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In: Robert L. Benson, Johannes Fried (Hgg.), Ernst Kantorowicz Erträge einer Doppeltagung (Princeton/Frankfurt), Stuttgart 1997 Ernst Kantorowicz Das Geheime Deutschland Vorlesung, gehalten bei Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit am 14. November 1933* - Edition von Eckhart Grünewald - Es ist alter akademischer Brauch bei Neuantritt eines Amtes sich durch eine eigene Vorlesung mit seinem künftigen Hörerkreis bekannt zu machen. Ich habe zwar nur ein Semester hindurch meine öffentliche Lehrtätigkeit ruhen lassen .. doch das ungeheuere Geschehen der letzten Monate rechtfertige es, dass auch die blosse 'Wiederaufnahme eines Lehramtes als Gelegenheit ergriffen werde, sich seinen Hörern von neuem vorzustellen. Heute will ich darum, bevor ich zu dem eigentlichen Stoffgebiet dieses Wintersemesters übergehe, Ihnen in einer Art "Antrittsvorlesung" über ein ganz anderes Thema sprechen. Mehr als jede Erklä- rung mag dann dieses Bekenntnis - und warum führte man den Titel eines "Professor", wollte man nicht in entscheidenden Stunden auch Bekenner zu sein den Mut haben! - Ihnen zum Verständnis dienen, warum- meine Auffassungen über letzte Quelle und letztes Ziel alles Lehrens sich unverändert gleichbleiben durften, so dass ich heute genauso zu Ihnen sprechen kann wie ehedem und genauso den Faden wiederaufzunehmen gewillt bin, wie er im Frühjahr zu Boden fiel. Daraus wird sich freilich Eines ergeben: dass Sie von mir nicht erhoffen dürfen, ich würde Klüfte mit Flechtwerk überdecken und Schwierigkeiten ver- meidend mir mit Phrasen heraushelfen, wo doch nur Eins dem heutigen wie dem künftigen Deutschland zu dienen vermag: Klarheit und ein durch nichts zu * Das Manuskript der Vorlesung von Ernst Kantorowicz liegt in zwei Fassungen vor: die erste Fassung "F" aus dem Nachlaß von Ernst Kantorowicz im Leo Baeck Institute, New York, das mit hoher Wahrscheinlichkeit den Text wiedergibt, den Kantorowicz in seiner. Frankfurter Vorlesung vorgetragen hat. Die zweite Fassung ist aus dem Nachlaß von Edgar Salin, C 34, Öffentliche Bibliothek der Universität Basel. Diese Fassung hat Ernst Kantorowicz mit Schrei- ben vom 23.11.1933 an Salin übersandt; er wollte sie Stefan George zukommen lassen, der, schon schwer krank, in Minusio bei Locarno wohnte. Diese zweite Fassung ist von Ernst Kantorowicz stilistisch leicht überarbeitet worden, ihr Wortlaut wird in dieser Edition wiederge- geben. Der abweichende Wortlaut der ersten Fassung "F" ist jeweils in den alphabetischen Fußnoten dokumentiert. Die Rechtschreibung von Ernst Kantorowicz wurde beibehalten, so z.B. die im George-Kreis gebräuchliche Verwendung des "ss" statt .B" und andere Eigenheiten. Orthographische Fehler wurden stillschweigend berichtigt. Ralph Giesey, Tucson, Arizona, dem Schüler und Freund von Ernst Kantorowicz und Erben seines wissenschaftlichen Nachlasses, sei gedankt für die Erlaubnis, den Text zu publizieren. a F: dass

Ernst Kantorowicz Das Geheime Deutschland 1933

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Page 1: Ernst Kantorowicz Das Geheime Deutschland 1933

In: Robert L. Benson, Johannes Fried (Hgg.), Ernst KantorowiczErträge einer Doppeltagung (Princeton/Frankfurt), Stuttgart 1997

Ernst Kantorowicz

Das Geheime DeutschlandVorlesung, gehalten bei Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit

am 14. November 1933*

- Edition von Eckhart Grünewald -

Es ist alter akademischer Brauch bei Neuantritt eines Amtes sich durch eineeigene Vorlesung mit seinem künftigen Hörerkreis bekannt zu machen. Ich habezwar nur ein Semester hindurch meine öffentliche Lehrtätigkeit ruhen lassen ..doch das ungeheuere Geschehen der letzten Monate rechtfertige es, dass auch dieblosse 'Wiederaufnahme eines Lehramtes als Gelegenheit ergriffen werde, sichseinen Hörern von neuem vorzustellen. Heute will ich darum, bevor ich zu demeigentlichen Stoffgebiet dieses Wintersemesters übergehe, Ihnen in einer Art"Antrittsvorlesung" über ein ganz anderes Thema sprechen. Mehr als jede Erklä-rung mag dann dieses Bekenntnis - und warum führte man den Titel eines"Professor", wollte man nicht in entscheidenden Stunden auch Bekenner zu seinden Mut haben! - Ihnen zum Verständnis dienen, warum- meine Auffassungenüber letzte Quelle und letztes Ziel alles Lehrens sich unverändert gleichbleibendurften, so dass ich heute genauso zu Ihnen sprechen kann wie ehedem undgenauso den Faden wiederaufzunehmen gewillt bin, wie er im Frühjahr zu Bodenfiel.

Daraus wird sich freilich Eines ergeben: dass Sie von mir nicht erhoffendürfen, ich würde Klüfte mit Flechtwerk überdecken und Schwierigkeiten ver-meidend mir mit Phrasen heraushelfen, wo doch nur Eins dem heutigen wie demkünftigen Deutschland zu dienen vermag: Klarheit und ein durch nichts zu

* Das Manuskript der Vorlesung von Ernst Kantorowicz liegt in zwei Fassungen vor: dieerste Fassung "F" aus dem Nachlaß von Ernst Kantorowicz im Leo Baeck Institute, New York,das mit hoher Wahrscheinlichkeit den Text wiedergibt, den Kantorowicz in seiner. FrankfurterVorlesung vorgetragen hat. Die zweite Fassung ist aus dem Nachlaß von Edgar Salin, C 34,Öffentliche Bibliothek der Universität Basel. Diese Fassung hat Ernst Kantorowicz mit Schrei-ben vom 23.11.1933 an Salin übersandt; er wollte sie Stefan George zukommen lassen, der,schon schwer krank, in Minusio bei Locarno wohnte. Diese zweite Fassung ist von ErnstKantorowicz stilistisch leicht überarbeitet worden, ihr Wortlaut wird in dieser Edition wiederge-geben. Der abweichende Wortlaut der ersten Fassung "F" ist jeweils in den alphabetischenFußnoten dokumentiert. Die Rechtschreibung von Ernst Kantorowicz wurde beibehalten, so z.B.die im George-Kreis gebräuchliche Verwendung des "ss" statt .B" und andere Eigenheiten.Orthographische Fehler wurden stillschweigend berichtigt.

Ralph Giesey, Tucson, Arizona, dem Schüler und Freund von Ernst Kantorowicz und Erbenseines wissenschaftlichen Nachlasses, sei gedankt für die Erlaubnis, den Text zu publizieren.

a F: dass

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erschütternder Glauben an die Unsterblichen dieses Landes und seine" Verheis-sungen. Und das mag unsere gemeinsame Basis bilden.

I.

Das Thema dieser Antrittsvorlesung soll heissen: Das Geheime Deutschland.Manchen von Ihnen wird unbekannt sein, dass dieser Begriff "das geheime

Deutschland" schon seine Geschichte hat. Von Lagarde geprägt', hat Langbehn,der .Rernbrandt-Deutschev-, den Begriff übernommen und ihn in dem Sinnangewandt, dass er von Rembrandt, Beethoven, Goethe als den "wahren Kaiserndes geheimen Deutschland" sprach. Dann griff Karl Wolfskehl im ersten Jahr-buch für die geistige Bewegung das Wort vom "geheimen Deutschland" auf undgab ihm einen etwas andern Sinn-'. Wolfskehl verstand unter dem "geheimenDeutschland" die Träger gewisser deutscher, noch schlummernder Kräfte, inwelchen sich das zukünftige erhabenste Sein der Nation vorgebildet oder schonverkörpert fand. In dem "geheimen Deutschland" sah er die Empfänger einer-unveränderlichen, ewig gleichen- Kraft, die als Unterstrom unter dem sichtbarenDeutschland geheim bleibt und auch nicht anders zu fassen ist als durch Bilder.Zugleich übertrug Wolfskehl den Begriff auf eine lebende Gemeinschaft, welchediese geheimen Kräfte bewahrte und behütete. Ihm war das "geheime Deutsch-land" jenes "einzig lebendige" der Vorkriegszeit, das - erweckt durch die neueDichtung - damals allein in der Umgebung Stefan Georges zu Wort gekommenist und sich in ihr manifestierte.

"Dass dies geheime Deutschland - so schrieb Wolfskehl im Jahre 1910 -nicht verdorrt ist, dass es vernehmlicher denn seit langem aus seiner Berg- undHöhlenentrückung herauf will ans Licht, das gibt uns die tiefe Zuversicht für eineZukunft, die gewiss ernst, schwer und düster, gewiss voll der unerhörtestenErschütterungen sein wird, in der aber auch zum letzten Male vielleicht dieTiefenkräfte" sich offenbaren wollen. "5

) Paul de Lagarde (*1827, t1891), Orientalist, Kulturphilosoph und Zeitkritiker, in seinenSchriften "Die Religion der Zukunft" (1878) und "Über die gegenwärtige Lage des DeutschenReiches" (1886) , s. hierzu das Kapitel "Das 'Geheime Deutschland:" in: Eckhart Grünewald,Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre1938 und zu seinem Jugendwerk "Kaiser Friedrich der Zweite", Wiesbadenl982, S.74 ff; PeterHoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, Stuttgart 1992, S.61 ff.

2 Julius Langbehn (* 1851,t1907), Schriftsteller, hatte unglaublichen Erfolg mit seinemBuch .Rernbrandt als Erzieher. Von einem Deutschen" (1. Aufl. 1890,55. Aufl. 1922), darin vorallem das Kapitel "Der heimliche Kaiser", in der Erstauflage S.352-356, hierzu Grünewald (wieAnm.l) S.78 f.

3 Karl Wolfskehl (* 1869,t1948), Dichter, Freund und Mitarbeiter Stefan Georges, in sei-nem Aufsatz "Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur", in: Jahrbuch für die geistigeBewegung 1 (1910) S. 1-18.

4 Im Text von Wolfskehl heißt es nur: "Tiefen".5 Wolfskehl (wie Anm.3) S.15.

b F: ihrec-<; F: unveränderlich, sich ewig gleichbleibender

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Mit dieser Zuversicht, mit dem Glauben an das Sein eines "geheimen Deutsch-land" verband dsich, zunächst nur bei einigen Wenigen, auch" der Glauben an dieNation und ihre glänzende Wiedergeburt. In den Jahren der grössten wirtschaftli-chen Not Deutschlands nach dem Kriege, die manche sonst stumme Saite wiederspannte und leise anklingen liess, fanden sich wohl einige mehr, die sich zueinem "geheimen Deutschland" bekannten. Doch sie weiteten den Begriff nurauf, suchten sich das schwer zu Erringende etwas billiger zu gestalten, es mitganz andern Wesenheiten: Tageszielen und Sonderbelangen, Grüppchen undBündchen zu verquicken'', bis schliesslich der Dichter selbst der Gefahr einerVerwässerung entgegentrat: in dem Gedicht "Geheimes Deutschland"? ward einmythisches Bild gegeben und mit ihm das Mysterium des andern Reiches ge-schaffen. Unter den Zeichen einzelner Begegnungen mit Menschen seines Freun-deskreises hüllt der Dichter hier die fremdesten seltsamsten der wirkenden Mäch-te des "geheimen Deutschland" ein in die Unhebbarkeit von Lebensbildern,welche jeder Zersetzung trotzen und der Zerre dung entrückt sind .

.über diese Lebensbilder Heutigen Aufschluss zu geben, erübrige sich -einmal weil die Kenntnis von Einzelheiten wenig besagte und doch kein stärkeresBild in der Seele hinterliesse als das Gedicht selbst.. dann weil es dem Sinn derSchlussverse widerspräche, dass Geheimes nicht auch geheim bleibe, dass

Nur was im schützenden schlafWo noch kein taster es spürtLang in tiefinnerstem schachtWeihlicher erde noch ruht-Wunder undeutbar für heutGeschick wird des kommenden tages. 8

Nicht über das engere "geheime Deutschland", in welchem der Dichter lebtund lebte, sondern über das weitere "geheime Deutschland", das zu erkennen erdurch sein Leben lehrt und lehrte, will ich heute zu Ihnen sprechen .. also vonjenem grösseren "geheimen Deutschland", dessen Epiphanien uns allen wohlbe-kannt sind und die es hier als ein Gesamt zu fassen gilt.

11.

Unnötig, Ihnen nach dem Angedeuteten noch ausdrücklich zu erklären, dass mandas "geheime Deutschland" weder als einen verbotenen Geheimbund suche, derirgendwo, noch als ein utopisches Hirngebilde höhne, das nirgendwo zu treffen

6 Beispiele wären vielleicht: Friedrich Glum, Das geheime Deutschland. Die geheimeAristokratie der demokratischen Gesinnung, Berlin 1930; Jacob Schaffner, Die Predigt derMarienburg, Berlin 1931; Franz Schauwecker, Deutsche allein. Schnitt durch die Zeit, Berlin1931.

7 Stefan George, "Geheimes Deutschland", in: Das Neue Reich. Gesamt-Ausgabe derWerke. Endgültige Fassung, Bd.9, Berlin 1928, S.59-65

8 Ebd., S.65.

d-d F: sich bei einigen Wenigen auch

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sei. Das "geheime Deutschland" ist gleich einem Jüngsten Gericht und Aufstandder Toten stets unmittelbar nahe, ja gegenwärtig .. ist tödlich-faktisch und seiend.Es ist die geheime Gemeinschaft der Dichter und Weisen, der Helden undHeiligen, der Opfrer" und Opfer, welche Deutschland hervorgebracht hat und dieDeutschland sich dargebracht haben .. die Gemeinschaft derer, die - obwohlbisweilen fremd erscheinend - dennoch allein das echte Antlitz der Deutschenerschufen. Es ist als Gemeinschaft ein Götterreich wie der Olymp, ist ein Geister-reich wie der mittelalterliche Heiligen- und Engelsstaat, ist ein Menschenreichwie Dantes als "Humana civilitas" erschaute Jenseitswelt der drei Bezirke .. es istdie in Stufen und Ränge geordnete Heroenwelt des heutigen, des künftigen unddes ewigen Deutschland. Von dem "geheimen Deutschland" - gebunden diesmalan den tatsächlichen deutschen Raum, obwohl weit über ihn hinausgreifend -gelte daher das Nämliche wie von allen Mysterien: 'toü'to BE E'YEVE'tOJlEVOUBE1tO'tEEän BE OEl, "dieses hat sich nie zugetragen, hat sich niemals begeben,aber es ist immerwährend und ewig."

Das will besagen: ein solches geheimes Reich, das niemals da war und dochewig ist, erschliesst sich so wenig wie die Mysterien einem Jeden. Aber werAugen hat zu sehen und Ohren zu hören, der weiss, dass fast zu allen Zeiten, seites ein "Deutsches" im emphatischen Sinne des Worts gab, bis zum heutigen Tagunabhängig von dem jeweiligen Zustand, der jeweiligen Verfassung des Reichsimmer noch ein andres Deutschland gewesen ist, welchem jenseits des öffentlichsichtbaren Reiches' Wesen und Leben beschieden war. Es ist ein Seelenreich, inwelchem immerdar die gleichen deutschesten Kaiser eigensten Ranges und eigen-ster Artung herrschen und thronen, unter deren Zepter sich zwar noch niemals dieganze Nation aus innerster Inbrunst gebeugt hat, deren Herrenturn aber dennochimmerwährend und ewig ist und in tiefster Verborgenheit gegen das jeweiligeAussen lebt und dadurch für das ewige Deutschland. "Das Beste ist (um hierGoethe, einen der gHerrscher jenen geheimeng Reiches, sprechen zu lassen) dietiefe Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachse und gewinne, was sie mirmit Feuer und Schwert nicht nehmen können."

In der Tat: gegen alles Gewaffen sind die Herrscher des "geheimen Deutsch-land" gefeit, und man wird ihrer nicht habhaft, indem man ihr Bild auf die Strassezerrt, sie dem Markt anähnelt und dann als eigen Fleisch und Blut feiert!" Dannzerinnen die Schatten .. und Sie wissen aus der homerischen Nekyia? und dem VI.Buch der Aeneis!", Sie wissen aus der .Divina Commedia", dass nur unterbesonderen Umständen die Seltnen das Reich der Schatten betreten durften unddass selbst den Seltnen die Schatten oft nur unwillig Rede und Antwort standen.Wem es also nicht todernst ist mit diesem "geheimen Deutschland", wer sich mitihm nur brüsten will oder gar: es missbrauchen will zu unlautrem Zweck - der

9 Odyssee, 11. Gesang.10 Vers 232-898.

e F: Opfererf F: Deutschlandg-g F: Kaiser jenesh F: feiert.

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werfe keinen Blick erst auf dieses geheime Reich. Auch die Genien können töten!Durch ihr blosses Sein sind sie Richter, und immer vernichten sie den, der siemutwillig beschwört und sich dadurch mit ihnen und an ihnen misst. Mit Gewaltist dieser Himmel niemals zu stürmen, und laue Heuchelei verschafft keinenZutritt selbst zum Inferno. Denn die Bewohner des "geheimeni Deutschland" sindVornehme, geben sich keinem Zugriff unlautrer Hände preis und küberhören denAnruf eines" Geschlechts, das

nicht höhen kennt, die seelen-höhen sind.t)

Suchen Sie also, wie dies' Ihnen ansteht und zukommt, Ihren Götterhimmelund Ihre Richter? - nun gut: hier sind Ihre Götter, hier Ihre Heiligen .. hier ist dasForum, vor dem jedes Geschlecht, vor dem wir alle uns zu verantworten haben'".Und von dieser Welt ein Etwas zu ahnen, geschweige zu fassen, ist keine Sachematerialistischer Prädestination, sondern neben der selbstverständlichen Helleeinzig und ausschliesslich Sache der Ehrfurcht und Sache der Liebe! Das willsagen: Liebe zu der im "geheimen Deutschland" verkörperten Dreieinheit, die daheisst: Schönheit Adel Grösse! Wer diese Liebe nicht aufbringt und nicht dieEhrfurcht, welche der Liebe entspringt und umgekehrt, oder wer glaubt, es besserzu wissen als jene Genien, der versuche sich ihnen niemals zu nahen: er erfasstnichts als ein paar leere Redeforrnen" .. das "geheime Deutschland" aber bleibt fürihn stumm wie jedes Reich der Mysterien und Mythen.

Denn ein solches Reich ist das "geheime Deutschland". Es ist ein Reich zu-gleich von dieser und nicht von dieser Welt.. ein Reich zugleich da und nicht da ..ein Reich zugleich der Toten und der Lebenden, das sich wandelt und dennochewig ist und unsterblich - gelenkt von seinen Kaisern und einem Adel, welchersich nicht aus Zeugungsregeln, sondern durch die Zeugung geheimster Mächteerneuert und somit dem Wirken der Faten noch Raum lässt:

Stammlos wachsen im gewühleSeltne sprossen eignen ranges'?

IH.

Lassen Sie mich von diesen Kaisern und von diesem Adel jetzt sprechen. Gewisswäre es eine lockende Aufgabe, die Heldenschau dieses geheimen Reiches zugeben, die deutschen Hierarchien zu ordnen und ein genaueres Bild jener Heer-

lIStefan George, "Goethe-Tag", in: Der Siebente Ring. Gesamt-Ausgabe der Werke. End-gültige Fassung, Bd.617, Berlin 1931, 5.10.

12 Stefan George, "Neuen adel den ihr suchet", in: Der Stern des Bundes. Gesamt-Ausgabeder Werke. Endgültige Fassung, Bd.8, Berlin 1929,5.85.

i F: geheimenk-k F: hören auf den Anruf keinesI diesesm F: haben, ob wir mit dem uns übermachten Pfunde hinlänglich gewuchert haben.n F: Phrasen

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scharen hervorzuzaubern. Aber wollte ich eine solche .Divina Commedia teutsch"schreiben, so reichte ein Leben nicht aus und ich müßte ein Dante sein und nichtbloss ein Professor der °Historik. Als solcher jedoch zunächst" ein paar Worteüber die Genealogie dieses Reiches und seine geschichtliche Stellung.

Jedes starke und so glaubensfähige Geschlecht wie das Ihre schuf sich seineGötterbereiche mit hohen und niederen Gottheiten, deren Allheit und derenVielheit wiederum alle urmenschliehen Artungs- und Seinsmöglichkeiten einesLebenskreises widerspiegeln, also:" ein Universales darstellen. Am unmittel-barsten und vollzähligsten erfasste und vergottete Hellas die menschlichen Ur-kräfte und Urerscheinungen in dem Gestaltenreichtum seines Olymp, seinerGötterwelt. Und Hellas blieb für das Abendland ein so nicht wieder erreichtesUrbild. Denn seither ist im Grunde an menschlichen Urgestaltungen nichts Neuesmehr dazugekommen .. nur sehr Vieles verloren.

Auch die Herrschaft des qEinen Gottes'! brachte in gewissem Bereich keinenWandel. Denn unbeschadet das All in ihn einging, erwies sich bei lebendigemKult die Erschaffung einer Heiligen- und Genienwelt als unvermeidlich, inwelcher sich die menschlichen Urbilder der christlichen Ewigkeit und des christ-lichen Allraums fanden. Daneben schufen sich die Nationen ihre Nationalheiligen,und es stand am Anfang der Geschichte fast aller abendländischen Staaten einheiliggesprochener König als Nationalheiliger und Heros eponymos, der demLande Patron war und in welchem das Volk seine höchste christliche Ausdrucks-form ehrte. Einzig Deutschland von allen Staaten Europas macht hierin eineAusnahme: eine eigentlich' nationale Heiligenwelt hat das Mittelalter den Deut-schen nicht hinterlassen.

Als dann die ausschliessliche Allherrschaft der römischen Kirche zu Endeging, das zweite grosse Göttersterben mit der Säkularisation der mittelalterlichenWelt anhob .. als verklärt durch den schaurig-süssen Zauber der Frührenaissanceder Weg ins Diesseits gebrochen wurde: da hat Dante aus den Schatten derchristlichen Jenseitswelt die neue menschliche Götterwelt erschaffen. Dante hatdie Seelenhierarchien des Weltkreises und der Weltzeit zusammengeschaut undgeordnet und aus ihnen ein neues Reich, das der .Humana Civilitas", der Mensch-heitskultur erstellt, dessen Bild als geheimer zeugender Kraftkern die Renais-sance beherrscht und Europa durchformt hat und noch in die heutige Zeit über-schwingt. Nur Deutschland hatte - nach frühem verheissungsvollem Beginn,welchen die Glaubensspaltung vernichtete - auch an Dantes .Humana Civilitas",an der Menschheitskultur der Renaissance spärlichen Anteil.. denn wo die Philo-sophie bei den Führern des Volkes als "ein altes Weib, das nach Griechenlandstinkt", gelten konnte, hatte auch Apoll keinen Raum. Eine Götterwelt konntehier so bald nicht entstehen.

In diese Reihe der mythischen Politeien - hellenische Götterwelt, civitas Dei,humana civilitas - fügt sich das "geheime Deutschland" für alle kommende Zeit,

0-0 F: Historik. (Absatz) ZunächstP F: alsoq-q F: Eingottsr Fehlt in F

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die uns angeht, als das letzte Glied an. Wohl zeigt es als ein Menschenreichgewisse Verwandtschaft mit dem letztvorangegangenen Reich Dantes. Aber ausder universalen Christenheit war Europa geworden: nicht das christliche Denkenblieb Maasstab der Werte im "geheimen Deutschland", und nicht die einheitlicheKultur der universalen Menscheitsgemeinde hat es zu wirken, sondern das "ge-heime Reich", wie es George zu sehen lehrte und in seinem Werk einfing,beschränkt sich auf den deutschen Raum, in dem es wurzelt und den es zu formenhat - gleichgültig wie weit der Dichter über die engeren Grenzen hinaus greifenddas Unsterbliche der Genien andrer Rassen und Zeiten einbezog oder einzudeut-schen versuchte, das heisst: der Substanz nach als deutsch- begriff.

Und diese Beschränkung des Dichters hat seinen Grund: Gemäss den Verheis-sungen der Früheren vertraute er, dass wie einst Hellas auf engstem Raum, sodereinst Deutschland auf eignern Raum wiederum das Gesamt aller urmenschli-chen Gestaltungen und Kräfte erstehen lassen werde. Den zum Bau jedes Kosmosnotwendigen Gestalten- und Kräftereichtum, den aufzubringen das Mittelalterdie Engelsräume durchsuchen und Dante den Orbis terrarum der Weltzeit durch-wandeln liess: diesen Reichtum an menschlichen Urartungen wusste George inDeutschland - im "geheimen Deutschland" - vorhanden, wenn man nur dieGeheimnisvollen entdeckte und ihr Geheimnis fruchtbar zu machen verstand.Wie also Hellas - um hier eine vereinfachende Formel zu bringen - in demGesamt seiner Götter gleichsam den "Makro-Anthropos" schlechthin ahnen liess,so erstünde dieser Makro-Anthropos deutscher Prägung wieder in dem Gesamtder durch das "geheime Deutschland" gebannten Gestalten und Kräfte und ihrerEinwirkung auf das sichtbare Reich.

"Deutschland, dem Götterbilde Hellas gleichend" - ein Wort Stifters - wärealso eine (als Erfüllung wahrhaftig noch ferne!) Vision, die sich nicht in derNachahmung des hellenischen Vorbildes erschöpfte, sondern bedeutet: einensolchen Lebensreichtum, eine solche Gestaltenfülle, eine solche umfassendeAllheit urmenschliehen Seins aus sich selbst zu zeugen, dass man diesem Glei-chendes auf so engem Raum nur noch in Hellas wiederzufinden vermöchte ..gleichgültig wie verschieden hier und dort Benennung und Schichtung der Mäch-te erscheinen mögen.

Und Benennung und' Schichtung der Mächte sind gewiss sehr andere gewor-den .. zumal seit der letzten Wandlung", seit aus Christenheit ein Europa erstand,aus Imperium sacrum die Gemeinschaft der abendländischen Nationen. Ein Welt-gesamt, ein Universales, wie es jede Götterwelt und jedes mythische Reichdarzustellen hat, denkt der Heutige sich vorwiegend unter dem Bild der Nationen.Die sich offenbarenden menschlichen Urmächte also, welche Hellas in seinenGöttern unmittelbar menschlich darstellte, die civitas Dei als Gott-emanierteVirtutes sich dachte, Dante unter den Verleiblichungen von Sünden und Tugen-den begriff - diese Urmächte verstehen wir Heutigen vielfach (nicht immer!)unter dem Bilde der verschiedenen Nationen .. empfinden dieses als italienisch,

S P: Deutsch"F: wieU P: Metamorphose

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jenes als französisch, andres als englisch, spanisch und nordisch, zu schweigenvom Römischen und Hellenischen. Und allzu leicht ist man geneigt, "so Gearteteseinfach- als fremd abzulehnen. Aber man verwechsle nicht fremdländisch miturtümlich .. verwechsle nicht Einflüsse von aussen mit elementaren Durchbrü-chen des innersten Kerns. Nicht als undeutsche Fremdheiten, sondern als mensch-lich ursprüngliche Gegebenheiten der deutschen Urtiefen sind Römisches undHellenisches, Italienisches und Englisches im "geheimen Deutschland" aufzufas-sen .. und nur in scheinbarem Widersinn" könnte man sagen: es sei ein "Spani-sches" schon dagewesen, ehe es ein Spanien gab. Es hiesse die Weitenspanne derUnterströme verkennen, welche aus den Ur-Räumen Europas Substanzen mitsich führend" unter der Oberfläche des jeweils sichtbaren Reiches dahinrollen,um bald hier, bald dort unerwartet die Erdkruste zu durchbrechen und in einemEmfangsbereiten zu zeugen. Und ebenso hiesse es die Tiefenkräfte Deutschlandsunterschätzen, welche zu ihrer Stunde aufbrechend den einen Deutschen demGefolge des Zeus, einen andern dem des Apollon, einen dritten dem des Dionysoszuführen können .. Diese Erkorenen>, welche dann bald die, bald jene abendländi-sche Seinsart oder urmenschliehe Kraft in deutscher Gestaltung verkörpern: siesind die eigentlichen Träger, sind Kaiser und Adel des "geheimen Deutschland",und nur in ihnen enthüllt sich das deutsche Sein. Ihren Rang aber bestimmt dasMaass ihres Teilhabens an jenen zGrundmächten der Tiefe-.

IV.

Kann es nach dem Gesagten verwundern, dass die obersten Herrscher des "ge-heimen Deutschland" zunächst das Eine verbindet: dass sie nicht die eigentlichVolkstümlichen der Nation sind! Niemals kann das Aufsteigen von Urgewalten,kann das Kommen eines Gottes vertraulich--gemütvoll sein .. und ist schon das"geheime Deutschland" als solches verborgen, so gilt erst recht von seinenHerrschern, seinen Hütern, dass:

nur heimlich sind dem zarten keime Wächter. 13

So entsteht das seltsame Bild, dass im "geheimen Deutschland" fast immer diehöchsten Throne gerade Jene innehaben, welche dem öffentlichen sichtbarenDeutschland als "Fremdeste" erschienen. Ja, man könnte beinahe zum Grundsatzerheben, dass Popularität in bezug auf das "geheime Deutschland" und auf den

13 Stefan George, "Wahrzeichen", in: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traumund Tod, mit einem Vorspiel. Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung, Bd.5, Berlin1932, S.56.

v-v F: esW F: Paradoxx F: förderndY F: Erkornenz-z F: Mächtena F: traulich

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Rang in diesem Reich misstrauisch machen könnte. Wohl aber bliebe die Frageoffen, ob nicht das weniger populäre Antlitz derb Unsterblichen das Wahrere ist,ob nicht das verborgnere Bild das eigentlich zeugerische, noch immer zukunfts-trächtige ist.

Denken Sie etwa an Barbarossa, ob er- nicht jenseits des landläufigen Bildesnoch als" ein Andrer zu suchen ist als" jener, der bei der ersten unmittelbaren Be-gegnung mit dem Geist der Caesaren erschauerte und dessen männliches Ergrif-fensein die Leidenschaft aufflammen' liess für die Grösse römischer Maasse.Denken Sie überhaupt an die deutschen Kaiser des Mittelalters! Wirken sie dennnur fort als die Beginner einer glücklichen Ostpolitik, als die Leiter einer wenigglücklichen Innenpolitik und als die Erliegenden in Italien? Wahrhaftig, es wäreallzu viel nutzlos verschwendet, und enttäuscht könnte man fragen:

Tut so der väter berg sich auf?14

gäbe es nicht die Antwort: als Träger eines grossen tragischen Volksgeschicks,als die tieftragischen Figuren, die sie gselbst gewesene, gehören diese Kaiser mitzu dein Erschütterndsten in der hWeltgeschichte! Und als Gestalten einer heutfremden Welt wirken" die Ottonen, Salier und Staufer fort im "geheimen Deutsch-land"! Oder fragen Sie sich, ob nicht noch ein unbekannterer Holbein 'ist: jener,dessen' unzugänglich gläserne Klarheit ihn im Zeitalter der gefeiertsten Seelen-aufrührer - keines völkischen Luthers und faustischen Dürers" - zum Wächter desandern Reiches machte. Oder denken Sie an die unnennbare Einsamkeit, welcheFriedrich dem Grossen die deutschen Urtiefen gebaren und welche - mehrvielleicht als mancher Waffensieg - ihn wie sein Land "überpreussisch" machte!Für sie alle und noch manch einen der wirklich Grossen, welche man feiert unddie volkstümlich scheinen, gelte das Gleiche wie für Goethe, von dem jederweiss, dass er insgeheim noch unendlich viel Ungehobnes verschliesst und

14 Ernst Kantorowicz zitiert hier ungenau einen Vers aus dem Gedichtfragment .Bismarck"von Stefan George, in dem es über den Reichskanzler u.a. heißt:

In des ehrwürdig römischen KaisertumesSandgrube dieses reich gebaut, als mitteDie kalte stadt von heer- und handelsknechtenUnd herold wurdest seelloser jahrzehnieVon habgier feilem sinn und hohlem glanz?Tat so nach väter traum der berg sich auf?

Dieses Fragment ist publiziert von Robert Boehringer, Mein Bild von Stefan George,München, Düsseldorf 21968, S. 82.

b F: einzelner derC Fehlt in Fd Fehlt in Fe Fehlt in Ff F: aufglühens-s F: sindh-h F: Weltgeschichte, wirkeni-i F: ist, dessenk-k F: völkisch Luthers und faustisch Dürers

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..dass an ihm dem strahlenden schon vielVerblichen ist, was ihr noch ewig nennt. 15

Sind es hier die noch unerschlossenen Reichtümer der mehr volkstümlichGrossen, so begegnet bei den anderen Herrschern des "geheimen Deutschland"immer wieder jene vermeintlich undeutsche Fremdheit, obwohl gerade sie dietiefsten Schächte erschürften. So ist es - um hier Beispiele zu nennen - bei dem"grössten Friedrich", dem Stauferkaiser, dessen römische Artung noch heute dieGeschichtsbücher klagen lässt: "aber er war kein Deutscher!" So ist es in spä-terem Jahrhundert mit dem seltsamen Spähsinn Hamanns und Herders, so mitWinckelmann, dessen Geheimes sich zwar Goethe erschloss, der jedoch demgrossen Deutschland noch heute so fremd ist, wie er es dem nach-goetheschenZeitalter wurde. So ist es sogar mit Goethe selbst, dem sich Deutschland durchFeiern höchstens entfremdet, den man wohl Olympier nannte und ihn mit dieserEhrung am ehrenvollsten deutschem Wesen fremd kennzeichnete, den man kalt-herzig hiess und gar

Feind unsres vaterlands, opfrer an falschem altar.t''

Niemals! verzieh man ihm, dass er wie Hölderlin, wie Jean Paul, wie zeitweiseauch Hegel in dem .Allgenannten", in Napoleon, den antikischen Heros der Zeitund die gleichgestimmte "Weltseele" erspürte. Diese Fremdheit galt auch fürHölderlin, den man als Griechenromantiker abtat, dessen Kritik an den Deut-schen man gern überhörte, als .Entdeutschung" empfand .. und der sich dochselber genannt hat: Gruft und Tempel, zu denen er die Künftigen mit Kränzen zuwallen lud. Und nicht weniger fremd blieben - ganz zu schweigen von einerMacht wie Jean Paul- munzählbare andrem Deutsche .. von den kleineren Sternenwie Platen, der in sonst nicht gekannter Reinheit dem Schönen Altäre errichtete,bis zu den grössten Gestirnen, bis zu Nietzsche, der die Macht des "wahnsinnigenGottes" erfuhr und der deutschen Umwelt fremd blieb, und bis zu George, denman wirklichkeitsfern und fremdländisch nannte, weil man ihn in die Bürgerweltdes öffentlichen Deutschland nicht einzureihen wusste. Immer galten die grös-sten Genien als "undeutsch", weil sie einem billigen Einheitsschlag, den manjeweils "deutsch" hiess, gewiss nicht entsprachen .. und dies bis in die Körperbil-dung und Geste hinein. Denn so vergessen ist dem 20. Jahrhundert die wahrhaftkönigliche Haltung, dass der die echtesten Gestalten der Nation beschwörendeDichter den stau fisch-fränkischen Königstyp des .Bamberger Reiters" anspre-chen konnte als den "Fremdesten", dessen Wiederkunft er freilich verhiess:

15 Stefan George, "Goethe-Tag", in: Der Siebente Ring. Gesamt-Ausgabe der Werke.Endgültige Fassung, Band.617, Berlin 1931, S. II.

16 Stefan George, "Goethes letzte Nacht in Italien", in: Das Neue Reich. Gesamt-Ausgabeder Werke. Endgültige Fassung, Bd.9, Berlin 1928, S.ll. .

I F: Und niemalsm-rn F: unendliche andere

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Das Geheime Deutschland 87

Du Fremdester brichst noch als echter sprossZur guten kehr aus deines volkes flanke. 17

Doch das Fremdsein dieser Heroen des "geheimen Deutschland" fällt nicht ihnenzur Last. Sie sind so wenig undeutsch wie die Landschaft, die sie gehegt. Wennjener römische Kaiser beim Eintritt in das Arkadien der Bergstrasse ausrufenkonnte: "wo bin ich? bin ich in Italien?" .. wenn manchen Tag das Neckartal anToskana erinnern kann .. Münchens klare alpengekühlte Luft an die Klarheitsüdlicher Städte, wenn schwäbische Striche bisweilen an Frankreichs Zartheitgemahnen, oder wenn gar ein Leuchten über den Uferhügeln des Rheins andereVisionen hervorrief

Und nicht mehr neiden liess den alt-ersehntenDen glanz des göttlichen des Inselmeers's

wenn also die deutsche Landschaft schliesslich Bilder des ganzen Europa hervor-zaubern kann und dennoch nicht fremd und nicht undeutsch wird - sofern mannicht bloss nützliche Rübenäcker als die deutsche Landschaft anspricht -: danndarf man auch nicht die Menschen, die solcher Landschaft entsprechen, als fremdoder undeutsch empfinden. Nur das Eine trifft zu: dass "alles in seiner Art Voll-kommene über seine Art hinausgeht" .. dass also die Genien wie die Landschaftdes "geheimen Deutschland", weil sie über ihre Art hinausgehen und über-deutsch scheinen, in Wahrheit nur das Vollkommen-Deutsche herausstellen. Soging das vollkommene Preussentum Friedrichs des Grossen über Preussischeshinaus und griff schon ins Deutsche hinüber.. und so gilt immer wieder das WortGoethes: "es müsse der vollkommne Deutsche stets mehr sein als deutsch", dasheißt über-deutsch. Und so - im Sinne des Über-deutschen - ist dann auch das sogefährlich scheinende Paradox Nietzsches zu verstehen: "um deutscher zu wer-den müsse man sich entdeutschen l'"?

Indessen: kein Irrtum wäre grösser als der, dass unsre Anbetung jener ewig-deutschen und über-deutschen Heroen des geheimen Reiches irgendetwas ge-mein hätte mit ästhetisch Blassem oder unverbindlich Allgemein-Menschlichemoder gar mit "dem Wünschen derer", die einem all-europäischen Einheits-Misch-masch das Wort reden wie jene modernen Literaten, deren unsaubere Hand an dasMysterium des "geheimen Deutschland" rührt, um sich somit den Verpflichtun-gen gegen die Nation zu entziehen und sich "europäisch-weltbürgerlich" zuheissen. Das "geheime Deutschland" darf nicht als Schutzschild dienen, hinter

17 Stefan George, .Barnberg", in: Der Siebente Ring. Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgül-tige Fassung, Bd.617, Berlin 1931, S.205.

18 Stefan George, "Vor-abend war es", in: Der Stern des Bundes. Gesamt-Ausgabe derWerke. Endgültige Fassung, Bd.8, Berlin 1929, S.74.

19 Das Zitat heißt genau: "Gut deutsch sein heisst sich entdeutschen." Friedrich Nietzsche,Menschliches, Allzumenschliches, 2. Bd., Vermischte Meinungen und Sprüche, Nr. 323, in:Werke, Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 4. Abt., 3. Bd.,Berlin 1967, S. 147.

D-D F: denen

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dem sich undeutsches und die Nation auflösendes Wesen bequem breitmachenkann .. sondern im Gegenteil: im "geheimen Deutschland" ist der innerste wesen-hafte Kern der Nation selbst geborgen, und wer ihn einmal? erschaut, ist auf ihnauch verpflichtet wie der Soldat auf die Fahne. Dass dieser Kern die Wesenheitendes gesamten Europa und der Mittelmeerländer, soweit sie einstmals Germanen-stämme besetzten, in sich trägt.. gerade das erhöht, nicht vermindert die unge-heuere Verpflichtung des Einzelnen, dem echten Bilde des Deutschen gerecht zuwerden .. gerade das macht die Weltträchtigkeit Deutschlands aus .. gerade das istdie Essenz jener Verheissung Schillers: "Jedes Volk hat seinen Tag in derGeschichte, doch der Tag des Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit. "20 Nur istes von andrer Sicht her kein weniger gefährliches Missverstehen, wenn man als"nationale Dichtung" nicht etwa Hölderlin oder George begreifen will, sondernsolche> in den "Rossen von Gravelottev-' und dem "Trompeter von Säckingen't-?zu finden meint. Dem einen wie dem andern verschliesst sich der Blick für dasechte Antlitz des Deutschen, welches das "geheime Deutschland" nur scheuenthüllt.

Von hier aus erhält es dann seinen Sinn, wenn gerade die mächtigsten Fürstendes geheimen Reiches über die Landesgrenzen hinübergreifen und die Kräfte derGenien andrer Völker und Zeiten hereinholen und eindeutschen .. nicht um Frem-des in Deutschland heimisch zu machen, sondern weil in ihnen die gleichen ur-menschlichen Grundtriebe wirksam sind, welche als eine Naturgegebenheit indem universalen Deutschland selbst beheimatet sind: weil und sofern sie mensch-liche Urkräfte enthalten, schwingen sie in dem deutschen Geisterreigen mit.. jawerden gerade durch ihr Eigentlichstes selbst deutsch. Kein deutscher Shakes-peare ohne Herder und Goethe .. kein deutscher Dante ohne die qGrossen der ka-tholischens Kirche, ohne Stefan George .. kein deutsches Caesarbild ohne Karo-linger, Ottonen, Salier und insbesondere die Staufer. Und vor allem: die geheimeVerbundenheit des Deutschen mit Hellas - wo wäre sie sichtbar geworden, wennnicht durch Winckelmann, wenn nicht durch Hölderlin, wenn nicht - um von an-deren zu schweigen - durch Nietzsche und durch George? Freilich gibt es eine

20Friedrich Schiller, Deutsche Größe (Fragment, 1809), in: Sämtliche Gedichte, hg. vonJochen Golz, 21992, S.556 ff. Dieses Schillerzitat verwendet Kantorowicz auch an markanterStelle in seinem Vortrag auf dem Historikertag zu Halle a.d.S., 1930; s. hierzu Eckhart Grüne-waId, Sanctus amor patriae dat animum - ein Wahlspruch des George-Kreises? Ernst Kantoro-wicz auf dem Historikertag zu Halle a.d. Saale im Jahr 1930 (mit Edition), in: Deutsches Archiv50 (1994) S. 101, 125.

21Populäres "vaterländisches" Gedicht von Karl v. Gerok (*1815, t1890), evangelischerTheologe und vielgelesener Erbauungsschriftsteller. Das Gedicht behandelt die für die deutscheArmee siegreiche "Schlacht von Gravelotte-St.Privat" (18.8.1870) des Deutsch-FranzösischenKrieges 1870171.

22Idyllisches Versepos (1854) von Joseph Victor v. Scheffel (*1826, t1886), das bis zuseinem Tode in 140 Auflagen erschien.

o Fehlt in FP F: sieq-q F: katholische

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geheime Blutsverwandtschaft zwischen Hellas und Deutschland .. aber sie musserst gezeugt werden! Denn das Verhältnis ist nicht das von Sohn zu Vater, son-dern von Schüler zu Meister, deren Pulse im Gleichtakt schlagen nur" durch ge-meinsame Liebe zu gemeinsamem Götterbild und Urbild des Menschen .. oder alsGleichnis: die Verwandtschaft, ja Anverwandlung des Blutes gebiert sich nur-aus Liebe und Ehrfurcht gegen Götter und Genien. Nur wenn der Jüngling in Ehr-furcht und Liebe sich vor dem Götterbild neigt, nicht wenn der Infantile eine na-türliche Sohnschaft nachweist, ertönt die Antwort: 0 SohnJ23

Damit ist aber auch die Abgrenzung gegen allen "Klassizismus", das heisstgegen jede nur formale Nachahmung sei es der Antike, sei es irgendeiner andernFrist der Allblüte gegeben. Schon dass Nietzsche das geheime Reich mitregiert,bürgt dafür, dass Apollon hier nicht ohne Dionysos sein kann.. dass das "Dämo-nische" hier nicht fehlt. Nicht nur an jene Grossen wird man denken, deren Le-ben oder Werk in einem absoluten Sinne Dämonen verleibt, wie etwa an denStaufer Friedrich H., in welchem der christliche Herr des Endes, der Antichristauf Erden erschien .. oder an einen Grünewald, der für ein Lächeln siegenderYerkldrungl" eine Welt der Ungeheuer mitheraufsteigen liess .. oder an einenRembrandt, der für einen Strahl 'des Lichts' eine Welt der Finsternis mitgebärenmusste. Wer von dem "geheimen Deutschland" nur ein Geringes erfasste, kannsich dem nicht entziehen, in allen Göttern des deutschen Mythenreiches - undmögen sie noch so apollinisch erscheinen - auch die dämonische Gegensichtwahrzunehmen. Urtiefen sind immer zugleich dämonisch. Doch ist das Dämoni-sche nicht deshalb, weil es hier in deutscher Gestaltung erscheint, als "faustisch"zu verstehen. Im Gegenteil: das Nur-Faustische, welches in das Dunkel derTiefen hinunterdrängt und sich in ihnen verliert, statt die Tiefen ans Licht zuheben und sie im Tagesglanz Leib werden zu lassen", ist eher die Gegenkraft des"geheimen Deutschland". Eben dies Eine haben alle Heroen des "geheimenDeutschland" gemein, dass sie die Tiefen der Urmächte Bild werden lassen, dasssie auch das Dämonische - ohne es zu verbannen - im Lichte gestalten .. und hierdenken Sie etwa an Nietzsches Wort über die Deutschen: "Es ist etwas an ihnen,das hellenisch sein könnte, das erwacht bei der Berührung mit dem Süden." Soerscheint das "geheime Deutschland" "der hellenischen Götterwelt darin ver-wandt, dass" hier die Welt der Mütter einwächst in die der Väter, auf dass sie"

23 Stefan George, "Du sprichst mir nie von sünde oder sitte", in: Der Teppich des Lebensund die Lieder von Traum und Tod, mit einem Vorspiel. Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgülti-ge Fassung, Bd.5, Berlin 1932, S.19.

24 Stefan George, .Kolmar: Grünewald", in: Der Siebente Ring. Gesamt-Ausgabe derWerke. Endgültige Fassung, Bd.617, Berlin 1931, S.201.

r Fehlt in FS Fehlt in FI-I F: von LichtU F: lassen (Hamlet!)v-v F: als Gleichnis der hellenischen Götterwelt, weilW F: diese

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nicht wieder" von den Schicksalsmächten getrennt und losgerissen werde. Jededieser Welten wird erst transparent durch die andre .. während das Faustische sichals einzelne Kraft von den Vätern löst und zu den Müttern entflieht.

Überhaupt: das Bildwerden der dunklen Triebe und Träume ist Merkmal des"geheimen Reichs". So gehören hierher jene "Opferbereiten, die sterben für einenTraum". An den dritten Ottonen, das "Wunder der Welt", sei hier erinnert und anKonradin, die bei den letzten Sprossen der machtvollen Herrscherhäuser .. Kna-ben, in denen der deutsche Herrschertraum mit solcher Dichte zur Tat rief, dass esfast schien, Kinder könnten ihm Wirklichkeit geben. Und hierher gehören auchdie Bewohner des "geheimen Deutschland", welche durch Anmut geadelt sind -seltsam verwandt den Opferbereiten, welche einem breiten Glück entsagend frühentrückt werden. Wer wollte unter ihnen einen Manfred, der um des sizilischenReichstraumes willen bei Benevent das Leben liess, wer wollte unter den Anmu-tigen einen Mozart missen, dessen Werk seine zarten Kräfte verzehrte. Immer istAnmut einem inneren Adel verbunden und vom Opfer untrennbar:

Was dient, sei sie auch mehr als frommer wahn,Gleichheit von allen und ihr breitstes glück!Wenn uns die anmut stirbtf25

V.

YDen Heroen des "geheimen Reiches", den Bildwerken, den Taten ist aber nochandres zu entnehrnenr. Denn von den Herrschern des "geheimen Deutschland"allein können Sie die- echte deutsche Geste erlernen, den ewig-deutschen Stil.Gewiss, jede menschliche Geste kann auf hundert verschiedene Weisen erfol-gen .. aber nur Eine ist bei neunundneunzig falschen die Richtige. Ein Blick aufein griechisches Grabrelief, ein griechisches Vasenbild sagt Ihnen, dass - solangees Menschen gibt - nur eine Art, die Hand zu reichen, die richtige ist. Freilichmeinte ich mit der deutschen Geste nicht nur die einzelne Bewegung, sondernajene leibliche Gebärde, die" bei aller Beherztheit auch die Beseeltheit aufweist.Und solche Beseeltheit schliesst Kämpferisches nicht etwa aus .. denn gibt esBeseelteres als einen Achill, dem man gern den staufischen Enzio zur Seitestellen möchte, auf dass er aus dem "geheimen Deutschland" heraus in jedeGegenwart wirken möge?

25 Stefan George, .Brv.St,", in: Das Neue Reich. Gesamt-Ausgabe der Werke. EndgültigeFassung, Bd.9, Berlin 1928, S.108.

x Fehlt in Fy-y F: Aus allen diesen Heroen des "geheimen Reiches", die ich Ihnen hier nicht weiter

aufzählen kann, aus den Bildwerken, aus den Taten ist aber noch andres abzulesen.Z F: auch diea-a F: jenen Habitus, der

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Solche Beseeltheit vermittelte wohl einstens die römische Kirche den Deut-schen: denken Sie an das Bildnis des Bischofs Hohenlohe im Dome zu Bambergoder an den adligen Geist des Cusaners .. und auch heute ist diese menschenfor-mende Kraft der Kirche, bzumal in ihrem eigensten Bereich" noch ungebrochen.Wem jemals das Glück beschieden war, in Rom an der Vaticana zu arbeiten, demwird unvergesslich jenes schönste Greisenhaupt sein, welches ein schwäbischerKirchenfürst, der Kardinal Ehrle26 , über ceinen Pergamentband- beugt - auch erdurch seine Beseeltheit zum "geheimen Deutschland" gehörig.

Aber dden Meistend wird heute die beseelte Geste aus dem Umgang mitmusischen Menschen oder überhaupt: mit den Musen erwachsen können", soferndieser! Umgang verpflichtend und nicht nur genüsslich ist. Man klage nicht, dasssolches ein Luxus sei und dass die Zeit Menschen aus härterem Holze benötige.Gegenüber der metallischeng Härte Apollons wird der härteste Staatsmann sichstets noch als Wachs erweisen - und dennoch schuf dieser Gott die Staaten, riefdie goldene Leier jegliche Gesetze hervor (Pindar, Nem.V, 24f.) <\>0Plltyy''AnoA-AroV... ayel:ro novroirov vOllroV.27Darum gilt auch für Sie, die Studenten, welcheeine frühere" Zeit "Musensöhne" genannt hat, das Wort des Euripides: "KeineGemeinschaft mit Denen unmusischer Art", 'wollen Sie Ihr Eigenstes bewahren':Das züchtet gewiss keinen Dünkel. Denn wer den Verkehr mit den Musenbeherrscht, weiss sich erst recht in jeglichen Schichten des Volkes zu bewegen.Dünkel ist stets nur ein Kennzeichen dafür, dass Musen und Grazien einer Wiegegleich fern waren.

VI.

So wird das Mythenreich des "geheimen Deutschland", welches zugleich da undnicht da, zugleich zeitlich und ewig ist, immer die Besten des heranwachsendenDeutschland in seinem Sinn formen. Wenn Jean Paul einmal sagt: "Ein Genius

26 Franz Ehrle (* 1845, t 1934), Jesuit, Philosophiehistoriker, von 1895 bis 1914 Präfekt derVatikanischen Bibliothek, wurde 1922 Kardinal, war von 1929 an Kardinalarchivar und -biblio-thekar der Römischen Kirche; seinem Wirken verdanken die Vatikanische Bibliothek und ihreEinrichtungen ihren heutigen Charakter; s. NDB 4 (1959) S.360 f.

27 Pindar, Fünfte nemeische Ode, 24f.: [Sang dort] der Musen schönster Chor, schlugmitten in ihm / Die Harfe Apollon, die siebenzüngige mit dem Schlagholz / Und führte anvielfältige Weisen. (Übersetzt von Oskar Werner, Pindar. Siegesgesänge und Fragmente, Mün-chen 1967, S. 245).

b-b Fehlt in Fc-e F: eine uralte Handschriftd-d F: meistense Fehlt in Ff F: solcherg Fehlt in Fh F: biedermeierndei-i Fehlt in F

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wie Caesar, Friedrich, Napoleon wirbt nur Menschen an, um sie als Heldenabzudanken ..", so wird das "geheime Deutschland", in welchem neben denHelden auch die Dichter und Weisen thronen, die kjungen Deutschen zum Kultvon Adel Schönheit Grösse erziehen und sie dann vielleicht als neue Kalokaga-thoi entlassen, auf dass sie in Staat und Volk wirken". Nur in jenem geheimenReich sind ja' auch die ewigen Wahrheiten des Volkes geborgen. Darum'" spre-chen Sie nicht mit jenem Politiker der Nachkriegszeit": "Wer sich für die ewigenWahrheiten interessieren will, der bleibe bei seinen Büchern und möge nicht aufden Kampfplatz der Gegenwartsprobleme treten.v-" (Max Weber)? Denn dem seientgegengehalten: "Wer von den ewigen Wahrheiten nichts weiss, kann auch aufdem Kampfplatz der Gegenwartsprobleme nichts erreichen." Auch der Politikermuss - um mit Dante zu sprechen - zumindest "von der heiligen Stadt die Türmesehen .."

Sie aber, die Sie Historiker sind oder werden> wollen und sich aus ihremBerufe heraus genötigt wissen, auch über die Vergangenheit zwar nicht zurichten, wohl aber zu urteilen und sie zu beurteilen: wie wollen Sie Ihrer Aufgabegerecht werden, wenn Sie Ihr Urteil nur aus Ihrem kleinen Lebensraum, ausstiller" Studierstube und aufgepeitschter' Gasse allein schöpfen wollen? Keinerkann als Deutscher ein Historiker sein, der von dem "geheimen Deutschland"nichts weiss. Denn "Urteil erfordert Rang" .. den Rang aber kann keiner von sichaus ermessen, sondern kann ihn nur ablesen aus dem "Anderen", sdas ausserhalbseiner ist und dennoch deutsch, eben:" den unsterblichen' Genien des "geheimen

28 Ernst Kantorowicz zitiert hier ungenau Max Weber, Parlament und Regierung im neuge-ordneten Deutschland, in: Gesammelte politische Schriften, München 1921, S.260, wo es amEnde der Abhandlung - entstanden im Sommer 1917 - heißt: "Ein nationaler Politiker wird denBlick gewiß auch auf jene universellen Entwicklungstendenzen gerichtet halten, die über dieäußere Ordnung des Lebensschicksals der Massen in Zukunft Gewalt haben werden. Aber wieihn als Politiker das politische Schicksal sei n e s Volkes bewegt (demgegenüber jeneuniversellen Entwicklungstendenzen sich ja völlig gleichgültig verhalten), so rechnet er auchfür politische Neugestaltungen mit den nächsten zwei bis drei Generationen: denen, die über dasentscheiden, was aus sei n e m Volk wird. Verfährt er anders, so ist er ein Literat und keinPolitiker. Er möge sich dann für die ewigen Wahrheiten interessieren und bei seinen Büchernbleiben, nicht aber auf den Kampfplatz der Gegenwartsprobleme treten. Auf diesem wird darumgerungen: ob uns e r e Nation innerhalb jenes ganz universellen Prozesses entscheidendmitspricht. "

k-k F: Menschen zum Kult auch des Schönen erziehen, um die Gläubigen als Kalokagathoiabzudanken.

I Fehlt in Fm F: Abern F: Vorkriegszeito Fehlt in FP F: seinq Fehlt in Fr Fehlt in Fs-s Fehlt in FI Fehlt in F

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Das Geheime Deutschland 93

Deutschland". Nur auf diesem Hintergrunde betrachtet, gewinnt die GeschichteLeben und die "jeweils rechte" Beziehung zur Gegenwart, bis dereinst "geheimesDeutschland" und das sichtbare Reich miteinander eins werden, ineinander über-gehen und einander "nur widerspiegeln". So wie Dante das Mysterium der Mensch-werdung Gottes erschaute, als er in dem göttlichen Licht - umrissen mit dereignen Farbe des Lichts - die Züge schimmern sah .xlella nostra effigie'<", somag - wenn sich die Verheissungen erfüllen - das wirkliche Deutschland in dem"geheimen Reich" Wmit den ihm gleichen Farben" [sich] abzeichnen. Dann abergibt es kein "geheimes Deutschland" mehr sowenig wie in xden Tagen" derStaufer, als das "geheime Deutschland" der damaligen Zeit, das man "römisch"nennen mag, Yvonden Staufernr zum offiziellen Deutschland erhoben wurde zunddas im Berg nur auf seine Erweckung wartet'. Bis dahin ist aber noch ein weiterWeg .. bis dahin hat anoch über die verborgnen Kräfte das "geheime Deutschland"zu wachen, dessen Herrscher, selbst" unangreifbar und ewig, dem jeweiligenFeinde innen und aussen zurufen:

Hemmt uns! untilgbar ist das wort das blüht.Hört uns! nehmt an! trot: eurer gunst: es blüht -Übt an uns mord und reicher blüht was blüht!3o

30 Stefan George, "So will der fug", in: Der Stern des Bundes.Gesamt-Ausgabe der Werke.Endgültige Fassung, Bd.8, Berlin 1929, S.94.

29 Dante, Divina Commedia, Paradiso 33,130.

u-u F: jeweiligev-v F: spiegelnw-w Fehlt in Fx--x F: der Zeity-y Fehlt in Fz-z Fehlt in Fa-a F: das "geheime Deutschland" noch über die verborgnen Kräfte zu wachen, um selbst