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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Chronische Schmerzen Von Horst Gross Sendung: Montag, 4. April 2016, 8.30 Uhr Erstsendung: Montag, 20. Oktober 2014 Redaktion: Detlef Clas Regie: Tobias Krebs Produktion: SWR 2014 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. Firefox gibt es auch sogenannte Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE

SWR2 Wissen Chronische Schmerzen Von Horst Gross

Sendung: Montag, 4. April 2016, 8.30 Uhr

Erstsendung: Montag, 20. Oktober 2014

Redaktion: Detlef Clas

Regie: Tobias Krebs

Produktion: SWR 2014

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. Firefox gibt es auch sogenannte Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030

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MANUSKRIPT

Zahnarzt

Sprecher: Wir sind in einer Berliner Zahnarztpraxis. Der junge Patient muss eine Wurzelbehandlung über sich ergehen lassen. Offenbar für ihn sehr unangenehm, denn jedes Mal, wenn sich der Bohrer dem Nerv im Zahn nähert, verkrampfen sich seine Hände um die Stuhllehne und immer mehr Schweißtropfen stehen ihm auf der Stirn. Rein medizinisch gesehen macht der junge Mann gerade eine Erfahrung mit seinem nozizeptiven System – der Fähigkeit unseres Körpers, auf Schädigungen von Körpergewebe mit Schmerz zu reagieren. Nicht nur in der Zahnwurzel, sondern in fast allen Körpergeweben achten spezielle Nervenzellen auf Gefahr und melden Schäden in Form von elektrischen Impulsen Richtung Gehirn. Dort wird aus den

Nervensignalen dann ein unangenehmes Gefühl, der Schmerz. Mit Verstärkern kann man diese Impulse auf ihrem Weg durch das Nervensystem sogar hörbar machen. Nervenzellen1

Sprecher: Ist die Gefahr vorbei, stoppen die Impulse und der Schmerz endet. Meistens, aber leider nicht immer. Bei einigen Menschen senden die Nervenzellen einfach weiter Alarmsignale, obwohl die Gefahr im Gewebe längst vorbei ist. Aus dem sinnvollen Warnsignal Schmerz wird dann ein chronisches Krankheitsbild. Ansage: Chronische Schmerzen Eine Sendung von Horst Gross Sprecher: Über 10 Millionen Menschen2 in Deutschland leiden an chronischen Schmerzen. Schmerzen, für die es keine nachvollziehbare Ursache gibt. Das Problem hat sich, wie die Schmerzmedizin sagt, „chronifiziert“. Erst langsam kommt die Wissenschaft diesem Phänomen auf die Spur. Auslöser von chronifizierten Schmerzen können kurzfristige Schmerzattacken sein. Eine schlechte Sitzhaltung im Büro zum Beispiel führt schnell zu Verspannungen oder Nervenreizungen. Büro

O-Ton: Patient Also ich sitz jetzt den ganzen Tag hier eigentlich an meinem Computerarbeitsplatz

vor dem Bildschirm und arbeite hier mit der Maus und mit der Tastatur. Und das ist so meine tägliche Arbeit eigentlich.

1 Quelle: freesound.org, Eigenmontage

2 Kleine Anfrage der Abgeordneten Bärbel Bas, Elke Ferner, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der

Fraktion der SPD betreffend „Versorgungslage chronisch schmerzkranker Menschen", BT-Drs. 17/14 57

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Sprecher: … berichtet ein Berliner Rückenschmerzpatient. Während eines schwierigen Projekts ging es los. Da war viel konzentrierte Arbeit am PC notwendig. Deshalb saß er viel zu lange und viel zu verkrampft vor dem Bildschirm. Das war der Zeitpunkt, an dem die Rückenschmerzen begannen. Und die blieben dann einfach. Auch, als das Projekt längst beendet war. O-Ton: Berliner Patient mit Rückenschmerzen Der Schmerz geht eigentlich so von der Halswirbelsäule aus. Zieht sich runter den ganzen Rücken und geht dann auch über die Schulter bis in die Handwurzel. Ja, ich war jetzt auch wegen der Rückenprobleme tageweise krankgeschrieben. Das ist natürlich nicht gut angekommen. Die Ausfallzeiten, die waren schon erheblich, und mein Arbeitgeber hat mich deswegen auch schon schräg angeguckt. Sprecher: Eine wirkliche Ursache für die Schmerzen hat sich nie gefunden. Aber das Rückenproblem begleitet ihn nun schon seit vielen Monaten. Und es hat erhebliche Konsequenzen. O-Ton: Berliner Patient mit Rückenschmerzen Also ich kann nachts schlecht schlafen, weil ich eigentlich nicht mehr weiß, auf welcher Seite ich schlafen soll. Und ich finde eigentlich keinen Tiefschlaf. Und morgens wache ich eigentlich unausgeschlafen auf. Und so fängt dann der Arbeitstag an. Sprecher: Und damit ist er nicht alleine: Jeder fünfte Berufstätige im Alter über 50 Jahren leidet an chronischen Rückenschmerzen.3 Das heißt per Definition, dass der Schmerz länger als drei Monate anhält und kontinuierlich quält.4 Die Forschung war lange ratlos was diese Schmerzen verursacht, denn nach heutigem Kenntnisstand gibt es keine organische Ursache für chronische Rückenschmerzen. Die meisten Menschen mit krummen Wirbelsäulen und verrutschten Bandscheiben haben nämlich keine Beschwerden. Erst seit Kurzem kennt man die wahre Ursache. Es ist unser Schmerzgedächtnis. O-Ton: Benrath Also ein Schmerzgedächtnis bedeutet, dass der Körper, so wie wir das vom Zahlengedächtnis wissen, sich Dinge merken kann. Und der Körper kann sich auch starke Schmerzen merken, sodass die Schmerzen noch da sind, obwohl die Ursache der Schmerzen lang vorbei ist. Sprecher: … berichtet der Mannheimer Schmerzmediziner Dr. Justus Benrath:

3 „Gesundheit in Deutschland Aktuell" (GEDA) zit nach Kleine Anfrage der Abgeordneten Bärbel Bas

4 Def nach: Institut für Sozialmedizin der Universität zu Lübeck, Chronifizierung von Rückenschmerzen in der

Lübecker Bevölkerung-Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung des Amplifikationsmodells Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Universität zu Lübeck, Kathrin Lieb

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O-Ton: Benrath Ein klassisches Beispiel ist der Phantomschmerz. Also, wenn sie einen Arm oder ein Bein amputieren müssen, aus welchem Grund auch immer, ist die Wunde verheilt. Es ist alles prima, aber der Schmerz ist immer noch da. [Und zwar in dem Arm oder dem Bein, was mittlerweile fehlt. Das ist ein klassisches Beispiel dafür, dass der Körper sich gemerkt hat, dass mal Schmerzen da waren.] Sprecher: Dass ein solches Schmerzgedächtnis tatsächlich existiert, konnte mittlerweile durch Messungen nachgewiesen werden. Es lässt sich sogar genau lokalisieren. O-Ton: Benrath Und wir wissen heute, dass es mehrere Orte für solch ein Schmerzgedächtnis gibt. Der eine Ort ist das Rückenmark, das kann sich erinnern. Und der andere Ort ist natürlich das zentrale Nervensystem – das Gehirn –, das kann sich auch erinnern. Wir kennen mittlerweile sehr viele, genaue Details wo und wie Schmerzen gelernt und auch wieder abgerufen werden können vom Körper. Und das meint man mit dem Begriff Schmerzgedächtnis. Magnetresonanztomografie – Prof. Möller bereitet Patienten vor

Sprecher: Ein Schmerzgedächtnis hat jeder. Und es verlernt normalerweise schnell. Doch bei etwa 20 Prozent der Menschen vergisst das Schmerzgedächtnis nicht immer. Das sind die potenziellen chronischen Schmerzpatienten. Warum das so ist, bleibt im Moment noch unklar. Psychologische, soziale aber auch genetische Faktoren werden als Ursachen für das übersensible Schmerzgedächtnis diskutiert. Klären kann diese Frage eine neue faszinierende Untersuchungsmethode, die funktionelle Magnetresonanztomografie. Die Versuchspersonen werden dazu extrem starken magnetischen Feldern ausgesetzt. Hier im Max-Planck-Institut in Leipzig bereitet Professor Harald Möller gerade eine Versuchsperson auf eine Untersuchung vor. MRT in Aktion

Sprecher: Unser Denken und Fühlen verändert den Stoffwechsel im Gehirn und damit, wenn auch nur sehr minimal, dessen magnetische Resonanzeigenschaft.5 Gehirnstrukturen, die aktiv sind, verbrauchen mehr Sauerstoff und verändern so die magnetischen Eigenschaften des roten Blutfarbstoffs, des Hämoglobins. O-Ton: Möller Das Hämoglobinmolekül hat also sehr interessante magnetische Eigenschaften. [Wenn Sauerstoff gebunden ist, also das schwächt ganz leicht ein äußeres Magnetfeld. Und wenn es sauerstofffrei ist, das verstärkt dann, ein externes Magnetfeld] Das heißt das Magnetfeld in einem Blutgefäß oder um das herum ist unterschiedlich, je nachdem wie groß die Sauerstoffbeladung ist.

5 Hirnvolumetrische und Hirnmorphologische Veränderungen bei Patienten mit chronischen Schmerzen,

Dissertation Universität Regensburg, Stefanie Maria Hierlmeier, 2012

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[Es geht insofern um die Durchblutung. Wobei es nicht so ist, das wir die Gefäße jetzt separat sehen, sondern wir sehen die Signaländerung in der Umgebung, in der Umgebung von Gefäßen.] Sprecher: Und mit diesem Trick kann man tatsächlich dem Gehirn in Echtzeit zusehen. Auf dem Monitor vor Professor Möller sieht man eine graue Masse: das Gehirn der Versuchsperson. Wie auf einer Landkarte verteilt, erscheinen plötzlich bunte Flecken, während der Proband mit Umweltreizen gestresst wird. O-Ton: Möller Also das Rot zu Gelb, das sind jetzt Areale, wo wir einen positiven Stimulus haben, also die Blutversorgung wird hochgeregelt. Und in den Grün zu Blau sind das Regionen, wo wir negative Reaktionen haben. Das wird also runtergeregelt. Sprecher: Schiebt man nun Patienten mit chronischen Schmerzen in eine solche Magnetröhre, dann fällt etwas Merkwürdiges auf: Die Zentren, in denen Schmerz empfunden wird, sind dauerhaft auf Alarm geschaltet. Und noch erstaunlicher: Es sind fast die gleichen Hirnareale, die auch bei Angst und Panik aktiviert werden.6 O-Ton: Benrath Also ich sehe da durchaus Parallelen, weil sowohl Angst als auch Schmerz zu einer sehr starken Veränderung von Nerveninformationen im Rückenmark, wie auch im Gehirn führt. Und diese Veränderungen führen dazu, dass dieses starke Erlebnis, sei es nun Angst oder Schmerz, wieder erinnert wird. Auch in der Angstforschung geht es darum, wie kann ich dem Patienten, der unter einer Angstsituation leidet, der sich also an eine bestimmte Angstsituation wieder erinnert – wie kann ich dem so helfen, dass er diesen starken Eindruck wieder vergisst. Und ähnlich ist es auch mit dem Schmerz. Auch da geht es darum, diese Schmerzsituation, diese starke Erregung von Nervenzellen, wieder zu löschen. Sprecher: Solche Überlegungen sind für den Patienten allerdings nur schwer nachvollziehbar. Sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand, dass die Ursache eines Schmerzes immer da steckt, wo es auch wehtut. Was liegt da näher, als quälende Rückenschmerzen mit einer Operation am Rücken zu bekämpfen? Ein Irrglaube, dem immer noch allzu viele Ärzte aufsitzen. Wie sonst sind die in Deutschland extrem hohen Zahlen der Bandscheiben- und Wirbelsäulenoperationen zu erklären?7 Arztpraxis

Sprecher: Doch hier am Rückenzentrum Berlin8 sieht man die Dinge anders. In diesem, von einigen Krankenkassen unterstützten Zentrum baut man ganz auf die neuen

6 Trends Neurosci. 2013 June;; 36(6): 343–352. How to erase memory traces of pain and fear. Sandkühler et al.

7 http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/aok-krankenhausreport-zahl-der-wirbelsaeulen-ops-drastisch-

gestiegen-a-871515.html 8 http://www.ruecken-zentrum.de/berlin.html

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wissenschaftlichen Konzepte zum chronischen Schmerz.9 Entsprechend kritisch bewertet Dr. Ulf Marnitz die bisherige Praxis seiner orthopädischen Kollegen. Arztpraxis

O-Ton: Marnitz Wir haben in den Achtzigerjahren mit immer mehr MRT-Aufnahmen, Neunzigerjahren noch mehr MRT-Aufnahmen des Rückens immer mehr Strukturen erkennen können im Rücken. Und anfangs haben wir angenommen, dass diese Strukturen verantwortlich sind für die Schmerzauslösung. Wir mussten aber erkennen, über die vielen Jahre dieser hochwertigen Aufnahmen, dass es genauso viele Patienten mit den gleichen strukturellen Schäden gibt, die überhaupt keine Rückenschmerzen haben. Insofern muss man sagen, dass im Bereich des Rückens die bildgebenden Befunde, also die Röntgenbilder, die MRTs und so weiter, nicht immer eins zu eins mit dem Schmerz einhergehen, den der Patient spürt. Sprecher: Weil hier nämlich schon unbemerkt das Schmerzgedächtnis eingesetzt hat. Denn chronische Schmerzen aus dem Schmerzgedächtnis fühlen sich genauso an wie die „echten“ akuten Schmerzen. Nur ein Punkt sollte stutzig machen: O-Ton0: Marnitz Die Patienten berichten oft, dass sie früher Schmerzmedikamente hatten, die noch gewirkt haben. Und heute sagen sie: Nein, die wirken überhaupt nicht mehr. Und das ist ein großes Indiz dafür, dass sich der Schmerz chronifiziert hat. Sprecher: Wenn aber weder Operation noch Schmerzmittel helfen, wie kann man dann den chronischen Rückenschmerz angehen? Die Lösung sind spezielle Trainingsprogramme. Physiotherapie

Sprecher: Man bekämpft den chronifizierten Rückenschmerz dadurch, dass man sich den unangenehmen Schmerzen immer wieder aufs Neue stellt. Denn der Schmerz hat keine Warnfunktion mehr, sondern er muss verlernt werden. Natürlich unter fachlicher Aufsicht und wohl dosiert. Physiotherapie

O-Ton: Marnitz Da bietet man dem Patienten ein vierwöchiges Therapieprogramm an, wo der Patient jeden Tag fünf, sechs Stunden seinen Körper benutzt und wieder erfahren darf. Wir gehen auch in den Schmerz hinein. Was früher überhaupt nicht gemacht wurde. Heute wissen wir, dass dieser Schmerz seine Warnfunktion längst verloren hat. Und

9 Hafenbrack, K., et al. "Effects of interdisciplinary functional restoration treatment with cognitive behavior therapy

in patients with chronic back pain." Der Schmerz 27 (2013): 566-576.

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im Gegenteil. Damit wir den Schmerz überschreiben können, müssen wir in den Schmerz hinein trainieren. Das ist eine ganz wesentliche Änderung der Therapie. Physiotherapie

Sprecher: Das Behandlungsprinzip besteht darin, die Alltagssituationen nachzuspielen, die man sonst wegen der Rückenschmerzen eher vermeidet. Und die Betroffenen machen das sogar mit, denn die meisten haben eine jahrelange medizinische Odyssee hinter sich. Alle bisherigen Therapieversuche waren sinnlos. O-Ton: Übungsgruppe Wärmetherapie, Physiotherapie, TENS-Gerät, Gymnastik, Kortisonspritzen, Nervenendenvereisung, OP. Alles nicht groß weitergebracht. Sprecher: … erzählt ein Rückenschmerzpatient, der gerade dabei ist, ein Regal mit schweren Kisten aufzufüllen. Was sich in diesen Trainingskursen unter Aufsicht eines Physiotherapeuten abspielt, hat so gar nichts zu tun mit dem, was sich der Laie unter Rückengymnastik vorstellt. Es gibt keine bunten Bälle, Gymnastikgeräte oder Gummibänder. Stattdessen steigen die Patienten im Übungsraum auf die Leiter, hängen Gardinen auf oder streichen fiktiv die Wände. O-Ton: Übungsgruppe Ich maler‘ jetzt. Ich bin jetzt in einer Alltagssituation. Und versuche jetzt die Wand zu malern und ein Körpergefühl für mich zu bekommen, dass ich also einfach alles anspanne und mich dann bewege. Und nicht, wie man es vorher gemacht hat, alles hängen lassen. [Und einfach mich mal bewegen. Das wirkt ganz doll. Weil man in den vier Wochen hier ein Körpergefühl bekommt.] Sprecher: Es sieht gewagt aus, was die Rückenschmerzpatienten anstellen, aber was hier geschieht, hat eine solide wissenschaftliche Basis und berücksichtigt die aktuellen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Schmerzmedizin.10 Den meisten Patienten ist die Sache am Anfang trotzdem nicht geheuer. Ein Physiotherapeut berichtet: O-Ton: Physiotherapeut Die sind erst mal sehr irritiert. Die halten das auch erst mal für nicht gut, was wir tun. Weil wir tun ihnen auch manchmal weh. Die empfinden ihren Schmerz ja auch wieder. Aber das muss man klar differenzieren: Was ist das: ein akuter Schmerz? Ein Warnsignal? Oder ist das nur, dass das Gewebe nicht zulässt, die Bewegung. Und eine Bewegung zu tun, die man seit Monaten nicht gewohnt ist. Da meckert der Körper. Das wird als Schmerz assoziiert. Das ist für viele erst mal paradox. Sprecher: Aber es hilft. Paradigmenwechsel nennt man das, was hier in der Schmerzmedizin stattfindet. Der Fokus geht weg vom möglichen Auslöser einer chronischen Schmerzproblematik, hin zur Therapie des aus dem Ruder gelaufenen

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Bethge, M., et al. "Work status and health-related quality of life following multimodal work hardening: a cluster randomised trial." Journal of back and musculoskeletal rehabilitation 24.3 (2011): 161-172.

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Schmerzgedächtnisses. Hier stehen bisher nur physiotherapeutische und unterstützende psychologische Methoden wie etwa Entspannungs- und Motivationstherapie11 zur Verfügung. Man spricht vom multimodalen Therapieansatz. Eleganter wäre es natürlich, wenn man das Schmerzgedächtnis gezielt mit einem Medikament löschen könnte. Und tatsächlich: Neue experimentelle Studien zeigen, dass das möglich ist. Der Mannheimer Schmerzmediziner Dr. Justus Benrath war selbst an einer solchen Studie beteiligt.12 O-Ton: Benrath Also der Punkt ist der, dass das Löschen dieser Schmerzgedächtnisspur, dass dies zum ersten Mal tierexperimentell gelungen ist... Sprecher: Allerdings nur beim neuropathischen Schmerz. Also wenn ein Nerv, zum Beispiel bei einer Operation, direkt geschädigt wurde. O-Ton: Benrath Wir haben letztlich eine Situation nachgespielt, wie sie in jeder Operation sich darstellen kann. Nämlich: Ein Versuchstier liegt in tiefer Vollnarkose, wird intubiert, beatmet, und bekommt ein Medikament zum Schlafen. Und während dieser Zeit wird ein wichtiger Nerv im Bein stark elektrisch gereizt. Dann haben wir im Rückenmark gemessen, was diese Nervenreizung dort auslöst an Schmerzgedächtnisspuren. Und diese Schmerzgedächtnisspur kann man elektrisch messen. Und nun durch verschiedene Versuchsverfahren versuchen, entweder zu verhindern, oder, wenn sich diese Schmerzgedächtnisspur gebildet hat, diese dann auch wieder zu löschen. Sprecher: Chronische Nervenschmerzen nach einer Operation sind zudem ein häufiges Problem.13 Heute weiß man, dass nach etwa jeder zehnten Operation an einem Leistenbruch und nach jedem fünften Eingriff an der weiblichen Brust chronische, meist neuropathische Schmerzen zurückbleiben. Die Chance, diese Schmerzspuren mit einem Medikament aus dem Nervensystem14 zu löschen, wäre für die Betroffenen natürlich optimal. Das eingesetzte Mittel Remifentanil15 ist zudem bereits in der Anästhesie zugelassen. Und wenn es funktioniert, wäre die Therapie des chronischen neuropathischen Schmerzes überraschend unkompliziert. O-Ton: Benrath [Also in Narkose versetzen müsste man die nicht. Aber sie würden kommen in die Schmerzambulanz. Da würde man sie überwachen: Sauerstoffsättigung, Blutdruck, Herzfrequenz.] Und dann würde man ihnen dieses Opiat geben. Dann wird ihnen

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Gute Übersicht zu Multimodaler Therapie: http://www.klinikum.uni-heidelberg.de/fileadmin/orthopaedie/pdf/multimodale_schmerztherapie.pdf 12

Drdla-Schutting, Ruth, et al. "Erasure of a spinal memory trace of pain by a brief, high-dose opioid administration." Science 335.6065 (2012): 235-238. 13

Haroutiunian, Simon, et al. "The neuropathic component in persistent postsurgical pain: a systematic literature review." Pain 154.1 (2013): 95-102. + Andersen, Kenneth Geving, and Henrik Kehlet. "Persistent pain after breast cancer treatment: a critical review of risk factors and strategies for prevention." The Journal of Pain 12.7 (2011):

725-746. 14

Bisher kann das Schmerzgedächtnis nur im Rückenmark tatsächlich experimentell durch Messungen erfasst werden. Deshalb kann der Effekt einer medikamentösen Therapie auch nur im Bereich des Rückenmarks durch Messungen verifiziert werden. Im ZNS geht das noch nicht. 15

http://www.pharmawiki.ch/wiki/index.php?wiki=Remifentanil

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sicherlich ein bisschen müde werden. Das ist aber kein Problem. Dann würde man ihnen für eine Stunde dieses Medikament geben und danach ein bisschen beobachten und sie aus ihrer Müdigkeit wieder aufwachen lassen. Und dann nach einer Zeit von etwa einer Woche oder 14 Tagen noch mal einbestellen, um nachzufragen, ob es eine Reduktion dieser Nervenschmerzen gegeben hat. Sprecher: Langsam kommt die Wissenschaft dem chronischen Schmerz also auf die Spur. Aber das Wissen hierzu bleibt lückenhaft. Das macht ein Krankheitsbild besonders deutlich, bei dem die Patienten an generalisierten Muskelschmerzen leiden. Einfach so. Ohne erkennbare Ursache. Der Name der Krankheit ist für viele Ärzte ein Reizwort, denn Patienten mit Fibromyalgie gelten auch als Hypochonder und Rentenbetrüger. Gespräch im Hintergrund Schritte zur Tür

Sprecher: In Berlin-Gropiusstadt treffen wir den Patienten Dieter B. Er leidet seit Jahren an Fibromyalgie. Unerträgliche Schmerzen in der gesamten Muskulatur haben sein Leben komplett aus der Bahn geworfen. O-Ton: Dieter B., Patient Gropiusstadt Ich hatte zum Teil sehr starke Schmerzen. Sowohl in der Ruhe, wenn ich zum Beispiel gesessen habe, wenn ich was gelesen habe, beim Schreiben hatte ich Probleme. Mir schmerzten die Arme, die Hände. Das alles habe ich zunächst einmal vielleicht mehr oder weniger abgetan. Ich wollte das nicht so ohne Weiteres akzeptieren. Habe es letztendlich dann aber verdrängt. Sprecher: Ohne Erfolg, denn seine Beschwerden wurden über die Jahre immer schlimmer. Die Fibromyalgie begann sein Leben zu dominieren. O-Ton: Dieter B., Patient Gropiusstadt Im Alltag habe ich zum Beispiel gemerkt, wenn ich mit meiner Frau einkaufen ging, dass ich kaum noch eine Tasche tragen konnte. Mit Lebensmitteln. Oder ich bin mal einkaufen gegangen mit Getränken. Da muss man ja eine Getränkekiste anheben. Das ist mir gar nicht mehr richtig gelungen. Es sind Beschwerden gewesen, die im Alltag sich sehr, sehr hinderlich ausgewirkt haben. Sprecher: Fast ein Dutzend Ärzte hat der Berliner wegen seiner Muskelschmerzen konsultiert und unzählige Untersuchungen über sich ergehen lassen. Ohne Erfolg. Auch Spezialisten waren ratlos. O-Ton: Dieter B., Patient Gropiusstadt Der Orthopäde hat sein Standardprogramm gefahren. Der hat also meine Muskulatur untersucht. Der hatte Röntgen, MRTs glaube ich auch, gemacht und kam eben zu dem Schluss: Da ist nichts weiter zu sehen. Ich hatte so den Eindruck, er hatte mich so ein bisschen als, ja, vielleicht Hypochonder eingestuft. Er sprach dann auch davon, ja, beim Mann gibt es auch so was Ähnliches wie ein Klimakterium. Da

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passieren eben solche Dinge. Die Muskelschmerzen treten auf. Und ich habe den Orthopäden verlassen ohne genau zu wissen, was eigentlich los ist. Der hat mich eigentlich relativ sprachlos entlassen. Sprecher: Bis schließlich eine Neurologin eins und eins zusammenzählte und die klinische Diagnose Fibromyalgie stellte. Für die meisten Patienten ist das zuerst eine Erleichterung. Jetzt wissen sie, dass ihre Krankheit einen Namen hat. [Als echte Krankheit wird sie trotzdem nur selten akzeptiert. O-Ton: Dieter B., Patient Gropiusstadt [Ich habe einen großen Geschwisterkreis. Alles erfolgreiche Leute.] Als ich einmal so nach dem Motto befragt wurde, was machst du denn jetzt eigentlich und ich gesagt habe, und da sagte ich: Naja, ich habe eine Erkrankung, die zum rheumatischen Formenkreis gehört. Na, höre mir damit auf. Das haben doch eigentlich alle. Erzähl mir doch nichts. Du willst dich doch nur in irgendeiner Form absetzen. Und da war mir klar: Egal wer das ist, ich werde dieses Thema so nicht mehr anschneiden. Sprecher: Fibromyalgie wird oft fälschlich als eine Art Rheuma angesehen. Tatsächlich gibt es bis jetzt keine schlüssige medizinische Erklärung. Die Therapie muss individuell angepasst werden. Manchmal hilft Bewegungstherapie, manchmal Wärmeanwendungen. Deshalb gehören die Patienten in die Hände von Spezialisten und sind auf Fachzentren angewiesen. Uniklinik Würzburg – neurologische Untersuchung

Sprecher: Die Universität Würzburg hat an ihrer neurologischen Abteilung ein solches Zentrum etabliert.16 Hier kennt man das typische Beschwerdebild der Fibromyalgie sehr genau. O-Ton: Üçeyler Das beginnt meist mit leichten Schmerzen an einer Stelle und nimmt dann sowohl an Intensität als auch an Lokalisation zu. Sprecher: … berichtet die Neurologin Nurcan Üçeyler. Sie hat sich auf die Betreuung dieser Patienten spezialisiert. … weiter O-Ton: Üçeyler Irgendwann beginnen an irgendeiner Körperstelle Schmerzen, die sich dann verstärken. Das kann sogar am Anfang so sein, dass es Schmerzen sind, die kommen und gehen. Und irgendwann werden diese schmerzfreien Phasen immer kürzer und gehen dann in einen Dauerschmerz über. [Der Schmerz beim Fibromyalgie-Syndrom ist typischerweise auch ein Dauerschmerz, muss man sagen.]

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http://www.neurologie.ukw.de/unsere-forschung/schmerz/pathomechanismus-von-muskelschmerzen-und-des-fibromyalgie-syndroms.html

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Sprecher: Für die Patienten sind solche Zentren wie das Licht am Ende eines sehr langen Tunnels. Oft zum ersten Mal werden sie mit ihren Beschwerden ernst genommen. O-Ton: Üçeyler Also das ist auch unserer Erfahrung, wenn wir Patienten mit Fibromyalgiesyndrom hier untersuchen, anhand ihrer Krankheitsgeschichten, dass da eben tatsächlich eine Stigmatisierung nicht selten ist. Dahingehend, dass die Krankengeschichte lang ist, viele Arztkontakte natürlich da sind, viele verschiedene Untersuchungen durchgeführt werden. Und am Ende kommt immer raus: Es ist alles gut. Der Patient hat aber trotzdem seine Beschwerden. Das ist natürlich immer eine gute Nachricht, wenn man nichts Schlimmes findet, aber man wird die Schmerzen nicht los. Sprecher: Das zentrale Problem bei der chronischen Schmerzkrankheit Fibromyalgie ist der fehlende objektive Befund. O-Ton: Üçeyler Schon seit Jahrzehnten wissen wir, dass es diese Patienten gibt. Es ist schwierig, diese Patienten zu fassen, und insbesondere ist es eben schwierig, eine klare Diagnose zu stellen, weil uns der Goldstandard fehlt. Wir haben leider keinen Test mit dem wir – nach wie vor – das Fibromyalgie-Syndrom sicher diagnostizieren oder ausschließen können. Das macht die Sache natürlich schwierig. Sprecher: Doch jetzt könnte sich das Blatt wenden. Den Neurologen an der Universität Würzburg ist etwas Spektakuläres geglückt. Tests bei Fibromyalgiepatienten haben erstmalig krankheitsspezifische Veränderungen an deren Nervensystem aufgezeigt.17 Die Würzburger Neurologin Nurcan Üçeyler. O-Ton: Üçeyler Wir haben Patienten mit Fibromyalgiesyndrom untersucht auf ihre kleinen Nervenfasern. Und zwar mit unterschiedlichen Methoden, die wir hier dafür etabliert hatten. Das sind spezielle Methoden, die zum Teil noch gar nicht in der klinischen Routine in Anwendung sind. Und interessanterweise war es eben so, dass bei diesen Tests bei praktisch allen Patienten mindestens ein bis zwei Untersuchungen pathologisch ausfielen. Das bedeutet, dass diese Nervenfasern, warum auch immer, nicht normal sind. Sprecher: Diese Befunde sind der heiß ersehnte Beweis dafür, dass diese Patienten keine Hypochonder, sondern echte Kranke sind. Und an der Sache scheint tatsächlich etwas dran zu sein. O-Ton: Üçeyler Nach Veröffentlichung unserer Studie, und das ist auch sehr, sehr schön, gab es mehrere Arbeiten von unabhängigen Wissenschaftlern letztendlich in den USA und in Europa immer, die mit ähnlichen oder komplementären Methoden muss man sagen,

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Üçeyler, Nurcan, et al. "Small fibre pathology in patients with fibromyalgia syndrome." Brain 136.6 (2013):

1857-1867.

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sehr ähnliche Befunde gesehen und diese veröffentlicht haben. Das bestätigt natürlich die Ergebnisse, was auch die Aussagekraft weiter stärkt. Sprecher: Eine ursächliche Therapie der Fibromyalgie ist allerdings noch lange nicht in Sicht. Deshalb sind auch diese Patienten, so wie alle anderen chronischen Schmerzpatienten auch, auf eine gute schmerzmedizinische Betreuung angewiesen. Doch damit sieht es in Deutschland schlecht aus. O-Ton: Müller-Schwefe Also nach den Daten, die wir selber erhoben haben, haben wir nicht mal ein Zehntel des Bedarfs an Schmerzmedizinern abgedeckt. Sprecher: … meint der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie, Gerhard Müller-Schwefe. ... weiter O-Ton: Müller-Schwefe Man kann sehr gut ausrechnen, dass man etwa auf 15.000 Einwohner einen schmerzmedizinisch Kompetenten bräuchte, um den Bedarf abzudecken. Davon sind wir weit entfernt. Es gibt weite Landstriche, da gibt es überhaupt niemanden. Sprecher: Egal, ob es nun um Rückenschmerzen, Fibromyalgie oder andere chronische Schmerzprobleme geht. Für die Betroffenen hat dieser Mangel an Spezialisten schwerwiegende Folgen. ... weiter O-Ton: Müller-Schwefe Diese Patienten irren also von einem zum andern, bis sie irgendwann mal Hilfe suchen. Und die richtige Hilfe besteht ja auch nicht darin, dass man einen findet, der das richtige Rezept ausstellt, sondern die Therapie für diese Patienten hat häufig verschiedene Komponenten, die man gleichzeitig einsetzen muss. Das, was wir multimodal nennen. Also da muss der Psychologe mit dem Schmerztherapeuten mit dem Physiotherapeuten zusammenarbeiten. Und wenn das nicht stattfindet, dann irren diese Patienten auch von einem Schmerztherapeuten zum nächsten. Sprecher: Und auch im Krankenhaus sieht es mit der Schmerztherapie nicht unbedingt besser aus. O-Ton: Müller Schwefe Es ist sicher so, dass perioperatives Schmerzmanagement, dass Schmerzmanagement in Kliniken überwiegend miserabel ist. Und das hängt natürlich damit zusammen, dass wir dafür Menschen brauchen, die diese Patienten versorgen. Diese Menschen sind nicht da. Der Pflegebereich ist massiv unterbesetzt. Der ärztliche Bereich ist massiv unterbesetzt. Und dabei nehmen wir dann in Kauf, dass viele dieser Patienten, die eigentlich erfolgreich operiert oder behandelt sind, hinterher in chronische Schmerzpatienten laufen. Was wir eigentlich verhindern könnten. Dann wird es richtig teuer, auch. Und das Gesundheitssystem wäre gut beraten, früher zu intervenieren.

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Sprecher: Chronische Schmerzpatienten haben offenbar keine gute Lobby im Medizinbetrieb. Da bleibt Patienten oft nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen, wie etwa hier in einer Initiativgruppe in Berlin-Charlottenburg. Selbsthilfegruppe

Sprecher: Hier kann man offen über seine Erfahrungen mit den Ärzten reden. Und die sind nicht immer positiv. Eine gut informierte Schmerzpatientin über eine frustrierende Arzterfahrung: O-Ton: Patientin – Selbsthilfegruppe Charlottenburg Ja, also mein Orthopäde zum Beispiel. Der hat mir gesagt: Tja, also da müssen Sie eine umfassende Kortisonbehandlung bekommen. Und das Blutbild ist ganz schlecht. Das stimmt alles gar nicht. Ich hab dann also nicht widersprochen, weil ich merkte, der Mann weiß es einfach nicht besser. Der hat sich noch nicht damit befasst. Sprecher: Doch langsam wird das Manko bei der Versorgung von chronischen Schmerzpatienten von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Informierte Patienten drängen auf Veränderung. Durchaus ein Fortschritt, denn chronische Schmerzen galten bis vor einigen Jahren einfach als unabwendbares Schicksal. Dass es auch anders geht, sickert jetzt langsam in die Köpfe von Ärzten und Gesundheitspolitikern. Zusammen mit einer besseren Schmerzdiagnostik und neuartigen Medikamenten könnte dies die Situation von chronischen Schmerzpatienten bald verbessern. Zahnarzt

Sprecher: Ganz aus der Welt schaffen lässt sich der Schmerz allerdings nicht. Spätestens der nächste Zahnarztbesuch wird uns daran erinnern, dass Schmerzen zum Leben dazugehören.

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