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1 »Erst in der geordneten Welt beginnt der Dichter.« Franz Kafka

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»Erst in der geordneten Weltbeginnt der Dichter.«

Franz Kafka

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Taschenbuchausgabe, 2. Auflage, Weilerswist, 2009

© der Texte: Christian Eschweiler

Herstellung: Rheinische Druck- und Verlagsgesellschaft

Verlag Landpresse

Kölner Str. 58

53919 Weilerswist

Tel.: 0 22 54 / 33 47

Fax: 0 22 54 / 16 02

[email protected]

www.landpresse.de

ISBN 978-3-941037-40-3

Euro 15.-

Als Dank

an Helga

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FRANZ KAFKA und sein Roman-Fragment

DER PROZESS

neugeordnet

ergänzterläutert

von

CHRISTIAN ESCHWEILER

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Alle Informationen über die neuesten Essays von Christian Eschweiler

finden Sie auf seiner Website:

www.christian-eschweiler.de.vu

insbesondere sei auf folgende dort einsehbare Essays hingewiesen:

• Max Brods folgenschwerer Irrtum

• Kafkas „Prozeß“-Odyssee – Von der Sinnlosigkeit zum Sinn

• Kafkas geistige Welt

• Kafkas wahrhaft kaiserliche Botschaft

• Das Problem der Künstlerbiographie

• Zur Kafka-Biographie von Reiner Stach

• Zur Kafka-Biographie von Peter-André Alt

• Kafkas Selbstbiographie

• Narrenschellen an Walsers Doktortitel

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INHALT

An alle Liebhaber von Kafkas Prozess-Roman ....................... 7Die Notwendigkeit einer Neuausgabe des Romans ............. 11Der Irrweg aller bisherigen Veröffentlichungen ................... 13Der vorgeschlagene Weg zum Verstehen ............................... 15Die alte und die neue Kapitelordnung im Überblick ........... 17Das thematische Ordnungsgefüge .......................................... 18

»DER PROZESS«Verhaftung .................................................................................. 21Gespräch mit Frau Grubach ..................................................... 39Fräulein Bürstner ....................................................................... 45Die Freundin des Fräulein Bürstner........................................ 54Staatsanwalt ................................................................................ 63Erste Untersuchung ................................................................... 70Der Prügler ................................................................................. 88Im leeren Sitzungssaal .............................................................. 96Der Student ............................................................................... 103Die Kanzleien ........................................................................... 107Zu Elsa ....................................................................................... 123Kampf mit dem Direktor-Stellvertreter ................................ 125Der Onkel .................................................................................. 130Leni ............................................................................................ 146Ein Fragment ............................................................................ 153Im Dom ..................................................................................... 155Vor dem Gesetz ........................................................................ 173Advokat ..................................................................................... 183Fabrikant ................................................................................... 200Maler.......................................................................................... 212Kaufmann Block....................................................................... 240Kündigung des Advokaten .................................................... 258Das Haus ................................................................................... 273Fahrt zur Mutter ...................................................................... 279Ein Traum .................................................................................. 283Ende ........................................................................................... 286

Der Autor und seine Kafka-Studien ..................................... 295

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AN ALLE LIEBHABER VON KAFKAS PROZESS-ROMAN

Achtzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung 1925 kannder weltberühmte Roman »Der Prozeß« als folgerichtiges undzielstrebiges Handlungsgeschehen gelesen und verstandenwerden. Die innere Logik von Kafkas Bilderwelt erfordert eineNeuordnung der bisherigen Kapitelfolge, weist allen in denAnhang verbannten Teilstücken ihren sinnvollen Platz zu undermöglicht es, den noch nie berücksichtigten Traum Josef K.sin seine Entwicklung einzubeziehen. Der Roman offenbartnun das keineswegs hoffnungslose Weltbild des Dichters, dersich im letzten Satz seiner Tagebücher bewusst ermutigt: »Mehrals Trost ist: Auch du hast Waffen.«

Die vielen bunten Steine sind jetzt zu einem farbig-geordne-ten Mosaik zusammengefügt. Kafkas Bilder-Welt enthüllt ih-ren verborgenen Hintergrund als ein sinnvolles Welt-Bild.

An seinem 30. Geburtstag wird sich Josef K. des Rufes undder Verpflichtung seines Geistes bewusst. Plötzlich ereilt ihnder Vorwurf, zwar unbewusst und zielstrebig, selbstbezogenund erfolgreich, aber eben nur unmittelbar seinen bisherigenWeg gegangen zu sein und sein Leben gelebt zu haben. Wiesosollte er dadurch schuldig geworden sein? Was sollte er ver-säumt oder unterlassen haben und vor wem sollte er sich dafürrechtfertigen und verantworten müssen?

Die Stimme seines Geistes aber ermahnt den Menschen zur»Mitarbeit und Mitverantwortung an der Welt«. Jeder hört dieseStimme, aber ob und wie er ihrer wert ist, das entscheidet überseine Persönlichkeit. Da jedoch niemand seine Aufgabe ganzgenau kennt, schreckt er vor der eigenen Sendung zurück. Da-durch aber bekommt er ein schlechtes Gewissen und fühlt sichschuldig. Sein Prozess beginnt und wird ihn bis an sein Lebens-ende begleiten. Der geistig wachgerüttelte Mensch bleibt ihmverhaftet und muss deshalb sein Verhalten von nun an ständigrechtfertigen und verantworten. Aus diesem Blickwinkel eröff-nen sich Josef K. nun alle Möglichkeiten und Grenzen, alle

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Gefährdungen und Verirrungen, alle Hilfen und Hoffnungenseines irdischen Daseins. Dabei wird er unentwegt die ent-scheidende Frage beantworten müssen: Bist du auf dem rich-tigen Weg? Verhältst du dich dementsprechend? Erkennst duAbwege? Widerstehst du verführerisch-verlockenden Versu-chungen? Erfüllst du dein Leben sinnvoll? Erweist du dich alsdeines Menschseins würdig?

Josef K. muss lernen, sich nicht von Ansehen, Karriere undErfolg blenden zu lassen, sondern auf Menschlichkeit undMenschenwürde zu achten. Er muss begreifen, dass sinnlichesBegehren nur mit persönlicher Achtung gepaart zur Liebeerhebt, während sexuelle Machtlüsternheit den Menschen er-niedrigt, ja vertiert. Recht ohne Gerechtigkeit wird zu un-menschlicher Grausamkeit. Angemaßte akademische Hilfe vonaußen wird zur geschäftstüchtigen Ausbeutung und führt indie Abhängigkeit. Aber gerade Eigenständigkeit, Freiheit undVerantwortlichkeit bleiben die menschliche Auszeichnung undsein allein erstrebenswertes Ziel. Ihm nähert sich der Menschdurch die Kraft seiner Erkenntnis und sein unermüdlichesBemühen, ihr gemäß zu handeln. Wirkliche Kunst erweist sichals Wegweiser, die Menschenwürde ist die selbstgestellte Auf-gabe, und im Sinn des Todes findet er den richtungweisendenSinn eines erfüllten Lebens.

Kafka verstand sein »Schreiben als Form des Gebetes« unddie Dichtung als »eine Expedition nach der Wahrheit«. In sei-nem Prozess-Roman zeigt er umsichtig und überzeugend dengefahrenvollen Weg des Menschen, der sich immer wiederneu bewähren und hellwach behaupten muss und selbst imscheinbaren Scheitern die Gewissheit der Hoffnung nicht ver-liert.

Erst die sinnvolle Erhellung des verborgenen Hintergrundeslässt Kafkas Roman-Fragment als einzigartiges und weg-weisendes Kunstwerk in seiner bleibenden Modernität auf-leuchten.

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Finsternis verschwindet im Licht

Als Martin Walser in seiner Dissertation vergeblich nachdem Sinn in der Kunst Kafkas geforscht hatte, verkündet er1952 dieses Ergebnis als die wissenschaftliche Erkenntnis, dassbei dem großen Dichter »der Sinn eigentlich Sinnlosigkeit ist«.Seither ist in der Kafka-Forschung bis heute noch nahezu allesmöglich. Man nahm es in dem weltberühmten Prozess-Romaneinfach als gewollte Sinnlosigkeit hin, dass der Winter vor demHerbst einbricht, dass sich der zweite Sonntag vor dem erstenereignet und dass die Ursache hinter der Wirkung steht. DieNotwendigkeit, hier eine sinnvolle Ordnung zu schaffen, ver-drängt noch ein halbes Jahrhundert nach Walsers folgenschwe-rem Irrtum »Die erste große Kafkabiographie in deutscherSprache« (S. Fischer) im Jahr 2002 mit der scheinbaren Gewiss-heit: »Das Problem ist, mit diesem Manuskript, unlösbar.« (S.539) »Kafkas Process ist ein Monstrum. Nichts ist hier normal,nichts ist einfach. ...Der Befund bleibt stets derselbe. Finster-nis, wohin man blickt.« (S. 537)

Die sinnvoll geordnete Neuausgabe des Romans widerlegtdiese unhaltbaren Behauptungen, indem sie Kafkas Dichtungals einen großartigen künstlerischen Organismus aufleuchtenlässt.

Die bisherige Kafka-Forschung steht vor einer großen Über-raschung.

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DIE NOTWENDIGKEIT EINER NEUAUSGABEDES ROMANS

Nach dem Tod Franz Kafkas am 3. Juni 1924 und der postu-men Erstveröffentlichung seines durch das Endkapitel zwarformal abgeschlossenen, aber vor allem in der zweiten Hälfteunvollendeten Romans »Der Prozeß« begründet dieses Werknoch immer den Weltruhm des Dichters. Die Faszination durchdie einzelnen Teile seiner Dichtung hat nicht nachgelassen,und die unmittelbare Anschaulichkeit ihrer Bildersprache ziehtjeden Leser in ihren Bann, obwohl ihm die innere Logik dieserdichterischen Welt mit Sicherheit zunächst verborgen bleibt,beziehungsweise nur unsicher geahnt werden kann, aber ge-rade dadurch auch zu einer unwiderstehlichen Herausforde-rung wird.

Die unübersehbare Fülle der Deutungsversuche ist ein Beweisfür den Reiz, aber ebenfalls für die Schwierigkeit der Aufgabe.Denn bisher konnten weder die einzelnen Episoden noch derRoman als Ganzes in ihrem Sinnzusammenhang überzeugenderkannt und verstanden werden. Die Hauptursache dafür liegtvor allem in der falschen Kapitelfolge. Dadurch sind nicht nurnatürliche Zeitabläufe unterbrochen und verdreht, sondern auchHandlungsentwicklungen verstellt oder ganz zerstört. Infolge-dessen entsteht oft das Bild undurchdringlicher Dunkelheitund völliger Verwirrung. Kafka aber war überzeugt, dass Schat-ten die Sonne nicht auslöschen und wirkliche Dichtung erst ineiner geordneten Welt beginnt. Seine Kunst ist deshalb Aus-druck und Widerspiegelung eines einzigartigen Kosmos. Mitseinem Prozeß-Roman hat er ihn als einzelne leuchtende Bau-steine hinterlassen, die es zu einem farbigen Mosaik zusammen-zusetzen gilt. Wenn das Bild dabei auch an einigen Stellen nichtganz eben und vollkommen wird, so bleibt dennoch kein Zwei-fel an dem großartigen Ordnungsgefüge des Ganzen, in demjedes Teilstück seinen unverwechselbaren Stellenwert innehat.Der schöpferisch gestaltete, sinnvolle Organismus seiner Kunst-werke läßt Willkür und Zufall bei Kafka nicht zu. Doch erst die

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Erhellung des verborgenen Hintergrundes seiner dichterischenBilderwelt ermöglicht es, ihre innere logische Verknüpfung zuerkennen und deren geistigen Zusammenhang aufzuzeigen.

Der Leser, der den Prozeß-Roman verstehen will, wird nunin der völligen Neuordnung der Kapitelfolge das Handlungs-geschehen erstmals als eine folgerichtige Entwicklung erfah-ren. Obwohl die meisten Episoden, vor allem aber das An-fangs- und das Endkapitel, abgeschlossen sind, bleiben leidereinige Teile fragmentarisch, andere bedürfen der glatterenEinfügung in den Kontext oder sind nur als Entwurf angedeu-tet, beziehungsweise sogar wieder – wahrscheinlich zur neue-ren Überarbeitung – gestrichen. Trotzdem zeichnet sich derGesamtplan klar und durchschaubar ab. Das dem plötzlichenund verwirrenden Aufbruch im ersten Kapitel bewußt ent-gegengesetzte eindeutige Ziel im letzten Kapitel läßt den da-zwischen liegenden Weg als die Stufen einer fortschreitendenEntwicklung erkennen. In dem neu eingefügten vorletztenKapitel »Ein Traum« wird schon das Verhalten eines Men-schen erreicht, der seinen »Prozeß« gewinnt. An ihm orientiertsich Josef K. im Endkapitel. Daher weiß er genau, was seinePflicht ist, erfüllt sie auch zunächst lange Zeit gewissenhaft,bis er zu guter Letzt dann doch noch versagt. Als Hoffnungbleibt nur die bewußt ausgesparte letzte Nacht.

Kafkas großartiger Roman »Der Prozeß« ist auch als Fragmentein einzigartiges Dokument menschlicher Möglichkeiten undGrenzen. Der Bedrohung des modernen Menschen, in den all-täglichen Gewohnheiten beruflicher und gesellschaftlicher Ein-bindungen gedankenlos zu verflachen, wird die persönlicheVerpflichtung jedes Einzelnen entgegengehalten, die seine un-übertragbare Eigenverantwortung anmahnt, sein Leben mit Sinnzu erfüllen und dementsprechend bewußt zu gestalten. Kafkabekennt sich zu diesem höheren Auftrag des Menschen mitseiner richtungweisenden Devise: »Wenn auch keine Erlösungkommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein.« (T249) Die Würde des Menschen und die damit notwendig ver-bundene Verantwortung sind das erklärte Ziel der Dichtungund der in ihr gestalteten »geordneten Welt« Kafkas.

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DER IRRWEG ALLER BISHERIGENVERÖFFENTLICHUNGEN

Max Brod hat den in einzelne Kapitel zerlegten, unvollende-ten Roman seines Freundes nach dem Gefühl geordnet, 1925herausgegeben und später um die Teile des Anhangs ergänzt.Der von Kafka noch selbst veröffentlichte Traum Josef K.s,dessen Manuskript wohl verlorenging, blieb leider bis heuteunberücksichtigt. Der sofort einsetzende Weltruhm dieser Dich-tung stellte einfach nichts in Frage. Erst 1953 wies HermanUyttersprot einmal mit Recht auf die widersinnigen Zeitanga-ben und das Durcheinander der Jahreszeiten hin. Seine Forde-rung nach der zweckmäßigen Umstellung einzelner Kapitelwurde immer wieder mit Anschlußstellen des Entstehungs-Manuskriptes zurückgewiesen. Aber Kafka zerlegte sein Ma-nuskript doch gerade deshalb, weil er kapitelweise dichteteund die Entstehung einer Episode nichts über deren Stellen-wert im Handlungsverlauf aussagt. Die frühe Vollendung desSchlußkapitels ist dafür der überzeugendste Beweis. Das vorallem für die Kritische Ausgabe wiederhergestellte Entste-hungs-Manuskript ist für die Reihenfolge der Kapitel undderen Deutung völlig belanglos.

Hans Elema griff 1977 die Argumente Uyttersprots noch-mals auf. Aber da sich beide vor allem auf äußere Daten stütz-ten, vermochten sie nur die Kapitel mit klaren Zeitangabenrichtig einzuordnen. Für alle anderen blieben weiter die bishe-rige Unsicherheit und Verwirrung.

Deshalb macht die Kritische Ausgabe von 1990 leider alleswieder rückgängig. Lediglich das in seinem bisherigen Zusam-menhang unhaltbare Kapitel »Die Freundin des FräuleinBürstner« wird nicht etwa richtig eingeordnet, sondern fälsch-licherweise für unvollendet erklärt und in den Anhang verbannt.Die kleine, aber wichtige Episode »Ein Fragment« wird »in derFassung der Handschrift« nicht einmal mehr erwähnt. Gegen-über Max Brod und seiner »Gefühlsordnung« hat sich seithertrotz der berechtigten Zweifel nichts Wesentliches geändert.

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Um nun überhaupt keine Fehler zu machen, verzichtet dieHistorisch-Kritische Ausgabe von 1997 auf jeglichen Ordnungs-versuch. Ausnahmslos alle Teilstücke sind einzeln geheftet,faksimiliert und diplomatisch umgeschrieben, aber ungeord-net in einem Schuber zusammengefaßt. Die gesicherte Kafka-Forschung kann endlich beginnen! Vorerst jedoch hat manlediglich »die Teile in seiner Hand, fehlt leider! nur das geistigeBand.«

Wie alle Herausgeber und Textphilologen so sind auch alleBiographen Kafkas bisher mit dem Versuch gescheitert, diesesgeistige Band in seinem Roman-Fragment aufzuspüren undfolgerichtig zu verknüpfen. Es bleibt daher nur der Weg, denRoman von innen her zu erschließen, oder – um es mit denWorten Kafkas zu sagen – die künstlerische Form zu erhellen,damit sich »der verborgene Hintergrund« (J 92) öffnet.

ERGÄNZUNG ZUR TASCHENBUCHAUSGABE 2009:

Inzwischen hat diese Ordnung die vorbehaltlose Zustim-mung und Anerkennung einiger Kafka-Kenner gefunden. Ei-nen besonderen Dank schulde ich dabei Hans Paul Fiechter(Kafka-Experte und Autor des Buches »Das Rätsel Kafka“),der - ganz in meinem Sinne - eine Korrektur anregte, der ichsofort zustimmen mußte. Trotz der richtigen Deutung ist diePlatzierung des Kapitels „Staatsanwalt“ hinter der „Fräulein-Bürstner-Episode“ überzeugender. Beide Ereignisse lösen inJosef K. die Schuldgefühle aus, die seinen Prozeß begründenund infolgedessen in dem Kapitel „Erste Untersuchung“ be-ginnen lassen.

C.E.

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DER VORGESCHLAGENE WEG ZUM VERSTEHEN

Die gewählte Darbietungsform soll eine Anregung, aber kei-ne verbindliche Leseanleitung sein. Gedacht ist, daß sich derLeser zunächst kapitelweise dem unmittelbaren poetischenGeschehen überlässt. Da es sich dabei immer um in sich ge-schlossene künstlerische Episoden und Sinneinheiten handelt,wird ihre Wirkung zwangsläufig Fragen aufwerfen, die auf einnachvollziehbares Verstehen abzielen. Um die eigenen Ant-worten des Lesers aber zugleich auf einen Prüfstand zu brin-gen, wird der Begleittext angeboten, der sowohl Hilfestellungals auch Herausforderung bedeuten soll. In dieser Auseinan-dersetzung wird die Überzeugungskraft der Argumente füreine angemessenere Annäherung an die dichterische Bilder-welt sorgen und damit ein besseres Verständnis der Dichtunggewährleisten, die sich schrittweise bis zum Schluß als derwirklichkeitsnahe Facettenreichtum eines dichterisch durch-schauten Ganzen erweisen wird.

Da Kafka die einzelnen Teilstücke seines Roman-Fragmentsnicht als durchnummerierte Kapitel hinterlassen hat, sondernals meist knapp betitelte Episoden von äußerst unterschiedli-cher Länge, wird in dieser Ausgabe der Stellenwert im Sinn-zusammenhang die Reihenfolge bestimmen. Dabei werdenlängere Kapitel als Sinneinheiten gegliedert und mit ihrementsprechenden Teil-Titel überschrieben. Dadurch entstehenzugleich in sich geschlossene und überschaubare Leseab-schnitte.

Im Handlungsgeschehen zeichnen sich fortschreitende Ent-wicklungen ab, die zum Beispiel einerseits von der zunehmen-den Zersetzung der Arbeitskraft K.s im Büro, andererseits vonseiner wachsenden Sicherheit im Umgang mit den Forderun-gen seines Gerichts bestimmt werden. In dieser kontinuier-lichen Werteverschiebung zugunsten des Prozesses gründetdas entscheidende Kriterium für den Entwicklungsverlauf der

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Handlung und damit für die sinnvolle und überzeugendeReihenfolge der einzelnen Sinnabschnitte im Rahmen desGanzen. – In den umrandeten Stellen des Begleittextes ist dieNotwendigkeit der Umstellung und Neueinordnung der Ka-pitel hervorgehoben und begründet. Zugleich wird in diesenAngaben das Roman-Geschehen als folgerichtiges Handlungs-kontinuum aufgezeigt und nachgewiesen.

Leider bleiben durch den fragmentarischen Zustand desManuskripts mitunter belanglose Unebenheiten im Kontinu-um des Geschehens. Sie müssen ebenso in Kauf genommenwerden wie einige von Kafka selbst gestrichene Stellen, dieäußerst aufschlußreiche Erkenntnisse enthalten, aber seinemeigenen hohen künstlerischen Anspruch offenbar noch nichtentsprachen. Wegen ihrer wichtigen Aussagekraft für das Ver-ständnis des Ganzen wurde auf sie nicht verzichtet. Ein sinn-volles und nachvollziehbares Verstehen ist jedoch das erklärteZiel dieser Neuausgabe.

Bisher beeindruckte der Roman lediglich in seinen einzelnenTeilen, deren Zusammenhang weitgehend im Dunkeln blei-ben mußte. Durch die Neuordnung seiner Kapitelfolge er-weist er sich nun als das einheitliche Sinngefüge eines großenKunstwerks.

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DIE ALTE UND DIE NEUE KAPITELORDNUNG IM ÜBERBLICK

Die Kapitelfolge aller bisherigen Veröffentli-chungen sowie im Anhang die nicht eingeord-neten Teilstücke

VerhaftungGespräch mit Frau Grubach = 1. Kap.Fräulein Bürstner

Erste Untersuchung = 2. Kap.

Im leeren SitzungssaalDer Student = 3. Kap.Die Kanzleien

Die Freundin des Frl. Bürstner = 4. Kap.

Der Prügler = 5. Kap.

Der OnkelLeni = 6. Kap.

AdvokatFabrikant = 7. Kap.Maler

Kaufmann BlockKündigung des Advokaten = 8. Kap.

Im DomVor dem Gesetz = 9. Kap.

Ende = 10. Kap.

Anhang:Zu Elsa, Fahrt zur Mutter, Staatsanwalt, DasHaus, Kampf mit dem Direktor-Stellvertreter,Ein Fragment*In der Kritischen Ausgabe wurde das 4. Ka-pitel fälschlicherweise für unvollendet erklärtund als »B.s Freundin« in den Anhang ver-bannt.

Die neue Kapitelfolge aller Romanteile undder noch nie berücksichtigten Erzählung »EinTraum«. Die Anordnung entspricht den fort-schreitenden Sinneinheiten.

VerhaftungGespräch mit Frau GrubachFräulein BürstnerDie Freundin des Fräulein BürstnerStaatsanwaltErste UntersuchungDer PrüglerIm leeren SitzungssaalDer StudentDie KanzleienZu ElsaKampf mit dem Direktor-StellvertreterDer OnkelLeni

Ein FragmentIm DomVor dem GesetzAdvokatFabrikantMalerKaufmann BlockKündigung des AdvokatenDas HausFahrt zur MutterEin Traum (neu)Ende

Die unterlegten Überschriften kennzeichnendie notwendigen Umstellungen. Die zusätz-lich umrandeten Sinnabschnitte wurden be-reits von Uyttersprot richtig erkannt und z.T.von Elema bestätigt. Ihre sinnvolle Einord-nung wird von der Kritischen Ausgabe jedochignoriert.

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DAS THEMATISCHE ORDNUNGSGEFÜGE*

I. Ohne das Bewußtsein der Freiheit und Verantwortung mißlingendas persönliche und das gesellschaftliche Leben1. Der Aufruf zu einer bewußten Neubesinnung

– Verhaftung –2. Die unbewußten Verfehlungen im unmittelbaren Leben

– Staatsanwalt – Frau Grubach –3. Die bedrohte Einheit von Sinnlichkeit und Sinn

– Fräulein Bürstner – Die Freundin des Fräulein Bürstner –4. Die Verantwortung des Einzelnen als Bekenntnis zur Menschen-

würde– Erste Untersuchung – Der Prügler –

5. Das Gericht als Spiegelbild menschlicher Möglichkeiten– Im leeren Sitzungssaal – Der Student – Die Kanzleien –

6. Die falschen Hoffnungen und die möglichen Verirrungen– Der Onkel – Leni – Ein Fragment –

II. Eine Erfüllung des Lebens gelingt nur der eigenständigen Persönlichkeit1. Die freie Entscheidung zum sinnbezogenen Handeln

– Im Dom – Vor dem Gesetz –2. Die notwendige Wechselwirkung zwischen richtigem Erkennen

und dementsprechendem Handeln– Advokat – Fabrikant –

3. Das kulturelle Leben als gesellschaftliche Unterhaltung und Ge-schäft oder als persönliche Erhebung und Erkenntnis– Maler –

4. Die Verpflichtung zur persönlichen Selbstbehauptung gegenFremdbestimmung und Entmündigung– Kaufmann Block – Kündigung des Advokaten –

5. Wege zur sinnvollen Erfüllung des Lebens– Das Haus – Fahrt zur Mutter –

6. Der Tod als Hoffnung auf Erlösung oder als endgültige Vernich-tung– Ein Traum – Ende –

* Diese Erkenntnis entspricht der in sich geschlossenen Deutung des Romans in meinem

Buch »Kafkas unerkannte Botschaft«.

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»DER PROZESS«

Statt bunter Steineein farbiges Mosaik

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VERHAFTUNG

Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß eretwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin, dieihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kamdiesmal nicht. Das war noch niemals geschehen. K. wartetenoch ein Weilchen, sah von seinem Kopfkissen aus die alteFrau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihrganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber,gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete er. Sofort klopftees und ein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemalsgesehen hatte, trat ein. Er war schlank und doch fest gebaut, ertrug ein anliegendes schwarzes Kleid, das, ähnlich den Reise-anzügen, mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen, Knöp-fen und einem Gürtel versehen war und infolgedessen, ohnedaß man sich darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, be-sonders praktisch erschien. »Wer sind Sie?« fragte K. und saßgleich halb aufrecht im Bett. Der Mann aber ging über dieFrage hinweg, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen,und sagte bloß seinerseits: »Sie haben geläutet?« »Anna sollmir das Frühstück bringen«, sagte K. und versuchte, zunächststillschweigend, durch Aufmerksamkeit und Überlegung fest-zustellen, wer der Mann eigentlich war. Aber dieser setzte sichnicht allzulange seinen Blicken aus, sondern wandte sich zurTür, die er ein wenig öffnete, um jemandem, der offenbarknapp hinter der Tür stand, zu sagen: »Er will, daß Anna ihmdas Frühstück bringt.« Ein kleines Gelächter im Nebenzimmerfolgte, es war nach dem Klang nicht sicher, ob nicht mehrerePersonen daran beteiligt waren. Obwohl der fremde Manndadurch nichts erfahren haben konnte, was er nicht schonfrüher gewußt hätte, sagte er nun doch zu K. im Tone einerMeldung: »Es ist unmöglich.« »Das wäre neu«, sagte K., sprangaus dem Bett und zog rasch seine Hosen an. »Ich will dochsehen, was für Leute im Nebenzimmer sind und wie FrauGrubach diese Störung mir gegenüber verantworten wird.« Esfiel ihm zwar gleich ein, daß er das nicht hätte laut sagen

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Der Roman beginnt mit einem Pauken-

schlag. Josef K. erwacht eines Morgens,

zögert einen Augenblick, mit seinem

Tagesablauf zu beginnen, und plötzlich

ist nichts mehr so, wie es am Abend vor-

her noch gewesen war. Sein bisher ge-

wohntes Leben scheint schlagartig für

eine kurze Zeit unterbrochen, in der ihm

seine Außenwelt fremd und in völlig

neuen Erscheinungsformen begegnet

und er selbst zum Gegenstand ganz un-

gewöhnlicher Neugierde wird. Es ist, als

wären ihm überraschend andere Augen

eingesetzt worden, mit denen er ebenso

erstaunt wie ratlos das ungewohnte Ge-

genüber aufmerksam beobachtet, um

dann mit der ungestümen Frage: »Wer

sind Sie?« von der neuen Wirklichkeit die

Selbstoffenbarung zu verlangen. Aber

das Andere ist einfach nur da, verrichtet

unbeirrbar das im Rahmen der Verände-

rung Notwendige und verweist K. immer

wieder auf die ihm dabei zugedachte

Aufgabe. Zunächst gilt es, sich auf das

Wesentliche zu konzentrieren, und dafür

muss er in seinem Zimmer bleiben.

müssen und daß er dadurch gewissermaßen ein Beaufsich-tigungsrecht des Fremden anerkannte, aber es schien ihm jetztnicht wichtig. Immerhin faßte es der Fremde so auf,denn ersagte: »Wollen Sie nicht lieber hierbleiben?« »Ich will weder

hierbleiben, noch von Ihnen ange-sprochen werden, solange Sie sichmir nicht vorstellen.« »Es war gutgemeint«, sagte der Fremde und öff-nete nun freiwillig die Tür. Im Neben-zimmer, in das K. langsamer eintrat,als er wollte, sah es auf den erstenBlick fast genau so aus wie am Abendvorher. Es war das Wohnzimmer derFrau Grubach, vielleicht war in die-sem mit Möbeln, Decken, Porzellanund Photographien überfüllten Zim-mer heute ein wenig mehr Raum alssonst, man erkannte das nicht gleich,um so weniger, als die Hauptver-änderung in der Anwesenheit einesMannes bestand, der beim offenenFenster mit einem Buch saß, von demer jetzt aufblickte. »Sie hätten in Ih-rem Zimmer bleiben sollen! Hat esIhnen denn Franz nicht gesagt?« »Ja,was wollen Sie denn?« sagte K. undsah von der neuen Bekanntschaft zudem mit Franz Benannten, der in derTür stehengeblieben war, und dannwieder zurück. Durch das offene Fen-ster erblickte man wieder die alteFrau, die mit wahrhaft greisenhafter

Neugierde zu dem jetzt gegenüberliegenden Fenster getretenwar, um auch weiterhin alles zu sehen. »Ich will doch FrauGrubach –«, sagte K., machte eine Bewegung, als reiße er sichvon den zwei Männern los, die aber weit von ihm entferntstanden, und wollte weitergehen. »Nein«, sagte der Mann

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Dichterisch bedeutet das eigene

Zimmer bei Kafka immer einen Ort

der Selbstbesinnung, einen gei-

stig-seelischen Innenraum, eine

Quelle der Erkenntnis, die jeder in

sich besitzt: »Jeder Mensch trägt

ein Zimmer in sich.« (H 55) In ihm

soll er horchen, warten, still und

allein sein: »Anbieten wird sich dir

die Welt zur Entlarvung, sie kann

nicht anders, verzückt wird sie sich

vor dir winden.« (H 54)

beim Fenster, warf das Buch auf ein Tischchen und stand auf.»Sie dürfen nicht weggehen, Sie sind ja verhaftet.« »Es sieht soaus«, sagte K. »Und warum denn?« fragte er dann. »Wir sindnicht dazu bestellt, Ihnen das zu sagen. Gehen Sie in Ihr Zim-mer und warten Sie. Das Verfahren ist nun einmal eingeleitet,und Sie werden alles zur richtigen Zeit erfahren. Ich gehe übermeinen Auftrag hinaus, wenn ich Ihnen so freundschaftlichzurede. Aber ich hoffe, es hört es niemand sonst als Franz, undder ist selbst gegen alle Vorschrift freundlich zu Ihnen. WennSie auch weiterhin so viel Glück haben wie bei der Bestim-mung Ihrer Wächter, dann können Sie zuversichtlich sein.« K.wollte sich setzen, aber nun sah er, daß imganzen Zimmer keine Sitzgelegenheit war,außer dem Sessel beim Fenster. »Sie wer-den noch einsehen, wie wahr das alles ist«,sagte Franz und ging gleichzeitig mit demandern Mann auf ihn zu. Besonders derletztere überragte K. bedeutend und klopf-te ihm öfters auf die Schulter. Beide prüf-ten K.s Nachthemd und sagten, daß er jetztein viel schlechteres Hemd werde anzie-hen müssen, daß sie aber dieses Hemd wieauch seine übrigeWäsche aufbewahrenund, wenn seine Sache günstig ausfallensollte, ihm wieder zurückgeben würden.»Es ist besser, Sie geben die Sachen uns als ins Depot«, sagtensie, »denn im Depot kommen öfters Unterschleife vor undaußerdem verkauft man dort alle Sachen nach einer gewissenZeit, ohne Rücksicht, ob das betreffende Verfahren zu Ende istoder nicht. Und wie lange dauern doch derartige Prozesse,besonders in letzter Zeit! Sie bekämen dann schließlich aller-dings vom Depot den Erlös, aber dieser Erlös ist erstens an sichschon gering, denn beim Verkauf entscheidet nicht die Höhedes Angebotes, sondern die Höhe der Bestechung, und weiterverringern sich solche Erlöse erfahrungsgemäß, wenn sie vonHand zu Hand und von Jahr zu Jahr weitergegeben werden.«K. achtete auf diese Reden kaum, das Verfügungsrecht über

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seine Sachen, das er vielleicht noch besaß, schätzte er nichthoch ein, viel wichtiger war es ihm, Klarheit über seine Lage zubekommen; in Gegenwart dieser Leute konnte er aber nichteinmal nachdenken, immer wieder stieß der Bauch des zwei-ten Wächters – es konnten ja nur Wächter sein – förmlichfreundschaftlich an ihn, sah er aber auf, dann erblickte er einzu diesem dicken Körper gar nicht passendes trockenes, kno-chiges Gesicht mit starker, seitlich gedrehter Nase, das sichüber ihn hinweg mit dem anderen Wächter verständigte. Waswaren denn das für Menschen? Wovon sprachen sie? WelcherBehörde gehörten sie an? K.lebte doch in einem Rechtsstaat,überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, werwagte, ihn in seiner Wohnung zu überfallen. Er neigte stetsdazu, alles möglichst leicht zu nehmen, das Schlimmste erstbeim Eintritt des Schlimmsten zu glauben, keine Vorsorge fürdie Zukunft zu treffen, selbst wenn alles drohte. Hier schienihm das aber nicht richtig, man konnte zwar das Ganze alsSpaß ansehen, als einen groben Spaß, den ihm aus unbekann-ten Gründen, vielleicht weil heute sein dreißigster Geburtstagwar, die Kollegen in der Bank veranstaltet hatten, es war natür-lich möglich, vielleicht brauchte er nur auf irgendeine Weiseden Wächtern ins Gesicht zu lachen, und sie würden mit-lachen, vielleicht waren es Dienstmänner von der Straßenecke,sie sahen ihnen nicht unähnlich – trotzdem war er diesmal,förmlich schon seit dem ersten Anblick des Wächters Franz,entschlossen, nicht den geringsten Vorteil, den er vielleichtgegenüber diesen Leuten besaß, aus der Hand zu geben.Darin,daß man später sagen würde, er habe keinen Spaß verstanden,sah K. eine ganz geringe Gefahr, wohl aber erinnerte er sich –ohne daß es sonst seine Gewohnheit gewesen wäre, aus Erfah-rungen zu lernen – an einige, an sich unbedeutende Fälle, indenen er zum Unterschied von seinen Freunden mit Bewußt-sein, ohne das geringste Gefühl für die möglichen Folgen, sichunvorsichtig benommen hatte und dafür durch das Ergebnisgestraft worden war. Es sollte nicht wieder geschehen, zumin-dest nicht diesmal; war es eine Komödie, so wollte er mit-spielen.

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Noch war er frei. »Erlauben Sie«, sagte er und ging eiligzwischen den Wächtern durch in sein Zimmer. »Er scheintvernünftig zu sein«, hörte er hinter sich sagen. In seinem Zim-mer riß er gleich die Schubladen des Schreibtischs auf, es lagdort alles in großer Ordnung, aber gerade die Legitimations-papiere, die er suchte, konnte er in der Aufregung nicht gleichfinden. Schließlich fand er seine Radfahrlegitimation und wollteschon mit ihr zu den Wächtern gehen, dann aber schien ihmdas Papier zu geringfügig und er suchte weiter, bis er denGeburtsschein fand. Als er wieder in das Nebenzimmer zu-rückkam, öffnete sich gerade die gegenüberliegende Tür undFrau Grubach wollte dort eintreten. Man sah sie nur einenAugenblick, denn kaum hatte sie K. erkannt, als sie offenbarverlegen wurde, um Verzeihung bat, verschwand und äußerstvorsichtig die Tür schloß. »Kommen Sie doch herein«, hatte K.gerade noch sagen können. Nun aber stand er mit seinenPapieren in der Mitte des Zimmers, sah noch auf die Tür hin,die sich nicht wieder öffnete, und wurde erst durch einenAnruf der Wächter aufgeschreckt, die bei dem Tischchen amoffenen Fenster saßen und, wie K. jetzt erkannte, sein Früh-stück verzehrten. »Warum ist sie nicht eingetreten?« fragte er.»Sie darf nicht«, sagte der große Wächter. »Sie sind doch ver-haftet.« »Wie kann ich denn verhaftet sein? Und gar auf dieseWeise?« »Nun fangen Sie also wieder an«, sagte der Wächterund tauchte ein Butterbrot ins Honigfäßchen. »Solche Fragenbeantworten wir nicht.« »Sie werden sie beantworten müs-sen«, sagte K. »Hier sind meine Legitimationspapiere, zeigenSie mir jetzt die Ihrigen und vor allem den Verhaftbefehl.« »Dulieber Himmel!« sagte der Wächter. »Daß Sie sich in Ihre Lagenicht fügen können und daß Sie es darauf angelegt zu habenscheinen, uns, die wir Ihnen jetzt wahrscheinlich von allenIhren Mitmenschen am nächsten stehen, nutzlos zu reizen!«»Es ist so, glauben Sie es doch«, sagte Franz, führte die Kaffee-tasse, die er in der Hand hielt, nicht zum Mund, sondern sah K.mit einem langen, wahrscheinlich bedeutungsvollen, aber un-verständlichen Blick an. K.ließ sich, ohne es zu wollen, in einZwiegespräch der Blicke mit Franz ein, schlug dann aber doch

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Josef K. lehnt sich gegen die mit seiner

angeblichen Verhaftung eingeleitete un-

verhoffte Entwicklung versuchsweise

auf. Er will sich auf den Rechtsstaat beru-

fen, muss aber bald einsehen, daß er sich

mit »Radfahrerlegitimation« und »Ge-

burtsschein« jetzt nur lächerlich macht.

Obwohl er bei seinen Wächtern die Si-

cherheit der Dummheit, das Missverhält-

nis von Bauch und Kopf, von Körper und

Geist erkennt und in ihrer Gegenwart

nicht einmal nachdenken kann, lässt er

sich mit ihnen ein. Deshalb bleibt das Ge-

spräch vordergründig und oberflächlich.

Es dreht sich um Frühstück und Kleidung,

wobei die Wächter sofort versuchen, per-

sönliche Vorteile wahrzunehmen, weil

ein Verhafteter wohl Wichtigeres im Sinn

haben sollte. Denn K. müsste einsehen,

daß die Ursache seiner Verhaftung in ihm

selbst liegt. Seine Schuld hat das Gericht

angezogen. Indem er aber die in ihm an-

gelegten Möglichkeiten, seine Auszeich-

nung als Mensch und den damit verbun-

denen Auftrag, sein Gesetz, nicht wahr-

nimmt, versündigt er sich an seiner Be-

stimmung. Wer es versäumt, dieses Ge-

setz in sich aufzuspüren, macht sich

schuldig. Die Behauptung, das Gesetz

nicht zu kennen und gleichzeitig schuld-

los zu sein, ist daher in sich widersinnig.

auf seine Papiere und sagte: »Hier sind meine Legitimations-papiere.« »Was kümmern uns denn die?« rief nun schon dergroßeWächter. »Sie führen sich ärger auf als ein Kind.Waswollen Sie denn? Wollen Sie Ihren großen, verfluchten Prozeßdadurch zu einem raschen Ende bringen, daß Sie mit uns, den

Wächtern, über Legitimation undVerhaftbefehl diskutieren? Wir sindniedrige Angestellte, die sich in ei-nem Legitimationspapier kaum aus-kennen und die mit Ihrer Sache nichtsanderes zu tun haben, als daß sie zehnStunden täglich bei Ihnen Wache hal-ten und dafür bezahlt werden. Dasist alles, was wir sind, trotzdem abersind wir fähig, einzusehen, daß diehohen Behörden, in deren Dienst wirstehen, ehe sie eine solche Verhaf-tung verfügen, sich sehr genau überdie Gründe der Verhaftung und diePerson des Verhafteten unterrichten.Es gibt darin keinen Irrtum. UnsereBehörde, soweit ich sie kenne, undich kenne nur die niedrigsten Grade,sucht doch nicht etwa die Schuld inder Bevölkerung, sondern wird, wiees im Gesetz heißt, von der Schuldangezogen und muß uns Wächterausschicken. Das ist Gesetz. Wo gäbees da einen Irrtum?« »Dieses Gesetzkenne ich nicht«, sagte K. »Destoschlimmer für Sie«, sagte der Wäch-ter. »Es besteht wohl auch nur in Ih-ren Köpfen«, sagte K., er wollte sichirgendwie in die Gedanken derWächter einschleichen, sie zu seinenGunsten wenden oder sich dort ein-bürgern. Aber der Wächter sagte nur

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abweisend: »Sie werden es zu fühlen bekommen.« Franz misch-te sich ein und sagte: »Sieh,Willem, er gibt zu, er kenne dasGesetz nicht, und behauptet gleichzeitig, schuldlos zu sein.«»Du hast ganz recht, aber ihm kann man nichts begreiflichmachen«, sagte der andere. K. antwortete nichts mehr; mußich, dachte er, durch das Geschwätz dieser niedrigsten Organe– sie geben selbst zu, es zu sein – mich noch mehr verwirrenlassen? Sie reden doch jedenfalls von Dingen, die sie gar nichtverstehen. Ihre Sicherheit ist nur durch ihre Dummheit mög-lich. Ein paarWorte, die ich mit einem mir ebenbürtigen Men-schen sprechen werde, werden alles unvergleichlich klarermachen als die längsten Reden mit diesen. Er ging einige Malein dem freien Raum des Zimmers auf und ab, drüben sah er diealte Frau, die einen noch viel älteren Greis zum Fenster gezerrthatte, den sie umschlungen hielt. K. mußte dieser Schaustellungein Ende machen: »Führen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten«,sagte er. »Wenn er es wünscht; nicht früher«, sagte der Wäch-ter, derWillem genannt worden war. » Und nun rate ich Ih-nen«, fügte er hinzu, »in Ihr Zimmer zu gehen, sich ruhig zuverhalten und darauf zu warten, was über Sie verfügt werdenwird. Wir raten Ihnen, zerstreuen Sie sich nicht durch nutzloseGedanken, sondern sammeln Sie sich, es werden große Anfor-derungen an Sie gestellt werden. Sie haben uns nicht so behan-delt, wie es unser Entgegenkommen verdient hätte, Sie habenvergessen, daß wir, mögen wir auch sein was immer, zumin-dest jetzt Ihnen gegenüber freie Männer sind, das ist keinkleines Übergewicht. Trotzdem sind wir bereit, falls Sie Geldhaben, Ihnen ein kleines Frühstück aus dem Kaffeehaus drü-ben zu bringen.«

Ohne auf dieses Angebot zu antworten, stand K. ein Weil-chen lang still. Vielleicht würden ihn die beiden, wenn er dieTür des folgenden Zimmers oder gar die Tür des Vorzimmersöffnete, gar nicht zu hindern wagen, vielleicht wäre es dieeinfachste Lösung des Ganzen, daß er es auf die Spitze trieb.Aber vielleicht würden sie ihn doch packen und, war er einmalniedergeworfen, so war auch alle Überlegenheit verloren, dieer jetzt ihnen gegenüber in gewisser Hinsicht doch wahrte.

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Doch nun begibt sich K. offenbar ein-

sichtig und freiwillig in sein Zimmer

und nimmt statt des gewohnten Früh-

stücks, das er den Wächtern überlas-

sen mußte, einen bereits vorbereite-

ten »schönen Apfel« zu sich. Das

Besondere dieses Apfels liegt in der

augenscheinlichen Anspielung auf

die Frucht vom Baum der Erkenntnis,

zumal Kafka sich dieser Symbolik öf-

ter bedient und einmal sogar aus-

drücklich erklärt: » ... manchmal glau-

be ich, ich verstehe den Sündenfall wie

kein Mensch sonst« (M 199). Tatsäch-

lich fühlt sich K. anschließend »wohl

und zuversichtlich«. Er erkennt, sich

seiner Aufgabe stellen zu müssen und

sieht darin einen Sinn. Dagegen ver-

wirft er die mögliche Flucht in den

Selbstmord als sinnlose Verzweif-

lungstat, zu der er allein schon wegen

der Sinnlosigkeit nicht fähig ist. Statt-

dessen bekräftigt er seine neue Be-

reitschaft – wie Kafka in feinsinnigem

Humor bemerkt, - mit zwei Gläschen

eines geistigen Getränks. Der nächste

Schritt kann erfolgen.

Deshalb zog er die Sicherheit der Lösung vor, wie sie dernatürliche Verlauf bringen mußte, und ging in sein Zimmerzurück, ohne daß von seiner Seite oder von Seite der Wächterein weiteres Wort gefallen wäre.

Er warf sich auf sein Bett und nahm vom Waschtisch einenschönen Apfel, den er sich gestern abend für das Frühstückvorbereitet hatte. Jetzt war er sein einziges Frühstück undjedenfalls, wie er sich beim ersten großen Bissen versicherte,viel besser, als das Frühstück aus dem schmutzigen Nachtcafé

gewesen wäre, das er durch die Gnadeder Wächter hätte bekommen können.Er fühlte sich wohl und zuversichtlich,in der Bank versäumte er zwar heutevormittag seinen Dienst, aber das warbei der verhältnismäßig hohen Stellung,die er dort einnahm, leicht entschuldigt.Sollte er die wirkliche Entschuldigunganführen? Er gedachte es zu tun. Würdeman ihm nicht glauben, was in diesemFall begreiflich war, so konnte er FrauGrubach als Zeugin führen oder auchdie beiden Alten von drüben, die wohljetzt auf dem Marsch zum gegenüber-liegenden Fenster waren. Es wunderteK., wenigstens aus dem Gedankengangder Wächter wunderte es ihn, daß sieihn in das Zimmer getrieben und ihnhier allein gelassen hatten, wo er dochzehnfache Möglichkeit hatte, sich um-zubringen. Gleichzeitig allerdings frag-te er sich, diesmal aus seinem Gedan-kengang, was für einen Grund er habenkönnte, es zu tun. Etwa weil die zweinebenan saßen und sein Frühstück ab-gefangen hatten? Es wäre so sinnlos ge-wesen, sich umzubringen, daß er, selbstwenn er es hätte tun wollen, infolge der

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Sinnlosigkeit dazu nicht imstande gewesen wäre. Wäre diegeistige Beschränktheit der Wächter nicht so auffallend gewe-sen, so hätte man annehmen können, daß auch sie, infolge dergleichen Überzeugung, keine Gefahr darin gesehen hätten,ihn allein zu lassen. Sie mochten jetzt, wenn sie wollten, zuse-hen, wie er zu einem Wandschränkchen ging, in dem er einenguten Schnaps aufbewahrte, wie er ein Gläschen zuerst zumErsatz des Frühstücks leerte und wie er ein zweites Gläschendazu bestimmte, sich Mut zu machen, das letztere nur ausVorsicht für den unwahrscheinlichen Fall, daß es nötig seinsollte.

Da erschreckte ihn ein Zuruf aus dem Nebenzimmer derartig,daß er mit den Zähnen ans Glas schlug. »Der Aufseher ruft Sie!«hieß es. Es war nur das Schreien, das ihn erschreckte, dieseskurze, abgehackte, militärische Schreien, das er dem WächterFranz gar nicht zugetraut hätte. Der Befehl selbst war ihm sehrwillkommen. »Endlich!« rief er zurück, versperrte den Wand-schrank und eilte sofort ins Nebenzimmer. Dort standen diezwei Wächter und jagten ihn, als wäre das selbstverständlich,wieder in sein Zimmer zurück. »Was fällt Euch ein ?« riefen sie.»Im Hemd wollt Ihr vor den Aufseher? Er läßt Euch durchprü-geln und uns mit!« »Laßt mich, zum Teufel!« rief K., der schonbis zu seinem Kleiderkasten zurückgedrängt war, »wenn manmich im Bett überfällt, kann man nicht erwarten, mich im Fest-anzug zu finden.« »Es hilft nichts«, sagten die Wächter, dieimmer, wenn K. schrie, ganz ruhig, ja fast traurig wurden undihn dadurch verwirrten oder gewissermaßen zur Besinnungbrachten. »Lächerliche Zeremonien!« brummte er noch, hobaber schon einen Rock vom Stuhl und hielt ihn ein Weilchen mitbeiden Händen, als unterbreite er ihn dem Urteil der Wächter.Sie schüttelten die Köpfe. »Es muß ein schwarzer Rock sein«,sagten sie. K. warf daraufhin den Rock zu Boden und sagte – erwußte selbst nicht, in welchem Sinne er es sagte –: »Es ist dochnoch nicht die Hauptverhandlung.« Die Wächter lächelten,blieben aber bei ihrem: »Es muß ein schwarzer Rock sein.«»Wenn ich dadurch die Sache beschleunige, soll es mir rechtsein«, sagte K., öffnete selbst den Kleiderkasten, suchte lange

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unter den vielen Kleidern, wählte sein bestes schwarzes Kleid,ein Jackettkleid, das durch seine Taille unter den Bekanntenfast Aufsehen gemacht hatte, zog nun auch ein anderes Hemdhervor und begann, sich sorgfältig anzuziehen. Im Geheimenglaubte er, eine Beschleunigung des Ganzen damit erreicht zuhaben, daß die Wächter vergessen hatten, ihn zum Bad zuzwingen. Er beobachtete sie, ob sie sich vielleicht daran docherinnern würden, aber das fiel ihnen natürlich gar nicht ein,dagegen vergaß Willem nicht, Franz mit der Meldung, daßsich K. anziehe, zum Aufseher zu schicken.

Als er vollständig angezogen war, mußte er knapp vor Willemdurch das leere Nebenzimmer in das folgende Zimmer gehen,dessen Tür mit beiden Flügeln bereits geöffnet war. DiesesZimmer wurde, wie K. genau wußte, seit kurzer Zeit voneinem Fräulein Bürstner, einer Schreibmaschinistin, bewohnt,die sehr früh in die Arbeit zu gehen pflegte, spät nach Hausekam und mit der K. nicht viel mehr als die Grußworte gewech-selt hatte. Jetzt war das Nachttischchen von ihrem Bett alsVerhandlungstisch in die Mitte des Zimmers gerückt, und derAufseher saß hinter ihm. Er hatte die Beine übereinander-geschlagen und einen Arm auf die Rückenlehne des Stuhlesgelegt. In einer Ecke des Zimmers standen drei junge Leuteund sahen die Photographien des Fräulein Bürstner an, die ineiner an der Wand aufgehängten Matte steckten. An der Klin-ke des offenen Fensters hing eine weiße Bluse. Im gegenüber-liegenden Fenster lagen wieder die zwei Alten, doch hatte sichihre Gesellschaft vergrößert, denn hinter ihnen, sie weit über-ragend, stand ein Mann mit einem auf der Brust offenen Hemd,der seinen rötlichen Spitzbart mit den Fingern drückte unddrehte.

»Josef K.?« fragte der Aufseher, vielleicht nur um K.s zer-streute Blicke auf sich zu lenken. K. nickte. »Sie sind durch dieVorgänge des heutigen Morgens wohl sehr überrascht?« frag-te der Aufseher und verschob dabei mit beiden Händen diewenigen Gegenstände, die auf dem Nachttischchen lagen, dieKerze mit Zündhölzchen, ein Buch und ein Nadelkissen,als seien es Gegenstände, die er zur Verhandlung benötige.

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»Gewiß«, sagte K., und das Wohlgefühl, endlich einem ver-nünftigen Menschen gegenüberzustehen und über seine An-gelegenheit mit ihm sprechen zu können, ergriff ihn. »Gewiß,ich bin überrascht, aber ich bin keineswegs sehr überrascht.«»Nicht sehr überrascht?« fragte der Aufseher und stellte nundie Kerze in die Mitte des Tischchens, während er die anderenSachen um sie gruppierte. »Sie mißverstehen mich vielleicht«,beeilte sich K. zu bemerken. »Ich meine –« Hier unterbrachsich K. und sah sich nach einem Sessel um. »Ich kann michdoch setzen?« fragte er. »Es ist nicht üblich«, antwortete derAufseher. »Ich meine«, sagte nun K. ohne weitere Pause, »ichbin allerdings sehr überrascht, aber man ist, wenn man dreißigJahre auf der Welt ist und sich allein hat durchschlagen müs-sen, wie es mir beschieden war, gegen Überraschungen abge-härtet und nimmt sie nicht zu schwer. Besonders die heutigenicht.« »Warum besonders die heutige nicht?« »Ich will nichtsagen, daß ich das Ganze für einen Spaß ansehe, dafür schei-nen mir die Veranstaltungen, die gemacht wurden, doch zuumfangreich. Es müßten alle Mitglieder der Pension daranbeteiligt sein und auch Sie alle, das ginge über die Grenzeneines Spaßes. Ich will also nicht sagen, daß es ein Spaß ist.«»Ganz richtig«, sagte der Aufseher und sah nach, wie vielZündhölzchen in der Zündhölzchenschachtel waren. »Ande-rerseits aber«, fuhr K. fort und wandte sich hierbei an alle undhätte gern sogar die drei bei den Photographien sich zugewen-det, »andererseits aber kann die Sache auch nicht viel Wichtig-keit haben. Ich folgere das daraus, daß ich angeklagt bin, abernicht die geringste Schuld auffinden kann, wegen deren manmich anklagen könnte. Aber auch das ist nebensächlich, dieHauptfrage ist, von wem bin ich angeklagt? Welche Behördeführt das Verfahren? Sind Sie Beamte? Keiner hat eine Uni-form, wenn man nicht Ihr Kleid« – hier wandte er sich an Franz– »eine Uniform nennen will, aber es ist doch eher ein Reisean-zug. In diesen Fragen verlange ich Klarheit, und ich bin über-zeugt, daß wir nach dieser Klarstellung voneinander den herz-lichsten Abschied werden nehmen können.« Der Aufseherschlug die Zündhölzchenschachtel auf den Tisch nieder. »Sie

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Entsprechend der entscheidenden Bedeu-

tung der zukünftigen Ereignisse hat K. im

schwarzen Rock zu erscheinen. Um ihm alle

Zweifel auszuräumen und sein Leben ernst-

haft und zielstrebend auszurichten, ruft der

Aufseher Josef K. eindeutig und persönlich

beim Namen. Dieser Ruf habe geklungen,

räumt K. später ein, als ob man ihn hätte

»wecken« müssen. Damit ist klar, dass es gilt,

K.s Leben auf den Prüfstand zu bringen. –

Doch er verharrt zunächst weiter in dem Irr-

tum, die plötzliche Veränderung seines Le-

bens sei von außen erfolgt, und deshalb müss-

ten seine Fragen auch von außen beantwor-

tet werden. Die neue Erscheinungsform sei-

ner Außenwelt ist für ihn selbst aufschluss-

reich, aber für seine »Angelegenheit vollstän-

dig nebensächlich«. Sie hat nicht einmal ein

Bewusstsein von ihr. Um so notwendiger ver-

weist sie ihn dagegen auf sich selbst. Hatten

ihm seine Wächter das mit dem Hinweis, er

möge in seinem Zimmer bleiben, klarzu-

machen versucht, so wird der Aufseher

darüber hinaus noch deutlicher: »Denken Sie

lieber mehr an sich. Und machen Sie keinen

solchen Lärm mit dem Gefühl Ihrer Un-

schuld«. Josef K. soll also gezwungen wer-

den, mehr in sich selbst hineinzuhorchen, um

seine Aufgabe zu erkennen und seine Fragen

selbst zu beantworten. Kafka ist überzeugt,

dass jeder Mensch für die Gestaltung seines

Lebens persönlich verantwortlich ist. Mit der

»Verhaftung« sollen ihm dafür die richtigen

Augen eingesetzt werden.

befinden sich in einem großen Irrtum«, sagte er. »Diese Herrenhier und ich sind für Ihre Angelegenheit vollständig neben-

sächlich, ja wir wissen sogar vonihr fast nichts. Wir könnten dieregelrechtesten Uniformen tragen,und Ihre Sache würde um nichtsschlechter stehen. Ich kann Ihnenauch durchaus nicht sagen, daßSie angeklagt sind oder vielmehr,ich weiß nicht, ob Sie es sind. Siesind verhaftet, das ist richtig, mehrweiß ich nicht. Vielleicht habendie Wächter etwas anderes ge-schwätzt, dann ist es eben nur Ge-schwätz gewesen. Wenn ich nunaber auch Ihre Fragen nicht beant-worte, so kann ich Ihnen doch ra-ten, denken Sie weniger an unsund an das, was mit Ihnen gesche-hen wird, denken Sie lieber mehran sich. Und machen Sie keinensolchen Lärm mit dem Gefühl Ih-rer Unschuld, es stört den nichtgerade schlechten Eindruck, denSie im übrigen machen. Auch soll-ten Sie überhaupt im Reden zu-rückhaltender sein, fast alles, wasSie vorhin gesagt haben, hätte manauch, wenn Sie nur ein paar Wortegesagt hätten, Ihrem Verhaltenentnehmen können, außerdemwar es nichts für Sie übermäßigGünstiges.«

K. starrte den Aufseher an.Schulmäßige Lehren bekam er hiervon einem vielleicht jüngerenMenschen? Für seine Offenheit

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wurde er mit einer Rüge bestraft? Und über den Grund seinerVerhaftung und über deren Auftraggeber erfuhr er nichts? Ergeriet in eine gewisse Aufregung, ging auf und ab, woran ihnniemand hinderte, schob seine Manschetten zurück, befühltedie Brust, strich sein Haar zurecht, kam an den drei Herrenvorüber, sagte: »Es ist ja sinnlos«, worauf sich diese zu ihmumdrehten und ihn entgegenkommend, aber ernst ansahenund machte endlich wieder vor dem Tisch des Aufsehers halt.»Der Staatsanwalt Hasterer ist mein guter Freund«, sagte er,»kann ich ihm telephonieren?« »Gewiß«, sagte der Aufseher,»aber ich weiß nicht, welchen Sinn das haben sollte, es müßtedenn sein, daß Sie irgendeine private Angelegenheit mit ihmzu besprechen haben.« »Welchen Sinn ?« rief K., mehr bestürztals geärgert. »Wer sind Sie denn? Sie wollen einen Sinn undführen das Sinnloseste auf, das es gibt? Ist es nicht zum Stein-erweichen? Die Herren haben mich zuerst überfallen, und jetztsitzen oder stehen sie hier herum und lassen mich vor Ihnendie Hohe Schule reiten. Welchen Sinn es hätte, an einen Staats-anwalt zu telephonieren, wenn ich angeblich verhaftet bin?Gut, ich werde nicht telephonieren.« »Aber doch«, sagte derAufseher und streckte die Hand zum Vorzimmer aus, wo dasTelephon war, »bitte, telephonieren Sie doch.« »Nein, ich willnicht mehr«, sagte K. und ging zum Fenster. Drüben war nochdie Gesellschaft beim Fenster und schien nur jetzt dadurch,daß K. ans Fenster herangetreten war, in der Ruhe des Zu-schauens ein wenig gestört. Die Alten wollten sich erheben,aber der Mann hinter ihnen beruhigte sie. »Dort sind auchsolche Zuschauer«, rief K. ganz laut dem Aufseher zu undzeigte mit dem Zeigefinger hinaus. »Weg von dort«, rief erdann hinüber. Die drei wichen auch sofort ein paar Schrittezurück, die beiden Alten sogar noch hinter den Mann, der siemit seinem breiten Körper deckte und, nach seinen Mund-bewegungen zu schließen, irgendetwas auf die Entfernung hinUnverständliches sagte. Ganz aber verschwanden sie nicht,sondern schienen auf den Augenblick zu warten, in dem siesich unbemerkt wieder dem Fenster nähern könnten. »Zudring-liche, rücksichtslose Leute!« sagte K., als er sich ins Zimmer

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zurückwendete. Der Aufseher stimmte ihm möglicherweisezu, wie K. mit einem Seitenblick zu erkennen glaubte. Aber eswar ebensogut möglich, daß er gar nicht zugehört hatte, denner hatte eine Hand fest auf den Tisch gedrückt und schien dieFinger ihrer Länge nach zu vergleichen. Die zwei Wächtersaßen auf einem mit einer Schmuckdecke verhüllten Kofferund rieben ihre Knie. Die drei jungen Leute hatten die Händein die Hüften gelegt und sahen ziellos herum. Es war still wiein irgendeinem vergessenen Büro. »Nun, meine Herren«, riefK., es schien ihm einen Augenblick lang, als trage er alle aufseinen Schultern, »Ihrem Aussehen nach zu schließen, dürftemeine Angelegenheit beendet sein. Ich bin der Ansicht, daß esam besten ist, über die Berechtigung oder NichtberechtigungIhres Vorgehens nicht mehr nachzudenken und der Sachedurch einen gegenseitigen Händedruck einen versöhnlichenAbschluß zu geben. Wenn auch Sie meiner Ansicht sind, dannbitte –« und er trat an den Tisch des Aufsehers hin und reichteihm die Hand. Der Aufseher hob die Augen, nagte an denLippen und sah auf K.s ausgestreckte Hand; noch immer glaub-te K., der Aufseher werde einschlagen. Dieser aber stand auf,nahm einen harten, runden Hut, der auf Fräulein BürstnersBett lag, und setzte sich ihn vorsichtig mit beiden Händen auf,wie man es bei der Anprobe neuer Hüte tut. »Wie einfachIhnen alles scheint!« sagte er dabei zu K., »wir sollten der Sacheeinen versöhnlichen Abschluß geben, meinten Sie? Nein, nein,das geht wirklich nicht. Womit ich andererseits durchaus nichtsagen will, daß Sie verzweifeln sollen. Nein, warum denn? Siesind nur verhaftet, nichts weiter. Das hatte ich Ihnen mitzutei-len, habe es getan und habe auch gesehen, wie Sie es aufge-nommen haben. Damit ist es für heute genug und wir könnenuns verabschieden, allerdings nur vorläufig. Sie werden wohljetzt in die Bank gehen wollen?« »In die Bank ?« fragte K., »ichdachte, ich wäre verhaftet.« K. fragte mit einem gewissenTrotz, denn obwohl sein Handschlag nicht angenommen wor-den war, fühlte er sich, insbesondere seitdem der Aufseheraufgestanden war, immer unabhängiger von allen diesenLeuten. Er spielte mit ihnen. Er hatte die Absicht, falls sie

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weggehen sollten, bis zum Haustor nachzulaufen und ihnenseine Verhaftung anzubieten. Darum wiederholte er auch: »Wiekann ich denn in die Bank gehen, da ich verhaftet bin?« »Achso«, sagte der Aufseher, der schon bei der Tür war, »Sie habenmich mißverstanden. Sie sind verhaftet, gewiß, aber das sollSie nicht hindern, Ihren Beruf zu erfüllen. Sie sollen auch inIhrer gewöhnlichen Lebensweise nicht gehindert sein.« »Dannist das Verhaftetsein nicht sehr schlimm«, sagte K. und gingnahe an den Aufseher heran. »Ich meinte es niemals anders«,sagte dieser. »Es scheint aber dann nicht einmal die Mitteilungder Verhaftung sehr notwendig gewesen zu sein«, sagte K.und ging noch näher. Auch die anderen hatten sich genähert.Alle waren jetzt auf einem engen Raum bei der Tür versam-melt. »Es war meine Pflicht«, sagte der Aufseher. »Eine dum-me Pflicht«, sagte K. unnachgiebig. »Mag sein«, antworteteder Aufseher, »aber wir wollen mit solchen Reden nicht unsereZeit verlieren. Ich hatte angenommen, daß Sie in die Bankgehen wollen. Da Sie auf alle Worte aufpassen, füge ich hinzu:ich zwinge Sie nicht, in die Bank zu gehen, ich hatte nurangenommen, daß Sie es wollen. Und um Ihnen das zu erleich-tern und Ihre Ankunft in der Bank möglichst unauffällig zumachen, habe ich diese drei Herren, Ihre Kollegen, hier zuIhrer Verfügung gehalten.« »Wie?« rief K. und staunte die dreian. Diese so uncharakteristischen, blutarmen, jungen Leute,die er immer noch nur als Gruppe bei den Photographien inder Erinnerung hatte, waren tatsächlich Beamte aus seinerBank, nicht Kollegen, das war zu viel gesagt und bewies eineLücke in der Allwissenheit des Aufsehers, aber untergeordne-te Beamte aus der Bank waren es allerdings. Wie hatte K. dasübersehen können? Wie hatte er doch hingenommen seinmüssen von dem Aufseher und den Wächtern, um diese dreinicht zu erkennen! Den steifen, die Hände schwingenden Raben-steiner, den blonden Kullich mit den tiefliegenden Augen undKaminer mit dem unausstehlichen, durch eine chronische Mus-kelzerrung bewirkten Lächeln. »Guten Morgen!« sagte K. nacheinem Weilchen und reichte den sich korrekt verbeugendenHerren die Hand. »Ich habe Sie gar nicht erkannt. Nun werden

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Josef K. ist durch die plötzlich völ-

lig veränderte Lage selbst zu-

tiefst verunsichert. Er fühlt sich

gestört und von außen unange-

nehm beobachtet, wundert sich,

dass Frau Grubach, seine Vermie-

terin, keineswegs schuldbe-

wusst aussieht, möchte nach sei-

nem Freund, dem Staatsanwalt,

rufen, lässt es dann aber sein,

dringt in das Zimmer von Fräu-

lein Bürstner ein und erkennt

drei niedrige Bankangestellte,

die sich darin aufhalten, nicht.

Angesichts dieser allgemeinen

Verwirrung bleibt es nicht aus,

dass K. immer wieder Fehl-

deutungen unterlaufen, dass

Missverständnisse und Irrtümer

aufgeklärt werden müssen, weil

er die neuen Verhältnisse nicht

in sein bisheriges Leben einzu-

ordnen, mit ihm in Einklang zu

bringen vermag. Er ist zwar

einerseits verhaftet, aber das soll

ihn andererseits keineswegs

daran hindern, seinen Beruf zu

erfüllen, beziehungsweise seine

gewöhnliche Lebensweise fort-

zusetzen. Offenbar muss K. nach

der Verhaftung sein Leben auf

zwei verschiedenen Ebenen füh-

ren, die mit verschiedenen Maß-

stäben gemessen werden. Sie

berühren sich mitunter, durch-

dringen einander oder schließen

sich sogar aus.

wir also an die Arbeit gehen, nicht?« Die Her-ren nickten lachend und eifrig, als hätten siedie ganze Zeit über darauf gewartet, nur alsK. seinen Hut vermißte, der in seinem Zim-mer liegengeblieben war, liefen sie sämtlichhintereinander, ihn holen, was immerhin aufeine gewisse Verlegenheit schließen ließ. K.stand still und sah ihnen durch die zwei offe-nen Türen nach, der letzte war natürlich dergleichgültige Rabensteiner, der bloß einen ele-ganten Trab angeschlagen hatte. Kaminerüberreichte den Hut, und K. mußte sich, wiedies übrigens auch öfters in der Bank nötigwar, ausdrücklich sagen, daß Kaminers Lä-cheln nicht Absicht war, ja daß er überhauptabsichtlich nicht lächeln konnte. Im Vorzim-mer öffnete dann Frau Grubach, die gar nichtsehr schuldbewußt aussah, der ganzen Ge-sellschaft die Wohnungstür, und K. sah, wieso oft, auf ihr Schürzenband nieder, das sounnötig tief in ihren mächtigen Leib ein-schnitt. Unten entschloß sich K., die Uhr inder Hand, ein Automobil zu nehmen, um dieschon halbstündige Verspätung nicht unnö-tig zu vergrößern. Kaminer lief zur Ecke, umden Wagen zu holen, die zwei anderen ver-suchten offensichtlich, K. zu zerstreuen, alsplötzlich Kullich auf das gegenüberliegendeHaustor zeigte, in dem eben der große Mannmit dem blonden Spitzbart erschien und, imersten Augenblick ein wenig verlegen dar-über, daß er sich jetzt in seiner ganzen Größezeigte, zur Wand zurücktrat und sich anlehn-te. Die Alten waren wohl noch auf der Trep-pe. K. ärgerte sich über Kullich, daß dieserauf den Mann aufmerksam machte, den erselbst schon früher gesehen, ja den er sogarerwartet hatte. »Schauen Sie nicht hin!« stieß

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So konnte es geschehen,

dass ihm während der

Mitteilung seiner Verhaf-

tung die drei Angestell-

ten der Bank verborgen

blieben, die ihm dann

anschließend, nachdem

er sie erkannt hatte, das

Weggehen des Aufsehers

und der Wächter verdeck-

ten. Trotzdem kommt

allen Personen, die bisher

irgendwie in das Gesche-

hen einbezogen sind,

noch eine aufschlussrei-

che Rolle zu. Frau Gru-

bach, der Staatsanwalt,

Fräulein Bürstner und die

drei untergeordneten An-

gestellten der Bank wer-

den zu Prüfsteinen in K.s

neuem Lebensverständ-

nis.

Für das Handlungsgeschehen wählt Kafka künstlerisch den Verlauf eines Jahres, von

einem Frühjahr zum anderen, in dem lediglich die letzte Nacht fehlt. Es beginnt also

am Morgen von K.s dreißigstem Geburtstag und endet am Vorabend seines einund-

dreißigsten. In der Literatur wird sehr häufig das 30. Lebensjahr eines Menschen als

Wendepunkt gestaltet. Bis dahin hat er das Leben meist unmittelbar gelebt, Erfah-

rungen gesammelt, Ziele erreicht, die Zukunft ist einigermaßen absehbar, so dass

sich die verständliche Frage aufdrängt, ob der gegangene Weg richtig, das Erreichte

sinnvoll und das Ziel erstrebenswert waren. Es ist ein Zeitpunkt, über sich und seine

Bestimmung nachzudenken oder die schwerwiegende Aufgabe auf sich zu nehmen,

wie Kafka selbst sagt, »daß man sein Leben nochmals mit dem Blick der Erkenntis

durchnehmen muß, wobei das Schlimmste nicht die Durchsicht der offenbaren Unta-

ten ist, sondern jener Taten, die man einstmals für gut gehalten hat.« (M 21) – Mit dem

dichterischen Bild der Verhaftung wird bei Josef K. dieser Prozess eingeleitet, aus dem

er sich bis an sein Ende nicht mehr zu lösen vermag, dem er verhaftet bleibt.

er hervor, ohne zu bemerken, wie auffallend einesolche Redeweise gegenüber selbständigen Män-nern war. Es war aber auch keine Erklärung nötig,denn gerade kam das Automobil, man setzte sichund fuhr los. Da erinnerte sich K., daß er das Wegge-hen des Aufsehers und der Wächter gar nicht be-merkt hatte, der Aufseher hatte ihm die drei Beam-ten verdeckt und nun wieder die Beamten den Auf-seher.

Viel Geistesgegenwart bewies das nicht, und K.nahm sich vor, sich in dieser Hinsicht genauer zubeobachten. Doch drehte er sich noch unwillkürlichum und beugte sich über das Hinterdeck des Auto-mobils vor, um möglicherweise den Aufseher unddie Wächter noch zu sehen. Aber gleich wendete ersich wieder zurück und lehnte sich bequem in dieWagenecke, ohne auch nur den Versuch gemacht zuhaben, jemanden zu suchen. Obwohl es nicht denAnschein hatte, hätte er gerade jetzt Zuspruch nötiggehabt, aber nun schienen die Herren ermüdet,Rabensteiner sah rechts aus dem Wagen, Kullichlinks, und nur Kaminer stand mit seinem Grinsenzur Verfügung, über das einen Spaß zu machen lei-der die Menschlichkeit verbot.

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Der neue Abschnitt beginnt mit einem

Rückblick in das übliche Leben K.s bis zu

der plötzlichen Veränderung durch sei-

ne Verhaftung. Sein ungewöhnlicher

Fleiß, sein großes Ansehen bei seinem

Chef, dem Bankdirektor, und die eindeu-

tige Absicht seiner wöchentlichen Besu-

che bei der Kellnerin Elsa werden ebenso

erwähnt wie die Bedeutung eines

Stammtisches, der so wichtig ist, dass

Kafka ihm ein eigenes Kapitel widmet.

Weil es sich dabei um das einzige Kapitel

handelt, das vor der Verhaftung spielt,

ist es für deren Ursache äußerst auf-

schlussreich, denn es enthält den Schlüs-

sel zum Verständnis der Umwandlung

in Josef K.s Lebensgestaltung. Zu die-

sem Rückblick findet Josef K. nach dem

Scheitern seiner Bemühungen um Fräu-

lein Bürstner die notwendige Zeit, also

in der Woche zwischen dem ersten und

dem zweiten Sonntag nach seiner Ver-

haftung. Das Kapitel „Staatsanwalt“ ent-

hält das richtungsweisende Ergebnis.

In diesem Frühjahr pflegte K. die Abende in der Weise zuverbringen, daß er nach der Arbeit, wenn dies noch möglichwar – er saß meistens bis neun Uhr im Büro –, einen kleinenSpaziergang allein oder mit Beamten machte und dann in eine

Bierstube ging, wo er an einem Stamm-tisch mit meist älteren Herren gewöhn-lich bis elf Uhr beisammensaß. Es gababer auch Ausnahmen von dieser Ein-teilung, wenn K. zum Beispiel vomBankdirektor, der seine Arbeitskraftund Vertrauenswürdigkeit sehrschätzte, zu einer Autofahrt oder zueinem Abendessen in seiner Villa ein-geladen wurde. Außerdem ging K. ein-mal in der Woche zu einem Mädchennamens Elsa, die während der Nachtbis in den späten Morgen als Kellnerinin einer Weinstube bediente und wäh-rend des Tages nur vom Bett aus Besu-che empfing.

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GESPRÄCH MIT FRAU GRUBACH

An diesem Abend aber – der Tag war unter angestrengterArbeit und vielen ehrenden und freundschaftlichen Geburtstags-wünschen schnell verlaufen – wollte K. sofort nach Hause ge-hen. In allen kleinen Pausen der Tagesarbeit hatte er darangedacht; ohne genau zu wissen, was er meinte, schien es ihm, alsob durch die Vorfälle des Morgens eine große Unordnung in derganzenWohnung der Frau Grubach verursacht worden sei unddaß gerade er nötig sei, um die Ordnung wiederher-zustellen. War aber einmal diese Ordnung herge-stellt, dann war jede Spur jener Vorfälle ausgelöschtund alles nahm seinen alten Gang wieder auf. Insbe-sondere von den drei Beamten war nichts zu be-fürchten, sie waren wieder in die große Beamten-schaft der Bank versenkt, es war keine Veränderungan ihnen zu bemerken. K. hatte sie öfters einzeln undgemeinsam in sein Büro berufen, zu keinem ande-rem Zweck, als um sie zu beobachten; immer hatte ersie befriedigt entlassen können.

Als er um halb zehn Uhr abends vor dem Hause,in dem er wohnte, ankam, traf er im Haustor einenjungen Burschen, der dort breitbeinig stand undeine Pfeife rauchte. »Wer sind Sie?« fragte K. sofortund brachte sein Gesicht nahe an den Burschen,man sah nicht viel im Halbdunkel des Flurs. »Ichbin der Sohn des Hausmeisters, gnädiger Herr«,antwortete der Bursche, nahm die Pfeife aus demMund und trat zur Seite. »Der Sohn des Hausmeis-ters?« fragte K. und klopfte mit seinem Stock unge-duldig den Boden. »Wünscht der gnädige Herr et-was? Soll ich den Vater holen?« »Nein, nein«, sagteK., in seiner Stimme lag etwas Verzeihendes, alshabe der Bursche etwas Böses ausgeführt, er aberverzeihe ihm. »Es ist gut«, sagte er dann und gingweiter, aber ehe er die Treppe hinaufstieg, drehte ersich noch einmal um.

Nach dem kurzen Rück-

blick in K.s bisheriges Le-

ben werden die aufregen-

den Ereignisse des Mor-

gens am Abend wieder

aufgegriffen.

Während der Arbeit hat-

ten sie ihn nur in den Pau-

sen kurz beunruhigt, aber

keineswegs beeinträch-

tigt. Deshalb will er nun

auch zu Hause ihre Spu-

ren beseitigen und in den

gewohnten Alltag zurück-

finden. In ihm erhält er

zum Beispiel im Gegen-

satz zu den Wächtern auf

seine klare Frage: »Wer

sind Sie?« eine ebenso ein-

deutige Antwort: »Ich bin

der Sohn des Hausmeis-

ters«. Obwohl er damit zu-

frieden sein könnte, bleibt

K. spürbar verunsichert.

Zweifellos hat sich in ihm

selbst etwas verändert.

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Er hätte geradewegs in sein Zimmer gehen können, aber daer mit Frau Grubach sprechen wollte, klopfte er gleich an ihreTür an. Sie saß mit einem Strickstrumpf am Tisch, auf demnoch ein Haufen alter Strümpfe lag. K. entschuldigte sich zer-streut, daß er so spät komme, aber Frau Grubach war sehrfreundlich und wollte keine Entschuldigung hören, für ihn seisie immer zu sprechen, er wisse sehr gut, daß er ihr bester undliebster Mieter sei. K. sah sich im Zimmer um, es war wiedervollkommen in seinem alten Zustand, das Frühstücksgeschirr,das früh auf dem Tischchen beim Fenster gestanden hatte, warauch schon weggeräumt. »Frauenhände bringen doch im Stil-len viel fertig«, dachte er, er hätte das Geschirr vielleicht aufder Stelle zerschlagen, aber gewiß nicht hinaustragen können.Er sah Frau Grubach mit einer gewissen Dankbarkeit an. »Wa-rum arbeiten Sie noch so spät?« fragte er. Sie saßen nun beideam Tisch, und K. vergrub von Zeit zu Zeit seine Hand in dieStrümpfe. »Es gibt viel Arbeit«, sagte sie, »während des Tagesgehöre ich den Mietern; wenn ich meine Sachen in Ordnungbringen will, bleiben mir nur die Abende.« »Ich habe Ihnenheute wohl noch eine außergewöhnliche Arbeit gemacht?«»Wieso denn?« fragte sie, etwas eifriger werdend, die Arbeitruhte in ihrem Schoße. »Ich meine die Männer, die heute frühhier waren.« »Ach so«, sagte sie und kehrte wieder in ihreRuhe zurück, »das hat mir keine besondere Arbeit gemacht.«K. sah schweigend zu, wie sie den Strickstrumpf wieder vor-nahm. Sie scheint sich zu wundern, daß ich davon spreche,dachte er, sie scheint es nicht für richtig zu halten, daß ichdavon spreche. Desto wichtiger ist es, daß ich es tue. Nur miteiner alten Frau kann ich davon sprechen. »Doch, Arbeit hat esgewiß gemacht«, sagte er dann, »aber es wird nicht wiedervorkommen.« »Nein, das kann nicht wieder vorkommen«,sagte sie bekräftigend und lächelte K. fast wehmütig an. »Mei-nen Sie das ernstlich?« fragte K. »Ja«, sagte sie leiser, »aber vorallem dürfen Sie es nicht zu schwer nehmen. Was geschiehtnicht alles in der Welt! Da Sie so vertraulich mit mir reden, HerrK., kann ich Ihnen ja eingestehen, daß ich ein wenig hinter derTür gehorcht habe und daß mir auch die beiden Wächter

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einiges erzählt haben. Es handelt sich ja um Ihr Glück und dasliegt mir wirklich am Herzen, mehr als mir vielleicht zusteht,denn ich bin ja bloß die Vermieterin. Nun, ich habe also einigesgehört, aber ich kann nicht sagen, daß es etwas besondersSchlimmes war. Nein. Sie sind zwar verhaftet, aber nicht so wieein Dieb verhaftet wird. Wenn man wie ein Dieb verhaftetwird, so ist es schlimm, aber diese Verhaftung? – Es kommt mirwie etwas Gelehrtes vor, entschuldigen Sie, wenn ich etwasDummes sage, es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor, das ichzwar nicht verstehe, das man aber auch nicht verstehen muß.«

»Es ist gar nichts Dummes, was Sie gesagt haben, Frau Gru-bach, wenigstens bin auch ich zum Teil Ihrer Meinung, nururteile ich über das Ganze noch schärfer als Sie und halte eseinfach nicht einmal für etwas Gelehrtes, sondern überhauptfür nichts. Ich wurde überrumpelt, das war es. Wäre ich gleichnach dem Erwachen, ohne mich durch das Ausbleiben derAnna beirren zu lassen, aufgestanden und ohne Rücksicht aufirgendjemand, der mir in den Weg getreten wäre, zu Ihnengegangen, hätte ich diesmal ausnahmsweise etwa in der Kü-che gefrühstückt, hätte mir von Ihnen die Kleidungsstücke ausmeinem Zimmer bringen lassen, kurz, hätte ich vernünftiggehandelt, so wäre nichts weiter geschehen, es wäre alles, waswerden wollte, erstickt worden. Man ist aber so wenig vorbe-reitet. In der Bank zum Beispiel bin ich vorbereitet, dort könntemir etwas Derartiges unmöglich geschehen, ich habe dort ei-nen eigenen Diener, das allgemeine Telephon und das Büro-telephon stehen vor mir auf dem Tisch, immerfort kommenLeute, Parteien und Beamte, außerdem aber und vor allem binich dort immerfort im Zusammenhang der Arbeit, daher geis-tesgegenwärtig, es würde mir geradezu ein Vergnügen ma-chen, dort einer solchen Sache gegenübergestellt zu werden.Nun, es ist vorüber und ich wollte eigentlich auch gar nichtmehr darüber sprechen, nur Ihr Urteil, das Urteil einer ver-nünftigen Frau, wollte ich hören und bin sehr froh, daß wirdarin übereinstimmen. Nun müssen Sie mir aber die Handreichen, eine solche Übereinstimmung muß durch Handschlagbekräftigt werden.«

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Ebenso ist in der Wohnung wieder alles in Ordnung.

Frau Grubach begegnet ihm wie immer, und nicht

sie, sondern er bringt die Vorfälle des Morgens ins

Gespräch, weil sie ihn nicht mehr loslassen, weil er

ihnen verhaftet bleibt. Dadurch erfährt nun der Le-

ser aus dem Munde einer gutmütigen und einfälti-

gen alten Frau, sozusagen von außen,etwas über

die Eindrücke, die sie von dem Ganzen gewonnen

hat. Zunächst ist es ganz sicher nichts Schlimmes,

denn in einem juristischen Sinn hat K. bestimmt

nichts Böses getan. Er wird nicht wie ein Dieb ver-

haftet, sondern ganz im Gegenteil, er soll an sein

wahres Glück herangeführt werden, und das ist ein

Vorgang, der sich im geistig-seelischen Bereich ab-

spielt, also der einfachen Frau wie etwas Gelehrtes

vorkommt, das ihren eigenen Horizont übersteigt.

Weil Josef K. aber die damit verbundenen anstren-

genden Anforderungen und Pflichten ahnt, weil er

die unendliche Aufgabe fürchtet, zeigt er die Mög-

lichkeiten auf, wie man sich einer derartigen Recht-

fertigung und Verantwortung entziehen kann, wie

er seine Verhaftung hätte verhindern sollen. Aber

seine nachträglichen Lösungsempfehlungen sind

ebenso anspruchlos wie vergeblich. Wer einmal von

Höherem berührt worden ist, kann nicht mehr im

vordergründigen gedankenlosen Alltagstrott unter-

gehen wollen. Er kann nicht mehr im lückenlosen

Zusammenhang seiner Büroarbeit, die ihn nicht ei-

nen Augenblick zur Besinnung kommen läßt, seine

Erfüllung finden. Indem er aber widersinnig diese

Besinnungslosigkeit gerade für Geistesgegenwart

hält und dafür die Zustimmung der alten Frau ein-

holen will, wird ihm plötzlich die Wertlosigkeit sei-

ner Fluchtversuche bewusst. K. nimmt einen neuen

Anlauf, und der zielt auf Fräulein Bürstner, die in

das Umfeld der Verhaftung einbezogen war.

Ob sie mir die Hand rei-chen wird? Der Aufseherhat mir die Hand nicht ge-reicht, dachte er und sah dieFrau anders als früher, prü-fend an. Sie stand auf, weilauch er aufgestanden war,sie war ein wenig befangen,weil ihr nicht alles, was K.gesagt hatte, verständlichgewesen war. Infolge die-ser Befangenheit sagte sieaber etwas, was sie gar nichtwollte und was auch garnicht am Platze war: »Neh-men Sie es doch nicht soschwer, Herr K.«, sagte sie,hatte Tränen in der Stimmeund vergaß natürlich auchden Handschlag. »Ich wüß-te nicht, daß ich es schwernehme«, sagte K., plötzlichermüdet und das Wertlosealler Zustimmungen dieserFrau einsehend.

Bei der Tür fragte er noch:»Ist Fräulein Bürstner zuHause?« »Nein«, sagte FrauGrubach und lächelte beidieser trockenen Auskunftmit einer verspäteten ver-nünftigen Teilnahme. »Sieist im Theater. Wollten Sieetwas von ihr? Soll ich ihretwas ausrichten?« »Ach,ich wollte nur ein paar Wor-te mit ihr reden.« »Ich weiß

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leider nicht, wann sie kommt; wenn sie im Theater ist, kommtsie gewöhnlich spät.« »Das ist ja ganz gleichgültig«, sagte K.und drehte schon den gesenkten Kopf der Tür zu, um wegzu-gehen, »ich wollte mich nur bei ihr entschuldigen, daß ichheute ihr Zimmer in Anspruch genommen habe.« »Das istnicht nötig, Herr K., Sie sind zu rücksichtsvoll, das Fräuleinweiß ja von gar nichts, sie war seitdem frühen Morgen noch nicht zuHause, es ist auch schon alles inOrdnung gebracht, sehen Sieselbst.« Und sie öffnete die Tür zuFräulein Bürstners Zimmer. »Dan-ke, ich glaube es«, sagte K., gingdann aber doch zu der offenen Tür.Der Mond schien still in das dunk-le Zimmer. Soviel man sehen konn-te, war wirklich alles an seinemPlatz, auch die Bluse hing nichtmehr an der Fensterklinke. Auffal-lend hoch schienen die Polster imBett, sie lagen zum Teil im Mond-licht. »Das Fräulein kommt oft spätnach Hause«, sagte K. und sah FrauGrubach an, als trage sie die Ver-antwortung dafür. »Wie eben jun-ge Leute sind!« sagte Frau Gru-bach entschuldigend. »Gewiß, ge-wiß«, sagte K., »es kann aber zuweit gehen.« »Das kann es«, sagteFrau Grubach, »wie sehr haben Sierecht, Herr K. Vielleicht sogar indiesem Fall. Ich will FräuleinBürstner gewiß nicht verleumden,sie ist ein gutes, liebes Mädchen,freundlich, ordentlich, pünktlich,arbeitsam, ich schätze das allessehr, aber eines ist wahr, sie sollte

Im Manuskript Kafkas erscheint ihr Name

meist abgekürzt nur als F.B., also den Initi-

alen seiner Verlobten Felice Bauer. Mit die-

sem Hinweis wird die Ernsthaftigkeit einer

Beziehung zwischen Mann und Frau, wie er

sie mit ihr erlebt hat, auf der Ebene der Ver-

haftung angedeutet. In einem Aphorismus

heißt es: »Die Frau, noch schärfer ausge-

drückt vielleicht, die Ehe ist der Repräsen-

tant des Lebens, mit dem du dich auseinan-

dersetzen sollst.« (H 118) – Obwohl K. bisher

mit Fräulein Bürstner nicht viel mehr als die

Grußworte gewechselt hat, drängt er nach

den Vorfällen des Morgens unbedingt auf

eine Begegnung. Der Anblick ihres vom

Mondlicht beschienenen Zimmers, die hoch

aufgerichteten Polster im Bett und die Er-

innerung an ihre weiße Bluse an der

Fensterklinke verraten bereits jetzt etwas

von K.s Gefühlen für das offenbar liebens-

werte Mädchen. Vorsichtig erfährt er eini-

ges von Frau Grubach, gerät jedoch bei den

leisesten Verdächtigungen sogleich in Zorn,

nimmt Fräulein Bürstner wütend in Schutz

und behauptet empört, aber wahrheits-

widrig, er kenne das Fräulein sehr gut. Josef

K. ist augenscheinlich verliebt. Aber wird

diese Liebe den neuen Anforderungen, die

nach seiner Verhaftung an ihn gestellt wer-

den, auch standhalten?

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Das bisher untadelige Ansehen des besten und liebsten Mieters der Pension hat

jedenfalls in ihm selbst einen unerklärlichen Schaden genommen, so dass er am Ende

des Abschnitts sogar selbstanklägerisch ruft: »Wenn Sie die Pension rein erhalten

wollen, müssen Sie zuerst mir kündigen.« Mit Josef K.s unbekümmerter Selbstsicher-

heit scheint es vorbei zu sein.

stolzer, zurückhaltender sein. Ich habe sie in diesem Monatschon zweimal in entlegenen Straßen und immer mit einemandern Herrn gesehen. Es ist mir sehr peinlich, ich erzähle es,beim wahrhaftigen Gott, nur Ihnen, Herr K., aber es wird sichnicht vermeiden lassen, daß ich auch mit dem Fräulein selbstdarüber spreche. Es ist übrigens nicht das Einzige, das sie mirverdächtig macht.« »Sie sind auf ganz falschem Weg«, sagte K.wütend und fast unfähig, es zu verbergen, »übrigens haben Sieoffenbar auch meine Bemerkung über das Fräulein mißver-standen, so war es nicht gemeint. Ich warne Sie sogar aufrich-tig, dem Fräulein irgendetwas zu sagen, Sie sind durchaus imIrrtum, ich kenne das Fräulein sehr gut, es ist nichts davonwahr, was Sie sagten. Übrigens, vielleicht gehe ich zu weit, ichwill Sie nicht hindern, sagen Sie ihr, was Sie wollen. GuteNacht.« »Herr K.«, sagte Frau Grubach bittend und eilte K. biszu seiner Tür nach, die er schon geöffnet hatte, »ich will ja nochgar nicht mit dem Fräulein reden, natürlich will ich sie vorhernoch weiter beobachten, nur Ihnen habe ich anvertraut, wasich wußte. Schließlich muß es doch im Sinne jedes Mieters sein,wenn man die Pension rein zu erhalten sucht, und nichts ande-res ist mein Bestreben dabei.« »Die Reinheit!« rief K. nochdurch die Spalte der Tür, »wenn Sie die Pension rein erhaltenwollen, müssen Sie zuerst mir kündigen.« Dann schlug er dieTür zu, ein leises Klopfen beachtete er nicht mehr.

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FRÄULEIN BÜRSTNER

Dagegen beschloß er, da er gar keine Lust zum Schlafen hatte,noch wachzubleiben und bei dieser Gelegenheit auch festzu-stellen, wann Fräulein Bürstner kommen würde. Vielleicht wärees dann auch möglich, so unpassend es sein mochte, noch einpaar Worte mit ihr zu reden. Als er im Fenster lag und diemüden Augen drückte, dachte er einen Augenblick sogar da-ran, Frau Grubach zu bestrafen und Fräulein Bürstner zu über-reden, gemeinsam mit ihm zu kündigen. Sofort aber erschienihm das entsetzlich übertrieben, und er hatte sogar den Ver-dacht gegen sich, daß er darauf ausging, die Wohnung wegender Vorfälle am Morgen zu wechseln. Nichts wäre unsinnigerund vor allem zweckloser und verächtlicher gewesen.

Als er des Hinausschauens aufdie leere Straße überdrüssig ge-worden war, legte er sich auf dasKanapee, nachdem er die Tür zumVorzimmer ein wenig geöffnethatte, um jeden, der die Wohnungbetrat, gleich vom Kanapee aussehen zu können. Etwa bis elf Uhrlag er ruhig, eine Zigarre rau-chend, auf dem Kanapee. Von daab hielt er es aber nicht mehr dortaus, sondern ging ein wenig insVorzimmer, als könne er dadurchdie Ankunft des Fräulein Bürstner beschleunigen. Er hattekein besonderes Verlangen nach ihr, er konnte sich nicht ein-mal genau erinnern, wie sie aussah, aber nun wollte er mit ihrreden und es reizte ihn, daß sie durch ihr spätes Kommen auchnoch in den Abschluß dieses Tages Unruhe und Unordnungbrachte. Sie war auch schuld daran, daß er heute nicht zuAbend gegessen und daß er den für heute beabsichtigten Be-such bei Elsa unterlassen hatte. Beides konnte er allerdingsnoch dadurch nachholen, daß er jetzt in das Weinlokal ging, indem Elsa bedienstet war. Er wollte es auch noch später nachder Unterredung mit Fräulein Bürstner tun.

Nach dem letztlich erfolglosen Gespräch mit

der alten Vermieterin sucht Josef K. jetzt vor

allem die Unterredung mit einer ansprechen-

den jungen Frau. Seine innere Unruhe läßt

ihn dafür lange warten, auf das Abendessen

verzichten – wie bereits am Morgen auf das

Frühstück – und den Besuch bei seiner Kell-

nerin unterlassen. Denn durch die Verhaf-

tung wird auch seine Beziehung zur Frau auf

eine höhere Ebene gehoben. K. steht zwei-

fellos vor einer ersten Bewährungsprobe.

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Es war halb zwölf vorüber, als jemand im Treppenhaus zuhören war. K., der, seinen Gedanken hingegeben, im Vorzim-mer so, als wäre es sein eigenes Zimmer, laut auf und ab ging,flüchtete hinter seine Tür. Es war Fräulein Bürstner, die ge-kommen war. Fröstelnd zog sie, während sie die Tür versperr-te, einen seidenen Schal um ihre schmalen Schultern zusam-men. Im nächsten Augenblick mußte sie in ihr Zimmer gehen,in das K. gewiß um Mitternacht nicht eindringen durfte; ermußte sie also jetzt ansprechen, hatte aber unglücklicherweiseversäumt, das elektrische Licht in seinem Zimmer anzudre-hen, so daß sein Vortreten aus dem dunklen Zimmer denAnschein eines Überfalls hatte und wenigstens sehr erschre-cken mußte. In seiner Hilflosigkeit und da keine Zeit zu verlie-ren war, flüsterte er durch den Türspalt: »Fräulein Bürstner.«Es klang wie eine Bitte, nicht wie ein Anruf. »Ist jemand hier?«fragte Fräulein Bürstner und sah sich mit großen Augen um.»Ich bin es«, sagte K. und trat vor. »Ach, Herr K.!« sagte Fräu-lein Bürstner lächelnd. »Guten Abend«, und sie reichte ihm dieHand. »Ich wollte ein paar Worte mit Ihnen sprechen, wollenSie mir das jetzt erlauben?« »Jetzt?« fragte Fräulein Bürstner,»muß es jetzt sein? Es ist ein wenig sonderbar, nicht?« »Ichwarte seit neun Uhr auf Sie.« »Nun ja, ich war im Theater, ichwußte doch nichts von Ihnen.« »Der Anlaß für das, was ichIhnen sagen will, hat sich erst heute ergeben.« »So, nun ichhabe ja nichts Grundsätzliches dagegen, außer daß ich zumHinfallen müde bin. Also kommen Sie auf ein paar Minuten inmein Zimmer. Hier können wir uns auf keinen Fall unterhal-ten, wir wecken ja alle und das wäre mir unseretwegen nochunangenehmer als der Leute wegen. Warten Sie hier, bis ich inmeinem Zimmer angezündet habe, und drehen Sie dann hierdas Licht ab.« K. tat so, wartete dann aber noch, bis FräuleinBürstner ihn aus ihrem Zimmer nochmals leise aufforderte zukommen. »Setzen Sie sich«, sagte sie und zeigte auf die Otto-mane, sie selbst blieb aufrecht am Bettpfosten trotz der Müdig-keit, von der sie gesprochen hatte; nicht einmal ihren kleinen,aber mit einer Überfülle von Blumen geschmückten Hut legtesie ab. »Was wollten Sie also? Ich bin wirklich neugierig.« Sie

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kreuzte leicht die Beine. »Sie werden vielleicht sagen«, begannK., »daß die Sache nicht so dringend war, um jetzt besprochenzu werden, aber – « »Einleitungen überhöre ich immer«, sagteFräulein Bürstner. »Das erleichtert meine Aufgabe«, sagte K.»Ihr Zimmer ist heute früh, gewissermaßen durch meineSchuld, ein wenig in Unordnung gebracht worden, es geschahdurch fremde Leute gegen meinen Willen und doch, wie ge-sagt, durch meine Schuld; dafür wollte ich um Entschuldigungbitten.« »Mein Zimmer?« fragte Fräulein Bürstner und sahstatt des Zimmers K. prüfend an. »Es ist so«, sagte K., und nunsahen beide einander zum erstenmal in die Augen, »die Artund Weise, in der es geschah, ist an sich keines Wortes wert.«»Aber doch das eigentlich Interessante«, sagte FräuleinBürstner. »Nein«, sagte K. »Nun«, sagte Fräulein Bürstner, »ichwill mich nicht in Geheimnisse eindrängen, bestehen Sie da-rauf, daß es uninteressant ist, so will ich auch nichts dagegeneinwenden. Die Entschuldigung, um die Sie bitten, gebe ichIhnen gern, besonders da ich keine Spur einer Unordnungfinden kann.« Sie machte, die flachen Hände tief an die Hüftengelegt, einen Rundgang durch das Zimmer. Bei der Matte mitden Photographien blieb sie stehen. »Sehen Sie doch!« rief sie.»Meine Photographien sind wirklich durcheinandergeworfen.Das ist aber häßlich. Es ist also jemand unberechtigterweise inmeinem Zimmer gewesen.« K. nickte und verfluchte im Stillenden Beamten Kaminer, der seine öde, sinnlose Lebhaftigkeitniemals zähmen konnte. »Es ist sonderbar«, sagte FräuleinBürstner, »daß ich gezwungen bin, Ihnen etwas zu verbieten,was Sie sich selbst verbieten müßten, nämlich in meiner Abwe-senheit mein Zimmer zu betreten.« »Ich erklärte Ihnen doch,Fräulein«, sagte K. und ging auch zu den Photographien, »daßnicht ich es war, der sich an Ihren Photographien vergangenhat; aber da Sie mir nicht glauben, so muß ich also eingestehen,daß die Untersuchungskommission drei Bankbeamte mitge-bracht hat, von denen der eine, den ich bei nächster Gelegen-heit aus der Bank hinausbefördern werde, die Photographienwahrscheinlich in die Hand genommen hat. Ja, es war eineUntersuchungskommission hier«, fügte K. hinzu, da ihn das

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Fräulein mit einem fragenden Blick ansah. »Ihretwegen?« fragtedas Fräulein. »Ja«, antwortete K. »Nein!« rief das Fräulein undlachte. »Doch«, sagte K., »glauben Sie denn, daß ich schuldlosbin?« »Nun, schuldlos …«, sagte das Fräulein, »ich will nichtgleich ein vielleicht folgenschweres Urteil aussprechen, auchkenne ich Sie doch nicht, es muß doch schon ein schwererVerbrecher sein, dem man gleich eine Untersuchungs-kommission auf den Leib schickt. Da Sie aber doch frei sind –ich schließe wenigstens aus Ihrer Ruhe, daß Sie nicht aus demGefängnis entlaufen sind – so können Sie doch kein solchesVerbrechen begangen haben.« »Ja«, sagte K., »aber dieUntersuchungskommission kann doch eingesehen haben, daßich unschuldig bin oder doch nicht so schuldig, wie angenom-men wurde.« »Gewiß,das kann sein«, sagte Fräulein Bürstnersehr aufmerksam. »Sehen Sie«, sagte K., »Sie haben nicht vielErfahrung in Gerichtssachen.« »Nein, das habe ich nicht«,sagte Fräulein Bürstner, »und habe es auch schon oft bedauert,denn ich möchte alles wissen, und gerade Gerichtssachen inte-ressieren mich ungemein. Das Gericht hat eine eigentümlicheAnziehungskraft, nicht? Aber ich werde in dieser Richtungmeine Kenntnisse sicher vervollständigen, denn ich trete nächs-ten Monat als Kanzleikraft in ein Advokatenbüro ein.« »Das istsehr gut«, sagte K., »Sie werden mir dann in meinem Prozeßein wenig helfen können.« »Das könnte sein«, sagte FräuleinBürstner, »warum denn nicht? Ich verwende gern meine Kennt-nisse.« »Ich meine es auch im Ernst«, sagte K., »oder zumin-dest in dem halben Ernst, in dem Sie es meinen. Um einenAdvokaten heranzuziehen, dazu ist die Sache doch zu klein-lich, aber einen Ratgeber könnte ich gut brauchen.« »Ja, aberwenn ich Ratgeber sein soll, müßte ich wissen, worum es sichhandelt«, sagte Fräulein Bürstner. »Das ist eben der Haken«,sagte K., »das weiß ich selbst nicht.« »Dann haben Sie sich alsoeinen Spaß aus mir gemacht«, sagte Fräulein Bürstner übermä-ßig enttäuscht, »es war höchst unnötig, sich diese späte Nacht-zeit dazu auszusuchen.« Und sie ging von den Photographienweg, wo sie so lange vereinigt gestanden hatten. »Aber nein,Fräulein«, sagte K., »ich mache keinen Spaß. Daß Sie mir nicht

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glauben wollen! Was ich weiß, habe ich Ihnen schon gesagt.Sogar mehr als ich weiß, denn es war gar keine Untersuchungs-kommission, ich nenne es so, weil ich keinen andern Namendafür weiß. Es wurde gar nichts untersucht, ich wurde nurverhaftet, aber von einer Kommission.« Fräulein Bürstner saßauf der Ottomane und lachte wieder. »Wie war es denn?«fragte sie. »Schrecklich«, sagte K., aber er dachte jetzt gar nichtdaran, sondern war ganz vom Anblick des Fräulein Bürstnerergriffen, die das Gesicht auf eine Hand stützte – der Ellbogenruhte auf dem Kissen der Ottomane – während die andereHand langsam die Hüfte strich. »Das ist zu allgemein«, sagteFräulein Bürstner. »Was ist zu allgemein?« fragte K. Dannerinnerte er sich und fragte: »Soll ich Ihnen zeigen, wie esgewesen ist?« Er wollte Bewegung machen und doch nichtweggehen. »Ich bin schon müde«, sagte Fräulein Bürstner. »Siekamen so spät«, sagte K. »Nun endet es damit, daß ich Vorwür-fe bekomme, es ist auch berechtigt, denn ich hätte Sie nichtmehr hereinlassen sollen. Notwendig war es ja auch nicht, wiees sich gezeigt hat.« »Es war notwendig, das werden Sie erstjetzt sehn«, sagte K. »Darf ich das Nachttischchen von IhremBett herrücken?« »Was fällt Ihnen ein?« sagte Fräulein Bürstner,»das dürfen Sie natürlich nicht!« »Dann kann ich es Ihnen nichtzeigen«, sagte K. aufgeregt, als füge man ihm dadurch einenunermeßlichen Schaden zu. »Ja, wenn Sie es zur Darstellungbrauchen, dann rücken Sie das Tischchen nur ruhig fort«, sagteFräulein Bürstner und fügte nach einem Weilchen mit schwä-cherer Stimme hinzu: »Ich bin so müde, daß ich mehr erlaube,als gut ist.« K. stellte das Tischchen in die Mitte des Zimmersund setzte sich dahinter. »Sie müssen sich die Verteilung derPersonen richtig vorstellen, es ist sehr interessant. Ich bin derAufseher, dort auf dem Koffer sitzen zwei Wächter, bei denPhotographien stehen drei junge Leute. An der Fensterklinkehängt, was ich nur nebenbei erwähne, eine weiße Bluse. Undjetzt fängt es an. Ja, ich vergesse mich. Die wichtigste Person,also ich, stehe hier vor dem Tischchen. Der Aufseher sitztäußerst bequem, die Beine übereinandergelegt, den Arm hierüber die Lehne hinunterhängend, ein Lümmel sondergleichen.

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Die Tatsache, dass Fräulein Bürstner trotz

der späten Stunde ihm ihr Zimmer öffnet

und ihn einläßt, ist angesichts der dichteri-

schen Bedeutung des eigenen Zimmers bei

Kafka ein großer Vertrauensbeweis. Dem

entspricht auch ihre grundsätzliche Hal-

tung, umständliche Einleitungen zu über-

hören, und sogleich auf das Wesentliche

zu drängen. Deshalb gelingt es ihm, ihr In-

teresse und ihre Neugierde zu wecken,

denn sie ist außerordentlich wißbegierig

und fühlt sich vor allem von Gerichtssachen

und dem Gericht angezogen. Weil er be-

reits verhaftet ist, glaubt sie an seinen

Wissensvorsprung und möchte sich gerne

in seinen Prozeß einweihen lassen. Sie will

ihm sogar helfen und seine Ratgeberin

werden. Während also Fräulein Bürstner

durchaus bereit ist, sich mit K. auf der hö-

heren Ebene seines Gerichts einzulassen

und auseinanderzusetzen, beruft er sich

plötzlich wieder auf seine Unkenntnis.

Während sie der Begegnung die nötige Tie-

fe zu geben vermöchte, verharrt er bei vor-

dergründigen Äußerlichkeiten und beginnt

allmählich damit zu kokettieren. Mit gro-

ßem Eifer und Einsatz führt er ihr die Vor-

gänge des Morgens als spaßige Komödie

vor, um sie zu beeindrucken und zu gewin-

nen. Dabei merkt er nicht einmal ihre maß-

lose Enttäuschung. Mit dem Schrei, der ihn

bei seiner Verhaftung hätte wecken sol-

len, weckt er nun den Pensionsgast im Ne-

benzimmer und leitet damit das Ende sei-

nes Besuchs sowie sein letzliches Scheitern

bei Fräulein Bürstner ein.

Und jetzt fängt es also wirklichan. Der Aufseher ruft, als ob ermich wecken müßte, er schreitgeradezu, ich muß leider, wennich es Ihnen begreiflich machenwill, auch schreien, es ist übri-gens nur mein Name, den er soschreit.« Fräulein Bürstner, dielachend zuhörte, legte den Zei-gefinger an den Mund, um K. amSchreien zu hindern, aber es warzu spät. K. war zu sehr in derRolle, er rief langsam: »Josef K.!«,übrigens nicht so laut, wie er ge-droht hatte, aber doch so, daßsich der Ruf, nachdem er plötz-lich ausgestoßen war, erst all-mählich im Zimmer zu verbrei-ten schien.

Da klopfte es an die Tür desNebenzimmers einigemal, stark,kurz und regelmäßig. FräuleinBürstner erbleichte und legte dieHand aufs Herz. K. erschrak des-halb besonders stark, weil er nochein Weilchen ganz unfähig gewe-sen war, an etwas anderes zu den-ken als an die Vorfälle des Mor-gens und an das Mädchen, demer sie vorführte. Kaum hatte ersich gefaßt, sprang er zu FräuleinBürstner und nahm ihre Hand.»Fürchten Sie nichts«, flüsterte er,»ich werde alles in Ordnung brin-gen. Wer kann es aber sein? Hiernebenan ist doch nur das Wohn-zimmer, in dem niemand schläft.«

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»Doch«, flüsterte Fräulein Bürstner an K.s Ohr, »seit gesternschläft hier ein Neffe von Frau Grubach, ein Hauptmann. Es istgerade kein anderes Zimmer frei. Auch ich habe es vergessen.Daß Sie so schreien mußten! Ich bin unglücklich darüber.«»Dafür ist gar kein Grund«, sagte K. und küßte, als sie jetzt aufdas Kissen zurücksank, ihre Stirn. »Weg, weg«, sagte sie undrichtete sich eilig wieder auf, »gehen Sie doch, gehen Sie doch,was wollen Sie, er horcht doch an der Tür, er hört doch alles.Wie Sie mich quälen!« »Ich gehe nicht früher«, sagte K., »als Sieein wenig beruhigt sind. Kommen Sie in die andere Ecke desZimmers, dort kann er uns nicht hören.« Sie ließ sich dorthinführen. »Sie überlegen nicht«, sagte er, »daß es sich zwar umeine Unannehmlichkeit für Sie handelt, aber durchaus nichtum eine Gefahr. Sie wissen, wie mich Frau Grubach, die indieser Sache doch entscheidet, besonders da der Hauptmannihr Neffe ist, geradezu verehrt und alles, was ich sage, unbe-dingt glaubt. Sie ist auch im übrigen von mir abhängig, dennsie hat eine größere Summe von mir geliehen. Jeden IhrerVorschläge über eine Erklärung für unser Beisammen nehmeich an, wenn es nur ein wenig zweckentsprechend ist, undverbürge mich, Frau Grubach dazu zu bringen, die Erklärungnicht nur vor der Öffentlichkeit, sondern wirklich und aufrich-tig zu glauben. Mich müssen Sie dabei in keiner Weise scho-nen. Wollen Sie verbreitet haben, daß ich Sie überfallen habe,so wird Frau Grubach in diesem Sinne unterrichtet werdenund wird es glauben, ohne das Vertrauen zu mir zu verlieren,so sehr hängt sie an mir.« Fräulein Bürstner sah, still und einwenig zusammengesunken, vor sich auf den Boden. »Warumsollte Frau Grubach nicht glauben, daß ich Sie überfallen habe?«fügte K. hinzu. Vor sich sah er ihr Haar, geteiltes, niedriggebauschtes, fest zusammengehaltenes, rötliches Haar. Erglaubte, sie werde ihm den Blick zuwenden, aber sie sagte inunveränderter Haltung: »Verzeihen Sie, ich bin durch das plötz-liche Klopfen so erschreckt worden, nicht so sehr durch dieFolgen, die die Anwesenheit des Hauptmanns haben könnte.Es war so still nach Ihrem Schrei, und da klopfte es, deshalb binich so erschrocken, ich saß auch in der Nähe der Tür, es klopfte

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Schon in dem Gespräch mit Frau Grubach

konnte K. kaum verbergen, wie sehr er sich

für Fräulein Bürstner interressierte und ein-

setzte. Infolgedessen entgeht ihm auch

jetzt nicht die Anmut ihrer Bewegungen,

wenn sie fröstelnd einen seidenen Schal

um ihre schmalen Schultern zieht oder mit

flach auf die Hüften gelegten Händen ihr

Zimmer durchschreitet. Zweifellos beein-

druckt ihn ihr Charme und zieht ihn ero-

tisch an. Ganz von ihrem Anblick ergriffen,

benutzt er die Vorfälle des Morgens nur

noch als Mittel zum Zweck, um ein Liebes-

abenteuer einzuleiten, dem die Ernsthaf-

tigkeit fehlt. Seine Verhaftung bedeutete

aber für Fräulein Bürstner die Vorausset-

zung ihrer Beziehung. Für eine billige Tän-

delei ist sie sich zu schade. K.s Spiel verur-

sachte das Klopfen, das sie erbleichen läßt

und zum Handeln zwingt.

fast neben mir. Für Ihre Vorschläge danke ich, aber ich nehmesie nicht an. Ich kann für alles, was in meinem Zimmer ge-schieht, die Verantwortung tragen, und zwar gegenüber je-dem. Ich wundere mich, daß Sie nicht merken, was für eineBeleidigung für mich in Ihren Vorschlägen liegt, neben denguten Absichten natürlich, die ich gewiß anerkenne. Aber nun

gehen Sie, lassen Sie mich allein, ichhabe es jetzt noch nötiger als früher.Aus den wenigen Minuten, um dieSie gebeten haben, ist nun eine halbeStunde und mehr geworden.« K. faßtesie bei der Hand und dann beimHandgelenk: »Sie sind mir aber nichtböse?« sagte er. Sie streifte seine Handab und antwortete: »Nein, nein, ichbin niemals und niemandem böse.«Er faßte wieder nach ihrem Handge-lenk, sie duldete es jetzt und führteihn so zur Tür. Er war fest entschlos-sen, wegzugehen. Aber vor der Tür,als hätte er nicht erwartet, hier eineTür zu finden, stockte er, diesen Au-genblick benützte Fräulein Bürstner,sich loszumachen, die Tür zu öffnen,ins Vorzimmer zu schlüpfen und vondort aus K. leise zu sagen: »Nun kom-men Sie doch, bitte. Sehen Sie« – siezeigte auf die Tür des Hauptmanns,

unter der ein Lichtschein hervorkam – »er hat angezündet undunterhält sich über uns.« »Ich komme schon«, sagte K., lief vor,faßte sie, küßte sie auf den Mund und dann über das ganzeGesicht, wie ein durstiges Tier mit der Zunge über das endlichgefundene Quellwasser hinjagt. Schließlich küßte er sie aufden Hals, wo die Gurgel ist, und dort ließ er die Lippen langeliegen. Ein Geräusch aus dem Zimmer des Hauptmanns ließihn aufschauen. »Jetzt werde ich gehen«, sagte er, er wollteFräulein Bürstner beim Taufnamen nennen, wußte ihn aber

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nicht. Sie nickte müde, überließ ihm, schonhalb abgewendet, die Hand zum Küssen,als wisse sie nichts davon, und ging ge-bückt in ihr Zimmer. Kurz darauf lag K. inseinem Bett. Er schlief sehr bald ein, vordem Einschlafen dachte er noch ein Weil-chen über sein Verhalten nach, er war da-mit zufrieden, wunderte sich aber, daß ernicht noch zufriedener war; wegen desHauptmanns machte er sich für FräuleinBürstner ernstliche Sorgen.

Nach diesem Wendepunkt ist

Fräulein Bürstner nur noch darauf

bedacht, ihren von nun an quä-

lend lästigen Besuch loszuwerden.

Sie hat ihr Ziel erreicht, als es ihr

gelingt, ihn aus ihrem eigenen

Zimmer ins Vorzimmer abzudrän-

gen. Innerlich nicht mehr betrof-

fen, lässt sie äußerlich alles teil-

nahmslos über sich ergehen, um

danach mit dem unerfreulichen

und enttäuschenden Erlebnis be-

lastet, wieder allein und gebückt

in ihr Zimmer zurückzukehren.

Josef K. aber ist ganz in die Rolle des Kavaliers geschlüpft, der wichtigtuerisch und

schwatzhaft alles zerredet, zu allem fähig und bereit ist, um Eindruck zu machen und

Erfolg zu haben. Schrittweise steigert er seine Annäherungen und Liebkosungen, die

ohne jegliche Erwiderung bleiben, um schließlich wie ein durstiges Tier über Fräulein

Bürstner herzufallen, die sich längst von ihm abgewandt hat. Wenn sich K. später in

seinem Bett darüber wundert, nicht noch zufriedener zu sein, dann deutet sich darin

behutsam an, dass sein scheinbarer Erfolg in bedeutungslosen Äußerlichkeiten zer-

ronnen ist. Der nächste Schritt muss darin bestehen, ihm das bewusst werden zu

lassen.

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DIE FREUNDIN DES FRÄULEIN BÜRSTNER

In der nächsten Zeit war es K. unmöglich, mit FräuleinBürstner auch nur einige wenige Worte zu sprechen. Er ver-suchte auf die verschiedenste Weise, an sie heranzukommen,sie aber wußte es immer zu verhindern. Er kam gleich nachdem Büro nach Hause, blieb in seinem Zimmer, ohne das Lichtanzudrehen, auf dem Kanapee sitzen und beschäftigte sich mitnichts anderem, als das Vorzimmer zu beobachten. Ging etwadas Dienstmädchen vorbei und schloß die Tür des scheinbarleeren Zimmers, so stand er nach einem Weilchen auf undöffnete sie wieder. Des Morgens stand er um eine Stundefrüher auf als sonst, um vielleicht Fräulein Bürstner alleintreffen zu können, wenn sie ins Büro ging. Aber keiner dieserVersuche gelang. Dann schrieb er ihr einen Brief sowohl insBüro als auch in die Wohnung, suchte darin nochmals seinVerhalten zu rechtfertigen, bot sich zu jeder Genugtuung an,versprach, niemals die Grenzen zu überschreiten, die sie ihmsetzen würde, und bat nur, ihm die Möglichkeit zu geben,einmal mit ihr zu sprechen, besonders da er auch bei FrauGrubach nichts veranlassen könne, solange er sich nicht vor-her mit ihr beraten habe, schließlich teilte er ihr mit, daß er dennächsten Sonntag während des ganzen Tages in seinem Zim-mer auf ein Zeichen von ihr warten werde, das ihm die Erfül-lung seiner Bitte in Aussicht stellen oder das ihm wenigstenserklären solle, warum sie die Bitte nicht erfüllen könne, ob-wohl er doch versprochen habe, sich in allem ihr zu fügen. DieBriefe kamen nicht zurück, aber es erfolgte auch keine Ant-wort. Dagegen gab es Sonntag ein Zeichen, dessen Deutlich-keit genügend war. Gleich früh bemerkte K. durch das Schlüs-selloch eine besondere Bewegung im Vorzimmer, die sich baldaufklärte. Eine Lehrerin des Französischen, sie war übrigenseine Deutsche und hieß Montag, ein schwaches, blasses, einwenig hinkendes Mädchen, das bisher ein eigenes Zimmerbewohnt hatte, übersiedelte in das Zimmer des FräuleinBürstner. Stundenlang sah man sie durch das Vorzimmer schlür-fen. Immer war noch ein Wäschestück oder ein Deckchen oder

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ein Buch vergessen, das besonders geholt und in die neueWohnung hinübergetragen werden mußte.

Als Frau Grubach K. das Früh-stück brachte – sie überließ, seit-dem sie K. so erzürnt hatte, auchnicht die geringste Bedienungdem Dienstmädchen –, konntesich K. nicht zurückhalten, sie zumerstenmal seit fünf Tagen anzu-sprechen. »Warum ist denn heuteein solcher Lärm im Vorzimmer?«fragte er, während er den Kaffeeeingoß, »könnte das nicht einge-stellt werden? Muß denn geradeam Sonntag aufgeräumt werden?«Obwohl K. nicht zu Frau Grubachaufsah, bemerkte er doch, daß sie,wie erleichtert, aufatmete. Selbstdiese strengen Fragen K.s faßte sieals Verzeihung oder als Beginn derVerzeihung auf. »Es wird nichtaufgeräumt, Herr K.«, sagte sie,»Fräulein Montag übersiedelt nurzu Fräulein Bürstner und schafft ihre Sachen hinüber.« Siesagte nichts weiter, sondern wartete, wie K. es aufnehmen undob er ihr gestatten würde, weiterzureden. K. stellte sie aber aufdie Probe, rührte nachdenklich den Kaffee mit dem Löffel undschwieg. Dann sah er zu ihr auf und sagte: »Haben Sie schonIhren früheren Verdacht wegen Fräulein Bürstner aufgege-ben?« »Herr K.«, rief Frau Grubach, die nur auf diese Fragegewartet hatte, und hielt K. ihre gefalteten Hände hin. »Siehaben eine gelegentliche Bemerkung letzthin so schwer ge-nommen. Ich habe ja nicht im entferntesten daran gedacht, Sieoder irgendjemand zu kränken. Sie kennen mich doch schonlange genug, Herr K., um davon überzeugt sein zu können. Siewissen gar nicht, wie ich die letzten Tage gelitten habe! Ichsollte meine Mieter verleumden! Und Sie, Herr K., glaubten es!

In der Erstausgabe taucht dieses Kapitel erst

im zweiten Drittel des Romans auf, obwohl

sich das Geschehen am ersten Sonntag nach

der Verhaftung ereignet, denn »zum ersten-

mal nach fünf Tagen« spricht K. Frau Gru-

bach wieder an. Sowohl die völlige Be-

ziehungslosigkeit zum unmittelbaren Kon-

text als auch die unübersehbaren Wider-

sprüche zu anderen Zeitangaben haben die

Herausgeber der Kritischen Ausgabe ver-

anlasst, das Kapitel aus dem bisherigen

Handlungsgeschehen herauszunehmen

und in den Anhang zu verbannen. Die Be-

gründung, es sei unvollendet, ist jedoch

ganz sicher falsch. An seinem richtigen Platz

ist das Kapitel sogar die Voraussetzung für

die »Erste Untersuchung«, die unzweifel-

haft am zweiten Sonntag nach der Verhaf-

tung stattfindet.

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Und sagten, ich solle Ihnen kündigen! Ihnen kündigen!« Derletzte Ausruf erstickte schon unter Tränen, sie hob die Schürzezum Gesicht und schluchzte laut.

»Weinen Sie doch nicht, Frau Grubach«, sagte K. und sahzum Fenster hinaus, er dachte nur an Fräulein Bürstner unddaran, daß sie ein fremdes Mädchen in ihr Zimmer aufgenom-men hatte. »Weinen Sie doch nicht«, sagte er nochmals, als ersich ins Zimmer zurückwandte und Frau Grubach noch immerweinte. »Es war ja damals auch von mir nicht so schlimmgemeint. Wir haben eben einander gegenseitig mißverstan-den. Das kann auch alten Freunden einmal geschehen.« FrauGrubach rückte die Schürze unter die Augen, um zu sehen, obK. wirklich versöhnt sei. »Nun ja, es ist so«, sagte K. und wagtenun, da, nach dem Verhalten der Frau Grubach zu schließen,der Hauptmann nichts verraten hatte, noch hinzuzufügen:»Glauben Sie denn wirklich, daß ich mich wegen eines frem-den Mädchens mit Ihnen verfeinden könnte?« »Das ist es jaeben, Herr K.«, sagte Frau Grubach, es war ihr Unglück, daßSie, sobald sie sich nur irgendwie freier fühlte, gleich etwasUngeschicktes sagte. »Ich fragte mich immerfort: Warum nimmtsich Herr K. so sehr des Fräulein Bürstner an? Warum zankt erihretwegen mit mir, obwohl er weiß, daß mir jedes böse Wortvon ihm den Schlaf nimmt? Ich habe ja über das Fräulein nichtsanderes gesagt, als was ich mit eigenen Augen gesehen habe.«K. sagte dazu nichts, er hätte sie mit dem ersten Wort aus demZimmer jagen müssen, und das wollte er nicht. Er begnügtesich damit, den Kaffee zu trinken und Frau Grubach ihreÜberflüssigkeit fühlen zu lassen. Draußen hörte man wiederden schleppenden Schritt des Fräulein Montag, welche dasganze Vorzimmer durchquerte. »Hören Sie es?« fragte K. undzeigte mit der Hand nach der Tür. »Ja«, sagte Frau Grubachund seufzte, »ich wollte ihr helfen und auch vom Dienstmäd-chen helfen lassen, aber sie ist eigensinnig, sie will alles selbstübersiedeln. Ich wundere mich über Fräulein Bürstner. Mirist es oft lästig, daß ich Fräulein Montag in Miete habe, Fräu-lein Bürstner aber nimmt sie sogar zu sich ins Zimmer.« »Dasmuß Sie gar nicht kümmern«, sagte K. und zerdrückte die

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Zuckerreste in der Tasse. »Haben Sie denn dadurch einenSchaden?« »Nein«, sagte Frau Grubach, »an und für sich ist esmir ganz willkommen, ich bekomme dadurch ein Zimmer freiund kann dort meinen Neffen, den Hauptmann, unterbringen.Ich fürchtete schon längst, daß er Sie in den letzten Tagen,während derer ich ihn nebenan im Wohnzimmer wohnen las-sen mußte, gestört haben könnte. Er nimmt nicht viel Rück-sicht.« »Was für Einfälle!« sagte K. und stand auf, »davon ist jakeine Rede. Sie scheinen mich wohl für überempfindlich zuhalten, weil ich diese Wanderungen des Fräulein Montag –jetzt geht sie wieder zurück – nicht vertragen kann.« FrauGrubach kam sich recht machtlos vor. »Soll ich, Herr K., sagen,daß sie den restlichen Teil der Übersiedelung aufschiebensoll? Wenn Sie wollen, tue ich es sofort.« »Aber sie soll doch zuFräulein Bürstner übersiedeln!« sagte K. »Ja«, sagte Frau Gru-bach, sie verstand nicht ganz, was K. meinte. »Nun also«, sagteK., »dann muß sie doch ihre Sachen hinübertragen.« FrauGrubach nickte nur. Diese stumme Hilflosigkeit, die äußerlichnicht anders aussah als Trotz, reizte K. noch mehr. Er fing an,im Zimmer vom Fenster zur Tür auf und ab zu gehen undnahm dadurch Frau Grubach die Möglichkeit, sich zu entfer-nen, was sie sonst wahrscheinlich getan hätte.

Gerade war K. einmal wieder bis zur Tür gekommen, als esklopfte. Es war das Dienstmädchen, welches meldete, daßFräulein Montag gern mit Herrn K. ein paar Worte sprechenmöchte und daß sie ihn deshalb bitte, ins Eßzimmer zu kom-men, wo sie ihn erwarte. K. hörte das Dienstmädchen nach-denklich an, dann wandte er sich mit einem fast höhnischenBlick nach der erschrockenen Frau Grubach um. Dieser Blickschien zu sagen, daß K. diese Einladung des Fräulein Montagschon längst vorausgesehen habe und daß sie auch sehr gutmit der Quälerei zusammenpasse, die er diesen Sonntagvor-mittag von den Mietern der Frau Grubach erfahren mußte. Erschickte das Dienstmädchen zurück mit der Antwort, daß ersofort komme, ging dann zum Kleiderkasten, um den Rock zuwechseln und hatte als Antwort für Frau Grubach, welche leiseüber die lästige Person jammerte, nur die Bitte, sie möge das

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Nach seinem ersten Besuch bei Fräulein

Bürstner, der für beide unterschiedlich, ja

gegensätzlich endete, verbringt K. seine ge-

samte Freizeit damit, eine Wiederbegegnung

herbeizuführen. Er steht früher auf und

kommt früher nach Haus, um seine Chancen

zu verbessern. Er schreibt Briefe und Bitten,

um zu guter Letzt nur noch hilflos und untä-

tig zu warten. Die Initiative des Handelns ist

ausschließlich Fräulein Bürstner übertragen.

Da sie überzeugt ist, K. abweisen zu müssen,

gelingt es ihrer Charakter- und Willensstärke

sich seinen Blicken zu entziehen. Stattdessen

setzt sie ein deutliches Zeichen, indem sie eine

Freundin in ihr eigenes Zimmer aufnimmt,

die bildlich ihr Alter ego verkörpert, das K.

vernachlässigt hat, aber gerade dadurch be-

sonders dazu geeignet ist, ihm sein Versagen

vorzuwerfen und bewusst zu machen. Wenn

K. mit unguten Gefühlen dieser Begegnung

entgegensieht und wieder einmal auf sein

Frühstück verzichtet, bedeutet das einen

deutlichen Hinweis auf die Ernsthaftigkeit der

zu erwartenden Auseinandersetzung.

Frühstücksgeschirr schon fort-tragen. »Sie haben ja fast nichtsangerührt«, sagte Frau Grubach.»Ach, tragen Sie es doch weg!«rief K., es war ihm, als sei ir-gendwie allem Fräulein Montagbeigemischt und mache eswiderwärtig.

Als er durch das Vorzimmerging, sah er nach der geschlos-senen Tür von FräuleinBürstners Zimmer. Aber er warnicht dorthin eingeladen, son-dern in das Eßzimmer, dessenTür er aufriß, ohne zu klopfen.Es war ein sehr langes, aberschmales, einfenstriges Zimmer.Es war dort nur so viel Platzvorhanden, daß man in denEcken an der Türseite zweiSchränke schief hatte aufstellenkönnen, während der übrigeRaum vollständig von dem lan-gen Speisetisch eingenommenwar, der in der Nähe der Türbegann und bis knapp zum gro-

ßen Fenster reichte, welches dadurch fast unzugänglich ge-worden war. Der Tisch war bereits gedeckt, und zwar für vielePersonen, da am Sonntag fast alle Mieter hier zu Mittag aßen.

Als K. eintrat, kam Fräulein Montag vom Fenster her an dereinen Seite des Tisches entlang K. entgegen. Sie grüßten einan-der stumm. Dann sagte Fräulein Montag, wie immer den Kopfungewöhnlich aufgerichtet: »Ich weiß nicht, ob Sie mich ken-nen.« K.sah sie mit zusammengezogenen Augen an. »Gewiß«,sagte er, »Sie wohnen doch schon längere Zeit bei Frau Gru-bach.« »Sie kümmern sich aber, wie ich glaube, nicht viel umdie Pension«, sagte Fräulein Montag. »Nein«, sagte K. »Wollen

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Sie sich nicht setzen?« sagte Fräulein Montag. Sie zogen beideschweigend zwei Sessel am äußersten Ende des Tisches hervorund setzten sich einander gegenüber. Aber Fräulein Montagstand gleich wieder auf, denn sie hatte ihr Handtäschchen aufdem Fensterbrett liegengelassen und ging es holen; sie schleif-te durch das ganze Zimmer. Als sie, das Handtäschchen leichtschwenkend, wieder zurückkam, sagte sie: »Ich möchte nur imAuftrag meiner Freundin ein paar Worte mit Ihnen sprechen.Sie wollte selbst kommen, aber sie fühlt sich heute ein wenigunwohl. Sie möchten sie entschuldigen und mich statt ihreranhören. Sie hätte Ihnen auch nichts anderes sagen können, alsich Ihnen sagen werde. Im Gegenteil, ich glaube, ich kannIhnen sogar mehr sagen, da ich doch verhältnismäßig unbetei-ligt bin. Glauben Sie nicht auch?«

»Was wäre denn zu sagen?« antwortete K., der dessen müdewar, die Augen des Fräulein Montag fortwährend auf seineLippe gerichtet zu sehen. Sie maßte sich dadurch eine Herr-schaft schon darüber an, was er erst sagen wollte. »FräuleinBürstner will mir offenbar die persönliche Aussprache, um dieich sie gebeten habe, nicht bewilligen.« »Das ist es«, sagteFräulein Montag, »oder vielmehr, so ist es gar nicht, Sie drü-cken es sonderbar scharf aus. Im allgemeinen werden dochAussprachen weder bewilligt, noch geschieht das Gegenteil.Aber es kann geschehen, daß man Aussprachen für unnötighält, und so ist es eben hier. Jetzt, nach Ihrer Bemerkung, kannich ja offen reden. Sie haben meine Freundin schriftlich odermündlich um eine Unterredung gebeten. Nun weiß aber mei-ne Freundin, so muß ich wenigstens annehmen, was dieseUnterredung betreffen soll, und ist deshalb aus Gründen, dieich nicht kenne, überzeugt, daß es niemandem Nutzen brin-gen würde, wenn die Unterredung wirklich zustande käme.Im übrigen erzählte sie mir erst gestern und nur ganz flüchtigdavon, sie sagte hierbei, daß auch Ihnen jedenfalls nicht viel ander Unterredung liegen könne, denn Sie wären nur durcheinen Zufall auf einen derartigen Gedanken gekommen undwürden selbst auch ohne besondere Erklärung, wenn nichtschon jetzt, so doch sehr bald die Sinnlosigkeit des Ganzen

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Im Gegensatz zu der unangezweifelten

Attraktivität von Fräulein Bürstner wird

Fräulein Montag als schwach, blass und

ein wenig hinkend beschrieben. Doch

dieses biblische Attribut, das Kafka öfter

verwendet, unterstreicht hier wohl ihre

Bedeutung als Sprachlehrerin, die »wie

immer den Kopf ungewöhnlich aufge-

richtet« hält. Tatsächlich erteilt sie K. im

Auftrag ihrer Freundin eine regelrechte

Lektion: Sein Besuch sei ein flüchtiger

Zufall gewesen, der eine Aussprache

unnötig erscheinen lasse, weil das Gan-

ze sinnlos gewesen sei. Bei einer gewis-

senhaften Selbstprüfung müsse K. das

auch aus eigener Kraft über kurz oder

lang einsehen können.

erkennen. Ich antwortete darauf,daß das richtig sein mag, daß ich esaber zur vollständigen Klarstellungdoch für vorteilhaft hielte, Ihneneine ausdrückliche Antwort zukom-men zu lassen. Ich bot mich an, die-se Aufgabe zu übernehmen, nacheinigem Zögern gab meine Freun-din mir nach. Ich hoffe, nun aberauch in Ihrem Sinne gehandelt zuhaben; denn selbst die kleinste Un-sicherheit in der geringfügigsten Sa-che ist doch immer quälend, undwenn man sie, wie in diesem Falle,leicht beseitigen kann, so soll es dochbesser sofort geschehen.« »Ich dan-ke Ihnen«, sagte K. sofort, standlangsam auf, sah Fräulein Montagan, dann über den Tisch hin, dann

aus dem Fenster – das gegenüberliegende Haus stand in derSonne – und ging zur Tür. Fräulein Montag folgte ihm ein paarSchritte, als vertraue sie ihm nicht ganz. Vor der Tür mußtenaber beide zurückweichen, denn sie öffnete sich, und der Haupt-mann Lanz trat ein. K. sah ihn zum erstenmal aus der Nähe. Eswar ein großer, etwa vierzigjähriger Mann mit braungebrann-tem, fleischigem Gesicht. Er machte eine leichte Verbeugung,die auch K. galt, ging dann zu Fräulein Montag und küßte ihrehrerbietig die Hand. Er war sehr gewandt in seinen Bewe-gungen. Seine Höflichkeit gegen Fräulein Montag stach auf-fallend von der Behandlung ab, die sie von K. erfahren hatte.Trotzdem schien Fräulein Montag K. nicht böse zu sein, denn siewollte ihn sogar, wie K. zu bemerken glaubte, dem Hauptmannvorstellen. Aber K. wollte nicht vorgestellt werden, er wärenicht imstande gewesen, weder dem Hauptmann noch FräuleinMontag gegenüber irgendwie freundlich zu sein, der Handkußhatte sie für ihn zu einer Gruppe verbunden, die ihn unter demAnschein äußerster Harmlosigkeit und Uneigennützigkeit von

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Fräulein Bürstner abhalten wollte. K. glaubte jedoch, nicht nurdas zu erkennen, er erkannte auch, daß Fräulein Montag eingutes, allerdings zweischneidiges Mittel gewählt hatte. Sieübertrieb die Bedeutung derBeziehung zwischen FräuleinBürstner und K., sie übertriebvor allem die Bedeutung dererbetenen Aussprache undversuchte, es gleichzeitig sozu wenden, als ob es K. sei,der alles übertreibe. Sie solltesich täuschen, K. wollte nichtsübertreiben, er wußte, daßFräulein Bürstner ein kleinesSchreibmaschinenfräuleinwar, das ihm nicht lange Wi-derstand leisten sollte. Hier-bei zog er absichtlich gar nichtin Berechnung, was er von Frau Grubach über Fräulein Bürstnererfahren hatte. Das alles überlegte er, während er kaum grü-ßend das Zimmer verließ. Er wollte gleich in sein Zimmergehen, aber ein kleines Lachen des Fräulein Montag, das erhinter sich aus dem Eßzimmer hörte, brachte ihn auf denGedanken, daß er vielleicht beiden, dem Hauptmann wie Fräu-lein Montag, eine Überraschung bereiten könnte. Er sah sichum und horchte, ob aus irgendeinem der umliegenden Zim-mer eine Störung zu erwarten wäre, es war überall still, nur dieUnterhaltung aus dem Eßzimmer war zu hören und aus demGang, der zur Küche führte, die Stimme der Frau Grubach. DieGelegenheit schien günstig, K. ging zur Tür von FräuleinBürstners Zimmer und klopfte leise. Da sich nichts rührte,klopfte er nochmals, aber es erfolgte noch immer keine Ant-wort. Schlief sie? Oder war sie wirklich unwohl? Oder verleug-nete sie sich nur deshalb, weil sie ahnte, daß es nur K. seinkonnte, der so leise klopfte? K. nahm an, daß sie sich verleug-ne, und klopfte stärker, öffnete schließlich, da das Klopfenkeinen Erfolg hatte, vorsichtig und nicht ohne das Gefühl,

Seine Abweisung durch Fräulein Bürstner grün-

det in der Überzeugung Kafkas, dass sinnliches

Begehren allein nicht ausreicht, eine menschen-

würdige und tragfähige Beziehung einzugehen.

Mit seiner Verhaftung war K. aber gerade diese

Verantwortung auferlegt worden. Indem er sie

zugunsten einer Liebeständelei leichtfertig ver-

drängt, muss er bei einer anspruchsvolleren Frau

scheitern. Der Hauptmann, der durch sein Klop-

fen aus dem Nebenzimmer Fräulein Bürstner zur

Besinnung gebracht hatte, und Fräulein Montag,

ihre Freundin, die nun K. belehrt hatte, verschmel-

zen für ihn zu einem Ausdruck seiner Niederlage.

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Wenn er sich aus Trotz noch ein-

mal dagegen aufbäumt und ein-

fach in das ihm verweigerte Zim-

mer eindringt, entspricht es der

Logik der dichterischen Bilder-

sprache Kafkas, dass dieser Ver-

such buchstäblich ins Leere

stößt. Entscheidend ist dabei je-

doch das ungute Gefühl K.s, »et-

was Unrechtes und überdies

Nutzloses zu tun«. Erstmals wird

ihm jetzt ein Schuldgefühl be-

wußt, wie es bei seiner Verhaf-

tung angesprochen worden ist.

Wenn er damit belastet am Ende

des Kapitels freiwillig in sein ei-

genes Zimmer zur Selbstbesin-

nung eilt, ist er wieder auf dem

Weg zu seinem Prozess, den der

Verliebte für kurze Zeit aus sei-

nem Bewusstsein verdrängen

konnte. Die Einsicht in sein

schuldhaftes Versagen wird –

wie bereits angedeutet – zur Vor-

aussetzung für den Beginn des

Kapitels »Erste Untersuchung«.

Die beiden Kapitel »Fräulein Bürstner« und » Die Freundin des Fräulein Bürstner«

runden sich wie zwei Hälften derselben Kugel zu einem großartigen Ganzen ab.

Inhaltlich als auch formal gehören sie als künstlerischer Organismus zusammen und

bilden nur gemeinsam eine in sich geschlossene Episode des Handlungsgeschehens.

Die dichterische Bildersprache Kafkas lässt keinen Zweifel daran, dass beide Kapitel

vollendet und in der Kapitelfolge des Romans eindeutig einzuordnen sind.

Nach der Verhaftung hatte das kurze Liebes-Intermezzo K.s gesamte Freizeit voll-

ständig beansprucht und von seinen anderen Problemen vordergründig abgelenkt.

Jetzt verschafft ihm das von ihm selbst verschuldete Scheitern wieder die Zeit, darüber

nachzudenken, und mündet dadurch zwangsläufig in seinen Prozess zurück.

etwas Unrechtes und überdies Nutzloses zutun, die Tür. Im Zimmer war niemand. Eserinnerte übrigens kaum mehr an das Zim-mer, wie es K. gekannt hatte. An der Wandwaren nun zwei Betten hintereinander auf-gestellt, drei Sessel in der Nähe der Tür wa-ren mit Kleidern und Wäsche überhäuft, einSchrank stand offen. Fräulein Bürstner warwahrscheinlich fortgegangen, während Fräu-lein Montag im Eßzimmer auf K. eingeredethatte. K.war dadurch nicht sehr bestürzt, erhatte kaum mehr erwartet, Fräulein Bürstnerso leicht zu treffen, er hatte diesen Versuchfast nur aus Trotz gegen Fräulein Montaggemacht. Um so peinlicher war es ihm aber,als er, während er die Tür wieder schloß, inder offenen Tür des Eßzimmers FräuleinMontag und den Hauptmann sich unterhal-ten sah. Sie standen dort vielleicht schon,seitdem K. die Tür geöffnet hatte, sie vermie-den jeden Anschein, als ob sie K. etwa beob-achteten, sie unterhielten sich leise und ver-folgten K.s Bewegungen mit den Blicken nurso, wie man während eines Gespräches zer-streut umherblickt. Aber auf K. lagen dieseBlicke doch schwer, er beeilte sich, an derWand entlang in sein Zimmer zu kommen.