen FMle die Sti~rke der einzelnen Symptome und gewisse Abstu- fungen festlegen.

1) Goldflam, Weitere Mitteilung fiber die paroxysmale famili'~re L~ihmung. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 7, 1, 1895 u. II, 242. 1897.

Z. f. d. g. I~'eur. u. Psych. O. XXXIV. 8

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Wegen der beherrschenden Stellung der Muskellahmung erscheint uns die Verwandtschaft der Kaltegruppe zur paroxysmalen familiaren Lahmung die starkste zu sein. Daneben bestehen auch B e z i e h u n g e n z 51 r T h o m s e n s c h e n K r a n k h ei t durch die besonders in den distalen Extremitaten - - and in den Gesichtsmuskeln auftretende Steifig- keitszust~nde. Dabei ist aber in allen Fallen unserer Gruppe ein bei dcr echten T h o m s e n s c h e n Krankheit fast nie fehlendes Merkmal zu vermissen, ni~mlich die Besserung der Beweglichkeit, d. h. die Ver- minderung der Steifigkeit durch die Wiederholung der Kontraktion. Entweder die Wiederholung der Kontraktion i~ndert den Steifigkeits- zustand fiberhaupt nicht, oder sie macht ihn nur noch schlimmerl). Nur in dem Falle yon R i c h , der mir nur im Referat vorliegt, findet sich die vielleicht nach dieser Richtung zu deutende Angabe, da13 die Affektion nur r u h e n d e Muskeln, beim Gehen die Arme, beim Sitzen die Beine betreffe. Das Urteil S t ickers~) , durch den D e l p r a t s c h e n Stammbaum - - Vorkommen von T h o m s e n scher Krankheit bei zwei Mitgliedern einer Paramyotoniefamilie - - sei bewiesen, dal~ die beiden Krankheiten ,,ira Grunde zusammengehSrten", erscheint mir unscharf. Selbst wenn Kombinationen vork~men, mill]ten sie doch aufgelSst werden.

In der Art dcr e l e k t r i s c h e n R e a k t i o n w a h r e n d des S t e i f i g - k e i t s z u s t a n d e s kSnnen auch wesentliche Abweichungen yon der typischen myotonischen Reaktion bestehen, obgleich es ja wohl zweifel- haft bleiben kann, ob die myotonische Reaktion der T ho mse nschen Krankheit nicht auch ihre Modifikationen hat. E u l e n b u r g sah keine Spur von Nachdauer, sondern nur die Neigung zur Dauerkontraktion wahrend der Durchstr5mung mit dem konstanten Strom. In c~en Fi~llen von v. S51der bestand ebenso wie in meinem neben der Neigung zum Schliel~ungstetanus auch ausgesprochene Nachdauer. Die mechanische myotonische Erregbarkeit fehlte in meinem Fallc, whhrend die Uber- einstimmung mit der Reaktion bei der echten T h o msenschen Krank- heit in dem Falle von M a r t i u s eine vollkommene war. In den Fallen von v. SS lde r kam die ausgesprochene ErschSpfbarkeit, also eine Kombination mit myasthenischer Reaktion hinzu. Mit Ausnahme des Falles von M a r t i u s ist in den blsher beschriebenen FMlen tibrigens nicht mit der wiinschenswerten Genauigkeit die elektrische Reaktion im Kalteanfall von der bei mSglichst normalem Zustand unterschieden

1) Bei Thomsenscher Krankheit ist das sehr selten, wohl nur in einem sehon in E r b s Monographie zitiert~n Falle yon Wie c h m a n n beobachtct. Ieh habe zur Zeit einen eehten Thomsen in Beobachtung, der die Besscrung dureh wiederholte Bewegungen zwar in den meisten Muskeln, nicht aber in den Handmuskeln zeigt.

s) G. Sticker, Erkaltungskrankheiten und Kalteschaden. Berlin, Springer 1916, S. 44.

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worden, und andererseits w~ren in dem M a r t i u s s e h e n FaUe vielleicht bei noch st~rkerer Einwirkung yon Ki~Ite noch andere Veri~nderungen der elektrisehen Erregbarkeit zu erzielen gewesen. Ein ganz prinzi- pieller Unterschied der Ki~ltekrankheit gegeniiber der T ho m se n schen Krankheit besteht welter noch in dem anfallsweisen Auftreten der ersteren gegeniiber dem Dauerzustand der letzteren. Wenn auch be- reits erwi~hnt war, dai3 gewisse dauernd pathologisehe Muskelreak- tionen in einzelnen Fi~llen der K~ltekrankheit vorkommen, so war in diesem Punkte mein Fall vSllig einwandfrei, d. h. in der W~rme ohne jede pathologische Reaktion.

Erwi~hnt sei als eine V e r w a n d t s e h a f t zu d e r G r u p p e d e r C r a m p i dann noch das regelm~13ige Auftreten von Wadenkr~mpfen unter dem Einflui3 yon Ki~lte in meinem Fall.

Was nun den p a t h o l o g i s e h e n M e e h a n i s m u s des bei d e r K ~ l t e l ~ h m u n g e n t s t e h e n d e n M u s k e l z u s t a n d e s betrifft, so ist eins sieher, dal3 es sich eben nur um einen Zustand in der Muskelfaser selbst handeln kann. Der Zustand ist charakterisiert dutch eine Muskel- sehw~che, d. h. eine Verminderung der Contractilit~t; in einer Anzahl Muskeln kommt es zu einer Steifigkeit, welehe gleichfalls nur als peri- pher angesehen werden kann und welehe in die L~hmung tibergehen kann. Da~ diese Zust~nde nur durch Veri~nderung der contractilen Muskelsubstanz erkl~rt werden kSnnen, geht wohl am siehersten aus der Vergnderung, Verminderung und dem sehliel31ichen Verlust der elektrisehen Erregbarkeit hervor. E u l e n b u r g hat nun die Theorie aufgestellt, daf~ dieser Ver~nderung eine durch Kalte reflektoriseh her- vorgerufene tempor~re spastisehe Verengerung der Muskelgef~$e zu- grunde liege, v. S S l d e r hat sich ihm angeschlossen. Diese Theorie s tammt aus einer Zeit, wo man viel zu sehr geneigt war, jede Ver~nde- rung im Protoplasma auf vasomotorische Einfliisse zu beziehen. So wollte J o l l y aueh die Ursache der T h o m s e n s c h e n Krankhei t auf angioneurotischem Gebiete finden. Mir ist keine Tatsaehe bekannt, die gestatten wiirde, schon die eigentiimlichen myotonisehen Reaktionen w~hrend der K~lteeinwirkung auf eine Anamie des Muskels zu beziehen. Ganz und gar nieht gilt das nun ftir den Verlust der elektrischen Er- regbarkeit, der in unserem Falle festgestellt ist. Bei Operationen in E s m a r e h s e h e r Blutleere kann man sieh doeh oft genug iiberzeugen, dab eine An~mie des Muskels yon einer Viertelstunde Dauer fast keine Einwirkung auf die elektrische Erregbarkeit des Muskels hat; im Falle der K~ltel~hmung hat eine solehe kurzdauemde Einwirkung einen EinfluB auf die Muskulatur, welcher sieh nach vielen Stunden bemiBt und welcher sogar naeh AufhSren der K~lteeinwirkung noeh fort- sehreitet. Mindestens mfil3te man jedenfalls auSer der angiospastisehen AuslSsung noeh eine besondere Konsti tution der Muskelfasern an-

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nehmen, aber ebensogut kann man die angiospastische Theorie bei- seite lassen und wird einfach anerkennen mfissen, dal] es sich bei dem Einflusse der Khlte in den Fallen yon K~tltelahmung um die A u s l S s u n g e i g e n t i i m l i c h e r p h y s i k M i s c h - c h e m i s c h e r Vor- g~nge im Muskel handelt. Ich habe reich auch durch Anlegen einer Esmarchschen Binde fiberzeugt, dM~ so nur ganz rudimenti~re Anfgnge des pathologischen Zustandes zu erzielen waren in der gleichen Zeit, in der K~tlte schon ganz ausgesprochen wirkte. Es mag sich bei der Kgltewirkung um G e r i n n u n g s v o r g g n g e oder Aus- f g l l u n g e n o. dgl. ha ndeln, die betreffenden Vorg~tnge sind jedenfMls auch nicht sogleich wieder reversibel, sondern die einnml veritnderte Muskelsubstanz braucht Stunden, um zu ihrem NormMzustand wieder zurtickzukehren. Dabei ist nun freilich eins besonders merkwiirdig, dab n~imlich diese offenbar periphere physikalisch-chemisehe Vergnde- rung nicht nur unter dem unmittelbaren Einflusse der Kglte auf die Muskelsubstanz vor sich geht. Es ist ja wohl v611ig ausgeschlossen, dab eine K~lteeinwirkung in wenigen Minuten dutch die tIaut bis in die tiefer gelegenen Muskeln hindurchdringen k6nne; zum UberfluB beweist der yon mir berichtete Versuch, wonaeh bei Abktihlung nur einer Hand, wenn auch langsamer, in der anderen in der Warme ge- bliebenen Hand der gleiche Zustand eintritt, dab eine l oka l e Kg l t e - e i n w i r k u n g n i c h t B e d i n g u n g f a r die A u s b i l d u n g des k r a n k - h a f t e n M u s k e l z u s t a n d e s ist. Far die Erkl/~rung dieser Fernwir- kung bleiben zwei Wege, entweder man kann annehmen, dab unter Umgehung des zentrMen Nervensystems in der Peripherie gewisse Wege im Gewebe Veranderungen fortleiten. Unseren augenblieklichen Vor- stelhmgen vom Nervensystem wSrde allerdings mehr entsprechen die andere Ammhme, dab diese Erregungen dureh das zentrMe Nerven- system, insbesondere dureh das Rtickenmark gingen. Freilieh warde es den meisten wohl eine gewisse Sehwierigkeit bedeuten anzunehmen, dab solche reflektorischen Impulse unmittelbar eine Veranderung des physikMisch-chemischen Zustandes der Muskulatur hervorbringen k6nnten. Da aber doeh schlie61ich die Muskelkontraktion selbst nnr eine J~nderung des physikMisch-chemisehen Zustandes des Muskels bedeutet, so wiirde ieh schlieBlich in der r e f l e k t o r i s c h e n Aus- 15sung e ines a n d e r e n p h y s i k M i s e h - e h e m i s e h e n Z u s t a n d e s d u rch die K~l t e eine unfibersteigbare und grundsatzliehe Sehwierig- keit nieht erblicken k5nnen, sondern nur eine bemerkenswerte Be- reicherung der Vorstellungen, die wit uns fiber den Zusammenhang der peripheren Muskulatur mit dem zentrMen Nervensystem zu maehen hgtten. Nach dieser I~ichtung sei noch bemerkt, daft ich eine enge Ver- wandtsehaft der von der Mlgemeinen Muskelphysiologie studierten Vergndertmg der Erregbarkeit des d i r e k t abgekfihlten Muskels mit

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der iu unsercm Falle von K~ltelahmung festgestellten nicht ersehen kannl). Dagegen, dal~ es sich bei der K~ltel~hmung um einen dem im abgektihlten Muskel gleichen Zustand handelt, spricht auch die hier zuerst hervorgehobene Beziehung zur G o l d f l a m s c h e n Krankheit. Der physikalische Zustand des Muskels ist bier und dort viellcicht ganz identisch, und doch ist bei der G o l d f l a m s c h e n Krankheit die Kalte ohne jeden Einflu[3.

Eine anatomische Untersuchung eines Muskelsttickchens wurde in unserem Falle unterlassen, weil wir uns zu dem Eingriff nicht fiir be- rechtigt hielten. In den yon v. SS lde r , sowie yon M a r t i u s und H a n s e - m a n n beobachteten Fi~llen, die, wenn auch nicht ganz mit unserem tibereinstimmen, so doch zweifellos in die Gruppe der KMteli~hmungen gehSren, hat die Untersuchung ergeben, da[t der Befund ein sehr ~ihn- licher wie bei der echten T h o m s e n schen Krankheit war : Faserhyper- trophie und Kernvermehrung. Irgendeinen Schlul~ auf die Verwandt- schaft oder auf die Identit~t der beiden Krankheitszust~nde aus einem solchen pathologisch-anatomischen Befunde zu ziehen, wiirde ich auch dann nicht ftir erlaubt halten, wenn unsere Kenntnisse der patho- logischen Muskelstruktur auf der gleichen HShc w~ren wie die der pathologischen Nervenstruktur.

Ich komme zu folgenden z u s a m m e n f a s s e n d e n Si~tzen: Die erbliche K~,lteli~hmung ist eine umschriebene Krankheitsein-

heir, gekennzeichnet durch den abnormen Einflu~ niedriger Tempe- raturen auf die Kontraktionsf~higkeit der Muskulatur. Die Kon- traktionsfi~higkeit der Muskulatur wird dutch die Ki~lte vermindert und kann schlieBlich aufgehoben werden. Parallel damit geht eine Abnahme bis zur schlie[tlichen Aufhebung der elektrischen Erreg- barkeit. Mit der Verminderung der Kontraktionsfiihigkeit und der elektrischen Erregbarkeit der Muskulatur kann eine Steifigkeit der Muskulatur eintreten, die aber in manchen Muskeln, insbesondere in den proximalen, fehlen kann, und die in einzelnen F~llen iiberhaupt fast vSllig vermiiBt wird. Mit der Zunahme des pathologischen Zu- standes kann die Steifigkeit der schlaffen L~hmung Platz machen. Dem Zustand der Steifigkeit entsprechen myotonieiihnlichc, in manchen Fi~llen auch mit der klassischen myotonischen Reaktiou tibereinstim- mende Ver~nderungen der elektrischen Erregbarkeit.

D~uer und St~rke des pathologischen Zustandes ist in den einzelnen Fi~llen verschieden, am geringsten im allgemeinen in der Kopf- bzw. Gesichtsmuskulatur. In den meisten F~llen tiberdauert der patho-

1) Vgl. v. Frey , Allgemeinc Physfi)logie der qucrgcstreiften Muskeln, in Nagels ttandb, der Phys. Bd. 4, 1907, S. 458. Nach dieser Darstellung ist allerdings auch physiologisch die Frage des Zuckungsverlaufs bci verschiedenen Temperaturen keineswegs durchgearbeitet.

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logische Zustand in den Gliedermuskeln die Ki~lteeinwirkung einige Stunden. Der EinfluB der K~lte ist mindestens zum Tell ein indirekter, wahrscheinlich reflektorischer. Angiospastischen Einfltissen kann dabei eine entscheidende Rolle nicht zukommen.

Der pathologische Zustand der Muskulatur in der ausgesprochenen Ki~lteli~hmung scheint groSe ~hnlichkeit oder vielleicht volle Uber- einstimmung mit dem der paroxysmalen famili~ren Lghmung zu haben, nur dab die Ki~lte bei dieser ohne jeden Einflul3 ist. Der physikalisch- physiologische Zustand der Steifigkeit bei der Kiiltel/s zeigt andererseits grol~e Xhnlichkeit mit dem der Thomsenschen Krank- heit; im iibrigen aber ist die Beziehung der erblichen K~lteli~hmung zur Thomsenschen Krankheit eine ober'ft~chlichere und die beiden Krankheitseinheiten durchaus voneinander zu trennen.

Die Myotonie und die myotonische Reaktion sind nur Symptome, die nicht einmal ganz feststehend sind, sondern Abarten zeigen. Sie kommen bei mehreren Krankheitsformen vor, von denen bisher die Thomsensche Krankheit, die Myotonische Muskelatrophie und die Erbliche Ki~ltelis vielleicht auch die Paroxysmale famili~re L~th- mung unterschieden werden kSnnen.