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W enn das Wort „authentisch“ auf jemanden zutrifft, dann auf Georg Lutz. Lutz ist Bauer, und zwar so, wie es echter nicht geht: braun- gebrannt, von bärenhafter Statur und ein bisschen wortkarg. Seine Hände sind rie- sig, richtige Pranken, und wenn sie zur Begrüßung zupacken, ist es, als hielte man seine Finger in einen Entsafter. Lutz könnte Hauptdarsteller in einer Fernsehserie sein und sein ganzer Bio- Bauernhof als Kulisse dienen: ein Platz mit Linde, drum herum Scheunen, Häu- ser, Ställe, allesamt mit dem Charme des leicht Verwitterten, halb Renovierten. Gut Wulfsdorf heißt dieses begehbare Idyll in Ahrensburg, Schleswig-Holstein, gleich hinter der Hamburger Stadtgrenze. Es ist ein beliebtes Ziel nicht nur für Bio-Einkäufer, sondern für landverliebte Großstädter ganz allgemein. Allein 200 Schulklassen und Kindergartengruppen besuchen den Hof jedes Jahr. Es ist das Paradies – und das Beste dar- an: Niemand wird vertrieben. Es gibt ei- nen Hofladen und ein Hofcafé mit fair gehandeltem Kaffee, selbstgebackenem Kuchen, Öko-Eis. Wer mag, kann auf Picknickbänken auch seine mitgebrach- ten Stullen auspacken und seine Ther- mosflasche mit Kräutertee leeren. Er kann in die Ställe laufen, kann seine Kin- der Ferkel und Kälber streicheln lassen und auf einer moosbedeckten Bank sit- zen und zusehen, wie eine Herde Rinder kuhglockenbimmelnd von der Wiese in den Stall trampelt. Der Eintritt in das Paradies ist frei, die Preise hinter dem Gatter sind enorm. Das 44/2012 80 ZEITGEIST Flucht in die Idylle Die meisten Deutschen leben in der Stadt – und träumen von einem Leben auf dem Dorf. Ihre Sehnsucht nach der heilen Welt im Grünen ist zu einem Milliardengeschäft geworden. Tatsächlich aber veröden ganze Landstriche. „Es gibt Schreck- erlebnisse, wenn die Leute Dinge sehen, die nicht so schön sind.“ GEORG LUTZ im Kuhstall seines Bauernhofs Gut Wulfsdorf ACHIM MULTHAUPT / DER SPIEGEL

„Es gibt Schreck- erlebnisse, wenn die Leute Dinge sehen

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Wenn das Wort „authentisch“ aufjemanden zutrifft, dann aufGeorg Lutz. Lutz ist Bauer, und

zwar so, wie es echter nicht geht: braun-gebrannt, von bärenhafter Statur und einbisschen wortkarg. Seine Hände sind rie-sig, richtige Pranken, und wenn sie zurBegrüßung zupacken, ist es, als hielteman seine Finger in einen Entsafter.

Lutz könnte Hauptdarsteller in einerFernsehserie sein und sein ganzer Bio-Bauernhof als Kulisse dienen: ein Platzmit Linde, drum herum Scheunen, Häu-

ser, Ställe, allesamt mit dem Charme desleicht Verwitterten, halb Renovierten.

Gut Wulfsdorf heißt dieses begehbareIdyll in Ahrensburg, Schleswig-Holstein,gleich hinter der Hamburger Stadtgrenze.Es ist ein beliebtes Ziel nicht nur für Bio-Einkäufer, sondern für landverliebteGroßstädter ganz allgemein. Allein 200Schulklassen und Kindergartengruppenbesuchen den Hof jedes Jahr.

Es ist das Paradies – und das Beste dar -an: Niemand wird vertrieben. Es gibt ei-nen Hofladen und ein Hofcafé mit fair

gehandeltem Kaffee, selbstgebackenemKuchen, Öko-Eis. Wer mag, kann aufPicknickbänken auch seine mitgebrach-ten Stullen auspacken und seine Ther-mosflasche mit Kräutertee leeren. Erkann in die Ställe laufen, kann seine Kin-der Ferkel und Kälber streicheln lassenund auf einer moosbedeckten Bank sit-zen und zusehen, wie eine Herde Rinderkuhglockenbimmelnd von der Wiese inden Stall trampelt.

Der Eintritt in das Paradies ist frei, diePreise hinter dem Gatter sind enorm. Das

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Flucht in die IdylleDie meisten Deutschen leben in der Stadt – und träumen von einem Leben auf

dem Dorf. Ihre Sehnsucht nach der heilen Welt im Grünen ist zueinem Milliardengeschäft geworden. Tatsächlich aber veröden ganze Landstriche.

„Es gibt Schreck-erlebnisse, wenn dieLeute Dinge sehen, die nicht so schön sind.“

GEORG LUTZim Kuhstall seines Bauernhofs Gut Wulfsdorf

ACHIM MULTHAUPT / DER SPIEGEL

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Kilo Rinderfilet kostet 65 Euro, eine sim -ple Salatgurke 1,90 Euro. Die Idylle istim Preis inbegriffen.

Bauer Lutz profitiert von der Land- Euphorie, die Deutschland erfasst hat. SeinErfolg ist ein Abbild der Hochkonjunktur,die Hof und Dorf derzeit haben, das ur-wüchsige Bentheimer Landschwein und dieAlte Rotbunte Kuh, der selbstgepflanzteSalat und die selbstgepflückte Erdbeere.

„Es stimmt natürlich“, sagt Lutz, „dasswir in der Bio-Idylle mittlerweile so gutsind, dass es Schreckerlebnisse gibt, wenndie Leute Dinge sehen, die nicht so schönsind.“

Nicht so schön: Das ist, wennder Bauer die Klauen seinerKühe behandeln muss, wennGeschwüre herausgeschnittenwerden, wenn Blut fließt unddas Tier angebunden, gefesseltwerden muss. „Auch das sollendie Leute mitkriegen“, sagt Lutz.Deshalb finden solche Dinge ge-nauso öffentlich statt wie dasKälberstreicheln. „Das findetnicht jeder gut.“

Nicht so schön: Das ist, wennKinder begreifen, dass Kälbernicht nur Futter bekommen, son-dern selbst Futter werden unddeshalb getötet werden. FünfKinder sind auf dem Gut großgeworden, erzählt Lutz. Jedeshatte seine Lieblingskuh – undjedes hat, wenn es so weit war,genau gewusst, dass das geliebteTier zum Schlachter gefahrenwird. „Das gehört dazu.“

Das Landleben erfährt derzeiteine Welle der Sympathie unddes Interesses wie vor einemJahrzehnt die Kulinarik. Damalsfingen die Deutschen an, überteure Olivenöle und Trüffelho-bel nachzudenken, sie schienenes plötzlich massenhaft als Zu-mutung zu empfinden, nicht injeder Kleinstadt frischen Fischzu bekommen, und sahen imFernsehen den Johann Lafers, Tim Mäl-zers und Alfons Schuhbecks zu, um sichein paar Tricks für selbstgedrechselte Pas-ta, Terrine vom Heilbutt oder Artischo-ckenherzen auf Schokoladenschaum ab-zugucken.

Heute beeindruckt ein Hobbykoch sei-ne Gäste nicht mehr mit einer exotischenFischart, sondern mit Blumenkohl ausdem eigenen Garten oder zumindest mitmarokkanischer Minze vom eigenen Bal-kon. Vor ein paar Jahren begann dasFernsehen damit, ständig irgendwelcheLeute mit der Kamera zu begleiten, diesich ihren Traum erfüllten, indem sie einRestaurant eröffneten. Derzeit wimmeltes in den Programmen von landverlieb-ten Gestalten, die hier einen alten Bau-ernhof aufmöbeln und dort ein Mini-Ho-

tel, eine Pferdepension oder eine Bio-Schweinemast aufmachen. Die Bauernsind die neuen Köche.

Von den 82 Millionen Menschen inDeutschland wohnen 60 Prozent in derStadt und 40 Prozent auf dem Land oderin der Kleinstadt. Fragt man sie aber, wosie leben möchten, favorisieren 53 Pro-zent die Provinz. Zugleich aber leerensich die Dörfer, ziehen die Deutschen wei-ter in die Metropolen.

Das ist das Paradoxe an der Situationin Deutschland: Die Landliebe ist großwie nie, sie ist zum Megatrend gewuchert,der den Stil der Deutschen bestimmt wie

kaum etwas anderes, vom Wohnen übersEssen bis zur Kleidung. Doch das tatsäch-liche Land geht darüber vor die Hunde.Die Alten sterben weg, und die Jungenziehen weg. Supermärkte machen dicht.Altbauern finden keine Nachfolger. Gan-ze Dörfer zehren aus.

Die Frage ist: Lieben die Deutschendas Land? Oder lieben sie bloß die Land-Show?

Werber sprechen von den „Feel-good-Konsumenten“. Die wollen es romantisch,idyllisch und authentisch. Aber zu vielInformation stößt sie ab.

„Es geht um das schnelle Naturglück“,sagt Daniela Pöhnl, bei der WerbeagenturKolle Rebbe zuständig für Strategie. „DieKunden wollen das Gefühl, dass sich dajemand persönlich Mühe gemacht hat,

dass sie da ein Stück Natur kaufen undkein Stück Industrie. Und das Gefühlreicht ihnen meistens auch.“ Es ist ja auchkompliziert: Was ist nun bio, was regio-nal, was gesund und was nicht? Und lohntes sich, dafür mehr Geld auszugeben?Erst vor ein paar Wochen bescheinigteeine neue Studie der Bio-Kost, nicht ge-sünder zu sein als konventionelle Nah-rung.

6,6 Milliarden Euro wurden 2011 inDeutschland mit Bio-Produkten um -gesetzt, neun Prozent mehr als im Jahrzuvor. Doch Bio ist nur ein Teil des Geschäfts mit der Landliebe. Auch die

Hersteller konventioneller In-dustrielebensmittel bemühensich um ein bäuerliches Image.In der Mode sind Landkollek-tionen angesagt, mit „Blumen-drucken im Vintage-Look“ und„antik wirkenden Stücken“. In-neneinrichter setzen aufLandhaus möbel „mit leichtenGebrauchsspuren“, auf Körbeaus Weidengeflecht, in denensich „beispielsweise Kartoffelnluftig lagern“ lassen, auf Sofasin Terrakotta tönen. Kochbücher,Ratgeber, Zeitschriften zumThema verkaufen sich millio-nenfach.

Doch was geht wirklich vorauf dem Lande? Höchste Zeit,eine Reise zu seinen Bewohnernzu unternehmen, um sich einBild zu machen von der Reali-tät. Eine Reise zu einer Jung-bäuerin, die mit ihrem Mannbald einen Hof übernehmenwird; zu einem Dorfbürger -meister, der für einen Super-markt kämpft; zu einem Kaba-rettisten, der auf dem Dorf lebtund sagt: „Nichts auf dem Landist so, wie es die neue deutscheLandprosa verspricht.“ Zum Ba-bybreiproduzenten Claus Hipp,der die Land-Nostalgie nur nochschwer erträgt; zu einem

schwerreichen Aussteiger, der ein Über-leben nur auf dem Land für möglich hält.

All diese Menschen lieben das Landund ihr Leben dort, sie lieben ihr Dorf,wollen nicht weg. Keiner von ihnen ver-leumdet das Land. Sie wollen einfachnur, dass ihre Welt ehrlich beschriebenwird. Nicht – einerseits – als Katastro-phenszenario mit Schweine-KZ, vergif-teten Äckern und debilen Jungbauern.Nicht – andererseits – als Kitschbild mithandgestreichelten Salaten, Glück inGummistiefeln und Kühen, die nie ster-ben müssen.

Der SatirikerDietmar Wischmeyer ist ein Mann deut-licher Worte, das muss er auch sein, erverdient damit sein Geld. Wischmeyer,

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Ehemalige Tankstelle in Lindau am Harz: Kitsch und Katastrophe

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Kabarettist, Satiriker und Comedian, pa-rodiert in der „heute show“ des ZDF denSenderhistoriker Guido Knopp. Aber sei-ne Fans lieben ihn als Radio-Comedian,vor allem für seine Figur „Günter, derTreckerfahrer“, die seit über 20 Jahrenim niedersächsischen Privatradio ffn läuft.Täglich. Günter ist eine Figur aus der Pro-vinz, ganz in der Tradition des Simplicis-simus, einer, der vermeintlich schlicht ist,tatsächlich aber Wahrheiten ausspricht,die ebenso einfach sind wie unbequem.

Bezogen aufs Land heißt das: „Es wirdFrühling, aber irgendwie fehlt da nochwas. Und dann kamen wir drauf: Es riechtnoch nicht nach Frühling, es riecht janoch gar nicht nach Gülle.“

Wischmeyer lebt auf dem Land, in ei-nem Dorf namens Wiedenbrügge, mitknapp 400 Einwohnern. Er liebt das Land,manchmal hasst er es auch. Aber er ver-klärt es nie.

Er kommt vom Land, sein Vater warNebenerwerbslandwirt, er weiß, wasLandarbeit heißt. Als Kind habe er dieFerkel gehalten, wenn sein Opa die Vie-cher kastriert habe, erzählt er. „Und wennes ans Schlachten ging, dann kam irgend-ein anderer Opa. Wir Kinder trieben dieSau aus dem Stall, er stand in der Tür undhaute ihr mit dem Hammer auf den Kopf.“

Wischmeyer lebt mit seiner Frau in ei-nem Teil eines Resthofes. In seiner Gara-ge stehen vier Trecker. Er kann unfallfreiüber den Gebrauch einer Dreipunkt -hydraulik parlieren und ein Beispiel nachdem anderen für „die gute ländliche Tra-dition des Bauens ohne Genehmigung“hervorziehen. Das Beste am Land, sagter, sei „das Anarchische“, diese selbstbe-wusste bäuerliche Einstellung von: „Hin-ter dem Silo gibt’s keinen Gott und hinterdem Schweinestall kein Gesetz.“

Leider sei das kaum noch zu finden,meint er. Heute sei das Dorfleben so nor-mal und langweilig wie überall. Der ein-zige Vorteil des Landes, setzt er trockenhinzu, sei das Fehlen der Stadt. „Ich fahregern Auto, Motorrad, Fahrrad, Trecker. Inder Stadt kann ich das alles vergessen.“

Bei Wischmeyer klingt das alles lustig,aber er meint das ernst, er hat sogar ziem-lich viel nachgedacht über das Land unddarüber, warum es so herunterkommt.

„Arbeiten und feiern“, sagt er, „das warfrüher ein abwechselnder Rhythmus. Manbrauchte die anderen zur Ernte. Wenndie Kuh kalbte, rief man den Nachbarn.“Anschließend wurde dann einer gehoben,was das Einzige sei, was noch gebliebensei, weil zur Landarbeit keiner keinenmehr brauche. „Aber nur gemeinsam fei-ern und saufen ist langweilig. Man mussvorher arbeiten.“

Es ist ein anderes Land, das Wischmey-er da beschreibt, als es die 20 Hochglanz-magazine tun, die in einer Gesamtauflagevon zwei Millionen Exemplaren denKiosk mit Landidylle fluten wie „Land-

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Haupthaus von Gut Wulfsdorf

„Das Land ist herunter -gekommen zu einerProjektions fläche für betonfrustrierte Städter.“

DIETMAR WISCHMEYERKabarettist, Satiriker und Comedian

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Mehr Agrarfabrik …Anteil an der landwirtschaftlich genutzten Fläche nach Betriebsgröße

7,7%

4,7%

27,1%

36,9 %

61,3 %

55,1%

6,9%

1985* 2010

Quelle: Statistisches Bundesamt* Westdeutschland

** umgerechnet in Vollzeitkräften

… weniger HandwerkArbeitskräfte

in der Landwirtschaftin Millionen

1970*

1,53

1980*

0,99

1990*

0,75

2001

0,56

2010

0,55

Q unter 5 HektarQ! 5 bis 20 Hektar

Q! 20 bis 100 HektarQ! 100 und mehr Hektar

0,3%

**

lust“, „Mein schönes Land“, „Landidee“,„Liebes Land“. Neuerdings auch „Land-apotheke“, „Landfrau“ und „Landkind“.Dazu kommen noch Dutzende Nach -ahmerpräparate in den Tageszeitungen.Und natürlich das Fernsehen.

In „Landlust TV“ im NDR-Fernsehen,einem von vielen ähnlichen Formaten imdeutschen Fernsehen, treten Vorzeige -familien wie die Tietjens auf, die in Lilien -thal nahe Bremen einen Hof mit einer500 Jahre alten Fachwerkscheune bewoh-nen. „Auch die Rinder springen fröhlichumher, die Herde ist putzmunter und top-fit“, knarzt ein Sprecher, die Mutter haltederweil „ständig Ausschau nach altenDingen, die sich neu nutzen lassen“, undbatikt mit den Kindern eine Tischdecke,während Omi Käsekuchen backt und ausGeschirrtüchern eine Schürze näht.

Wischmeyer bringt derlei romantisie-rende Gartenprosa auf die Dorflinde.„Das Land ist heruntergekommen zu ei-ner Projektionsfläche für betonfrustrierteStädter“, schimpft er. „Die möchten einLand, in dem die Ziege meckert und manselbst Radieschen zieht. Da ist es immerenorm wichtig, dass man mit den Jahres-zeiten lebt und der ganze Mist. Das sindalles Lügen, die man in Wahrheiten über-setzen muss. Mit den Jahreszeiten lebenheißt auf dem Land – Heizkosten!“

Wischmeyer kann sich darüber aufre-gen. „Auf dem Land ist ent weder allespummelig oder alles gruselig“, sagt er.Auch auf dem Zeitschriftenmarkt gebees nur Extreme. Auf der einen Seite„Landlust“ und auf der anderen nur Ma-gazine für Turbo-Landwirte wie „top-agrar“. Dazwischen gebe es nichts. In„Landlust“ lese man keinen Bericht überBiogasanlagen oder die schlechte Renten-versicherung von Bauern oder das Aus-dorren der Dörfer.

Doch ist das wirklich die einzige Wahl,die das Land hat? Entweder Kitsch oderKatastrophe?

Der BürgermeisterDie Stadt Lindau liegt am Bodensee. DasDorf Lindau ist ein Ort am Harz. Ein Kaff wie Tausende in Deutschland. Nichtbesonders schlimm, nicht besonders toll.Kein totales Kuhdorf, aber auch keines, dasden ersten Preis gewinnen würde beimBundeswettbewerb „Unser Dorf hat Zu-kunft“, der früher mal „Unser Dorf sollschöner werden“ hieß. Beide Titel drücken,nebenbei bemerkt, in ihrem aufgepfropftenOptimismus doch eher Verzweiflung aus.

Bürgermeister Heinrich Schmidt liebtLindau. Er strahlt, wenn er von den Schüt-zenfesten erzählt, vom Fanfarenzug, derschon Bundessieger wurde, vom Männer-gesangverein, der direkt vor dem Aus-sterben stand, sich jetzt aber darauf be-sonnen hat, einen gemischten Chor auchmit Frauen zu gründen, weil es beweist,dass Veränderung möglich ist.

Lindau hat 1800 Einwohner, vier Ver-einsheime, drei Vollerwerbslandwirte,vier Ärzte, zwei Kirchen, eine Apotheke,ein Altenheim. Außerdem gibt es einenMarktplatz, auf dem es keinen Marktmehr gibt, und drei leerstehende ehema-lige Supermärkte, in denen man nichtsmehr kaufen kann. Seit Schlecker dicht-gemacht hat, kurvt nur noch „Lemke’srollender Supermarkt“ durch den Ort.

Schmidt und der hauptamtliche Ge-meindebürgermeister im benachbartenKatlenburg, Uwe Ahrens, putzten in denvergangenen Monaten bei „wirklich allenSupermarktketten, die es gibt“, Klinken.Fast überall holten sie sich eine Abfuhr.Neue Supermärkte werden nur noch auf-gemacht, wenn sie über enorm viel Ver-kaufsfläche verfügen. Aber genau so einMonstrum lohnt sich für Lindau nicht.

„Die Nahversorgung ist ein Problem“,sagt Schmidt in schöner Sachlichkeit.Aber das größere Problem ist, dass sichjedes Gewerbe schwertut damit, sich inLindau anzusiedeln, weil der Ort zu weitvom Schuss liegt. Bis zur Autobahn A7sind es 15 Minuten.

Und so ist die Fahrt durchs Dorf aucheine durch die Dauerausstellung geschei-terter Betriebe. Verwaist sind: ein Gast-haus, eine Bierstube, ein Hotel mit Saal-betrieb, eine Gärtnerei, eine Tankstelle,ein Getränkehandel, eine Baufirma. An

mancher Gewerberuine hängt noch dieLeuchtreklame. In den Fenstern klebenvergilbte Zettel: „Zu vermieten“. Trost-losigkeit, dein Name ist Lindau?

Doch es gibt eben auch die andere Sei-te von Lindau. Als kürzlich ein neues Feu-erwehrhaus gebaut wurde, war es einJahr eher fertig als geplant, vor allem we-gen der vielen freiwilligen Helfer. „Dawar so viel los, manchmal mussten wirdie Leute wegschicken“, sagt Schmidt.

Doch Land ist nicht gleich Land. Esgibt Land-Land und Stadt-Land. Das eineist tatsächlich Provinz und tut sich – wieLindau – immer schwerer. Dörfer rundum Metropolen dagegen profitieren da-von, Idyll-Lieferant und Rückzugsgebietfür Großstädter zu sein.

Während das Stadt-Land von der „An-ziehungskraft“ der Ballungsräume profi-tiere, so heißt es im „Fortschrittsberichtder Bundesregierung zur Entwicklungländlicher Räume“, der von so vielenFortschritten gar nicht zu berichten weiß,bestehe beim Land-Land „die Gefahr ei-ner Abwärtsspirale“ aus sinkender Attrak-tivität, Abwanderung und Niedergangder Infrastruktur.

Beim Blick zurück, von einem der Hü-gel, die Lindau umgeben, sieht der Orthübsch aus, mit der Kirche in der Mitte,den Wäldern und Feldern ringsum. Vonweitem sind die Probleme nicht zu sehen,sie verschwinden in der Unschärfe.

Und, ja, das Land ist schön. Auch wennsich die Maisfelder seit der Energiewendein manchen Regionen Deutschlands end-los erstrecken. Auch wenn die Tiere inZeiten der Massenzucht in den Ställenverschwunden sind und auf den Weidenmeist nur ein paar Show-Exemplare gra-sen. Das Land ist schön, und es ist schwer,sich seinem Sog zu entziehen.

Man muss bloß ein Buch aufschlagenwie das von Hilal Sezgin: „Landleben.Von einer, die raus zog“. Es ist das Zeug-nis einer Bekehrung. Sezgin beschreibtnicht nur voller Begeisterung, wie sienun lebt, in einem winkligen Häuschenmit vielen Fenstern, mit Gänsen undSchafen und Matsch vor der Tür. Mitsimplen Sätzen, die die Sehnsucht jedesStädters ansprechen, der auch nur einbisschen Herz hat, etwa wenn sieschreibt, dass es sie, seitdem sie auf demLand lebt, „jeden Tag nach draußenzieht, wie ein Kind“.

Doch das Interessante an Sezgins Buchist nicht die Beschreibung von Landhäus-chen, Tierherden und Dorfleben. Das ei-gentlich Verführerische ist, dass sie dasLand als den Ort preist, der seine Verhei-ßungen einlöst – im Gegensatz zur Stadt.Sie schreibt das ehrlich auf: „Zweifellosenthält das Leben in der Stadt das Ver-sprechen unendlicher Geselligkeit, aberin meinem Leben hatte sich das Verspre-chen nicht wirklich erfüllt.“ Und ist dasnicht das eigentliche Thema: dass das mo-

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derne Leben oft nicht hält, was es ver-spricht?

Offenbar erweisen sich die Verspre-chen von unendlicher Kommunikationund grenzenloser Vernetzung, von der je-derzeitigen Verfügbarkeit aller Freunde,aller Waren, aller Informationen und allerDienstleistungen oft als Illusion. Offenbarist vielen der Preis zu hoch, den sie in ir-gendeiner Form zahlen. Ist es da unver-ständlich, dass sich viele eine Welt undeine Zeit herbeisehnen, in denen es Burn -out, Work-Life-Balance-Seminare und dieNotwendigkeit einer digitalen Diät nichtgibt oder am besten nie gab?

Vielleicht ist deshalb das Landleben,das als Gegenwelt herhalten muss, in derTV-Werbung so idyllisch, dass es einenfast schon wieder friert vor Gemütlich-keit. Etwa das Land, aus dem die „Land-liebe“ kommt: Da kuscheln junge Paarezwischen sommerlichen Bäumen in derHängematte. Kühe grasen im mildenAbendlicht auf sattgrünen Wiesen. Fröh-liche Bauern schwingen ihre Heugabel.Makellose Frauenhände rühren Schoko-pudding und zerteilen Erdbeeren. Eineliebliche Welt, ein perfektes Idyll – erson-nen und erlogen zu einem einzigenZweck: Milchprodukte zu verkaufen.

Landliebe ist bei weitem nicht der ein-zige Hersteller, der mit einer heilen länd-lichen Welt wirbt. Die zum GroßkonzernMüller gehörende Molkerei Weihenste-phan bewirbt ihre „Frische Alpenmilch“mit Vogelgezwitscher und Sommerwei-den in sattem Grün. Für die Wurst der„Rügenwalder Mühle“ picknickt eineGroßfamilie mitten auf der grünen Wiese,klettern Kinder in Baumhäusern herum.

Und der Käsegigant Bongrain bewirbt seinen nach einem fiktiven Heiligen be-nannten „Saint Albray Klosterkäse“ da-mit, dass dieser „heute wie damals in allerRuhe in unseren Käsekellern reift“.

Wer sich durch das deutsche Vorabend-programm zappt, kann den Eindruck ge-winnen, dass die meisten Lebensmittelvon Hand gerührt, geschnippelt und ab-gepackt werden. Dass Kühe noch vonHand gemolken werden, die Zutaten ausdem Kräutergarten von nebenan kom-men und Lebensmittel hauptsächlich vonMenschen in Dirndln, Schwarzwaldtrach-ten oder zumindest Holzfällerhemdenhergestellt werden.

Mit der realen Lebensmittelproduktionhaben die blühenden Landschaften ausFilm und Fernsehen wenig zu tun. DieNahrungsmittelbranche Deutschlands isteine Industrie, die viertgrößte in Deutsch-land, mit einem Umsatz von jährlich rund150 Milliarden Euro.

Von wegen Bauernhof und liebevolleHandarbeit. Die Produktion von Lebens-mitteln läuft in aller Regel vollautomati-siert, im Sekundentakt rattern Fließbän-der, Abfüllanlagen, Verpackungsmaschi-nen. Menschen werden häufig nur nochda eingesetzt, wo man sie unbedingtbraucht – und meist für Knochenjobs wieetwa als Zerleger im Schlachthaus.

Doch einen Zerleger bei der Arbeitdruckt natürlich niemand vorn drauf aufseine Verpackung. Auch keine Produk -tionsstraße für Joghurt oder Hähnchen-brustfilet à la Provence. Stattdessen zei-gen die Hersteller, was der Kunde gernsehen will: rustikale Knechte, tatkräftigeMägde. Dazu kommen verheißungsvolle

Namen, die das Produkt besonders wert-voll machen sollen. Doch wer „Schwarz-wälder Schinken“ kauft, dem wird nurgarantiert, dass das Fleisch im Schwarz-wald verarbeitet wurde – die Tiere dazuaber können aus der ganzen Welt kom-men. Auch dem Gütesiegel „regional“ istnicht zu trauen.

Der Discounter Lidl etwa bietet eineRegionalmarke unter dem Namen „Ein gu-tes Stück Heimat“ und verkauft unter die-sem Label beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern einen Birnen-Johannisbeer-Direktsaft, der im rund tausend Kilometerentfernten Lindau am Bodensee herge-stellt wird. So geht das munter weiter.„Sachsen-Milch“ kommt nicht unbedingtaus Sachsen, die Fische für den „RügenerHeringstopf“ nicht aus der Ostsee vor derInsel, sondern aus anderen Weltmeeren,und der „Bautz’ner Rotkohl“ entpupptsich als bayerischer Import.

„Das Land ist eine Gegenwelt, in dernoch Kontrolle möglich scheint“, sagt Wer-berin Pöhnl. „Wenn das Essen aus der Region kommt, könnte ich ja theoretischhinfahren und persönlich nachschauen, obda alles mit rechten Dingen zugeht.“ Na-türlich sei das keine Anti-Konsum-Bewe-gung. „Aber in einer Gesellschaft, in derschon Zwölfjährige Shopping als ihr Lieb-lingshobby angeben, dient die Idylle alsAusstiegsluke, die jederzeit erreichbar ist.Vor allem, wenn nach dem Konsum eineLeere bleibt.“

Es reicht, sich nur einmal die Attributeanzusehen, die dem Leben auf dem Landin Zeitschriften und Gesprächen unterFreunden derzeit so zugeschrieben werden. Natürlich ist es auch „hart“, und„es stinkt“. Aber vor allem soll es „echt“und „unverfälscht“ sein, „ursprünglich“und „einfach“ und „gesund“ und „gesel-lig“ und „traditionsbewusst“ und „ent-spannt“.

Man muss diesen Worten nur eine Ne-gation umhängen, und schon ist zu sehen,welches Leiden das Leben auf dem Landheilen soll. Und wie viele ihren Alltagund unsere Welt offenbar empfinden: alsunecht und verfälscht, technisch, kompli-ziert, ungesund, ungesellig, traditionsver-gessen und hektisch. Aber auch das istso eine Städterperspektive: Als ob sie aufdem Land kein iPhone hätten, kein iPadund kein Internet. Als ob Bauer kein Be-ruf wäre, der nicht permanent mit Com-putern, Technik, Stress und dergleichenzu tun hätte.

Ein bisschen liegt das auch daran, dassdie Bauern selbst nicht wissen, wie siesich eigentlich präsentieren wollen. Alstraditionsvernarrte Trachtenträger oderals Agrarmanager. Ob mit Laptop oderin Lederhose.

Beim Deutschen Bauerntag im Som-mer in Fürstenfeldbruck gab es natürlichschöne Bilder für die Presse, als ein paarstramme Burschen und Mädel in Tracht

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„Landwirt zu werdenmuss in Zukunftcooler sein als BWLzu studieren“

MAGDALENA ZELDERJungbäuerin

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die Peitsche knallen ließen. Ein modernesImage bekommen die Landwirte so nicht.

Die Jüngeren unter ihnen nervt dasschon länger. Ein paar Verbände haben des-halb gleich eine Zukunftsinitiative gestartet.„Ziel 2030“ heißt sie, was ein bisschen nach„Agenda 2010“ klingt und womöglich be-absichtigt ist. Hauptsache, kein Kitsch.

Die JungbäuerinMagdalena Zelder hat mitgearbeitet andem Projekt. Sie ist Bundesvorsitzendedes Bundes der Deutschen Landjugend,24 Jahre alt, und hat beim Deutschen Bau-erntag als Vision ausgegeben: „Landwirtzu werden muss in Zukunft cooler sein,als BWL zu studieren.“

Ein paar Wochen nach dem Bauerntagauf dem Hof ihrer Eltern in Homburg- Einöd. Zelder wird ihn nicht weiterführen.Sie wird mit ihrem Mann einen Betrieb40 Kilometer entfernt übernehmen. Dortleben 90 Milchkühe in den Ställen. ZeldersVater hat seine 20 Rinder vor ein paar Wo-chen abgeschafft, weil Aufwand und Er-trag in keinem Verhältnis mehr standen.

Zelder hält ein Kinderbuch hoch, dasihre Neffen in der Küche liegenließen.„10 kleine Tierkinder“ heißt es und zeigtSeite für Seite die große ländliche Tier -familie in harmonischem Miteinander. „ImSchweinestall laufen keine Katzen rum“,regt sich die Jungbäuerin auf. „Und Kühewandern auch nicht frei über den Hof.Aber so stellen sich viele offenbar dasidyllische Landleben vor. Wenn sie sehen,wie es wirklich ist, sind sie schockiert.“

Es ist erfrischend, mit welcher Vehemenzdie Jungbäuerin ein Ende der Landverklä-rung einfordert. Sie will weg von dem Al-

penhütten-Blödsinn, den die Werbung auf-tischt. „Wenn wir so arbeiten würden, be-kämen wir uns nicht mal selber satt. DieLandwirtschaft von früher gibt es nichtmehr. Das müssen wir rüber bringen.“

Über Geflügelverpackungen mit drei,vier Hühnern vor einer Backsteinscheu-ne mit Strohdach kann sie sich echauf-fieren wie eine Verbraucherschützerin.„In den Betrieben werden weit mehr Tie-re in einem Stall gehalten. Von wenigenTieren kann niemand leben.“ Das sei dieRealität, solange der Verbraucher nichtmehr zahlen wolle. „Doch mit der idylli-schen Verpackung fühlt er sich natürlichbesser.“

Die Berichte von Leuten, die, wieBuch autorin Sezgin, rauszogen aufs Land,erzählen letztendlich alle die Geschichte einer Bekehrung. Die zum Land Bekehr-ten sind davon überzeugt, dass das Lebender meisten nicht dem entspricht, wie dieNatur es vorgesehen hat. Ganz falsch istdas nicht. Und doch vermischt sich da etwas.

Es ist der Zungenschlag des „Früherwar alles besser“, der an den Land-Heili-gen so irritiert. Es ist die Legendenbil-dung, Unterkategorie „Was Großmutternoch wusste“. Sie suggeriert, es habe ein-mal einen idealen Zustand gegeben, einParadies, aus dem der Mensch sich selbstvertrieben hat. Ein Zustand, in dem Milchnoch in Kannen geliefert wurde, Mar -melade eingekocht wurde in Gläsern mitkarierten Tüchern obendrauf und imSommer das ganze Dorf zwischen Heu-garben getanzt und sich gemeinsam amFleisch eines über dem Feuer gebratenenOchsen gelabt hat.

Der Babykost-VeteranWen so etwas wirklich aufregt, ist ausge-rechnet der Bio- und Babykost-VeteranClaus Hipp. „Es stimmt nicht, dass früheralles toll war“, sagt er. „Früher hat manschimmeliges Brot als Medikament ver-wendet. Kranke Kinder bekamen heißeMilch mit Zucker und Schnaps. Ich kannnicht sagen, dass ich mich in diese Zeitzurücksehne.“

Hipp ist Öko-Landwirt, er war es schonvor Jahrzehnten, als Leute wie er nochals Spinner verlacht wurden – in Stadtund Land. Aber er hat ein Verhältnis zurNatur, das unsentimental ist, technisch,rational.

Ihn macht stolz, dass die Messinstru-mente in seinen Labors so feinfühlig sind,dass sie „eine Prise Salz in einemSchwimmbecken“ finden würden. Darumsei das, was in seinen Hipp-Gläschen drinsei, auch „besser, als wenn einer sein Ge-müse im Bio-Laden kauft und selbstkocht“.

Hipp verkauft seine ökologische Baby-nahrung im Glas, aber auch als Kleinkin-dermenü für die Mikrowelle. Für ihn istdas kein Bruch. Für ihn zählen die Labor-werte seiner Lebensmittel, nicht, ob Muttiin der Küche steht und selbst Möhrenschrubbt. Für ihn ist die Überzeugung,das Selbstgemachte, Selbstgebackene seiimmer besser, bloß Kitsch. „Diese ganzeLand-Nostalgie ist wie ein dauerndes Ok-toberfest“, sagt Hipp. „Da meinen dieMenschen auch, sie seien urtümlich undhätten ihre ländlichen Wurzeln entdeckt,wenn sie Trachten anziehen, die es so niegegeben hat. Eine Perversion der Nostal-gie.“ Hipp selbst trägt das ganze Jahrüber Tracht, nur in den Oktoberfest-Wo-chen nicht. Aus Protest.

Dennoch gibt es diesen Trend, und erist ein Symptom. Diese „Sehnsucht nacheiner Zeit, die nicht einmal vorbei ist, weiles sie nie gab“, wie Hipp es formuliert.„Du musst dein Leben ändern“ hieß vordrei Jahren ein Bestseller des Phi losophenPeter Sloterdijk. Ist es das, was hinter die-ser Land-Euphorie steckt? Ein Unbehagenam eigenen Leben in der Gegenwart?

Vielleicht geht es um mehr. Vielleichtist dieser Ausstieg aus der Gegenwart, diesich als Flucht auf das Land tarnt, amEnde gar eine kluge, eine überlebenswich-tige Entscheidung. Vielleicht geht es ummehr als um ein bisschen Überdruss undAlltagsfrust. Sondern um die Zukunft derWirtschaft, die Zivilisation überhaupt.Um alles.

Der AussteigerSo sieht das jedenfalls Thomas Hoof, derMann, der das Edel-Versandhaus Manu-factum gegründet hat. Mittlerweile hat erdas Unternehmen – Slogan: „Es gibt sienoch, die guten Dinge“ – an den Otto-Konzern verkauft und sein Geld unter

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„Diese ganze Land-Nostalgie ist wieein dauerndes Oktoberfest.“

CLAUS HIPPdeutscher Unternehmer

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anderem in ein Gut investiert. Gut Man-hagen in Schleswig-Holstein, ein traum-haftes Stück Land mit Gutshaus, Fischer-hütte und Teich, das er an Urlauber ver-mietet, für bis zu 3600 Euro pro Woche.

Doch Hoof geht es ganz sicher nichtdarum, auf dem Land ein bisschen Idylleals Ausgleich zur stressigen Moderne zuerleben. Dergleichen Spielereien interes-sieren ihn nicht. Hoof ist einer der extre-men Prediger einer Rückbesinnung aufsLand. Er bildet den Punkt der Welle ab,an dem sie bricht und Nostalgie um-schlägt in düstere Prophetie.

In naher Zukunft, ist er überzeugt,wird das Erdöl versiegen, die dann ein-tretende Energieknappheit werde dasWirtschaftssystem kollabieren lassen. DieLandwirtschaft, sagte Hoof dem Wirt-schaftsmagazin „brand eins“ in einem In-terview, werde dann zu einer Zukunfts-branche, in der „wie zu Beginn des 20.Jahrhunderts 10 bis 16 Prozent der Bevöl-kerung beschäftigt sein werden“. Derzeitsind es nicht mal 2 Prozent.

Für ein Interview ist der ebenso öffent-lichkeitsscheue wie misstrauische Hoofnicht zu gewinnen. Immerhin beantwor-tet er Mails. Hoofs Gedankengang gehtso: Bisher ist Landwirtschaft auf maxima-le Produktion ausgelegt, egal wie vielEnergie dabei verprasst wird. Auf GutManhagen ist alles darauf ausgerichtet,

möglichst wenig Energie zu verbrau-chen – wie zu Zeiten, als es noch keinErdöl gab. Sollte es zu einer Krise kom-men, würden die „ländlichen Mast- undMilchindustrien stillstehen“. Gut Manha-gen könne dagegen weiterproduzieren,prophezeit Hoof. Es ist ein bisschen wiemit der Arche Noah.

Hoofs Sicht auf die Dinge mag eigen-willig sein, sein Lösungsansatz exzen-trisch, seine Analyse falsch. Andererseits:Schon seine Firma Manufactum war derGeniestreich eines Skeptikers, dem vieleandere Skeptiker folgten.

Während alle Welt auf Massenproduk-tion setzte, darauf, dass mit steigenderStückzahl die Preise sinken und so auchhohe Qualität für viele erschwinglich wur-de – das Prinzip der Ikeas, Volkswagensund Aldis –, ging Hoof exakt in die Ge-genrichtung. Seine Produkte wurden ingeringer Stückzahl hergestellt, waren teu-er – und angeblich besser.

Ob das stimmt, ist eine ideologische Fra-ge, die man mit Manufactum-Kunden bes-ser nicht diskutiert. Allerdings galt bei Ma-nufactum stets: Fortschrittsskepsis mussman sich leisten können. Selbst ein Gar-tenspaten kann da 132 Euro kosten, drei-bis viermal so viel wie im Baumarkt. Dafürwerden nur Hölzer verwendet, „die auf ei-nen genau senkrechten Verlauf ihrer Jah-resringe hin kontrolliert wurden“.

In Hoofs Perspektive bekommt dieLust aufs Land eine leicht gruselige Note.Er ist überzeugt, dass „den tagträumeri-schen und tatsächlichen Stadtfluchten“vielleicht auch „jener instinktive Wetter-sinn zugrunde liegt, der Wildtiere denWald bereits verlassen lässt, wenn Me -teo rologen und Wetterkommentatorenvon herannahenden ,Kyrills‘ oder ,Lo-thars‘ noch keinen blassen Schimmer haben“.

Wenn alles also noch viel schlimmerist, wenn demnächst alles zusammen-bricht, keine Trecker mehr fahren, weilBenzin fehlt, und der Bauer wieder seinPferd vor den Pflug spannen muss, wel-cher Trost bleibt dann noch?

„Die Mitgliedschaft bei der FreiwilligenFeuerwehr hier im Dorf“, sagt KabarettistWischmeyer. „Die kostet 20 Euro Beitragim Jahr, man muss nichts tun, aber manwird in Uniform zu Grabe getragen. Dasist reell.“

SUSANNE AMANN, MARKUS BRAUCK, ALEXANDER KÜHN

Wirtschaft

Video: Satiriker DietmarWischmeyer über die Landlüge

Für Smartphone-Benutzer: Bildcodescannen, etwa mit der App „Scanlife“.

spiegel.de/app442012landluege