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Das akute Lungenversagen (ARDS), gekennzeichnet durch ein schweres hy- poxämisches Versagen, bleibt eine He- rausforderung für die moderne Intensiv- medizin (Abbildung 1). Nach der Erst- beschreibung durch Ashbaugh et al. im Jahre 1967 (Ashbaugh DG, Lancet 1967; 2:319) wurde 1994 erstmals eine allge- mein gültige Definition im Rahmen ei- ner amerikanisch-europäischen Konsen- suskonferenz (AECC) beschlossen (Ber- nard GR, Am J Respir Crit Care Med 1994; 149:818). Diese Publikation wurde in- zwischen mehrere tausend Male zitiert und bildete die Grundlage für Ein- schlusskriterien in viele epidemiologi- sche und interventionelle Studien. Zahlreiche neue Erkenntnisse zu Aspek- ten der Pathogenese, Diagnostik und möglicher Risikofaktoren sowie die Fort- und Neuentwicklung weiterer Therapie- optionen machten eine Aktualisierung und Präzisierung der bisher gültigen Definition erforderlich. Daher wurde 2012 unter Beteiligung mehrerer Fachgesellschaften (European INHALT Erscheinungsort: Wien; Verlagspostamt: A-8600 Bruck/Mur Jahrgang 17, Ausgabe 3/13 ISSN 1682-6833 Probiotika zur Verhinderung nosokomialer Infektionen? • Gastrales Residualvolumen Notfallmedizin & Intensivmedizin: Eine Symbiose • Zellfreie Leberunterstützungsverfahren Ist „un“-physiologisches“ NaCl nephrotoxisch? • Leserbrief Kolloide bei Sepsis • Intensivpflege www.intensivmedizin.at | www.dgiin.de | www.sepsis-gesellschaft.de | Archiv: www.medicom.cc Die Berlin-Definition des ARDS Abb. 1: Röntgen-Thorax-Bild einer Patientin mit ARDS Society of Intensive Care Medicine, Ame- rican Thoracic Society, Society of Critical Care Medicine) die neue Definition des akuten Lungenversagens, die sogenannte „Berlin-Definition“ (Ort des Zusam- mentreffens der Expertengruppe), von einer internationalen Expertengruppe erarbeitet und publiziert (The ARDS Definition Task Force JAMA 2012; 307: 2526; Ferguson ND, Intensive Care Med 2012; 38:1573). In der neuen Definition wird das ARDS in drei Schweregrade, abhängig von der Schwere der Hypoxämie, unterteilt (Ab-

Erscheinungsort: Wien; Verlagspostamt: A-8600 Bruck/Mur ... Definition.pdf · bildung 2). Zur Definition gehören weiterhin bilaterale Verdichtungen in der Röntgen-Thorax-Aufnahme

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Page 1: Erscheinungsort: Wien; Verlagspostamt: A-8600 Bruck/Mur ... Definition.pdf · bildung 2). Zur Definition gehören weiterhin bilaterale Verdichtungen in der Röntgen-Thorax-Aufnahme

Das akute Lungenversagen (ARDS), gekennzeichnet durch ein schweres hy-poxämisches Versagen, bleibt eine He-rausforderung für die moderne Intensiv-medizin (Abbildung 1). Nach der Erst-beschreibung durch Ashbaugh et al. imJahre 1967 (Ashbaugh DG, Lancet 1967;

2:319) wurde 1994 erstmals eine allge-mein gültige Definition im Rahmen ei-ner amerikanisch-europäischen Konsen-suskonferenz (AECC) beschlossen (Ber-

nard GR, Am J Respir Crit Care Med 1994;

149:818). Diese Publikation wurde in-zwischen mehrere tausend Male zitiertund bildete die Grundlage für Ein-schlusskriterien in viele epidemiologi-sche und interventionelle Studien. Zahlreiche neue Erkenntnisse zu Aspek-ten der Pathogenese, Diagnostik undmöglicher Risikofaktoren sowie die Fort-und Neuentwicklung weiterer Therapie-optionen machten eine Aktualisierungund Präzisierung der bisher gültigen Definition erforderlich. Daher wurde 2012 unter Beteiligungmehrerer Fachgesellschaften (European

INHA

LTErscheinungsort: Wien; Verlagspostamt: A-8600 Bruck/Mur Jahrgang 17, Ausgabe 3/13

ISSN

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Probiotika zur Verhinderung nosokomialer Infektionen? • Gastrales Residualvolumen Notfallmedizin & Intensivmedizin: Eine Symbiose • Zellfreie Leberunterstützungsverfahren Ist „un“-physiologisches“ NaCl nephrotoxisch? • Leserbrief Kolloide bei Sepsis • Intensivpflege

www.intensivmedizin.at | www.dgiin.de | www.sepsis-gesellschaft.de | Archiv: www.medicom.cc

Die Berlin-Definition des ARDS

Abb. 1: Röntgen-Thorax-Bild einer Patientin mit ARDS

Society of Intensive Care Medicine, Ame-

rican Thoracic Society, Society of Critical

Care Medicine) die neue Definition desakuten Lungenversagens, die sogenannte„Berlin-Definition“ (Ort des Zusam-mentreffens der Expertengruppe), voneiner internationalen Expertengruppe

erarbeitet und publiziert (The ARDS

Definition Task Force JAMA 2012; 307:

2526; Ferguson ND, Intensive Care Med

2012; 38:1573). In der neuen Definition wird das ARDSin drei Schweregrade, abhängig von derSchwere der Hypoxämie, unterteilt (Ab-

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bildung 2). Zur Definition gehörenweiterhin bilaterale Verdichtungen inder Röntgen-Thorax-Aufnahme oderComputertomographie, die akut ent-standen sind. Definitionsgemäß mussein kardiales Lungenödem oder eineÜberwässerung weiterhin ausgeschlos-sen werden (Braune S, Dtsch Med Wo-

chenschr 2013; 138:1019).Dieser Schritt ist absolut begrüßens-wert und die Publikation bereits jetztein „Meilensteinpaper“.

Die wegweisenden Aspekte der neuen „Berlin-Definition“ sind unserer Meinung nach:

1. Die neue Unterteilung in dreiSchweregrade ist sowohl für die Pa-tientenbehandlung als auch für dieklinische Forschung sinnvoll undpraktikabel.

2. Die missverständliche Bezeichnung„Acute Lung Injury” (ALI), dieteilweise für Patienten mit einemPaO2/FiO2-Quotienten zwischen200 und 300, teilweise aber auchfür alle ARDS-Patienten als Ober-begriff benutzt wurde, entfällt inder neuen Definition.

3. Im Gegensatz zum früher „per de-finitionem“ geforderten PAWP(pulmonary artery wedge pressure)mittels Pulmonaliskatheter zumAusschluss eines kardiogenen Lun-genödems, wird nun die Echokar-diographie empfohlen.

4. Der Begriff „akuter Beginn“ wur-de konkretisiert und auf eine Wo-che festgelegt.

5. Ein PEEP-Wert (positive end -expiratory pressure) von 5 cm H2O

Nr. 3, 2013

Berlin-Definition des ARDS

3

darf bei der Beurteilung des Oxy-genierungsindex nicht unterschrit-ten werden.

Natürlich wäre die Integration vonweiteren Parametern wie Atemminu-tenvolumen, pulmonaler Complianceoder Kriterien der CT-Morphologiewünschenswert gewesen. Letztere wä-ren jedoch auf Grund begrenzter Sen-sitivität und Spezifizität und des deut-lich erhöhten logistischen Aufwandesdieser Parameter problematisch gewe-sen. Zudem hätten diese Aspekte dieDefinition deutlich verkompliziert. Im Gegensatz zur bisherigen, seit 1994gültigen Definition korreliert die neueDefinition besser mit dem Mortali-tätsrisiko der Patienten. Die neue De-finition wurde empirisch anhand derDaten von 4.188 Patienten, die in viergroße multizentrische ARDS-Studi-en eingeschlossen waren, evaluiert.Zwei neuere Studien nehmen Bezugauf die neue Berlin-Definition und

sollen im Folgenden kurz besprochenwerden: Eine aktuelle Studie von Thille et al.(Thille AW, Am J Respir Crit Care Med

2013; 187:761) verglich die klinischenKriterien der neuen Berlin-Definitionmit den histopathologischen Befun-den der Autopsie. Die retrospektiveStudie überblickt zwei Jahrzehnte undanalysierte die Daten von 356 Fällen. Eingeschlossen wurden Patienten, diezwischen 1991 und 2010 verstarben,bei denen ein ARDS vorgelegen hat-te und bei denen eine Autopsie durch-geführt worden war. Als Referenz fürdas Vorliegen eines ARDS wurde derhistopathologische Nachweis eines dif-fusen Alveolarschadens herangezogen. Es bestand eine positive Korrelationzwischen dem klinischen Schweregraddes ARDS und der Häufigkeit desVorliegens eines diffusen Alveolarscha-dens. In der Subgruppe von Patientenmit schwerem ARDS zeigte sich eindiffuser Alveolarschaden in 58% der

Acute respiratory distress syndrome: The Berlin Definition.ARDS Definition Task Force, Ranieri VM, Rubenfeld GD, et al. JAMA 2012 Jun; 307:2526-33

Cooper University Hospital, Camden, NJ, USA.

Abb. 2: Berlin-Definition des ARDS (adaptiert nach Ranieri M, 2011; Report from an ESICM consensus conference into a new definition for ARDS; Vortrag auf dem ESICM-Kongress, Lissabon)

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Berlin-Definition des ARDS

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Fälle; bei moderatem ARDS in 40%der Fälle und bei leichtem ARDS in12% der Fälle. Fast alle Patienten mitdem histopathologischen Bild einesdiffusen Alveolarschadens wiesen dieklinischen Kriterien eines ARDS nachder neuen Definition auf. Beachtet werden muss, dass die klini-schen Daten retrospektiv ausgewertetwurden und einige Patienten nur kur-ze Zeit die ARDS-Kriterien erfüllten.Betrachtete man beispielsweise nur Pa-tienten, bei denen länger als 72 Stun-den ein ARDS bestanden hatte, sostieg der Nachweis eines diffusen Alveolarschadens im schweren ARDSauf 69% an. Die spanische Arbeitsgruppe um J.Villar hatte in einer 2007 publiziertenStudie zeigen können, dass eine Ver-änderung der PEEP-Höhe sowie derinspiratorischen Sauerstoffkonzentra-tion bei einem Teil der ARDS-Patien-ten nach alter AECC-Definition zueiner Re-Klassifikation des Schwere-grades führt (Villar J, Am J Respir Crit

Care Med 2007; 176:795). Diese Autoren untersuchten nun aneiner prospektiven Kohorte von 282Patienten den Einfluss einer standar-disierten Beatmungseinstellung (PEEP≥ 10 cm H2O, FiO2 ≥ 0,5) auf dieneue ARDS-Klassifikation nach 24Stunden (Villar J; Intensive Care Med

2013; 39:583). Da diese Studie in den Jahren 2008und 2009 durchgeführt wurde, wur-den nur ARDS-Patienten mit einemPaO2/FiO2 < 200 eingeschlossen. Überdie Hälfte (52,7%) der Patienten miteinem initial schweren ARDS (Base-line PaO2/FiO2 < 100) hatte nach 24Stunden einen PaO2/FiO2 > 100. Auf der anderen Seite kam es bei15,9% der Patienten mit initial mo -deratem ARDS zu einer Verschlech-terung mit Re-Klassifikation zumschweren ARDS nach 24 Stunden.Die Autoren propagieren daher eine

ARDS-Klassifikation erst 24 Stundennach Auftreten des ARDS mit Beur-teilung des PaO2/FiO2 unter standar-disierten Respirator-Einstellungen. Solch ein Vorgehen ist unter physio-logischen Gesichtspunkten sicherlichattraktiv. Allerdings geht hierbei auchdie Progression der Grunderkrankunginnerhalb von 24 Stunden mit ein. Zu-dem haben viele Studien nachweisenkönnen, dass therapeutische Interven-tionen beim ARDS so schnell wiemöglich nach Diagnosestellung einge-setzt werden sollten. Dies wäre bei ei-ner initialen 24-stündigen Beobach-tungsphase problematisch (Matthay

MA, Chest 2010; 138:965).

Zusammengefasst hat die Berlin-De-finition sicherlich, genau wie die vor-her verwendete AECC-Definition, Li-mitationen. Diese sind jedoch auch derTatsache geschuldet, dass sich hinterdem Begriff „ARDS“ eine heterogeneGruppe von auslösenden Krankheitenverbirgt. Die jetzige Definition mit dif-ferenzierterer Unterteilung in dreiSchweregrade, abhängig vom Ausmaß

Dr. Marcel SimonDr. Stephan Braune, MPHPD Dr. Stefan KlugeKlinik für IntensivmedizinUniversitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg [email protected]

der Oxygenierungsstörung, ist einpraktikabler Ansatz. Die Empfehlungen zu den therapeu-tischen Optionen beim ARDS zeigtAbbildung 3. In einer aktuellen Studiekonnte eine signifikante Mortalitäts-senkung durch eine frühzeitige, lang-dauernde Bauchlagerung bei ARDS-Patienten nachgewiesen werden (Gué-

rin C, N Engl J Med. 2013 [Epub ahead

of print]), wohingegen sich in zwei wei-teren randomisiert-kontrollierten Stu-dien kein Benefit für die Hochfre-quenz-Oszillationsventilation fand(Ferguson ND, N Engl J Med 2013; 368:

795; Young D, N Engl J Med 2013; 368:

806; Kluge S, Dtsch Med Wochenschr

2013; 138:824).

Interessenskonflikte: SK hat Honorare für eine Beratertätigkeitvon Novalung erhalten, SB Vortragshonorare von Novalung.

Abb. 3: Therapeutische Optionen beim ARDS (adaptiert nach Ferguson ND, Intensive Care Med 2012; 38:1573)

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Probiotika zur Verhinderung nosokomialer Infektionen?

Nr. 3, 2013 5

Durch das große wissenschaftliche In-teresse am humanen Mikrobiom in denletzten Jahren ist auch das Interesse anprobiotischen Arzneimitteln gestiegen.Als humanes Mikrobiom versteht mandie Gesamtheit aller den Menschen alsSymbionten besiedelnden Mikroorga-nismen, diese sind auf der Haut, an di-versen Schleimhäuten und vor allem imDarm zu finden. Mittlerweile ist dieWirksamkeit von Probiotika bei eini-gen klinischen Indikationen durch Stu-dien gut belegt.

Bedeutung des humanen intestinalen Mikrobioms (Darmflora)

Das humane intestinale Mikrobiom,früher auch als „Darmflora“ bezeichnet,besteht aus ca. 1014 Mikroorganismen.Die Anzahl der Mikroorganismen imDarm übersteigt die Anzahl der Zellenim menschlichen Körper um ein Zehn-faches, die Anzahl der mikrobiellen Ge-ne die der menschlichen sogar um einHundertfaches. Das humane Mikrobiom ist neben im-munologischen und chemisch physika-lischen Faktoren ein bedeutender Be-

standteil der Abwehr gegenüber patho-genen Erregern im Gastrointestinaltrakt.Dieser Effekt wird als Kolonisierungs-resistenz bezeichnet. Insbesonderescheint die Diversität des Mikrobioms,das heißt, eine hohe Anzahl an unter-schiedlichen Mikroorganismen, ent-scheidend für diese Aufgabe zu sein. Weitere wichtige Funktionen des huma-nen Mikrobioms sind metabolische Auf-gaben, die Synthese von Vitaminen undderen Vorstufen und die Interaktion mitdem Immunsystem. Änderungen in derZusammensetzung des Mikrobiomsscheinen von zentraler Bedeutung fürdie Entwicklung bzw. Perpetuierung vonchronisch entzündlichen Prozessen imKörper zu sein (Gorkiewicz G; J Gastro-

enterol Hepatol Erkr 2009; 7:18).

Wirkungsweise von Probiotika

Die Wirkungsmechanismen von Pro-biotika werden bisher nur zum Teil ver-standen. Folgende Effekte werden fürProbiotika postuliert: 1. Inhibierung pathogener Erreger

durch Verhinderung der intestina-len Kolonisation, Veränderung des

Probiotika: Bakterien als Freund statt Feind beim Intensivpatienten?

Impact of the administration of probiotics on mortality in critically ill adult patients:A meta-analysis of randomized controlled trials.Barraud D, Bollaert PE, Gibot S Chest 2013; 143:646-55

Service de Réanimation Médicale, Hôpital Central, CHU de Nancy, and Université de Lorraine, Nancy, France.

Probiotics in the critically ill: A systematic review of the randomized trial evidence.Petrof EO, Dhaliwal R, Manzanares W, et al. Crit Care Med 2012; 40:3290-302

Department of Medicine, Queen's University, Kingston, Ontario, Canada.

Das Konzept der Probiotikatherapiewurde zu Beginn des 20. Jahrhundertsvon Ärzten und Mikrobiologen wie ElieMetchnikoff, Alfred Nissle und HenriBoulard entwickelt. Als Probiotika wer-den lebende Mikroorganismen definiert,welche bei Zufuhr in ausreichendenMengen eine positive Wirkung auf dieGesundheit haben. Die Kombinationvon probiotischen Bakterien mit Koh-lenhydraten, die das Wachstum dieserBakterien fördern, wird als Synbioti-kum bezeichnet. Bei den meisten Probiotika handelt essich um Bakterien aus der Ordnung derLaktobazillen oder der Bifidobakterien,es kommen jedoch auch spezielle E. coli-Stämme oder Pilze zum Einsatz. Pro-biotika werden sowohl als Arzneimit-tel aber auch als Nahrungsergänzungs-mittel oder Lebensmittel vertrieben. Obwohl Probiotika seit langem bei un-terschiedlichen Indikationen zum Ein-satz kommen, ist ihre Wirksamkeit inder medizinischen Fachwelt umstritten.Vor allem durch teilweise unseriöseWerbung und populärwissenschaftlicheBerichterstattung stehen viele ÄrzteProbiotika sehr kritisch gegenüber.

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Probiotika zur Verhinderung nosokomialer Infektionen?

Nr. 3, 2013 7

weise der Überwucherung von patho-genen Keimen bei Intensivpatientendurch den Einsatz von Probiotika.

Probiotika zur Verhinderung von Infektionen, insbesondere von respiratorischen Infektionen beim kritisch kranken Patienten

Zur Verhinderung der Ausbildung vonnosokomialen Infektionen beim Inten-sivpatienten wurden in den bisherigenStudien unterschiedliche probiotischePräparate untersucht. Zu diesen zählenMonopräparate von Laktobazillusstäm-men, Kombinationspräparate aus Lak-tobazillus- und Bifidobakterienstäm-men oder Synbiotika. Vier rezente Metaanalysen haben diebisherigen Studienergebnisse zur Ver-hinderung von Infektionen bei Inten-

sivpatienten untersucht (Tabelle, Bar-

raud D; Chest 2013; 143:645; Gu WJ;

Chest 2012; 142:859; Liu KX ; Crit Care

2012; 16:R109; Petrof EO; Crit Care

Med 2012; 40:3290). Die Ergebnisse und Schlussfolgerun-gen dieser 4 Arbeiten sind zum Teil sehrunterschiedlich. So zeigten drei Meta -analysen eine Reduktion an nosokomia-len Pneumonien inklusive VAP im Ge-gensatz zur 4. Metaanalyse. Jeweils ei-ne Metaanalyse konnte die Reduktionan Infektionen insgesamt, die Reduk-tion von Katheter-assoziierten Infek-tionen und die Reduktion der ICU-Aufenthaltsdauer nachweisen. Probio-tika führten zu keiner signifikantenReduktion der Spitals- oder ICU-Mor-talität (Tabelle).Diese Unterschiede in den Ergebnissensind dadurch zu erklären, dass die un-terschiedlichen Metaanalysen nicht diegleichen Studien zur Analyse einge-schlossen haben. In der Metaanalyse von Gu WJ et al. inChest 2012 wurden beispielsweise etli-che Studien nicht inkludierten, die beiTrauma- und chirurgischen Patientendurchgeführt wurden. Diese zwei Pa-tientengruppen zeigten jedoch dengrößten Nutzen einer Probiotikathera-pie. Daher wurde in dieser Metaanaly-se von Gu und Mitarbeitern kein Ef-fekt der Probiotika bei der Präventionvon Pneumonien beobachtet.

luminalen pH, Sekretion von bak-teriziden Proteinen sowie Blockie-rung der Bindung an das Epithelund Verhinderung der Invasion indas Epithel.

2. Verbesserung der intestinalen Bar-rierefunktion gegenüber pathogenenErregern durch Produktion vonkurzkettigen Fettsäuren wie z. B.Butyrat und durch die Steigerungder intestinalen Muzinproduktion.

3. Modulation der Immunregulationüber Toll-like-Rezeptoren und überdie Beeinflussung von Zytokinen.

Pathogenese der nosokomialen und Ventilator-assoziierten Pneumonie (VAP)

Nosokomiale Infektionen des Respira-tionstrakts sind die häufigsten Spitals-akquirierten Infektionen, die auf einerIntensivstation auftreten. Bei beatmetenPatienten spricht man von einer Venti-lator-assoziierten Pneumonie (VAP).Als Ursache für diese Infektionen wer-den vor allem zwei Faktoren angenom-men: Erstens, die Kolonisation des Oro-pharynx mit fakultativ pathogenen Keimen, die hauptsächlich aus demGastrointestinaltrakt stammen. Sowiezweitens, eine gesteigerte Translokati-on von Krankheitserregern aus demDarmtrakt in die Blutbahn durch eineStörung der Epithelbarriere. Mehrere Strategien zur Verhinderungvon Pneumonien bei Intensivpatientenberuhen auf der Hemmung dieser Pa-thomechanismen. Dazu zählen die se-lektive Dekontamination des Darms(SDD) mit Antibiotika oder die De-kontamination des Oropharynx mit An-tiseptika (Ramirez P; Curr Opin Crit

Care 2012, 18:86), aber auch die ente-rale Ernährung. In Zeiten der Zunahme von multiresis-tenten Keimen in den meisten Spitä-lern ist ein prophylaktischer Einsatz vonAntibiotika zur Verhinderung von In-fektionen als kontraproduktiv anzuse-hen. Eine alternative Strategie ist dieHemmung der Besiedelung beziehungs-

Tabelle: Ergebnisse der Metaanalysen zum prophylaktischen Einsatz von Probiotika bei kritisch-kranken Patienten

Metaanalyse Inkludierte Inkludierte Reduktion von Reduktion der Reduktion der Reduktion derStudien Patienten Pneumonien ICU-Aufenthalts- ICU-Mortalität Spitals-

dauer mortalität

Liu KX et al. 12 1.546 Ja Nein Nein NeinCrit Care 2012

Gu WJ et al. 7 1.142 Nein Nein Nein NeinChest 2012

Barraud D et al. 13 1.439 Ja Ja Nein NeinChest 2013

Petrof EO et al. Gesamt 23, 2.143 Ja Nein Positiver Trend NeinCrit Care Med unterschiedlich 2012 für einzelne

Fragestellungen

Thorax-Röntgen bei VAP

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Probiotika zur Verhinderung nosokomialer Infektionen?

Nr. 3, 20138

Wirksamkeit handelt, ist das möglicheAuftreten von unerwünschten Wirkun-gen durch diese Präparate nicht verwun-derlich. Diese scheinen jedoch selten zusein, müssen aber gegenüber dem kli-nischen Nutzen abgewogen werden. Um einen generellen Einsatz von Pro-biotika für alle Intensivpatienten zuempfehlen, ist die derzeitige Datenlagenoch nicht ausreichend. Für einzelnePatienten mit einem hohen Risiko füreine nosokomiale Pneumonie ist derenprophylaktischer Einsatz aber durchausin Erwägung zu ziehen. Bei Patientenmit schwerer Pankreatitis, deutlicherImmunsuppression und Herzklappen-fehlern ist Vorsicht geboten.

Generelle Limitationen bei Empfehlungen zum Einsatz von Probiotika

Generelle Therapieempfehlungen zumEinsatz von Probiotika sind für die meis-ten Indikationen aus folgenden Grün-den schwierig: Unterschiedliche Stäm-me einer Bakterienspezies können ver-schiedene Wirksamkeiten aufweisen, dasheißt, es sind nur Daten mit dem exakt

Nebenwirkungen von Probiotika

Grundsätzlich scheinen Probiotika we-nig unerwünschte Wirkungen zu ha-ben. In den vorliegenden Metaanalysenwurden keine Nebenwirkungen durchProbiotika beobachtet. Es existieren je-doch keine großen prospektiven Unter-suchungen zu ihrer Sicherheit. In der Literatur sind jedoch Einzelfäl-le von Sepsis durch Probiotika beschrie-ben (Snydman DR; Clin Infect Dis 2008;

46 Suppl 2:S104). Bisher wurde dasAuftreten von Bakteriämien, Fungä-mien, Endokarditiden oder Leberabs-zessen durch Laktobazillen, Bacillus sub-

tilis und in größeren Fallzahlen auchdurch Saccharomyces boulardii beobach-tet. Präparate, die Saccharomyces boular-

dii enthalten, sollten bei Intensivpatien-ten nicht eingesetzt werden. Risikofak-toren dafür waren Immundefizienz,Multimorbidität und das Vorliegen ei-nes zentralvenösen Katheters (Boyle RJ;

Am J Clin Nutr 2006; 83: 1256). Eine vieldiskutierte Studie bei Patien-ten mit schwerer Pankreatitis zeigte ei-ne erhöhte Mortalität, insbesonderedurch Darmischämien oder durch denEinsatz eines Synbiotikums im Ver-gleich zu Placebo (Besselink MG; Lancet

2008;371:651). Wieweit diese schwer-wiegenden Komplikationen auf das Pro-biotikum selbst zurückzuführen sind,ist nicht geklärt.

Bedeutung für die klinische Praxis

Zusammenfassend zeigen die aktuellenMetaanalysen, dass Probio tika das Ri-siko für das Auftreten von nosokomia-len respiratorischen Infektionen bei Patienten auf Intensivsta tionen vermin-dern können. Es gibt derzeit jedoch keine Hinweiseauf eine daraus resultierende Vermin-derung der Mortalität dieser Patienten,auch ein kürzerer Aufenthalt auf der In-tensivstation ist fraglich. Da es sich bei Probiotika um lebendebakterielle Stämme mit einer klinischen

Prof. Dr. Christoph HögenauerTheodor Escherich Labor für MikrobiomforschungKlinische Abteilung für Gastroenterologie und HepatologieUniv. Klinik für Innere MedizinMedizinische Universität [email protected]

gleichen definierten Stamm vergleich-bar. Bei vielen Studien zur gleichen In-dikation wurden aber unterschiedlichePräparate mit unterschiedlicher Anzahl verabreichter lebender Mikroorganis-men, unterschiedlichen Dosierungs -schemen und verschiedener Therapie-dauer eingesetzt. Es ist daher schwierig, von einer Studieauf die Wirksamkeit von Probiotika bei der untersuchten Indikation gene-rell zu schließen. Viele Probiotika sindals Lebensmittel zugelassen und dahernicht wie Arzneimittel auf das ausrei-chende Vorhandensein des Inhaltsstoffsüberprüft. Eine entsprechende Qualitätskontrollesollte für probiotische Produkte auchim Lebensmittelbereich erfolgen.

Interessenskonflikte: Keine

Laktobazillen

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Gastrales Residualvolumen bei Intensivpatienten

Nr. 3, 2013 9

Die Bestimmung der Magenrestflüssig-keit (üblicherweise 4 - 8 h nach enteralerNahrungszufuhr) hat wohl aus Sicher-heitsgründen vor Jahren Einzug in denmedizinischen Alltag gehalten. Vor Ver-abreichung weiterer Nahrung den Fül-lungszustand des Magens zu messen,wirkt plausibel, wurde jedoch nie vali-diert. Eminenzbasiert statt evidenzba-siert wurde bei Restflüssigkeitsmengenvon über 200 ml von einer weiteren Flüs-sigkeitsgabe (Sondenkost) abgesehen.

Die Bestimmung des gastralen Resi-dualvolumens (GRV) wird bei Patien-ten durchgeführt, welche über nasogas-trale Sonden enteral ernährt werden, al-so typischerweise bei beatmeten undmonitorisierten Patienten auf der In-tensivstation. Gerade dieses Patienten-kollektiv profitiert von einer frühen be-darfsdeckenden enteralen Ernährung.Ziel jeder Ernährungsintervention istdas Erreichen des berechneten oder ge-messenen (indirekte Kalorimetrie) Ka-

lorienbedarfs. Die Messung des GRVgefährdet dieses Ziel, weil Volumina vonüber 200 ml bisher zur Unterbrechungder Nahrungszufuhr führten. Dabei ist die Messung des GRV kei-nesfalls standardisiert und zuverlässig,sondern abhängig von Sondengröße,Sondentyp und Anzahl der Sondenöff-nungen, wie auch von der Art der zurAspiration verwendeten Spritzen, derPosition des Patienten (liegend- sitzend)und von anderen Faktoren.

Effect of not monitoring residual gastric volume on risk of ventilator-associatedpneumonia in adults receiving mechanical ventilation and early enteral feeding: A randomized controlled trial.Reignier J, Mercier E, Le Gouge A, et al. JAMA 2013; 309:249-56

Medical-Surgical Intensive Care Unit, District Hospital Center, La Roche-sur-Yon, France.

IMPORTANCE: Monitoring of residual gastric volume is recom-mended to prevent ventilator-associated pneumonia (VAP) in patientsreceiving early enteral nutrition. However, studies have challengedthe reliability and effectiveness of this measure.

OBJECTIVE: To test the hypothesis that the risk of VAP is not in-creased when residual gastric volume is not monitored comparedwith routine residual gastric volume monitoring in patients receivinginvasive mechanical ventilation and early enteral nutrition.

DESIGN, SETTING AND PATIENTS: Randomized, noninferiority,open-label, multicenter trial conducted from May 2010 throughMarch 2011 in adults requiring invasive mechanical ventilation formore than 2 days and given enteral nutrition within 36 hours after in-tubation at 9 French intensive care units (ICUs); 452 patients wererandomized and 449 included in the intention-to-treat analysis (3withdrew initial consent).

INTERVENTION: Absence of residual gastric volume monitoring.Intolerance to enteral nutrition was based only on regurgitation andvomiting in the intervention group and based on residual gastric volume greater than 250 mL at any of the 6 hourly measurements

and regurgitation or vomiting in the control group.MAIN OUTCOME MEASURES: Proportion of patients with at

least 1 VAP episode within 90 days after randomization, as assessedby an adjudication committee blinded to patient group. The prestatednoninferiority margin was 10%.

RESULTS: In the intention-to-treat population, VAP occurred in 38of 227 patients (16.7%) in the intervention group and in 35 of 222 pa-tients (15.8%) in the control group (difference, 0.9%; 90% CI, -4.8% to6.7%). There were no significant between-group differences in otherICU-acquired infections, mechanical ventilation duration, ICU staylength, or mortality rates.

The proportion of patients receiving 100% of their calorie goal washigher in the intervention group (odds ratio, 1.77; 90% CI, 1.25-2.51; P= .008). Similar results were obtained in the per-protocol population.

CONCLUSION AND RELEVANCE: Among adults requiring me-chanical ventilation and receiving early enteral nutrition, the absenceof gastric volume monitoring was not inferior to routine residual gas-tric volume monitoring in terms of development of VAP.

Ist die Bestimmung des gastralen Residual-Volumens bei Intensivpatienten obsolet?

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Gastrales Residualvolumen bei Intensivpatienten

Nr. 3, 201310

Dabei bleibt die Bedeutung von einma-lig oder wiederholt erhöhtem GRV un-klar, da keine gesicherte Korrelationzwischen deren Höhe und dem Aspi-rationsrisiko oder dem Auftreten vonVentilator-assoziierten Pneumonien be-steht. Hohe GRV (>500 ml) sind nichtzwingend mit Aspiration verbundenund niedrige (<200 ml) keine Garantiedafür, dass keine Aspiration auftritt undführen auch nicht zu einer Abnahmeder Pneumonierate (Pinilla JC; JPEN

2001; 25:81).Das in früheren Ernährungsrichtlinienempfohlene GRV von >200 ml hat sichaufgrund von neueren Studien in denBereich von 250-500 ml korrigiert (Mc

Clave SA, JPEN 2002; 26:80). Die Mes-sung des GRV selbst wird jedoch trotzaller beschriebener Mängel und ohneeinen wissenschaftlichen Beleg ihrerSinnhaftigkeit weiterhin empfohlen. Der Nahrungsaufbau über eine naso-gastrale Sonde gestaltet sich bei beat-meten Patienten oft schwierig und wirderschwert durch gastroösophagealen Re-flux, Regurgitation und Erbrechen. Die-se Symptome gastrointestinaler Intole-ranz führen zu Unterbrechung der Nah-rungszufuhr, Gabe von Prokinetika,Wechsel der nasogastralen auf eine na-sojejunale Sonde oder zum Beginn ei-ner total parenteralen Ernährung. Wen wundert es, dass in den letzten Jah-ren verschiedene Studien durchgeführtwurden mit dem Ziel, den „Cut-off“ desGRV in Richtung höherer Volumina zuverschieben oder die Messung des GRVganz zu unterlassen. Es erscheint plau-sibel, dass dies zu einer höheren Kalo-rienzufuhr führen müsste, mit all denpositiven Auswirkungen einer adäqua-ten Ernährung für den Patienten. Die französische Gruppe um F. Poularduntersuchte erstmals im Jahre 2010, obdie Unterlassung der Bestimmung desGRV mit einer Zunahme der Energie-zufuhr (zum Nutzen der Patienten), ver-mehrtem Erbrechen und höherenPneumonieraten (zum Schaden der Pa-tienten) vergesellschaftet ist. Die Pa-

tienten ohne GRV-Messung erhieltensignifikant mehr Kalorien, dies bei ähn-lichen Raten von Erbrechen und Ven-tilator-assoziierten Pneumonien (Pou-

lard F, JPEN 2010; 34:125). Nunmehr untersuchten Reignier undMitarbeiter in einer randomisierten,multizentrischen, non-inferiority-Stu-die beatmete Erwachsene auf 9 Inten-sivstationen in Frankreich. Die Studi-enteilnehmer sollten mehr als zwei Ta-ge einer Beatmung bedürfen und innert36h nach Intubation mit einer entera-len Ernährung versorgt sein. In der Interventionsgruppe (n=227)wurde auf die Messung des GRV ver-zichtet. In der Kontrollgruppe wurdesechsstündlich mittels Aspiration überdie Magensonde (50 ml Spritze) dasgastrale Residualvolumen bestimmt. Die Patienten der Interventionsgruppewurden auf Erbrechen als Symptom dergastrointestinalen Intoleranz überwacht(wobei Erbrechen als Nachweis vonMageninhalt im Nasopharynx oder au-ßerhalb des Mundes definiert wurde -allerdings nicht bei Regurgitation nachManipulation der Pflege am Patienten).

In der Kontrollgruppe galt Erbrechen,ein GRV von > 250 ml oder beides alsgastrointestinale Intoleranz. Beide Gruppen wurden einem identi-schen Nahrungsprotokoll unterzogen.Als primärer Studienendpunkt war derAnteil von Patienten mit Ventilator-assoziierten Pneumonien innerhalb von90 Tagen definiert. Die Diagnose einer Ventilator-assozi-ierten Pneumonie wurde gestellt, wennim Thoraxbild ein neues oder persistie-rendes Infiltrat und zwei weitere der fol-genden Kriterien nachweisbar waren:Leukozytose (>10'000 x 109/l), Leuko-penie (<4000 x 109/l), Temperatur >38,5°oder < 35,5°, purulentes Trachealaspi-rat. Die Diagnose der Pneumonie wur-de von einem unabhängigen Expertenbestätigt. Darüber hinaus wurde die Häufigkeitvon Erbrechen, Ernährungstoleranz,Prokinetikagaben, Diarrhoeepisoden,nosokomialen Infekten, das kumulati-ve Kaloriendefizit, sowie die Dauer derBeatmung, des ICU-Aufenthaltes, desSpitalaufenthaltes und die Mortalitätam Tage 28 und 90 beobachtet.

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Gastrales Residualvolumen bei Intensivpatienten

Die Resultate

Die Resultate dieser Studie sind beach-tenswert (Tabelle). So traten in beidenStudiengruppen fast identische Pneu-monieraten auf. Selbst das Keimspek-trum der Erreger (Staph. aureus/Strepto-

kokkus spp./Enterobacteriaceae/Pseudomo-

naden) war nahezu das Gleiche.Obwohl in der Interventionsgruppe sig-nifikant mehr Erbrechen beobachtetwurde (p=0,02), waren die Episodengastrointestinaler Intoleranz in der Kon-trollgruppe häufiger. Diesen Patientenwurden deutlich mehr Prokinetika ver-abreicht. Ohne Messung des GRV wur-de das Kalorienziel häufiger erreicht unddementsprechend war das Kaloriende-fizit signifikant kleiner. Es zeigten sich keine Unterschiede inder Anzahl der Durchfallepisoden, dernicht-pulmonalen Infektionen oder inBezug auf die Dauer der Beatmung undHospitalisation. Auch die Mortalitätblieb gleich. Die Konklusion der Autoren lautete,dass ohne GRV-Messung den Patien-ten mehr Kalorien zugeführt werdenkönnen, weniger Prokinetika verabreichtwerden müssen, ohne Zunahme der Ra-te an Aspirationen oder Pneumonien(Reignier J; JAMA 2013;309:249).Trotz dieser sehr sorgfältig durchge-

führten Studie mit adäquatem Studi-endesign ließ sich die Expertengruppeder kanadischen Ernährungsgesellschaftnicht zu einer Änderung der aktuellenRichtlinien zum Thema „gastrale Resi-dualvolumenmessung“ bewegen. Diehöhere Kalorienmenge hält der Aus-schuss dieser Gesellschaft für marginal.Des Weiteren wurde die Validität derStudie angezweifelt (Schweregrad derKrankheiten, vorwiegend internistischePatienten), sodass sich diese Gruppenicht dahingehend einigen konnte, denVerzicht der Überprüfung des gastralenResidualvolumens als Empfehlung aus-zusprechen.

Zusammenfassend lässt sich mit derderzeitigen Praxis der Messung desGRV bei beatmeten Intensivpatientendas Risiko einer Aspiration nicht zu-verlässig vorhersagen oder gar reduzie-

Dr. Alois HallerZentrum für IntensivmedizinKantonsspital [email protected]

Tabelle: Wichtigste Resultate der Studie von Reignier F et al. (JAMA 2013;309:249)

Intervention (n=227) Kontrolle (n=222)

Ventilator-assoziierte Pneumonien 16,7% 15,3%

Erbrechen 39,6% 27%

GI-Intoleranz 39,6% 65,5%

Prokinetikabgabe 39,2% 62,6%

Kaloriendefizit Tag 0-7 319 Kcal 509 Kcal

ren. Der Nutzen der GRV-Messungbleibt unklar. Die aktuelle Aspirations-technik zur Bestimmung des GRV lie-fert keine gültigen Indikatoren des Ma-geninhaltes und wird auch in Zukunftweiter mit Fehlern behaftet bleiben. DasUnterlassen der Messung des GRV da-gegen ist nicht mit Nachteilen für dieIntensivpatienten behaftet. Diese Aus-sage ist mit zwei prospektiven, rando-misierten Studien belegt und sollte da-mit beachtet werden. Die Bestimmungdes GRV ist damit obsolet.

Interessenskonflikte: Keine

Nr. 3, 2013 11

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Notfallmedizin und Intensivmedizin: Eine Symbiose

Nr. 3, 2013

Therapie für kritisch Kranke im vol-len Ausmaß bereithalten, weil Ver-zögerungen bei den sogenannten„zeitkritischen“ Erkrankungen (Myo-kardinfarkt, Schock, Schlaganfall,Sepsis, Aortendissektion, u. a.) zu ei-ner Verschlechterung der Prognoseführen.

■ Der Case-Mix kritisch Kranker, dieentweder von der Rettung in dieNotfallabteilungen gebracht werdenoder selbstständig kommen, ist ex-trem breit gefächert, was zur Forde-rung nach einer profunden notfall-und intensivmedizinischen Ausbil-dung der hier tätigen ÄrztInnen undPflegepersonen führt.

■ Zwischen Notfall- und Intensivab-teilungen muss eine intensive Kom-munikation und enge Kooperationhergestellt sein, damit Abklärungund An- und Weiterbehandlung aufhöchstem Niveau lückenlos und oh-ne Zeitverzug erfolgen können. Je-denfalls gilt es zu vermeiden, dasskritisch Kranke in der Notfallabtei-lung ohne entsprechende Überwa-chung und Therapie auf das nächstefrei werdende Intensivbett wartenmüssen.

■ Die intensivmedizinischen Leistun-gen, die nun in den Notfallabteilun-gen erbracht werden, stressen das oh-nehin am Limit laufende System undvermindern die Durchsatzrate derübrigen Patienten. Dies bedeutetlängere Wartezeiten und damit eineweitere Überfüllung der ohnehinüberlaufenen Notfallabteilung.

Am Wiener Allgemeinen Krankenhauswird das Konzept „Intensivmedizin inder Notfallabteilung“ schon seit mehrals 20 Jahren umgesetzt (Laggner AN;

Yearbook of Intensive Care and Emergen-

cy Medicine 1993; 641). Die Patienten erhalten unmittelbar nachdem Eintreffen das gesamte intensiv-medizinische Diagnose- und Behand-lungsspektrum. Die Aufenthaltsdauerder Intensivpatienten an der Notfallab-teilung ist zeitlich nicht begrenzt, dau-ert aber solange, bis der Patient abge-klärt und stabilisiert ist und sicher aufdas nächste frei werdende Intensivbetttransferiert werden kann. Es konnte gezeigt werden, dass mit der„Intensivmedizin in der Notfallabtei-lung“ eine relevante Anzahl intensiv-pflichtiger Patienten eine „Desintensi-

Notfallabteilung und Intensivstation:Eine neue Symbiose

Increasing critical care admissions from U.S. emergency departments, 2001-2009.Herring AA, Ginde AA, Fahimi J, et al. Crit Care Med 2013; 41:1197-204

Department of Emergency Medicine, Alameda County Medical Center, Highland Hospital, Oakland, CA, USA.

National growth in intensive care unit admissions from emergency departments inthe United States from 2002 to 2009.Mullins PM, Goyal M, Pines JM Acad Emerg Med 2013; 20:479-86

Department of Health Policy , George Washington University School of Public Health and Health Sciences, Washington, DC.

12

Zwei neue Publikationen aus den USAberichten über einen im letzten Jahr-zehnt aufgetretenen und weiterhin stei-genden Trend hinsichtlich der Zunah-me intensivmedizinischer Leistungenin den Notfallabteilungen. Dieses Fak-tum wird einerseits mit der gestiegenenAnzahl und andererseits mit der länge-ren Aufenthaltsdauer der Intensivpa-tienten in der Notfallabteilung erklärt(die Aufenthaltsdauer der Intensivpa-tienten an den US-Notfallaufnahmenbeträgt etwa 4 bis 6 Stunden). Der Zuwachs betrifft alle Altersgrup-pen gleichmäßig. Auffällig ist das brei-te Diagnosen- und Beschwerdespek-trum der intensivpflichtigen Patientender Notfallabteilungen, das neben kar-dio-vaskulären, pulmonalen, gastroin-testinalen und neurologischen auch di-verse andere Notfälle umfasst.Obwohl die Notfall- und Intensivme-dizin in den USA anders als in Mittel-europa organisiert ist, kann man docheinige wichtige Fakten identifizieren,die auch für uns in Mitteleuropa rele-vant sind:

■ Die Notfallabteilungen müssen in-tensivmedizinische Diagnostik und

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Notfallmedizin und Intensivmedizin: Eine Symbiose

vierung“ erfahren können und dass da-mit die Betten auf der Intensivstationfür jene Patienten zur Verfügung ste-hen, die von einem längeren Intensiv-aufenthalt profitieren (Müllner M; Crit

Care Med 1994; 22:86, Bur A; Europ J

Emerg Med 1997; 4:19, Schober A; Re-

suscitation 2011; 82:853). Ein derartiges Konzept basiert auf ex-trem motivierten und breitest intensiv-und notfallmedizinisch ausgebildetenärztlichen und pflegerischen Mitarbei-terInnen und der gelebten intensivenKommunikation und engen Koopera-tion mit den KollegInnen der Intensiv-stationen. Bisherige Erfahrungen zeigen, dass sichdie räumliche Nähe von Notfall-Inten-siv- und Notfall-Ambulanz-Bereichnicht zum Nachteil für die Nicht-in-tensiv-Notfallpatienten entwickelt hat,da alle Patienten von der intensiv- undnotfallmedizinischen Kompetenz derMitarbeiterInnen profitieren (Behrin-

ger W; Notfall Rettungsmed 2012; 15:

Prof. Dr. Anton N. LaggnerUniversitätsklinik für NotfallmedizinMedizinische Universität [email protected]

392). So werden vor dem Hintergrundlebensbedrohlicher Notfälle auch län-gere Wartezeiten in Kauf genommen.Die Symbiose von Notfallabteilungenund Intensivstationen ist schon geleb-te Wirklichkeit und wird – weil sie zu-nehmend gefragt und erfolgreich ist –auch zukünftig wichtig sein. Die Spi-talserhalter sind aufgefordert, planerisch

und organisatorisch dieser EntwicklungRechnung zu tragen!

Interessenskonflikte: Keine

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Das akut-auf-chronische Leberversagen(ACLF) ist eine der bedrohlichstenKomplikationen bei Patienten mit Le-berzirrhose. Charakterisiert ist dasKrankheitsbild durch eine Dekompen-sation der Leberzirrhose (Neuauftretenvon Aszites, hepatische Enzephalopa-thie, bakterielle Infektion und/oder gas-trointestinale Blutung) und eine Organ-funktionsverschlechterung (der Leber-oder Nierenfunktion oder eines anderenOrgansystems) mit hoher Mortalität.Prognostisch wichtig bei Patienten istdie Unterscheidung zwischen einerakut dekompensierten Leberzirrhose(28/90-Tage-Mortalität von 2/10 Pro-zent) und dem akut-auf-chronischenLeberversagen (akut dekompensierteLeberzirrhose und Organversagen) miteiner 28/90-Tage-Mortalität von rund30/50 Prozent), wie in einer aktuellenStudie des European Association for the

Study of Liver Diseases – Chronic Liver

Failure (EASL-CLIF) Konsortiums ge-zeigt wird (Moreau R; Gastroenterology

2013; 144:1426). Abgesehen von supportiven Maßnah-men gibt es zur Zeit keine in großenStudien etablierten Maßnahmen, diedas Überleben der Betroffenen verbes-sern. Daher sind Interventionsstudienin diesem Patientenkollektiv von beson-derer klinischer Bedeutung. Leberunterstützungsverfahren werdenin 2 Formen unterteilt: Zellfreie (arti-

fizielle) und zellbasierte (bioartifiziel-le) Methoden. Die bekanntesten undweltweit am meisten benutzten zellfrei-en Systeme sind das MARS® (Molecu-lar Adsorbent Recirculating System)-Verfahren (Gambro Hospal GmbH,Lund, Schweden) sowie das Prome-theus®-Verfahren (Fresenius MedicalCare, Bad Homburg, Deutschland).Für das MARS®-Verfahren konnte ge-zeigt werden, dass es neben einer Ver-besserung der hepatischen Enzephalo-pathie auch eine Verbesserung der sys-temischen und portalen Hämodynamikbewirkt (Hassanein TI; Hepatology 2007;

46:1853; Laleman W; Crit Care 2006;

10:R108; Sen S; J Hepatol 2005;43:142).Zellbasierte Systeme hätten den Vorteilder zusätzlichen hepatalen Synthese-leistung im Vergleich zur ausschließli-chen Detoxifikation der zellfreien Sys-teme, jedoch konnte bisher kein Vorteildurch die Anwendung eines dieser Sys-teme belegt werden. Derzeit stehen die

hohen Kosten der Anwendung von bio-artifiziellen Leberunterstützungssyste-men in keinem Verhältnis zu der bishernachgewiesenen Wirksamkeit der Sys-teme. Anzumerken ist jedoch, dass neuemultinationale Studien mit zellbasier-ten Leberunterstützungsverfahren inVorbereitung bzw. bereits am Laufensind (beispielsweise ELAD®-System,Vital Therapies, San Diego, USA). Im Jahre 2013 wurde kurz nach Publi-kation des HELIOS-Trials (Prome-

theus®-Verfahren, Kribben A; Gastroen-

terology 2012;142:782) mit dem RE-LIEF-Trial die bisher größte Studie zuzellfreien Leberunterstützungsverfah-ren publiziert. Beide Studien untersuch-ten die Wirksamkeit des artifiziellenLebersupports auf das Überleben beiPatienten mit ACLF. Beide Studienwaren Negativstudien im Hinblick aufden primären Studienendpunkt (28-Ta-ge-transplantationsfreies Überleben).

In Folge soll die RELIEF-Studie detaillierter beleuchtet werden:

Im RELIEF-Trial wurden innerhalbvon 7 Jahren (2003-2009) in 19 euro-päischen Zentren 189 Patienten mitakut dekompensierter Leberzirrhose miteinem auslösenden Event (Alkoholabu-sus, Infektionen, gastrointestinale Blu-tungen), einem Bilirubin-Anstieg ≥ 5mg/dL und zumindest einem der fol-

Extracorporeal albumin dialysis with the molecular adsorbent recirculating systemin acute-on-chronic liver failure: The RELIEF-trial.Bañares R, Nevens F, Larsen FS, et al. Hepatology 2013; 57:1153-62

Liver Unit, Hospital General Universitario Gregorio Marañón, IiSGM, Medical School, Universidad Complutense, Madrid, Spain.

Time to RELIEF? Grenzen und Möglichkeiten der zellfreien Leberunterstützungsverfahren

Zellfreie Leberunterstützungsverfahren

Nr. 3, 2013 15

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Zellfreie Leberunterstützungsverfahren

Nr. 3, 201316

genden Ereignisse (hepatorenales Syn-drom, hepatische Enzephalopathie ≥ Grad II, rasch ansteigende Hyperbi-lirubinämie mit Bilirubinwerten ≥ 20mg/dL) eingeschlossen. Nach einer Screeningphase von maxi-mal 48 Stunden wurden die Patientenentweder in die Standard-Therapie-gruppe oder die MARS® plus Stan-dardtherapie randomisiert. Die extra-korporale Leberunterstützung wurdenach folgendem Schema durchgeführt:4 Behandlungen innerhalb von 4 Tagen(mittlere Behandlungszeit pro MARS®-Session 6.8 Stunden) und darauf fol-gend 3 Sessions pro Woche mit einemMaximum von insgesamt 10 Sessionsinnerhalb von 3 Wochen nach Studien-einschluss.Die Behandlungen wurden bis zu eineranhaltenden Verbesserung (Kreatinin < 1.5 mg/dL und keine HE, stabiles Se-rumbilirubin um < 20% unter dem Aus-gangswert nach 2 MARS®-behand-lungsfreien Tagen) durchgeführt. Vonden 189 Patienten wurden schließlich5 Patienten pro Gruppe in der inten -tion-to-treat-Analyse und weitere 23Patienten (4 in der Kontrollgruppe und19 in der MARS-Gruppe) in der per-protocol-Analyse ausgeschlossen. In der Interventionsgruppe wurden durch-schnittlich 6-7 MARS®-Behandlun-gen pro Patient durchgeführt. Das 28-Tage-transplantationsfreie Über-leben (primärer Studienendpunkt) un-terschied sich weder in der intention-to-treat noch in der per-protocol-Analysestatistisch signifikant (MARS®-Grup-pe versus Kontrollgruppe: 60,7 versus58,9% bzw. 60 versus 59,2%). Auch in vordefinierten Subgruppen(Patienten mit hepatorenalem Syndrom,hepatische Enzephalopathie ≥ Grad II,progressive Hyperbilirubinämie, MELD-Score > 20) konnte kein Überlebensvor-teil durch die MARS®-Therapie nach-gewiesen werden. Weiters konnte kein Einfluss der arti-fiziellen Leberunterstützung auf die

Krankenhausaufenthaltsdauer festge-stellt werden. Während der ersten vierBehandlungstage konnte eine stärkereReduktion von Bilirubin und Kreatininsowie ein Trend zur stärkeren Redukti-on der HE durch das MARS®-Verfah-ren beobachtet werden. Wie schon infrüheren Studien zeigte sich auch hierdie Anwendung des MARS®-Systemsals sicher, unerwünschte Nebenwirkun-gen im Verlauf waren vergleichbar zurKontrollgruppe. Die RELIEF-Studie zeigte, dass die An-wendung von MARS® eine sichere Me-thode bei schwer kranken Patienten mitACLF darstellt, die jedoch die Kurzzeit-mortalität nicht reduzieren konnte. Eines der Hauptprobleme des RE-LIEF-Trials ist die zum Zeitpunkt desStudiendesigns vor gut einem Jahrzehntfehlende, auf klinischen Daten basie-rende Definition für das ACLF. Kurznach Publikation des RELIEF-Trialskonnte ein europäisches Konsortium,wie bereits erwähnt, eine sehr differen-zierte Beschreibung und Risikostratifi-zierung für oben genanntes Krankheits-bild erstellen (Tabelle 1). Anhand eines modifizierten SOFA-Scores konnte je nach Anzahl der be-troffenen Organfunktionsstörungen ei-ne Risikostratifizierung durchgeführtwerden (Tabelle 2).

So konnte gezeigt werden, dass die 28-Tage-Mortalität in Abhängigkeit derSchwere des ACLF zwischen rund 15bis über 80 Prozent beträgt. Mit derartigen Daten im Rahmen derStudienplanung wäre eine detaillierterePatientenselektion möglich gewesen, umeinerseits Patienten ohne Chance aufReversibilität des Organversagens undandererseits auch Patienten ohne Not-wendigkeit einer Therapieeskalation vondieser Outcome-Studie auszuschließen. Zellfreie Leberunterstützungsverfahrenkönnen keine Lebererkrankung heilen.Das Haupteinsatzgebiet liegt vielmehrin der Überbrückung akuter Verschlech-terungen bei Patienten mit Erholungs-potential bis hin zur Wiedererlangungdes Ausgangszustandes bzw. zur Leber-transplantation. Ein protrahierter Ef-fekt einer kurzzeitig angewandten zell-freien Leberunterstützung ist nicht zuerwarten. So konnte auch das MARS®-Systemin der RELIEF-Studie unmittelbar dieFunktion einzelner Organsysteme (bzw.zumindest deren Surrogatparameter)verbessern. Dies war jedoch nicht vonprotrahierter klinischer Konsequenz imSinne einer Verbesserung des Outcomesbegleitet. Die Autoren der RELIEF-Studie mutmaßen, dass eine Intensivie-rung der MARS®-Therapie (beispiels-

Tabelle 1: CLIF-SOFA-ScoreAls Organversagen sind die fett unterlegten Parameter definiert.

(modifiziert nach Moreau R; Gastroenterology 2013;144:1426)

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weise durch häufigere, idealerweise na-hezu kontinuierliche Behandlungszy-klen mit lediglich kurzzeitigen System-wechseln) bis zur Erholung der Organ-funktionen vonnöten sein dürfte, umeinen klinischen Therapieerfolg errei-chen zu können. Weiters dürfte auch der Zeitpunkt desBeginns des Lebersupports von Bedeu-tung sein. In der Intensivmedizin ist seitvielen Jahren das Paradigma der frühenzielgerichteten Therapie etabliert. Dieverhältnismäßig lange Vorphase bis zurersten Behandlung im Rahmen der RELIEF-Studie entspricht keinemfrühzeitigen Behandlungsbeginn undsollte auf jeden Fall in zukünftigen Stu-dien kürzer gehalten werden.

Darf die zellfreie Leberunterstützung mit den Ergebnissen dieser Studie guten Gewissens zu Grabe getragen werden?

Unserer Meinung nach ist diese Fragemit einem ganz klaren „Nein“ zu beant-worten. Die RELIEF-Studie zeigt viel-mehr, wie wichtig eine präzise Patien-tenselektion und das Timing für ein er-folgreiches Outcome sind. Mit dem Wissen von rezenten epide-miologischen Daten sollten zukünftigeStudien selektiver bei der Patientenaus-wahl sein. Weiters muss auch die Intensität derMARS®-Therapie überdacht werden.In der neuen Studie von Banares et al.scheint nicht nur die Dauer, sondernauch die Anzahl der Therapiesitzungenknapp gewählt worden zu sein. Ob zusätzlich eine Steigerung der De-toxifikationseffizienz sowie die Mög-lichkeit der Wiederherstellung der funk-tionellen Kapazität von Albumin (wo-zu das derzeitige MARS®-System nichtin der Lage ist – Jalan R; Hepatology

2009; 50:555) durch neue Systeme oderVerbesserungen der aktuellen Verfah-ren einen zusätzlichen Vorteil in der Be-handlung des ACLF bewirken könn-ten, müssen zukünftige Studien klären.

Das Einsatzgebiet von Leberunterstüt-zungsverfahren geht weit über die Be-handlung von Patienten mit ACLF hi-naus. Intraktabler Pruritus ist beispiels-weise eine weithin akzeptierte Indikationzum Einsatz artifiziellen Lebersupports(Fuhrmann V; Liver Int 2011; 31:31).Weiters bestehen neben dem seltenen„primären“ akuten Leberversagen auchbei sekundären Formen wie der Schock-leber mit einer 28-Tage-Mortalität vonrund 60 Prozent (Drolz A; Liver Int

2011; 31; Suppl 3:19) und cholestati-schen Formen beispielsweise nach kar-diochirurgischen Eingriffen (Zittermann

A; Thorac Cardiovasc Surg 2013, epub

ahead of print) potentielle Einsatzgebie-te für zellfreie Leberunterstützungsver-fahren. Entsprechende Studien sindderzeit im Gange oder seitens der Da-tenerhebung bereits abgeschlossen.

Zusammenfassend hat die RELIEF-Stu-die an einem großen Patientenkollektivgezeigt, dass zellfreie Leberunterstüt-zung eine kurzfristige Verbesserung ein-zelner Organsysteme ermöglicht und beischwerkranken Patienten sicher ange-wendet werden kann. Ein Überlebens-vorteil konnte hiermit jedoch in einemunselektierten ACLF-Patientenkollek-

tiv nicht bewirkt werden. Aktuelle Er-kenntnisse, die das Krankheitsbild desACLF neu beleuchten und die Erstel-lung eines detaillierten Risikoprofils er-möglichen, sollten Grundlage für einbesseres Studiendesign in zukünftigenInterventionsstudien sein. Die RELIEF-Studie sollte – insbeson-dere auch aufgrund ihrer Limitationen– als eine wichtige Basis für zukünftigeUntersuchungen zellfreier Leberunter-stützungsverfahren bei ACLF betrach-tet werden, die als Überbrückung be-drohlicher, aber potentiell reversiblerZustände bei wohlselektierten Patien-ten eingesetzt werden.

Interessenskonflikte: Die Autoren führen derzeit eine Studie mit dem MARS-System durch, die von der FirmaGambro unterstützt wird.

Dr. Thomas HorvatitsPriv. Doz. Dr. Valentin FuhrmannKlinik für Innere Medizin 3Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie Medizinische Universität Wien

Zentrum für Anästhesie, Intensiv-therapie und OP-Management Klinikum Ernst von Bergmann,Potsdam

[email protected]

Tabelle 2: 28-Tage-Mortalität nach Art und Anzahl von OrganversagenSubgruppen, die die Kriterien des ACLF erfüllen, sind fett unterlegt.

(modifiziert nach Moreau R; Gastroenterology 2013;144:1426)

Zellfreie Leberunterstützungsverfahren

Nr. 3, 2013 17

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Ist „un“-physiologisches“ NaCl nephrotoxisch?

Nr. 3, 201318

Für das „physiologische“ bzw. eher das„un“-physiologische 0.9% NaCl alsStandard-Infusionslösung wird es eng.In einem der letzten Hefte der Inten-siv-News wurde eine große Observati-onsstudie an über 30.000 abdominal-chirurgischen Patienten vorgestellt(Shaw AD; Ann Surg 2012; 255:821). Patienten, die als Standard-Infusions-lösung 0.9% NaCl erhalten hatten, wie-sen eine höhere Komplikationsrate, wieInfektionen, Nierenversagen, Elektro-lytstörungen, Bedarf an Blut-Transfu-sionen und eine höhere Mortalität auf. Im Kommentar zu dieser Studie wur-den verschiedene mögliche Nachteileund Komplikationen einer Therapie mitchlorid-reichen Infusionslösungen dar-gelegt (Kozek-Langenecker S; Intensiv-

News 4/2012). Dabei wurde auch dieungünstige Auswirkung von 0.9% NaClauf die Nierenfunktion diskutiert. Da nun weitere Untersuchungen zumEinfluss von chlorid-reichen Infusions-lösungen auf die Niere und die Erhö-hung der Gefahr der Ausbildung einesakuten Nierenversagens (ANV) er -schienen sind, soll aus Aktualitätsgrün-

Association between a chloride-liberal vs chloride-restrictive intravenous fluid administration strategy and kidney injury in critically ill adults.Yunos NM, Bellomo R, Hegarty C, et al. JAMA 2012; 308:1566-72

Affiliations: Johor Bahru Clinical School, Monash University Sunway Campus, Malaysia.

A randomized, controlled, double-blind crossover study on the effects of 2-L infusions of 0.9% saline and plasma-lyte® 148 on renal blood flow velocity and renal cortical tissue perfusion in healthy volunteers.Chowdhury AH, Cox EF, Francis ST, et al. Ann Surg 2012; 256:18-24

Division of Gastrointestinal Surgery, Nottingham University Hospitals, Queen’s Medical Centre, Nottingham NG7 2UH, UK.

„Un“-physiologisches NaCl und die Niere: Nicht DIE Lösung, sondern DAS Problem

Abb. 1: Änderung der Perfusion der Nierenrinde nach Infusion über 1 Stundevon 2000 ml 0.9% NaCl oder einer bilanzierten Lösung (modifiziert nachChowdhury AH; Ann Surg 2012; 256:18).

Δren

al-ko

rtika

le D

urch

blut

ung

(ml/

100g

/min

)

0 7 14 21 28 35

40

20

0

-20

-40

-60

Zeit (min)

P = 0.008

den diese Thema nochmals aufgenom-men werden.Zunächst hatte die Gruppe um D. Lo-bo in einer randomisiert-kontrolliertenStudie an Gesunden den Effekt einer2-Liter-Infusion von NaCl 0.9% gegen-über einer bilanzierten Lösung auf dierenale Perfusion verglichen (Chowdhu-

ry AH; Ann Surg 2012; 256:18). Die re-

nalen Funktionsparameter wurden mit-tels einer Magnetresonanzmethode er-hoben, wobei die renal-arterielle Blut-flussgeschwindigkeit und die kortikalePerfusion gemessen wurden. „Unphysiologisches“ NaCl führte nichtnur zur Ausbildung einer hyperchlorä-mischen Azidose, zu einer höherenFlüssigkeitsretention und interstitiellenFlüssigkeitsakkumulation, sondern auchzu einer Verminderung der Flussge-schwindigkeit und zu einer dramati-schen Reduktion der kortikalen Durch-blutung von 40% (Abbildung 1). Im JAMA ist dann eine große, prospek-tive (allerdings nicht randomisierte), aus -tralische Studie erschienen, in der zweihalbjährige Perioden verglichen wurden:Eine, in der bei Intensivpatienten die üb-liche Standard-Infusionstherapie mit chlo-rid-reichen Infusionslösungen erfolgtist und eine, in der die Gabe von chlo-rid-reichen Lösungen limitiert war undvorwiegend bilanzierte Lösungen (meistRinger-Laktat) verwendet wurden undder Einsatz von NaCl nur noch nach in-dividueller Vorschreibung gestattet war(Yonos NM; JAMA 2012; 308:1566).

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Ist „un“-physiologisches“ NaCl nephrotoxisch?

Nr. 3, 2013 19

Hauptzielparameter waren die Ände-rung des Serum-Kreatinins und die In-zidenz eines akuten Nierenversagens,graduiert nach den RIFLE-Kriterienund der Dialysepflichtigkeit. In der Pe-riode, in der chlorid-reiche Lösungenverwendet wurden, war gegenüber derPeriode mit bilanzierten Lösungen dermittlere Anstieg des Serum-Kreatininsund die Inzidenz an akuten Nieren -versagen, der Stadien RIFLE-I und RIFLE-F und die Notwendigkeit einerNierenersatztherapie signifikant höher(Abbildung 2). Die Intensivstations-/Krankenhaus-Aufenthaltsdauer, dieMortalität und Notwendigkeit einerNierenersatztherapie nach Entlassungwaren nicht unterschiedlich.Sicherlich ist mit einem derartigen Stu-diendesign ein kausaler Zusammenhangnicht zu beweisen. Zwischen den Perio -den fanden sich neben der Reduktionder Chloridzufuhr um etwa 30% (von694 auf 495 mmol/Patient) auch ande-re Änderungen. Die Zufuhr von Na-trium wurde vermindert, dagegen wur-de mehr Laktat und Kalium verabreicht,auf künstliche Kolloide und auf 4% Al-bumin wurde weitgehend verzichtet. Insgesamt ergibt sich aber aus den nun-mehr verfügbaren Studien ein konsis-tentes Bild des Nebenwirkungs- undKomplikationsmusters einer Infusions-therapie mit 0.9% NaCl. Chlorid-reiche Lösungen führen nichtnur zur hyperchlorämischen Azidoseund den multiplen, schon von Kozek-Langenecker diskutierten Nebenwir-kungen/Komplikationen, sondern ebenauch zu schwerwiegenden Änderungender Nierenfunktion. Die klinisch relevantesten Folgen be-stehen einerseits darin, dass ein zuge-führtes Volumen nicht entsprechend renal eliminiert werden kann und zurAkkumulation von interstitieller Flüs-sigkeit/Volumenüberladung führt, an-dererseits im erhöhten Risiko einer Nie-renfunktionsstörung mit der Gefahr derAusbildung eines nierenersatzpflichti-gen ANV.Wie vieles in der Medizin sind auchdiese Erkenntnisse nicht neu. Christo-

Prof. Dr. Wilfred DrumlAbteilung für NephrologieMedizinische Universität Wien [email protected]

Abb. 2: Entwicklung eines akuten Nierenversagens im Stadium AKIN-2 (RIFLE-I) undAKIN-3 (RIFLE-F) während des Intensivaufenthaltes. Vergleich der chlorid-reichen undchlorid-armen Infusionsperioden (modifiziert nach Yunos NM; JAMA 2012; 1566-72).

Ante

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Zeit (h)

Log-rank P = 0.001

2009

2008

Is it time to say farewell to 0.9% NaCl?

Sollten wir also in Zukunft auf die Ver-wendung von chlorid-reichen Infusi-onslösungen und – quantitativ am wich-tigsten – vor allem auf das 0.9% NaClverzichten? Ich denke, allen ist klar, das 0.9% NaClweder physiologisch (zu hohe Chlorid-,aber auch Natrium-Zufuhr) noch iso-ton ist und heute wohl kein Zulassungs-verfahren mehr passieren würde. Die Zusammensetzung und Verwen-dung von 0.9% NaCl entspricht nichteinem physiologischen Konzept, son-dern ist rein historisch und ökonomischbedingt und ist sachlich nicht zu recht-fertigen (siehe auch die sehr illustrative Über-

sicht Awad S; Clin Nutr 2008; 27:179).Ich denke, wir sollten endgültig Ab-schied nehmen von dieser obsoleten,mit einem breiten Spektrum von kli-nisch relevanten Nebenwirkungen undeben auch einer „Nephrotoxizität“ be-hafteten Infusionslösung.

Interessenskonflikte: Keine

pher Wilcox hatte schon 1983 eine Ar-beit zur „Regulation des renalen Plas-maflusses durch Chlorid“ veröffentlicht,in der er Chlorid als selektiven renalenVasokonstriktor identifiziert hatte (Wil-

cox CS; J clin Invest 1983; 71:726). Diese Änderungen der Nierenfunktiondurch Chlorid könnten auch der Grundfür den in manchen Studien gezeigtenVorteil einer Bikarbonat-hältigen Vo-lumentherapie zur Vermeidung derKontrastmittel-induzierten Nephropa-thie sein. Das würde bedeuten, dass ei-ne Prävention jedoch ebenso gut mitRinger-Laktat oder anderen bilanzier-ten Lösungen zu erzielen wäre.Manchmal zögert der Kliniker geradebei gestörter Nierenfunktion, bilanzier-te Lösungen zu verwenden, da diese Kalium enthalten und damit eine Hy-perkaliämie induzieren / eine vorbeste-hende verstärken könnten. Bemerkens-werterweise ist genau das Gegenteil derFall. Während Nierentransplantationwurde gezeigt, dass die Verwendung vonRinger-Laktat gegenüber NaCl zu ei-ner Verminderung der Rate an Hyper-kaliämien führt (O´Malley CM; Anaest

Analg 2005; 100:1518; Modi MP; Saudi

J Kidney Dis Transpl. 2012; 23:135). Diesist dadurch zu erklären, dass die Patien-ten eine geringere Azidose aufweisen undso der Azidose-bedingte Kalium-Shiftaus der Zelle vermindert wird.

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Leserbrief: PRO-CON-Diskussion Kolloide bei Sepsis

Nr. 3, 2013 21

Wir bedanken uns bei Frau PD Dr. Har-tog und Herrn Prof. Dr. Reinhart für dasgroße Interesse an unserem Beitrag (siehe

Leserbrief Intensiv-News 2/13). Geradein Zeiten, in denen Zulassungsbehördentätig werden, ist es außerordentlich wich-tig, dass wir Ärzte und Wissenschaftlerdas Thema Kolloide nicht aus der Handgeben. Grundlage einer für alle Beteilig-ten gewinnbringenden Diskussion jedochist deren Sorgfalt, Vollständigkeit undEhrlichkeit. Wir wollen an einem einfa-chen Beispiel aus dem Kommentar vonHartog und Reinhart demonstrieren, wo-ran die Diskussion rund um die Kolloidederzeit krankt:Die Kommentatoren schreiben, es seienin 3 großen Studien [Perner A, N Engl J

Med 2012; 367:124; Brunkhorst FM; N

Engl J Med 2008; 358:125; Myburgh J; N

Engl J Med 2007; 357:874] „über 4.000Intensivpatienten, darunter 2.596 Patien-ten mit Sepsis (...) erfolgreich nur mitKristalloiden behandelt (worden)“. Die-se Behauptung ist falsch.So wurden im Rahmen der VISEP-Stu-die [Brunkhorst FM; N Engl J Med 2008;

358:125] 59% der rekrutierten Patientenin den 12 Stunden vor Randomisierungmit bis zu 1.000 ml HES vorbehandelt.Wie viele Patienten zusätzlich Albumin,Gelatine oder FFP erhielten, wird nichtberichtet. Bei Beginn der Studienbehand-lung waren diese Patienten daher über-wiegend hämodynamisch stabil (mittle-rer arterieller Druck 75 mmHg, zentral-venöser Druck (ZVD) 12 mmHg,zentralvenöse Sättigung (ScvO2) 74% undSerum-Laktat-Konzentration 2,2 mmol/l,Medianwerte), eine Indikation für Kol-loide bestand nicht mehr.Auch im Rahmen der 6S-Studie [Perner

A, N Engl J Med 2012; 367:124] erhiel-ten weit mehr als die Hälfte der rekru-tierten Patienten noch vor Randomisie-rung bis zu einen Liter Kolloid zur ini-tialen Stabilisierung (42% erhielten HES,10% Albumin und 10% FFP). Und auchhier hatten die Patienten mit einem ZVDvon 10 mmHg, einer ScvO2 von 73% undeiner Serum-Laktat-Konzentration von

2,1 mmol/l (Medianwerte) bereits vor Be-ginn der Studienbehandlung die von derSurviving Sepsis Campaign empfohlenenhämodynamischen Zielkriterien erreicht.Die dritte Referenz [Myburgh J; N Engl

J Med 2007; 357:874] vergleicht im Rah-men einer Subgruppenanalyse der SAFE-Studie die Verwendung einer hypotonen,hypoonkotischen Albuminpräparationmit dem Verzicht darauf bei Patientenmit Schädel-Hirn-Trauma. Ob die Pa-tienten vor Studieneinschluss Kolloide er-halten haben, ist ebenso unklar, wie die Re-levanz dieser Analyse eines sehr speziel-len Patientensubkollektivs einer großenStudie in diesem Zusammenhang.Falls die Kommentatoren an dieser Stel-le eigentlich die CHEST-Studie (My-

burgh J; N Engl J Med 2012; 367:1901)

bemühen wollten, um ihre These zu be-legen, dass „die mit HES behandelten Pa-tienten vermehrt Nierenversagen undTransfusionsbedarf erlitten und Sepsis -patienten zusätzlich häufiger verstarben",so müssen wir erneut enttäuschen: ImRahmen dieses Vergleichs von isotonerKochsalzlösung mit 6% HES 130 an7.000 überwiegend nicht-septischen In-tensivpatienten zeigte im Verlauf die mit

Kristalloiden behandelte Gruppe, objektivanhand der RIFLE-Kriterien beurteilt,eine signifikant schlechtere (!) Nieren-funktion. Die Mortalität war in beidenGruppen gleich, auch im Subkollektiv derseptischen Patienten (Myburgh J, münd-

liche Präsentation ISICEM 2013).Offensichtlich soll dem Leser einmalmehr die durchaus bedeutende Tatsacheverschwiegen werden, dass in den Studi-en, die negative Effekte von HES in derSepsis andeuteten, auch die Patienten dersogenannten „Kristalloid-Gruppen“ in al-ler Regel initial mit Kolloiden stabilisiertwurden. Erst als kein Volumenbedarfmehr bestand, wurden sie nur mit Kris-talloiden weiterbehandelt. Genauso wür-den wir es ebenfalls machen. Dass diesfür das Outcome der Patienten besser warals die Weiterbehandlung mit einemnicht mehr indizierten Medikament - wiein den „Kolloid-Gruppen“ praktiziert -

Ein Plädoyer für die EhrlichkeitAntwort auf den Kommentar von PD Hartog und Prof. Reinhart

PD. Dr. Matthias Jacob PD. Dr. Daniel ChappellKlinik für AnaesthesiologieKlinikum der Universität Mü[email protected]@med.uni-muenchen.de

ist aus unserer Sicht kaum sensationell. Hiervon jedoch die Empfehlung abzu-leiten, komplett auf HES, auch im Rah-men der initialen Stabilisierung, zu ver-zichten, ist aus unserer Sicht erstaunlich.Ein solches Vorgehen wurde in keinerGruppe der neueren Studien systematischverfolgt. Offensichtlich soll mithilfe vonHalbwahrheiten und fragwürdigen Extra-polationen approbierten Ärzten ex cathe -tra eine effektive Medikamentenklasseaus der Hand genommen werden. Überdie Gründe kann man derzeit allenfallsmutmaßen. Wir plädieren dringend dafür, von derpolitischen zur wissenschaftlichen Dis-kussion zurückzu kehren und wieder zuversuchen, die Kollegen mit ehrlichenArgumenten zu überzeugen. FehlendeEvidenz durch Entscheidungen von Zu-lassungsbehörden ersetzen zu lassen, istaus unserer Sicht der falsche Weg.Wir sind uns sehr sicher, dass unsere kli-nisch tätigen Kollegen es verdienen, vonMeinungsbildnern stets die ganze Wahr-heit in Form sorgfältig erstellter Analy-sen zu erfahren. Wir wehren uns zu die-sem Zeitpunkt entschieden dagegen, dieInfusion isoonkotischer Präparate als The-rapieoption für den kreislaufinsuffizien-ten Patienten aus der Hand zu geben.Dies ist unser Ergebnis einer sorgfältigenAbwägung aller derzeit verfügbaren Da-ten. Wir haben deshalb nichts von unse-ren Ausführungen zurückzunehmen undmöchten den Leser ermuntern, vor allemgegenüber den scheinbar einfachen Bot-schaften stets kritisch zu bleiben.

Interessenskonflikte: Die Autoren geben an, Vortragshonorarevon Baxter, B.Braun, Fresenius Kabi, Grifols und Serumwerk Bernburg erhalten zu haben. Sie erhielten Forschungsgrants vonCSL Behring, Fresenius Kabi, Grifols und Serumwerk Bernburg.Matthias Jacob ist Mitglied des Grifols Albumin Advisory Board.

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Intensivmedizinisches Rätsel

IMPRESSUM

Herausgeber: Offizielles Organ der FASIM – Verband der intensivmedizinischen Gesellschaften Österreichs

Österreichische Gesellschaft für Internistische und Allgemeine Intensivmedizin und Notfallmedizin (ÖGIAIN) Deutsche Gesellschaft für internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN)

Deutsche Sepsis-Gesellschaft e.V. (DSG) - Österreichische Sepsis-GesellschaftErscheinungsort: Wien; Verbreitung: Deutschland, Österreich, Schweiz

Für den Inhalt verantwortlich: Prof. Dr. Wilfred Druml, Prof. Dr. A. Valentin, Prof. Dr. Karl Werdan, DGKP Christian Vaculik

Beirat:Prof. Dr. M. Buerke, Prof. Dr. H. Burgmann, Prof. Dr. Frank M. Brunkhorst, PD Dr. Martin Dünser, Prof. Dr. R. Erbel, Prof. Dr. H. Gerlach,

Prof. Dr. U. Janssens, Prof. Dr. M. Joannidis, Prof. Dr. H.P. Kierdorf, Priv.-Doz. Dr. Stefan Kluge, Prof. Dr. A. Laggner, Prof. Dr. K. Lenz, Prof. Dr. Christian Madl, Prof. Dr. K. Reinhart, Prof. Dr. B. R. Ruf, Prof. Dr. E. Schmutzhard, Prof. Dr. G.W. Sybrecht, Prof. Dr. H.J. Trappe,

Prof. Dr. T. Welte, Prof. Dr. Ch. Wiedermann Der Inhalt namentlich gekennzeichneter Beiträge spiegelt die Meinung der Verfasser wider und muss nicht mit jener der ÖGIAIN, DGIIN,

DSG, Österreichischen Sepsis-Gesellschaft bzw. der Redaktion und dem Verlag übereinstimmen. Bei Beiträgen mit der Kennzeichnung Pharma- bzw. Med. Tech.-Forum haftet für den Inhalt der Auftraggeber (Wirtschaft).

Ziele der INTENSIV-News:Information und Diskussionsforum zu aktuellen Themen der Intensivmedizin und Notfallmedizin

Kommentare und Zuschriften erbeten an: ÖGIAIN: [email protected] und [email protected]

DGIIN: [email protected]; für die DSG: [email protected] Arbeitsgemeinschaft für Intensivpflege: [email protected]; Internet: www.intensivmedizin.at

Heftpreis: €10,-, Jahresabonnement: €60,- Copyright & allgemeine Hinweise:

Mit der Annahme eines Beitrags zur Veröffentlichung erwirbt der Verlag vom Autor alle Nutzungsrechte, insbesondere das Recht der weiteren Vervielfältigung und Verbreitung zu gewerblichen Zwecken mit Hilfe fotomechanischer oder anderer Verfahren sowie im Internet. Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich

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und Applikationsformen sind anhand anderer Literaturstellen oder der Packungsbeilage auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Der Verlag übernimmt keine Gewähr.Verleger/Anzeigen:

Medicom Verlags GmbH, Koloman-Wallisch-Platz 12, Postfach 1, A-8600 Bruck/Mur, Tel.: +43/3862/56 400-0, Fax: +43/3862/56 400-16 E-Mail: [email protected], Intensiv-News-Archiv unter: www.medicom.cc

Waagerecht: 1 Schleimbeutel 5 das 109-fache 8 Ge-schlechtshormon der Frau 11 Abk. für Ramus communi-cans 13 Leblos 14 Abk. für Antiretrovirale Therapie 15 Blut-gruppensystem, das in der Schwangerschaft klinisch rele-vant sein kann (Abk.) 16 Symptom eines Mediainfarktes17 Obere Armplexuslähmung (Eponym) 19 Ältere Bezeich-nung des Hepatitisvirus (Eponym): ... – Partikel 21 Krank-heit mit charakteristischem Erythema chronicum migrans(Eponym) 22 Lat.: das ist; das heißt 23 Abk. für natürlicheKillerzellen = ...-Zellen 25 Chemisch reaktionsträge 26 Überträger der Schlafkrankheit: ...-...-Fliege 27 Toco-pherol: Vitamin ... 28 Gonorrhoe 31 Abk. für neurovasku-lär 32 Flüssigkeitsgefüllte Blase 33 Abk. für den natürli-chen Logarithmus

Senkrecht: 1 Schraubenförmig aussehende gram-ne-gative Spirochäten 2 Abk. für untere Extremität 3 Basentri-plett, bei die Transskription endet = ...codon 4 Gelenkent-zündung 5 Keimdrüsen 6 Thrombus 7 Teil des Armes =...brachium 9 Linsentrübung: grauer ... 10 Aggregatszu-stand 12 Periodische Atmung infolge einer Störung desAtemzentrums (Eponym): ...-Stokes-Atmung 18 Beerenför-mige Aussackung der A. basilaris = ... aneurysma (engl.)21 Verkleinerung des Abstandes zwischen Hörschwelle undSchwelle zur Auslösung des Stapediusreflexes bei cochleä-rer Schädigung (Eponym): … - Recruitement 24 Nucleus29 Abk. für Psychotherapie 30 Abk. für Probeexzision

Die Buchstaben in den Kreisen ergeben das Lösungswort. Die Auflösung finden Sie auf Seite 23.

Nr. 3, 2013

Rätsel / Impressum

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Kongresse

Die Buchstaben in den Kreisen ergeben das Lösungswort. Die Auflösung finden Sie auf Seite 24.

Auflösung Intensivmedizinisches Rätsel

Waagerecht1 BURSA 5 GIGA 8 OESTROGEN 11 RC 13 TOT 14 ART 15 RH 16 APHASIE 17 ERB 19 DANE

21 LYME 22 IE 23 NK 25 INERT 26 TSE 27 E 28 TRIPPER 31 NV 32 ZYSTE 33 LN

Senkrecht1 BORRELIEN 2 UE 3 STOP 4 ARTHRITIS 5 GONADEN 6 GERINNSEL 7 ANTE 9 STAR

10 GAS 12 CHEYNE 18 BERRY 21 METZ 24 KERN 29 PT 30 PE

Das Lösungswort lautet „LUNGENVERSAGEN“

■ 35. ESPEN Congress 2013„Tearing down barriers”31. August - 3. September 2013 LEIPZIG, DeutschlandInformation: www.espen.org

■ Weimarer Sepsis Update 2013„Consensus & Controversies“4. - 6. September 2013 Congress Centrum Neue WeimarhalleWEIMAR, DeutschlandInformation: [email protected]

■ 6. Kölner Intensiv-Forum - AINSInterdisziplinäres Forum für Ärzte und Pflegende6. - 7. September 2013 KOMED im Mediapark KÖLN, DeutschlandInformation: [email protected]

■ ICU-Beginner-Kurs 2013DGIIN-Intensivkurs für Einsteiger9. - 13. September 2013 DocLab Universitätsklinikum Tübingen TÜBINGEN, DeutschlandInformation: [email protected]

■ ESS 2013 - XVth Congress of the European Shock Society9th Vienna Shock Forum 12. - 14. September 2013 AKH HörsaalzentrumWIEN, ÖsterreichInformation: [email protected]

■ HAI 2013 - Der Hauptstadtkongress „Zwischen Ökonomie & Fortschritt“19. - 21. September 2013 ICC Berlin – Internationales Congress Centrum BERLIN, DeutschlandInformation: www.hai2013.de

■ Refresher-Kurs Internistische Intensivmedizin23. - 27. September 2013 Werkhof Nord bzw. MH-Hannover HANNOVER, DeutschlandInformation: [email protected]

■ ESICM - 26th Annual Congress European Society of Intensive Care Medicine 5. - 9. Oktober 2013 Palais de Congres PARIS, FrankreichInformation: www.esicm.org

■ 8. Jahrestagung Dt. Gesellschaft InterdisziplinäreNotfall- und Akutmedizin (DGINA) „Notfallmedizin in Bewegung“ 7. - 9. Oktober 2013 CCH-Congress Center Hamburg HAMBURG, DeutschlandInformation: [email protected]

■ AIC 2013 - Jahrestagung der Österr. Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation u. Intensivmedizin14. - 16. November 2013 Tagungszentrum Schönbrunn WIEN, ÖsterreichInformation: [email protected], www.oegari.at

■ 13. DIVI-Kongress 2013 „Innovation trifft Kompetenz“4. - 6. Dezember 2013 CCL-Congress Center Leipzig LEIPZIG, DeutschlandInformation: www.divi2013.de

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Kongresse

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Arbeitsgemeinschaft für Intensivpflege

„Use it or lose it”:Frührehabilitation auf der IntensivstationMit dem Alltag einer Intensivstationverbindet man vor allem das Helden-hafte, die überlegene Fähigkeit, gegenlebensbedrohliche Zustände anzukämp-fen. In Notfallsituationen spielt dasmultiprofessionelle Team perfekt zu-sammen, jeder Handgriff sitzt – es wirdintubiert, reanimiert, das neueste tech-nische Equipment aufgefahren und derPatient in den meisten Fällen stabili-siert. Dafür wird jahrelang immer wie-der hart trainiert – jedem ist das ge-meinsame Ziel klar – einem kritischKranken das Überleben zu ermöglichen.Klare Guidelines machen die Zusam-menarbeit effektiv, regeln Abläufe, Prio-ritäten und Kompetenzen – jeder weißum seine Aufgaben Bescheid.Und auch das nächste Ziel ist in denmeisten Fällen klar – ein rascher Trans-fer auf die Normalstation, denn es giltschließlich, so rasch wie möglich Platzfür den nächsten lebensbedrohlich Er-krankten zu machen.Inmitten all dieser disziplinierten Hek-tik soll auch noch Platz sein für Reha-bilitation? TURNEN? - Hat das nichtspäter Zeit? Wer bestimmt, was wich-tig ist und was nicht? Welche Möglich-keiten gibt es? Die Richtlinien und Prioritäten, die Ab-läufe und Kompetenzverteilungen – ge-rade, was die Rolle der Physiotherapeu-ten betrifft – sind in der oft sehr langenZeit vom Notfall bis zum Transfermanchmal sehr schwer nachzuvollziehen.

Was ist Frührehabilitation und wozu?

Durch den medizinischen Fortschrittist nicht nur die Mortalität an der ICUgesunken. Auch eine Verbesserung deslangjährigen Überlebens, das Wieder-erlangen der Selbstständigkeit oder der

Arbeitsfähigkeit kann mittlerweile er-wartet werden. Die möglichen Konsequenzen eines In-tensivaufenthalts für das weitere Lebensind dem Patienten, den Angehörigenund teilweise auch dem medizinischenPersonal oft wenig präsent. Dass der Kontakt zum Patienten in denmeisten Fällen mit dem Transfer been-det ist, erlaubt die Illusion, nicht nurakut Überleben ermöglicht zu haben,sondern auch einen Menschen geheiltzu haben. Verglichen mit der schwerenlebensbedrohlichen Zeit auf der Inten-sivstation wirkt der weitere Genesungs-weg vermeintlich wie ein Kinderspiel. Studien, die sich mit der tatsächlichenLebensqualität und den auftretendenDefiziten nach dem Intensivaufenthaltbeschäftigen, zeigen hier jedoch ein er-nüchternd anderes Bild.

Noch lange nachdem sich die Türen derIntensivstation hinter dem Patientengeschlossen haben, ist der Weg zurückins Leben von diesem oft verhältnismä-ßig kurzen Aufenthalt geprägt. Die se-kundär erworbenen Beeinträchtigun-gen schränken die Patienten noch Jah-re später stark in ihrer Funktion undPartizipation ein.

Defizite in Zahlen

Zusammengefasst als „Post IntensiveCare Syndrome“ lassen sich die Nach-wirkungen des Intensivaufenthaltes grobeinteilen:

In Beeinträchtigung der■ mentalen Gesundheit (Posttrauma-

tisches Stresssyndrom bei über 30%der beatmeten Patienten)

Abb. 1: Auch mit Beatmung und Monitoring sicheres Gehstreckentraining mit Lokomotion.

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Frührehabilitation auf der ICU

Nr. 3, 2013

Abb. 2: Intensivierte Frührehabilitation mit unterschiedlichen Schwerpunkten verglichen mit Standard-Behandlung in Bezug auf Beatmungs- und ICU-Aufenthaltsdauer.

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■ Kognition (Handlungsfähigkeit, Ge-dächtnis, Aufmerksamkeit, mentaleVerarbeitung, visuelle/räumlicheWahrnehmung)

■ physischen Funktion:- Pulmonal: Bereits relativ kurze Be-atmungszeiten (<70 Std.) verursa-chen nicht nur einen akuten Verlustder inspiratorischen Muskelmasse(Abnahme des Muskelfaserdurch-messers im Diaphragma > 50%)(Sanford L; N Engl J Med 2008,

358:1327), sondern führen auchlangandauernd zu reduzierter Lun-genfunktion und Leistungsfähigkeitim Alltag. - Neuromuskulär: Durch Immobili-tät und intensivspezifische Faktoren,wie septische Episoden, Sedierung,Muskelrelaxantien, Antibiotika oderKortikosteroide kommt es nebenmannigfaltigen Zusatzkomplikatio-nen (Gelenkskontrakturen, throm-boembolische Geschehen, Insulinre-sistenz) vor allem zu einem raschenMuskelkraft und -masseverlust, der„ICUacquired Weakness“. Diese istauch lange nach ICU-Entlassungdeutlich. Die Patienten zeigen nacheinem Jahr, verglichen mit gleichalt-rigen Kontrollpersonen nur 50% derMaximalkraft (Poulsen JW; Crit

Care Med 2013, 41:93), bei 90% derLangzeitintensivpatienten kann nach5 Jahren noch eine partiale Denerva-tion nachgewiesen werden (Fletcher

SN; Crit Care Med 2003; 31:1012).- Funktion: Einschränkungen derADL s („activities of daily living“),Berufsfähigkeit und allgemeinenLeis tungsfähigkeit über Jahre (Van

der Schaaf MJ; Rehabil Med 2009, 41:

1041; Herridge MS; N Engl J Med

2011, 64:1293).

Sobald das Ziel der medizinischen Be-handlung in allen Versorgungsphasennicht nur das Überleben, sondern auchdie maximal erreichbare Genesung derPatienten ist, muss meistens weit überdie medizinischen Diagnosen hinaus-gedacht werden.

Wenn sich die Behandlung am Errei-chen der bestmöglichen Gesundheit(nach WHO Definition Tabelle 1) ori-entiert, muss frühest möglich der Be-darf des Patienten, die Defizite und inweiterer Folge die Risiken, Defizite zubehalten oder zu erwerben, erhobenwerden. Entsprechend diesem Assessment wer-den interdisziplinär in jedem Stadiumder Behandlung (ICU, Bettenstation,Reha, Entlassung, …) Behandlungszie-le, die entsprechenden Therapiemaß-nahmen und Therapiepläne beschlos-sen (siehe auch NICE CG38, 2009). Bereits im Intensivsetting kann, nebender wirkungsvollen Schulung, Förde-rung und Motivation durch das betreu-ende Pflege- und Ärzteteam, ein brei-tes Spektrum an zusätzlichen Thera-

pien eingesetzt werden. Ergotherapie,Logopädie, psychologische Betreuung,Elektrotherapie, Physiotherapie, Mu-siktherapie, frühe Hilfsmittel- und Pro-thesenversorgung und vieles mehr. Ein individuell zugeschnittener Thera-pieplan, dem die nötige Zeit und Prio-rität im hektischen Klinikalltag zuge-dacht wird, könnte nicht nur den In-tensiv- und Spitalsaufenthalt verkürzen,sondern auch die physischen und psy-chischen Spätfolgen reduzieren. Er wür-de darauf abzielen, dem Patienten nichtnur das Weiterleben zu ermöglichen,sondern ihn dabei unterstützen, die ma-ximale Gesundheit und Handlungsfä-higkeit im Alltag wiederzuerlangen. Bedingung dafür ist, entweder über diezur Verfügung stehenden Therapien,deren Möglichkeiten und Grenzen in-

Tabelle 1: WHO 2005, International Classification of Functioning, Disability and Health

Der Begriff der Funktionsfähigkeit eines Menschen umfasst alle Aspekte der funktionalen Gesund-heit. Eine Person ist funktional gesund, wenn – vor dem Hintergrund ihrer Kontextfaktoren –1. ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des mentalen Bereichs) und Körperstrukturen denen

eines gesunden Menschen entsprechen (Konzepte der Körperfunktionen und -strukturen),2. sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem (ICD) erwar-

tet wird (Konzept der Aktivitäten),3. sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang ent-

falten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Kör-perfunktionen oder –strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Partizipation[Teilhabe] an Lebensbereichen).

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Frührehabilitation auf der ICU

formiert zu sein, oder die Angehörigender jeweiligen Disziplinen beim Auf-stellen des Behandlungsplanes zu Ratezu ziehen. Bei der raschen Entwicklung der Me-dizin bietet die Anforderung, in der eigenen Profession „Up to date“ zu sein,meist ausreichend Herausforderung.Hier hierarchische Strukturen aufzu-brechen und vom interdisziplinären Gespräch und Erfahrungsaustausch zuprofitieren, könnte daher die Versor-gungsqualität im Arbeitsalltag deutlichsteigern.

Rolle der Physiotherapie

Die Kompetenzen, Schwerpunkte undMaßnahmen der Physiotherapeuten va-riieren sogar innerhalb Europas stark.Da für Physiotherapeuten – im Gegen-satz zur Pflege – in Österreich keineeinheitliche Zusatzausbildung für dieArbeit auf einer Intensivstation besteht,hängen die Therapiemöglichkeiten derPhysiotherapie stark von der Erfahrungund dem freiwilligen Fortbildungsstandder einzelnen Therapeuten ab. Die Möglichkeiten der Physiotherapiesind nachfolgend, entsprechend der Ko-operationsfähigkeit des Patienten, oh-ne Anspruch auf Vollständigkeit, zu-sammengefasst:■ Kontraktur-Prophylaxe, Lagerung,

Wahrnehmungsförderung, Tonusre-gulation, Elektrotherapie, Atemthe-

rapie, etc.- meist möglich, auch wennkeine aktive Mitarbeit des Patientengegeben ist.

■ Assistive/aktive Bewegungsübungenund neurophysiologische Techniken,dosiertes Kraft- und Ausdauertrai-ning, ehest und maximal möglicheMobilisation, ADL-Training Schu-lung und Motivation, Erarbeiten ei-nes Übungsprogramms zur eigen-ständigen Durchführung etc. Möglich, wenn Konzentration undKooperation zumindest kurzzeitiggegeben sind. Hier sind bei entspre-chenden personellen Ressourcen nurwenige Grenzen gesetzt (siehe Ab-bildung 1).

■ Atemtherapie zur Behandlung undProphylaxe von Atelektasen, Sekret-problematik, Atemmuskel- und Hus -tenschwäche, prolongiertem Weaning,etc.: Durch Lagerung, Inhalation,Atemmuskeltraining, Sekretförderung,Coaching, Aktivität, Beratung undSchulung…

Und die Kosten…?

In verschiedenen Studien wurde in un-terschiedlichen Settings intensivierteFrührehabilitation mit herkömmlicherBehandlung verglichen (Abbildung 2).Durch die Zusatzmaßnahmen konntenz. B. die ICU- und Spitalsliegedauer,die Beatmungs- und Delir-Dauer ver-kürzt werden und der Pflegebedarf der

Cornelia HeinPhysiotherapeutinWien [email protected]

Patienten bei Entlassung reduziert wer-den. Weiters reduziert Frührehabilita-tion auf der ICU die Mortalität und dieWiederaufnahme auch nach der Ent-lassung (Morris PE; Am J MedSci 2011;

341:373).Determinanten einer adäquaten Be-handlung sind chronischer Personal-mangel oder nicht vorhandene Thera-piemöglichkeiten. Unter dem Vorwandder Kosteneffektivität wird die Frühre-habilitation oft nur in einem geringenAusmaß oder manchmal sogar gar nichtermöglicht. Dank immer größerer Evi-denz liegt die Vermutung nahe, dasshier wohl am falschen Ende gespartwird, betrachtet man die immensenKos ten, die durch längere Liegedauer,erhöhten Pflegebedarf, teure medizini-sche und rehabilitative Nachbehand-lungen und eingeschränkte Arbeitsfä-higkeit entstehen. Anhand von theoretischen Rechenmo-dellen (z. B. aus den USA) kann mandurch gesteigerte Ausgaben für früheRehabilitation, neben der höheren Qua-lität der Patientenversorgung und ei-nem verbesserten Outcome, eine erheb-liche Nettokostenreduktion annehmen(Lord R; Crit Care Med 2013; 41:717).

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Arbeitsgemeinschaft für Intensivpflege

Nr. 3, 201328

Fehler in der Medizin: Crisis-Resource-Management (CRM)

Chance zur Erhöhung der Patientensicherheit?Der aktuelle Umgang mit Fehlern inder Medizin bzw. im Gesundheits -bereich ist häufig noch fest in der„Culture of blame“ verwurzelt. Dabeigeht es darum, einen Schuldigen zufinden und diesen unter Umständenzu bestrafen: Die Frage nach dem„Wer ist schuld?“ steht im Mittel-punkt (Abbildung 1). Der zukunftsorientierte Ansatz jedochwill nach dem „Warum ist dieser Feh-ler entstanden?“ fragen. Dieses „War-um“ in seiner Gesamtheit zu analy-sieren, zu dokumentieren und gege-benenfalls Empfehlungen an alleBeteiligten (im Gesundheitssystem)weiterzugeben, ist das Ziel einer mo-dernen Fehlerkultur. Die „Culture of blame“ lässt nur be-dingt eine Erhöhung der Patienten-sicherheit zu. Obwohl die Abwen-dung von Schäden an Patienten dieoberste Arbeitsprämisse sein muss,stellt die Abwendung von Schädenohnedies ein Grundrecht von Patien-ten dar. Crisis-Resource-Management

ist ein Weg, um eine Kultur zu schaf-fen, die es zulässt, aus kritischen Er-eignissen, Beinahe-Fehlern oder Feh-lern zu lernen. Das Prinzip, aus kriti-schen Ereignissen, Beinahe-Fehlernbzw. Fehlern (auch von anderen) zulernen, ist in der Luftfahrt schon seitden 1950er Jahren verankert. Sicherheit soll bei der Ausübung jeg-licher beruflicher Tätigkeit ein ele-mentarer Bestandteil der Unterneh-menskultur sein! Bei entstandenen Fehlern im Gesund-heitswesen sind nicht nur die Patien-tInnen und deren Angehörigen dieLeidtragenden, sondern oft auch der/die MitarbeiterIn → „Second Victim“.

Warum CRM?

Das Crisis (Crew oder auch Compa-ny)-Resource-Management beziehtsich auf die menschlichen Faktoren –die „Human Factors” mitsamt der so-genannten „Non-Technical-Skills“.CRM kann dazu beitragen, dass es zueiner Erhöhung in der Patientensi-cherheit kommt. Im Grunde gehtman davon aus, dass kein/e Mitarbei-terIn im Gesundheitswesen absicht-lich und vorsätzlich einen Fehler be-geht. Trotzdem sind die „Human Fac-tors“ für etwa 70% der Fehlerursachenverantwortlich. Hierbei bestehen die Fehlerursachennicht im fehlenden Fachwissen derhandelnden Personen, sondern es gibtProbleme bei der Umsetzung desWissens unter den Bedingungen derRealität. Aber auch Probleme im Umgang mitder Komplexität, die Teamfaktorenund die Kommunikation (verbal undnonverbal) zählen zu den „HumanFactors“.

Organisatorische Systeme sowie auchtechnische Systeme werden von Men-schen bedient. Verschiedene Begleit-umstände können dazu beitragen, dassdiese Systeme nicht richtig gehand-habt werden oder nicht richtig ge-handhabt werden können. So kann eszum Beispiel durch Personalmangelzu Fehlern in der Behandlung von Pa-tientenInnen kommen (Metnitz B;

Wien klin Wochenschr 2009; 112:1481;

Schubert M; Schaffert-Witvliet B; De

Geest S; Effects of Rationing of Nursing

Care in Switzerland on Patients`and

Nurses´Outcomes, Basel 2005).

Die Maßnahmen

Individuelle und kognitive Elementesowie das Team-Management und dieKommunikation zwischen den Betei-ligten sind die Bestandteile des CRM.Um den individuellen und kognitivenFehlerelementen entgegenzuwirken,sind folgende Maßnahmen wirksam(CRM-Leitsätze nach Rall & Gaba in

Miller´s Anesthesia, 7th edition):

Abb. 1: Schuldfrage

Wer ist schuld?

... der Unbeteiligte?... die Ladung?

... der Fahrer?

... der Wagen?... oder der Esel?

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Crisis-Resource-Management

Nr. 3, 2013 29

■ Limitation der „Human Factors“durch Checklisten und Gedächt-nisstützen (CPR-Flowchart amReanimationswagen etc.)

■ Multitasking möglichst vermeiden■ Antizipation – Planung und Vor-

wegnahme (speziell bei fehlenderRoutine)

■ Ausnutzen aller verfügbaren Infor-mationen/Ressourcen

■ Prioritäten dynamisch setzen■ Fixierungsfehler vermeiden (typi-

sche Fixierungsfehler sind: „Es istdies und nur dies“, „Es ist ohnehinalles klar“ bzw. „Es ist alles, nurnicht dies“)

■ Effektive interdisziplinäre und mul-tiprofessionelle Kommunikationdurch Abflachung des Hierarchie-gefälles („Power-Distance“ abschaf-fen) → jede Meinung zählt undkann offen kommuniziert werden.

Crisis-Ressource-Management-Trai-nings werden bereits in vielen Berei-chen abgehalten. In Hochrisikoberei-chen, wie zum Beispiel in der Luft-fahrt, werden diese einmal jährlichgesetzlich vorgeschrieben. Um die Pa-tientensicherheit zu erhöhen, hat dieMedizin zunehmend begonnen, mitCRM-Konzepten aus verschiedenenHochrisikobereichen zu arbeiten. Da-zu wurden vermehrt die CRM-Kon-zepte aus der Luftfahrt übernommenund auf die medizinischen Belange adaptiert. Eine Karte, die mitunter 15 Kernaus-sagen des CRMs beinhaltet, wurdemit Spezialisten des Tübinger Simu-lationszentrums unter der Leitung vonDr. Marcus Rall erarbeitet (Tabelle).Hierbei sind Erfahrungen aus jahre-langen Simulationstrainings eingeflos-sen. Das Simulationstraining bietetdas ideale Umfeld, um CRM inter-disziplinär und multiprofessionell zutrainieren. Dabei steht weniger dasfachliche Know-how im Vordergrund,sondern das interdisziplinäre und mul-

Tabelle: Crisis-Resource-Management (CRM)-Leitsätze (nach Rall & Gaba in Miller’s Anesthesia 7th edition)

1. Kenne Deine Arbeitsumgebung2. Antizipiere und plane voraus3. Fordere Hilfe an – lieber früher als spät4. Übernimm die Führungsrolle oder sei ein gutes Teammitglied mit Beharrlichkeit5. Verteile die Arbeitsbelastung (10-für10-Prinzip)6. Mobilisiere alle verfügbaren Ressourcen (Personen und Technik)7. Kommuniziere sicher und effektiv – sag, was Dich bewegt8. Beachte und verwende alle vorhandenen Informationen9. Verhindere und erkenne Fixierungsfehler

10. Habe Zweifel und überprüfe genau (Double check; nie etwas annehmen)11. Verwende Merkhilfen und schlage nach12. Re-evaluiere die Situation immer wieder (wende das 10-für10-Prinzip an)13. Achte auf gute Teamarbeit – andere unterstützen und sich koordinieren14. Lenke Deine Aufmerksamkeit bewusst15. Setze Prioritäten dynamisch

Abb. 2: Dynamic Decision Making

Dynamic Decision Making

FOR-DEC(Lufthansa CRM-Kurs)

FOR-DEC

„10 Sekunden für 10 Minuten“(10-für-10-Prinzip)

Hauptproblem?Team?Fakten?Planen! Verteilen!Rückfragen?Handeln!

Facts

Options

Risks & Benefits

Check& Control

Decision

Execution

Diagnose!Problem!

10 sec!

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Crisis-Resource-Management

Nr. 3, 201330

tiprofessionelle Zusammenarbeiten undUmsetzen von klinischen (Risiko-)Situationen. Für eine bessere Umsetzung vonCRM und für die Erhöhung der Pa-tientensicherheit ist es zielführend,auftretende Vorfälle und Vorkomm-nisse zu erfassen. Für die Erfassungvon kritischen Ereignissen und Bei-nahe-Fehlern eignet sich ein Critical-Incindet-Reporting-System (CIRS).Entstandene Fehler werden mittelsError-Reporting erfasst. Zu Ursachen-forschung beider Reporting-Systemewird eine systemische Ursachenanaly-se – Root-Cause-Analysis (RCA) –nach dem Vorbild des „Londoner Pro-tokolls“ abgehalten. Die Ergebnisseder RCA führen im Idealfall zu einerErhöhung der Patientensicherheit.

Hochzuverlässigkeits-Organisationen:Die Bereiche der Luftfahrt, Schiff-fahrt, Atomindustrie etc. zählen zuden Hochrisikobereichen. In diesen Bereichen können Fehler ei-ne schwerwiegende Auswirkung ha-ben. Bereiche, die trotz hoher poten-tieller Risiken eine hohe Sicherheitgewährleisten, nennt man High-Re-liability-Organisations (HRO).

Die Stützen, die eine HRO tragen, sind:■ die Sicherheitskultur■ Struktur und Prozesse■ Training und Simulation■ organisationelles Lernen

Eine moderne Sicherheitskultur(Nicht „Wer?“ sondern „Warum!“)muss jedem/r Beschäftigten bewusstsein. Mit angepassten Strukturen undProzessen ist es möglich, die „HumanFactors“ gering zu halten, sowie die„Non-Technical-Skills“ zu verbessern.Im Rahmen von Trainings und Simu-lationen werden gleichzeitig auchCRM-Methoden mittrainiert – diesmacht wiederum ein organisationel-les Lernen möglich. Die Säulen der

Christian Palle, MScFachkrankenpfleger Akademischer PflegemanagerQualitäts- und Risikomanager [email protected]

Abb. 3: Organisationen mit hoher Sicherheitskultur (High-Reliability-Organisation [HRO])

ler Risiken gewährleistet wird, adap-tiert und übernommen, führt diesnicht nur unweigerlich zur Erhöhungder Patientensicherheit, sondern auchlangfristig zu einer Kosteneinsparung(z. B. Regressforderung aus der Ge-burtshilfe etc.)Diese Thematik soll die Sensibilitätim Umgang mit Fehlern im Gesund-heitswesen in einer Art und Weisefördern, dass Denkansätze für einebessere Fehlerkultur geliefert werdenund es somit zu einer Erhöhung derPatientensicherheit kommt.Werden mit diesem Beitrag Impulsezu einem offeneren Umgang mit Feh-lern gesetzt, bzw. hilft ein kritischesEreignis, ein Beinahe-Fehler bzw. einbegangener Fehler einem anderen Pa-tienten, dann ist damit Leid verhin-dert und ein Grundbedürfnis undGrundrecht von vielen Patientinnenund Patienten erfüllt worden.

„Wer einen Fehler gemacht hat und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten.“Konfuzius, chin. Philosoph und Staatsmann (551 v. Chr. – 479 v. Chr.)

HRO müssen auf einem festen Fun-dament stehen.

Dieses Fundament besteht aus:■ entsprechenden

Rahmenbedingungen ■ Ressourcen■ Gesellschaft

Die Rahmenbedingungen und dieRessourcen einer HRO müssen im„Top-Down“- und „Bottom-Up-Prin-zip“ gelebt werden. Nur wenn jede/rMitarbeiterIn zusätzlich über die Si-cherheitsphilosophie des Unterneh-mens, die notwendigen gesetzlichenAuflagen etc. Bescheid weiß und mit-arbeitet, ist es möglich, Sicherheit aufhohem Niveau zu erreichen. Natür-lich müssen die Gesellschaft, dieStake holder und die politischen Ver-antwortungsträger zu einem Rahmenbeitragen, der die genannten Fakto-ren zulässt (Abbildung 3).Geht man von der Grundphilosophievon HROs aus, die besagt, dass Feh-

ler eine schwerwiegende Auswirkung ha-

ben, dann zählen verschiedene Berei-che im Gesundheitswesen, wie zumBeispiel die Intensivmedizin, die An-ästhesie, die Geburtshilfe und dieChirurgie auch zu HROs. Werden dieKonzepte, mit denen in HROs einehohe Sicherheit trotz hoher potentiel-