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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Lesenswert Feature "Wohin denn ich?" Der Dichter Friedrich Hölderlin Von Matthias Kußmann Sendung: 29.05.208 Redaktion: Gerwig Epkes Regie: Günter Maurer Produktion: SWR 2018 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Lesenswert Feature können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Die Manuskripte von SWR2 Lesenswert Feature gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. Firefox gibt es auch sogenannte Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books: Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE

SWR2 Lesenswert Feature "Wohin denn ich?" Der Dichter Friedrich Hölderlin

Von Matthias Kußmann

Sendung: 29.05.208

Redaktion: Gerwig Epkes

Regie: Günter Maurer

Produktion: SWR 2018

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Service: SWR2 Lesenswert Feature können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Die Manuskripte von SWR2 Lesenswert Feature gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. Firefox gibt es auch sogenannte Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books:

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OT 01: Knubben: Hölderlin war ein sehr sinnlicher Mensch. Er war ein kraftvoller Mensch, er war auch ein durchaus cholerischer Mensch in manchen Situationen.

OT 02: Oesterle: Fast muss es ein bisschen gewesen sein, als würde man Punk hören, was Hölderlin in der Schroffheit seiner Diktion alles gedichtet hat.

OT 03: Snela: Er macht keine Zugeständnisse an seine Leser, aber er entschuldigt sich bei ihnen. Er sagt an einer Stelle: Er kann nicht anders.

OT 04: Horowski: Wenn man die Gedichte von Hölderlin liest auch aus seinem letzten Lebensjahr oder

der Zeit davor, dann ist völlig klar, dass ein Schizophrener solche Gedichte einfach nicht schreiben kann.

OT 05: Knubben: Jeder, der in Hölderlins Werk irgendwann mal hineingefunden hat, der wird von ihm nicht mehr losgelassen.

OT 06: Noack: Aber ob man letztlich zu einem abschließenden Ergebnis kommen wird, das wage ich zu bezweifeln. Aber das ist ja auch das Wunderbare daran.

Ansage: „Wohin denn ich?“ – Der Dichter Friedrich Hölderlin. Eine Sendung von Matthias Kußmann

Erzählerin: Im Dezember 1801 bricht Friedrich Hölderlin zu seiner größten Reise auf, die zu einem Wendepunkt seines Lebens wird. Sie führt vom schwäbischen Nürtingen nach Bordeaux, wo er eine Stelle als Hauslehrer bekommen hat. Dem Freund Boehlen-dorff schreibt er:

Zitator 1: (…) es hat mich bittre Thränen gekostet, da ich mich entschloß, mein Vaterland noch jezt zu verlassen, vielleicht auf immer. Denn was hab ich Lieberes auf der Welt? Aber sie können mich nicht brauchen. Deutsch will und muß ich übrigens bleiben, und wenn mich die Herzens- und Nahrungsnoth nach Otaheiti triebe.

(Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 117)

Erzählerin: Hinter Hölderlin liegen schwierige Jahre. Er hat sich weder als Autor etabliert, noch hat er einen Brotberuf, der ihn ernährt. Und er liebt die Frau eines reichen Kauf-manns, was in der damaligen Gesellschaft aussichtslos ist. Die „Herzens- und Nah-rungsnoth“ treiben den 31jährigen über die Grenze nach Frankreich. 1500 Kilometer – zu Fuß, sechs Wochen lang, im tiefsten Winter. Ein Gewaltmarsch.

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OT 07: Knubben: Hölderlin war ein großer Wanderer, ein großer Fußgänger. Gehen war für ihn durchaus auch eine therapeutische Angelegenheit, das hat sich bis in die letzten Tage so fortgesetzt. Wir wissen aus den Schuhmacherrechnungen, dass er unendlich viel Schuhwerk verbraucht hat durch sein ständiges Hin- und Hergehen.

Erzählerin: Der Kulturwissenschaftler Thomas Knubben ist den Weg nach Bordeaux nach-gegangen und hat ein Buch darüber geschrieben: „Hölderlin. Eine Winterreise“. Mit Regenjacke, Rucksack und Wanderstab nahm er dieselbe Route wie der Dichter, von Nürtingen über den Schwarzwald, Straßburg und Lyon nach Bordeaux. Hölderlins Reise ist heute legendär, allerdings gab es Vermutungen, dass er größere Teile per Kutsche zurückgelegt habe – zumal frühe Biografen ihn als zart und vergeistigt dar-

stellten. Doch nie hat jemand ausprobiert, ob man den Weg zu Fuß tatsächlich in sechs Wochen schafft.

OT 08: Knubben: Im Winter alleine sich auf einen solchen Weg von über 1500 Kilometern zu machen: Das war schon außergewöhnlich und zeugt schon von einer physischen Potenz – und hätte das Bild, das wir von Hölderlin haben, schon noch ein bisschen genauer konturiert.

Erzählerin: 1801 gibt es keine Hightech- und „Funktions“Kleidung, die Wanderer heute schätzen, und kein Handy, um im Notfall Hilfe zu rufen. Dafür aber Räuberbanden. Hölderlin berichtet in einem Brief von…

Zitator 1: … den gefürchteten überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildniß, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben [mir] im rauen Bette. (Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 118)

Erzählerin: Thomas Knubben ging es bei seinem Marsch auch darum, …

OT 09: Knubben: … Hölderlin nahe zu kommen. Nahe zu kommen, in dem man seinen Weg geht, indem man seine Werke auf diesem Weg liest, indem man die Stationen abgeht. Sich Zeit dafür zu nehmen, auch die Verse in ihren Rhythmen, die ja aus dem Gehen

oftmals geboren sind, zu begreifen.

Erzählerin: Der Kulturwissenschaftler brauchte für den Weg ungefähr so lang wie Hölderlin und meint, dass der den größten Teil wohl wirklich zu Fuß gegangen ist. Knubben kam bei dem Marsch mehrfach an seine physischen Grenzen, verlief sich, haderte mit dem Wetter – erlebte aber auch Gastfreundschaft und Zuspruch.

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OT 10: Knubben: Das vielleicht größte Erlebnis auf dieser Wanderung war an einem Sonntagmorgen im Januar, in einem kleinen Dorf kurz vor Lyon. Wo ich jemanden treffe an der Ampel, der kurz inne hält, mich anschaut: Wer ich denn bin, der ich mit einem Rucksack im Winter durch dieses Dorf komme, und fragt, was ich denn mache? Ich sage, ich gehe nach Bordeaux. Er fragt, warum? Weil ich einem Dichter folge, der sehr bedeutsam war. Er fragt, welcher Dichter? Ich sage, Hölderlin, und er sagt: „Hyperion“! Da dachte ich, das kann nicht wahr sein. Mitten im tiefsten Frankreich hat jemand „Hyperion“ gelesen! Den einzigen Roman, den längsten Text von Hölderlin, der, wenn man das in Stuttgart fragen würde, wohl kaum jemand in den Sinn käme. Das war eine unglaubliche Erfahrung, wie weit Hölderlin ausgestrahlt hat!

Erzählerin: Hölderlin kommt Ende Januar 1802 in Bordeaux an, wo er die Kinder eines Hamburger Weinhändlers unterrichtet. Endlich scheint er eine passende Stelle gefunden zu haben.

Zitator 1: Mir gehet es so wohl, als ich nur wünschen darf … (Thomas Knubben: Hölderlin. Eine Winterreise. Tübingen: Klöpfer & Meyer 2011, 13)

Erzählerin: … schreibt er an seine Mutter. Doch ein paar Wochen später macht er sich auf den Rückweg, wieder zu Fuß. Als er im Sommer nach Schwaben zurückkehrt, sind seine Freunde entsetzt. Er war schon vor der Abreise manchmal reizbar oder aggressiv. Doch nun sehen sie einen völlig veränderten Menschen. Von dem gut aussehenden, gepflegten Mann von früher ist nichts geblieben. Was ist geschehen? Der Lyriker Friedrich Matthisson notiert:

Zitator 2: Er war leichenbleich, abgemagert, von hohlem wildem Auge, langem Haar und Bart, und gekleidet wie ein Bettler… (Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 121)

Erzählerin: … und Hölderlins Halbbruder Karl Gok erschrecken die…

Zitator 2: … deutlichsten Spuren seiner Geisteszerrüttung. (Thomas Knubben: Hölderlin. Eine Winterreise. Tübingen: Klöpfer & Meyer 2011, 14)

Regie: Musikakzent.

Erzählerin: Friedrich Hölderlin wird am 20. März 1770 in Lauffen am Neckar geboren. Zwei Jahre danach stirbt sein Vater. Die Mutter heiratet den wohlhabenden Weinhändler Johann Christoph Gok und die Familie zieht nach Nürtingen, wo Gok Bürgermeister wird.

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Auch er stirbt. Da ist Hölderlin gerade einmal neun Jahre alt; später schreibt er der Mutter:

Zitator 1: Da mir mein zweiter Vater starb, dessen Liebe mir so unvergeßlich ist, da ich mich mit einem unbegreiflichen Schmerz als Waise fühlte, und Ihre tägliche Trauer und Thränen sah, da stimmte sich meine Seele zum erstenmal zu diesem Ernste, der mich nie ganz verlies, und freilich mit den Jahren nur wachsen konnte. (Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 12)

Erzählerin: Hölderlins Verhältnis zur Mutter ist eng, wird aber zunehmend schwierig. Die Pietistin stammt aus einem Pfarrhaus und setzt alles daran, dass auch ihr Sohn Pfarrer wird – während er schon früh nur eines will: Schriftsteller sein. In einem Brief an seine

Schwester Rike spricht er von dem Wunsch…

Zitator 1: … in Ruhe und Eingezogenheit einmal zu leben – und Bücher schreiben zu können, one dabei zu hungern. (Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 56)

Erzählerin: Auf Wunsch der Mutter durchläuft er die damals üblichen schwäbischen Stationen auf dem Weg ins evangelische Pfarramt. Er besucht Klosterschulen in Denkendorf und Maulbronn und beginnt 18jährig sein Studium am Evangelischen Stift in Tübingen.

OT 11: Noack: Jetzt stehen wir hier im Kreuzgang des Evangelischen Stifts, ein ehemaliges Augustinerkloster.

Erzählerin: Helge Noack leitet das Hölderlinmuseum Tübingen.

OT 12: Noack: Friedrich Hölderlin hat hier von 1788 bis 1793 studiert, zwei Jahre Philosophie, hat dort seinen Magister gemacht, und dann evangelische Theologie. Er hat hier viele Freunde gefunden. Das war auch immer wieder sein Rettungsanker, weil er sich hier am Evangelischen Stift nur bedingt wohl gefühlt hat.

Zitator 1: (…) liebste Mamma, meine körperlichen und Seelenumstände sind verstimmt in dieser Lage; Sie können schließen, dass der immer währende Verdruß, die Einschränkung, die ungesunde Luft, die schlechte Kost, meinen Körper vieleicht früher entkräftet, als in einer freiern Lage. (…) mein seeliger Vater pflegte ja so oft zu sagen, „seine Universitätsjahre seien seine vergnügtesten gewesen“ – soll ich einst sagen müssen, „meine Universitätsjahre verbitterten mir das Leben auf immer“? (Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 30f.)

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OT 13: Noack: Man muss sich vorstellen, dass die Studierenden der Theologie im Grunde ein klösterliches Leben – auch wenn sie evangelische Theologie studiert haben – geführt haben. Sie trugen umgenähte Mönchskutten, waren so schon von außen als Ma-gisterstudierende erkennbar. Und es war natürlich auch das Ziel, dass die Kleidung von außen nach innen wirkt, also auf die innere Haltung sich auswirkt. Die Freunde, die er hier hatte, Rudolf Magenau und Ludwig Christian Neuffer, waren sehr wichtig für ihn, mit ihnen hat er einen Dichterbund gegründet.

Erzählerin: Die Studenten treffen sich, um dem Stift zu entgehen, auf dem nahen Österberg und lesen sich eigene Gedichte vor. Sie diskutieren Philosophen, die nicht auf dem Lehrplan stehen, lesen begeistert Klopstock und Schiller – und begegnen den Ideen

der Französischen Revolution, die bis nach Schwaben gedrungen sind.

OT 14: Noack: Es war Rousseau, es war Fichte, der die Gedanken von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gepredigt hat förmlich, die im Nachbarland Frankreich gerade zur Revolution geführt haben. Hölderlin ist damit auch infiziert worden. Er hat sich sehr dafür interessiert, was in Frankreich passiert war. Man kann jetzt nicht behaupten, dass er auf die Barrikaden irgendwo gegangen wäre, aber er hat sehr wohl wahr-genommen, was dort in Frankreich passiert und hat sich vieles von dem, was dort entwickelt wurde an Ideen, immer wieder auch für Deutschland gewünscht und vorgestellt.

Erzählerin: Im Stift lernt Hölderlin zwei Mitstudenten kennen, die später Philosophiegeschichte schreiben.

OT 15: Oesterle: In Tübingen hat er sich sozusagen als Zeitgenossen entdeckt – zusammen mit seinen Freunden, den beiden kongenialen Freunden Hegel und Schelling…

Erzählerin: … sagt der Schriftsteller und Journalist Kurt Oesterle. Er hat die Hölderlin-Biografie von dessen Zeitgenossen Wilhelm Waiblinger neu herausgegeben.

OT 16: Oesterle: Alles begann natürlich mit der Erkenntnis, ich zitier´ jetzt: „Die erste Idee ist die

Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen.“ Das Zitat stammt aus einer Schrift, die die drei zusammen verfasst haben, dem „Ältesten Systemprogramm des Idealismus“. Das war natürlich eine vollkommen neue Vorstellung vom Menschen, dessen Dasein nach Hölderlin und Freunden nun nicht länger von Mäch-ten wie Kirche oder Feudalstaat bestimmt und dirigiert wird.

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Zitator 1: Hinweg! Tyrannen keine Gnade / Ewige Rache den Völkerschändern! (Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 45)

Erzählerin: 1791 werden erstmals Gedichte von Hölderlin in einem Almanach veröffentlicht: vier Hymnen, die noch sehr nach Friedrich Schiller klingen. Zwei Jahre darauf besteht er seine theologischen Examen.

OT 17: Knubben: Die Idee, den Pfarrersberuf ergreifen zu müssen, war für ihn immer etwas Fremdes, und er hat diesen Zweifel auch sehr früh in Briefen an die Freunde zum Ausdruck gebracht. Das erste, was er dann nach dem Abschluss des Studiums anstrebte: irgendwo eine Stelle zu finden, die ihn davon abhielt, ins Pfarramt gehen zu müssen.

Erzählerin: Für einen studierten Philosophen und Theologen gibt es damals kaum Alternativen – entweder er wird „Hofmeister“, also Hauslehrer, oder er unterrichtet an einer Schule oder einer Universität. Zunächst verschafft Hölderlins Freund Stäudlin ihm eine Stelle im fränkischen Waltershausen. Stäudlin kennt Schiller und der kennt Charlotte von Kalb, die auf ihrem Landgut einen Lehrer für ihren Sohn sucht. Hölderlin hofft, dem pubertierenden Jungen freiheitliches Denken zu vermitteln und einen Sinn für Poesie – vergeblich.

Zitator 1: Es mus mir also wehe thun, wenn dieser Erfolg beinahe gänzlich mangelt, durch die ser mittelmäßigen Talente meines Zöglings… (Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 62)

Erzählerin: In Waltershausen lernt der junge Hofmeister auch eine Freundin der Familie von Kalb kennen, Wilhelmine Marianne Kirms. Ihm fällt deren „sehr interessante Figur“ auf, wie er in einem Brief schreibt. Die beiden sehen sich öfter und der Vater des unehelichen Kindes, das im Juli 1795 geboren wird, dürfte Hölderlin gewesen sein. Das Kind stirbt im folgenden Jahr und auch Hölderlins Anstellung endet. Doch Charlotte von Kalb öffnet ihm den Weg zu großen Autoren seiner Zeit, darunter Goethe und Schiller. Es ist das Beste, was ihm passieren kann, da er nach wie vor Gedichte schreibt und als freier Autor leben will.

Zitator 1:

Schiller nimmt sich meiner ser an, und hat mich aufgemuntert, Beiträge in sein neues Journal, die „Horen“, auch in seinen künftigen Musenalmanach zu geben. (GM 66)

Erzählerin: In diesen Jahren findet Hölderlin zu einem eigenen Blick auf die Welt und einer eigenen poetischen Sprache. Seine Zeit nennt er „dürftig“, weil sie von Monarchie, Adel und Klerus bestimmt wird, es keine individuelle Freiheit gibt und die Deutschen für ihn seelenlose Verstandesmenschen sind. Dagegen setzt er ein idealisiertes

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„Einst“, in dem es besser war – die griechische Antike. Eine Zeit der Harmonie und Schönheit, in der Mensch und Natur wie auch Menschen und Götter eine Einheit bildeten, Natur und Kultur kein Widerspruch waren. Aber er will keine schlichte Wiederkehr dieser Zeit, sondern eine Versöhnung von Antike und christlicher Neuzeit, geprägt von den Idealen der Französischen Revolution. Seine Gedichte er-

innern in Andeutungen an das verlorene „Einst“, zeigen die Zerrissenheit seiner eigenen Zeit und lassen zugleich hoffen, dass es irgendwann wieder anders werden könne.

OT 18: Snela: Die Seligkeit, die er wunderbar schafft zu evozieren, die findet mitten in den Missständen bei ihm statt, ohne diese Missstände zu beschönigen…

Erzählerin:

… meint der junge Schriftsteller Jan Snela.

OT 19: Snela: (…) Diese idyllischen Beschreibungen von Landschaften und von Begebenheiten mit Freunden oder mit der Geliebten: Er feiert etwas, obwohl die Zeit zum Feiern noch nicht gekommen ist. Die Idylle steht aber schon für eine gewisse Einlösung dessen, was er sich ersehnt. Man spürt das, sie zittert davon, dass sie ein perfektes Bild dafür ist, was eigentlich sein sollte – und sie blitzt im Jetzt auf als eine Möglichkeit.

Erzählerin: Jan Snelas literarisches Debüt erschien 2016, ein Band mit sprachspielerischen, ironisch-skurrilen Erzählungen, für die er den Clemens-Brentano-Preis erhielt. Das Buch heißt „Milchgesicht. Ein Bestiarium der Liebe“ und hat auf den ersten Blick rein gar nichts mit Hölderlin zu tun.

OT 20: Snela: Aber die Standards hat für mich in Sachen sprachlicher Formung, eines gewissen Klangs der Sprache, hat Hölderlin gesetzt. Ich würde sagen, dass durch Hölderlin bei mir das Bedürfnis geweckt wurde, nie einen Satz zu schreiben, der einfach so aufs Papier fällt. Wie kommt der Sinn in die Sprache, warum können wir uns verständigen, was lässt sich zu einem bestimmten Zeitpunkt warum sagen und warum nicht? All solche Momente können geweckt werden durch das Lesen von Hölderlins Texten.

Regie: Musikakzent.

Erzählerin:

Hölderlins Gedichte werden im Lauf der Jahre immer komplexer. Er verwendet komplizierte griechische Reimschemata, die die Leser nicht kennen. Seine Texte sind voller Einschübe, die das erlösende Wort, das eine Strophe verstehen lässt, oft bis ans Ende hinausschieben. So bildet er die schwierige „götterferne“ Zeit ab, in der er lebt, die Hindernisse und Stürze auf dem Weg zu einer neuen harmonischen Welt.

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OT 21: Oesterle: Besonders faszinierend ist, dass Hölderlin als junger Mann beginnend und als reifer Autor es beendend dafür eine neue Form der Ode schafft, die wirkliche „Hölderlin-Ode“. Die eigentlich vom Vorbild Klopstocks, den er sehr geliebt und gern gelesen hat, ausgeht, aber dieser historischen Odenform so manches raus nimmt. Zum Beispiel den Reim. Er verkürzt auch die Verse, verschärft die Zeilenbrüche, bringt Fragen, Frageformen mit hinein – und gibt der Ode etwas weniger Liebes und Sanftes. Die wird ruppiger, stakkato-hafter, fast muss es ein bisschen gewesen sein, als würde man Punk hören, was Hölderlin in der Schroffheit seiner Diktion alles gedichtet hat.

Zitator 1: Aufwärts oder hinab! herrschet in heilger Nacht, / wo die stumme Natur werdende Tage sinnt, / herrscht im schiefesten Orkus / nicht ein Grades, ein Recht noch auch? // Dies erfuhr ich. Denn nie, sterblichen Meistern gleich, / habt ihr Himmlischen, ihr Alleserhaltenden, / daß ich wüsste, mit Vorsicht / mich des ebenen Pfads geführt. (Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hg. und mit Erläuterungen versehen von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main: Insel 1989, 74)

OT 22: Oesterle: Darin bildet sich der Zeitumbruch ab. Ich bin überzeugt davon, dass er das wollte. Die Katarakte, die Stufen, die nun neu sind in einer ganz anders wahrgenommenen Geschichte, als Weltgeschichte gedacht. Seine Dichterrolle war ja die, dass er göttliche Heilspläne aufdeckt und offenbart, verborgene Ziele der Natur, oder die tieferen Absichten der „Weltgeschichte“ – eines der Lieblingswörter dieser Gene-ration.

OT 23: Snela: Hölderlin hat ja verschiedentlich bei Schiller Texte eingesandt, damit sie dort in dessen „Musenalmanach“ oder in den anderen Zeitschriften, die er redaktionell betreut hat, erscheinen. Und es gab da Verbesserungsversuche von Schiller und Goethe, die aus diesen sperrigen, gegen den Strich gebürsteten Versen viel glattere Verse machen wollten…

Erzählerin: … weil sie sich an der Einfachheit und Harmonie der Antike orientieren. Auch die Presse versteht nicht, was der junge Autor eigentlich will mit den wenigen Gedichten, die er publiziert.

Zitator 2: [Süffisant:] Für den seltenen Sterblichen, der die neun Gedichte von Hölderlin zu

verstehen sich mit Recht rühmen kann, sollte ein stattlicher Preis ausgesetzt werden, und wir würden selbst den Verfasser nicht von der Mitbewerbung ausschließen. – [Kalt:] Nichts erregt mehr Unwillen, als Nonsens mit Prätension gepaart.

(Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 124)

OT 24: Oesterle: Er war ja keiner, der es drauf angelegt hat, viele und dicke Bücher zu schreiben. Sondern der am liebsten, da gibt´s Briefstellen dazu, seine Gedichte auf Flugblättern

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unter die Menschen gebracht hätte, auf Marktplätzen, in Kneipen. Traut man ihm nicht unbedingt zu, diesem hoch gebildeten Mann. Er war aber der Meinung, dass er das Volk mit seinen Gedichten erregen muss, um es zu heben.

Erzählerin: Nur: Kaum jemand aus dem so genannten „einfachen Volk“ hätte Hölderlins vertrackte, anspielungsreiche Verse verstanden – doch er macht keine Kompro-misse.

OT 25: Oesterle: Ich glaube aber, wenn man ihn mit diesem Gedanken konfrontiert hätte, hätte er gesagt: Das ist eine Sprache außerhalb der Alltagsordnung, die berührt das Überzeitliche, das Göttliche. Die Werkstatt, in der die Geschichte sozusagen hergestellt wird, von ihm aus gesehen. Die muss deswegen so sein, sonst bleibt sie

unterhalb der nötigen Dichte und Komplexität.

Zitator 1: Sollten aber dennoch einige eine solche Sprache zu wenig konventionell finden, so muß ich ihnen gestehen: ich kann nicht anders. (Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 123)

Erzählerin: Auch Autorenkollegen wie Goethe und Schiller distanzieren sich langsam von Hölderlin und nur ein kleiner Kreis von Freunden und Bewunderern hält zu ihm.

OT 26: Oesterle: Seine Poesie war, um als Dichter auf einem Markt eventuell zu überleben, nicht leicht und eingängig genug. Er hat schlicht und ergreifend einen Platz in der damaligen Gesellschaft als Poet nicht finden können.

OT 27: Knubben: Die Tragik seines Lebens besteht ja eigentlich darin: Er hat aus dem Erbe seines Vaters genug Mittel gehabt, mit denen er sich eine freie Schriftstellerexistenz durchaus hätte leisten können. Aber er hat nicht über sein Erbe verfügt, das tat die Mutter und sie hat ihn dabei sehr, sehr klein gehalten und ihm diesen Weg versperrt.

Erzählerin: Hölderlins früh angelegte Melancholie steigert sich im Lauf der Jahre zur Depression, unterbrochen von kurzen euphorischen Phasen. Er sieht sich als unverstandenen Außenseiter, als „Fremdling“.

Zitator 1: Ich fühle nur zu oft, daß ich eben kein seltner Mensch bin. Ich friere und starre in den

Winter, der mich umgiebt. So eisern mein Himmel ist, so steinern bin ich. (Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 79)

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Erzählerin: In seinen Versen taucht nun öfter ein „Ich“ auf, das allein und vom Rand auf idyllische Szenen schaut – wie im Gedicht „Abendphantasie“.

Zitator 1: Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sitzt / der Pflüger, dem Genügsamen raucht sein Herd. / Gastfreundlich tönt dem Wanderer im / friedlichen Dorfe die Abendglocke. // Wohl kehren itzt die Schiffer zum Hafen auch, / in ferneren Städten, fröhlich verrauscht des Markts / geschäftger Lärm; in stiller Laube / glänzt das gesellige Mahl den Freunden. (Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hg. und mit Erläuterungen versehen von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main: Insel 1989, 47f.)

Erzählerin:

Dann kommt der Bruch:

Zitator 1: Wohin denn ich? Es leben die Sterblichen / von Lohn und Arbeit; wechselnd in Müh und Ruh / ist alles freudig; warum schläft denn / nimmer nur mir in der Brust der Stachel? (Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hg. und mit Erläuterungen versehen von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main: Insel 1989, 48)

Erzählerin: Dieses „Wohin denn ich?“ steht nun wie ein Motto über Hölderlins zunehmend getriebenem Leben.

Regie: Musikakzent.

Erzählerin: Ende 1795 ergibt sich die Aussicht auf eine neue Hofmeister-Stelle, diesmal im hessischen Frankfurt bei der reichen Familie Gontard. Hölderlin soll das älteste von vier Kindern erziehen. Der Hausherr ist ein Kaufmann und Bankier, dem es vor allem ums Geschäftemachen geht. Aber er hat eine schöne gebildete Frau, die sich für Literatur, Kunst, Musik und Philosophie interessiert. Sie erinnert Hölderlin sofort an „Diotima“, eine Figur aus seinem Roman „Hyperion“, an dem er gerade arbeitet.

OT 28: Knubben: Als Hölderlin Susette Gontard kennen lernte, an Sylvester 1795, hatte er das Gefühl, sie schon immer gekannt zu haben, ihr schon einmal begegnet zu sein. Diese Frau,

die er schon im Kopf hatte, der er in seinem Roman schon eine Gestalt gegeben hatte, die trat ihm nun buchstäblich gegenüber.

Zitator 1: Diotima! selig Wesen! / Herrliche, durch die mein Geist, / von des Lebens Angst genesen, / Götterjugend sich verheißt! / Unser Himmel wird bestehen, / unergründlich sich verwandt, / hat sich, eh wir uns gesehen, / unser Innerstes gekannt.

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(Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hg. und mit Erläuterungen versehen von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main: Insel 1989, 24)

OT 29: Knubben: Wir müssen uns das so vorstellen, dass Hölderlin und Susette Gontard zwei junge Menschen waren, mit 24, 25 Jahren, die sich in ihren musikalischen Wünschen, in ihren poetischen Vorstellungen entsprachen und eine sehr tiefe Beziehung zueinan-der entwickelt haben. Da der Mann von Susette Gontard zunächst mal nichts dagegen hatte, dass die beiden viel miteinander unternehmen, auch gemeinsam auf eine Reise gingen, hat sich dieses Verhältnis immer stärker intensiviert.

Zitator 1: Es ist eine ewige fröhliche heilige Freundschaft mit einem Wesen, das sich recht in diß arme geist- und ordnungslose Jahrhundert verirrt hat! Mein Schönheitssinn ist

nun vor Störung sicher. Er orientiert sich ewig an diesem Madonnenkopfe. (Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 85)

Erzählerin: Susette Gontard hat ein ebenmäßiges Gesicht, helle Haut, lange schwarze Haare und dunkle Augen.

Zitator 1: Mein Verstand geht in die Schule bei ihr, und mein uneinig´ Gemüth besänftiget, erheitert sich täglich in ihrem genügsamen Frieden. (…) Ich dichte wenig und philosophire beinahe gar nicht mehr. Aber was ich dichte, hat mehr Leben und Form; meine Phantasie ist williger, die Gestalten der Welt in sich aufzunehmen, mein Herz ist voll von Lust... (Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 85)

Erzählerin: Die Begegnung mit Susette Gontard muss Hölderlin wie eine Lösung für seine Probleme erschienen sein. Er hat eine neue Stelle, er liebt und fühlt sich endlich ver-standen – und beginnt wieder zu schreiben. 1797 erscheint der erste Band seines „Hyperion“. Der Briefroman handelt weitgehend vom Griechenland des 18. Jahrhunderts, spricht aber auch von Deutschland zur selben Zeit. Der Grieche Hyperion schildert seinem deutschen Freund Bellarmin rückblickend die Stationen seines Lebens. Immer wieder geht es um die Frage, wie eine von Monarchen und Adel beherrschte unfreie Gesellschaft verändert werden könne. Durch evolutionäre Reifung der Menschen, das meint Hyperion – oder durch Revolution, die sein Freund Alabanda favorisiert.

OT 30: Snela: Das ist ein Strang. Der andere, wohl viel bekanntere, betrifft seine Begegnung mit Diotima, einer Frau, die sein Ideal, sein griechisches Ideal voll verkörpert. Die Liebe zwischen ihnen beiden ist eine Erweckung für Hyperion: einen Glauben zu schöpfen an die Möglichkeit der Befreiung und einer besseren Zeit.

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Erzählerin: Diotima verkörpert Humanität, Schönheit und lebt im Einklang mit der Natur. Sie rät Hyperion, in die Welt hinauszugehen, selbst weiter zu reifen und zum „Erzieher“ seines Volkes zu werden. Doch er folgt Alabanda und nimmt am Befreiungskampf der Griechen gegen die Türken teil, was Diotima enttäuscht. Später schwört Hyperion der Gewalt ab und sieht sich gescheitert, in der Politik wie der Liebe; der Tod von Alabanda und Diotima scheint das nur zu bestätigen. Hyperion irrt durch die Welt und kommt nach Deutschland, wo er eine weitere Enttäuschung erlebt:

Zitator 1: Barbaren von Alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls (…). Es ist ein hartes Wort und dennoch sag´ ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesezte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht wie ein Schlachtfeld,

wo Hände und Arme und alle Glieder zerstükelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt? (Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1. Hg. Von Michael Knaupp. München: Hanser 1992, 754f.)

OT 31: Oesterle: Das haben viele seiner Landsleute, nicht nur in Schwaben, ihm übel genommen,

dass er die Deutschen hier „allberechnende Barbaren“ nennt. Man könnte auch sagen, es war ihm sehr ernst damit, über Deutschland zu sagen: Es ist noch nicht reif für die Freiheit – aber ich will es dahin bringen.

Erzählerin: Am Ende zieht sich Hyperion von den Menschen zurück, lebt als Eremit auf einer griechischen Insel und preist die Schönheit der Natur. Dass er sein Leben in der Rückschau doch nicht als gescheitert sieht, zeigen die oft zitierten letzten Sätze des Romans:

Zitator 1: Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder. Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist Alles. So dacht´ ich. Nächstens mehr. (Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1. Hg. Von Michael Knaupp. München: Hanser 1992, 760)

Erzählerin: Ob Jakob Gontard die Nähe zwischen seiner Frau und dem Hauslehrer irgendwann verdächtig wird, ist nicht bekannt. Aber Hölderlin verlässt Frankfurt im September 1798, weil er sich zunehmend wie ein Bediensteter fühlt, der keine Rechte hat. Er geht zu seinem Freund Sinclair ins nahe Homburg und trifft Susette gelegentlich heimlich – oder sie schreiben sich Briefe, die sie an geheimen Orten für einander verstecken.

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Zitatorin: Ich fühlte es lebhafft, daß ohne Dich mein Leben hinwelkt und langsam stirbt, und zugleich weiß ich gewiß, daß jeder Schritt den ich thun könnte, Dich auf eine heimliche ängstliche Art zu sehen, mit alle den Folgen, die es haben könnte, eben so sehr an meiner Gesundheit, und meiner Ruhe nagen würden. (Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 102)

Erzählerin: Hölderlins Antworten sind nicht erhalten. Es gibt nur Teile von Briefentwürfen wie diesen, der geradezu prophetisch klingt:

Zitator 1: (…) es ist himmelschreiend, wenn wir denken müssen, daß wir beide mit unsern besten Kräften vieleicht vergehen müssen, weil wir uns fehlen.

(Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 104)

Erzählerin: Hölderlin verlässt die Stadt 1800. Susette Gontard wird schwermütig und stirbt zwei Jahre später an den Röteln, sie hat sich bei ihren Kindern angesteckt. – Noch in Homburg plant Hölderlin eine eigene Zeitschrift, von der er als Herausgeber leben will. Vergeblich, die meisten Autoren, die er um Beiträge bittet, sagen ab. Er geht zurück nach Schwaben.

Zitator 2: (…) als er von Homburg zurückkehrte, glaubte man einen Schatten zu sehen, so sehr hatten die inneren Kämpfe und Leiden den einst blühenden Körper angegriffen …

Erzählerin: … schreibt Christoph Theodor Schwab.

Zitator 2: Noch auffallender war die Gereiztheit seines Seelenzustandes; ein zufälliges, unschuldiges Wort, das gar keine Beziehung auf ihn hatte, konnte ihn so sehr aufbringen, daß er die Gesellschaft, in der er sich eben befand, verließ und nie zu derselben wiederkehrte. (Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 109)

Regie: Musikakzent.

Erzählerin: Im Januar 1801 tritt Hölderlin in der Schweiz eine neue Hauslehrerstelle an – nach nur drei Monaten wird ihm gekündigt. Auch der Versuch, Dozent in Jena zu werden, scheitert; Schiller, den er um Vermittlung bittet, antwortet nicht einmal. Dann macht er sich auf den fatalen Weg nach Bordeaux, der sein Leben endgültig verändert.

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OT 32: Knubben: Da werden sicherlich mehrere Gründe zusammengekommen sein. Seine Hoffnung, dass Frankreich nun das Land sei, in dem die Prinzipien der Französischen Revo-lution auch tatsächlich verwirklicht worden wären, das hat sich nicht als solches er-wiesen. Frankreich war nun ein Polizeistaat geworden unter der Herrschaft von Bonaparte, von Napoleon. Auch seine Erfahrungen als Pädagoge waren ja nicht derart, dass man glauben könnte, dass er darin die Erfüllung gefunden hätte.

OT 33: Oesterle: Das ist wirklich sehr schwer zu sagen, was in der tiefen Seele dieses doch noch relativ jungen Mannes sich alles abgespielt hat. Die Trennung von dieser geliebten einmaligen Frau für sein Leben, der kommt wahrscheinlich der größte Anteil zu.

Erzählerin:

Bis heute ist unklar, ob Hölderlin die Nachricht von Susette Gontards Tod noch in Frankreich bekam, auf dem Rückweg oder erst nach seiner Rückkehr.

OT 34: Oesterle: Die andere Seite ist unter Umständen: „Da schlug mich Apoll“, hat er ja gesagt, also zum ersten Mal das Wanken seiner geistigen Kräfte spüren – dass er sich in seiner Dichterrolle vielleicht wirklich vergriffen hatte. Zeitgleich hat er sich mit einem Natur-philosophen aus Griechenland, mit Empedokles beschäftigt und an dem gesehen, dass die Götter ihn mit all ihren Mitteln in die Enge treiben und vernichten wollen – wenn er ihnen zu nahe kommt und den Dingen, die sie doch zu bestimmen haben,

versucht auf den Grund zu gehen…

Erzählerin: Als Hölderlin gebrochen aus Frankreich zurückkehrt, notiert sein Freund Friedrich Schelling:

Zitator 2: Es war ein trauriges Wiedersehn, denn ich überzeugte mich bald daß dieses zart besaitete Instrument auf immer zerstört sey. (Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 121)

Erzählerin: Doch es gibt auch gute Phasen. Dann arbeitet Hölderlin an neuen Gedichten und übersetzt Trauerspiele von Sophokles. Wieder will er den Abstand zwischen der griechischen Antike und seiner eigenen Zeit zeigen. Aber die wenigen Leser finden die heute anerkannten Übersetzungen unverständlich, sie festigen den Ruf eines

„verwirrten“ Autors, der sich erneut missverstanden fühlt.

OT 35: Snela: Wenn er Sophokles übersetzt, dann bedient er sich einer immens sperrigen Sprache, die sich dem Original annähert und sich ums Deutsche nicht so sehr kümmert – oder um die Vorstellungen, wie das Deutsche zu klingen habe, damit es einigermaßen eingängig und gefällig ist. Und gerade darin paradoxerweise lieg die Intensität von Hölderlins Versen, die dadurch erst ihre rätselhafte Kraft entfalten.

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Erzählerin: Als sich Hölderlins Zustand wieder verschlechtert, holt ihn sein Freund Sinclair erneut nach Homburg. Doch Sinclair wird bald wegen freiheitlicher Gedanken als Hoch-verräter angeklagt. Auch Hölderlin gerät ins Visier der Justiz, wird aber nicht verfolgt, weil ihn Ärzte für geistig verwirrt erklären. Spielt er den Verrückten, um der Verfol-gung zu entgehen? Oder haben die Ärzte Gefälligkeitsgutachten erstellt, um ihn zu schützen? Seine Mutter jedenfalls ist endgültig überzeugt, dass ihr missratener Sohn wahnsinnig ist, der nicht Pfarrer sein will, sondern Schriftsteller. Im September 1806 lässt sie ihn gegen seinen Willen nach Tübingen bringen, in die Klinik von Johann Autenrieth.

OT 36: Noack: Man muss dazu sagen, dass Autenrieth ein sehr innovativer Arzt für seine Zeit war,

er hat die psychisch Kranken gesondert behandelt, gesondert beobachtet, ihnen eigene Heilmethoden zukommen lassen, was immer man von denen aus der heutigen Sicht halten mag. Wir dürfen natürlich nicht vergessen, dass wir über 100 Jahre Rückschau halten. Und was dort als psychisch krank oder verrückt deklariert worden ist, würde man heute sicher anders definieren.

Erzählerin: Autenrieth denkt in mancher Hinsicht fortschrittlich, hat aber auch Vorläufer der Zwangsjacke und der Gummizelle erfunden. Und er meint, wie damals üblich, dass der Wille des Patienten gleich anfangs gebrochen werden müsse. Hölderlin, der es liebt, stundenlang durch die Natur zu gehen …

Zitator 1: Komm! ins Offene, Freund! (Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hg. und mit Erläuterungen versehen von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main: Insel 1989, 109)

Erzählerin: … sitzt 231 Tage in einer fast leeren Zelle und wird ständig überwacht. Am Ende entlässt ihn der Arzt als unheilbar krank, aber nicht gemeingefährlich, er habe kaum mehr als drei Jahre zu leben. Autenrieth vermittelt Hölderlin einen „privaten Pflege-platz“, wie man heute sagen würde, bei einem Schreiner, der 1807 ein Haus am Neckar bezogen hat.

OT 37: Noack: Was das Besondere ist, dass Ernst Friedrich Zimmer hoch belesen war. Er hat die

Philosophen und Dichter seiner Zeit gelesen, gekannt und geschätzt – und kannte Hölderlins einzigen Roman „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“, hat den in so einer Art Lesekreis mit mehreren zusammen gelesen. Was mir bis heute immer noch Gänsehaut macht, ist: dass der Schreinermeister, der zwei Jahre jünger war als Hölderlin, also um die 30 herum, zugesagt hat – bereit war, den eigentlich Fremden, den er ja nur über sein Werk kannte und sonst nicht weiter und nicht wissend, worauf er sich da möglicherweise einlässt, zugesagt hat, ihn bei sich und seiner jungen Familie aufzunehmen. Er hat ihm im Turm im ersten Stock ein Zimmer eingerichtet. Links und rechts waren die Räume der Familie, unmittelbar angrenzend Schlaf-

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zimmer, Wohnzimmer, Küche. Also Hölderlin war richtig eingebettet in diesem familiären Gefüge.

Erzählerin: Heute befindet sich im Haus das Hölderlinmuseum, das Leser aus der ganzen Welt besuchen. Höhepunkt ist der Turm mit dem halbmondförmigen Zimmer des Dichters.

OT 38: Noack: Wir schauen hier aus drei Fenstern, haben den Blick von Osten über Süden nach Westen, können den Tagesablauf förmlich verfolgen. Hölderlin hatte die Natur vor Augen, die Weiden, die er auch in seiner Ode „Der Neckar“ besingt.

Zitator 1: In deinen Tälern wachte mein Herz mir auf / zum Leben, deine Wellen umspielten

mich, / und all der holden Hügel, die dich, / Wanderer! kennen, ist keiner fremd mir. (Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hg. und mit Erläuterungen versehen von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main: Insel 1989, 53)

OT 39: Noack: Er hatte den Fluss vor Augen, er konnte auf die Schwäbische Alb schauen…

Erzählerin: … von der jetzt nichts mehr zu sehen ist. Man schaut auf große Platanen am Neckar-ufer, dahinter breitet sich die Stadt aus mit Wohn- und Gewerbegebieten. Es hat sich viel verändert seit Hölderlins Zeit.

OT 40: Noack: Der Ort selbst, das Gebäude selbst ist ja nun leider nicht mehr authentisch. Das Haus ist 1875 bis auf die Grundmauern, wie es heißt, abgebrannt, und ist danach ein Jahr später so wie wir es heute kennen aufgebaut worden. Der ursprüngliche Turm war ein angeschnittenes Oktaeder, das heißt, Hölderlins Zimmer war nicht rund, sondern hatte Ecken, es hatte zwei Fenster mehr. Es ist ein relativ kleines Zimmerchen. Tisch und Pult und Bett hatten hier ihren Platz, viel mehr aber auch nicht. Aber er hat sich hier sehr wohl gefühlt und war immer sehr verunsichert, wenn wegen Renovierung oder Putzarbeiten er den Raum und den Ort hier verlassen musste.

Regie: Musikakzent.

Erzählerin:

Aus den drei Jahren Lebenserwartung, die der Arzt Hölderlin gibt, werden 36. Als Autor und in der Liebe, vielleicht sogar als „Erzieher“ seines Volkes muss er sich gänzlich gescheitert gefühlt haben. Er meidet den Kontakt zu Menschen, zieht sich in sich zurück. Im Turm geht er stundenlang auf und ab oder spielt Klavier, kurze Stücke, die er zigmal wiederholt. Manchmal zieht er Grimassen, seine Arme zucken unkontrolliert. Nur mit dem jungen Autor Wilhelm Waiblinger geht er ab und zu spazieren, oder sie sitzen in einer Hütte am Tübinger Österberg, schauen in die Natur, rauchen und schweigen.

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OT 41: Oesterle: Ich folge ganz gern Wilhelm Waiblinger, der sagt, er kann als Laie, aber junger intuitionsstarker Mensch, eigentlich nichts von Wahnsinn und Verrücktheit an ihm entdecken. Nur eine große Nervosität, Erschöpfung, er hat viele Beschreibungen dafür, um einen Mann darzustellen, der seine Kraft verausgabt hat. Das Gefühl: „Schämen die Menschen sich meiner denn so ganz?“, wie er im Brief mal schreibt. Als würde er am Rand der Menschheit leben und wär´ sozusagen ein von allen Ausgebürgerter und Verstoßener.

OT 42: Knubben: Der Turm mag für ihn auch eine Rettung gewesen sein. Weg von den Zumutungen der Welt, weg von den Zumutungen der Mutter und all den Forderungen, die auf ihn eingeprasselt waren. Da konnte er sich zurückziehen.

Erzählerin: Rechnet man das Vermögen von Hölderlins Mutter in Euro um, ist sie Millionärin. Von Nürtingen aus bezahlt sie der Familie Zimmer einen Teil der geringen Pflegekosten, für den anderen kommt ein „Gnadengeld“ auf, das sie beim Stuttgarter Konsistorium erbettelt. Sie besucht ihren Sohn kein einziges Mal im nahen Tübingen. Kommen selten genug andere Angehörige, gerät Hölderlin in Rage, wie Ernst Zimmer berichtet:

Zitator 2: Hölderlin kan aber seine Verwanten nicht ausstehen, wenn sie ihn nach langen Jahren besuchen, so fährt er wüthend auf sie ein… (Gunter Martens: Friedrich Hölderlin. Reinbek: Rowohlt 2010, 134)

Erzählerin: Aber er schreibt im Turm – wenn er Papier bekommt. Die Ärzte meinen offenbar,

dass sein so genannter „Wahnsinn“ auch mit dem Schreiben zusammenhänge.

OT 43: Noack: Wenn er dann Papier bekam, hat er seine Gedichte geschrieben, die nicht mehr vergleichbar sind mit den früheren Oden und Elegien. Meist zwei- oder dreistrophige Gedichte, sie reimen sich wunderbar. Sie sind von einer seltsamen Schlichtheit, mit wiederkehrenden Themen. Die großen wichtigen Themen Hölderlins: die Natur, die Harmonie zwischen den Menschen, der Natur und dem von Göttern bewohnten Himmel, taucht auch da immer noch auf.

Erzählerin: Doch es gibt auch Gedichte wie dieses:

Zitator 1: Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen, / die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen, / April und Mai und Julius sind ferne, / ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne.

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(Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hg. und mit Erläuterungen versehen von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main: Insel 1989, 266)

Erzählerin: Die späten Gedichte werden lang als peinliches Zeugnis dafür betrachtet, was vom Geist eines großen Dichters übrig geblieben sei. Aber seit dem 20. Jahrhundert sind sie Gegenstand der Germanistik und gelten heute als fester Bestandteil von Hölder-lins Werk.

OT 44: Noack: Das Besondere und Befremdliche an ihnen ist, dass sie, wenn überhaupt, mit einem ganz anderen Namen unterzeichnet sind. Hölderlin hat ein Pseudonym gewählt, von dem man den Ursprung nicht weiß. Man kann auch da einmal mehr nur mutmaßen. Er hat sich Scardanelli genannt und er hat die Gedichte – scheinbar, sag ich mal

dazu – beliebig datiert.

Erzählerin: Hölderlin lebt von 1770 bis 1843, datiert seine späten Gedichte aber gerne mal mit 1671 oder 1940 und zeichnet „Mit Untertänigkeit, Scardanelli“ – was denen, die ihn für krank halten, als neuer Beweis seines Irrsinns dient.

OT 45: Noack: Ich finde, er hat sich an der Stelle auch befreit, er hat seinen Namen abgelegt. Als Ludwig Uhland und Gustav Schwab ihm den Gedichtband, den sie mit seinen Texten herausgebracht haben, überreichten, 1826, hat er gesagt: Ja, die Gedichte sind echt, die sind von mir. Aber der Name ist gefälscht. Ich habe nie Hölderlin geheißen, sondern Scardanelli. Er hat diesen Namen abgelegt, er hat sich die Menschen, die ihn in scheuer Ehrfurcht besucht und um ihn gewusst haben, vom Leib gehalten. Die wenigen Besucher hat er mit „gnädiger Herr Pater“ oder „Eure Majestät“ begrüßt – das schafft ja schon eine enorme Distanz. Und er hat auch diese beengenden Gren-zen der Zeit, in der er sich bewegt hat, abgelegt, in dem er diese Daten geschaffen hat.

OT 46: Oesterle: Ich neig sehr zu der Sichtweise von Walter Muschg, dem großen Schweizer Literaturhistoriker, der über die Tübinger Zeit geschrieben hat: „Der Abgrund zwischen Hölderlin und den Menschen hatte sich nun ins Ungeheuere erweitert. Aber es war immer noch derselbe Abgrund wie früher.“

Regie: Musikakzent.

Erzählerin: War Hölderlin verrückt oder nicht? Die Krankenakten aus Autenrieths Klinik und der Zeit im Turm sind verloren gegangen. Erhalten sind freilich Listen mit Medikamenten, die er Jahrzehnte lang bekam, Beruhigungsmittel zum Beispiel.

OT 47: Horowski: Belladonna war damals das wichtigste sedierende Mittel, das man hatte…

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Erzählerin: … sagt der Arzt und Pharmakologe Reinhard Horowski, Autor des Buchs „Hölderlin war nicht verrückt – eine Streitschrift“.

OT 48: Horowski: Belladonna führt unter anderem bei Überdosierung – und es ist sehr schwer zu dosieren – zu Halluzinationen. Das hat ihm sicher nicht gut getan.

Erzählerin: Reinhard Horowski geht davon aus, dass der Dichter wohl durchaus an schweren Depressionen und Stimmungsschwankungen litt, aber von einer Geisteskrankheit könne keine Rede sein. Er hat Hölderlins Arzneilisten ausgewertet und meint, dass er an einer schleichenden Vergiftung durch Medikamente litt – etwa durch Kalomel, ein

hochgiftiges Quecksilberchlorid. Ernst Zimmer schreibt einmal, Hölderlins körperlicher Zustand sei gut, nur seien ihm seltsamerweise die Schneidezähne ausgefallen.

OT 49: Horowski: Das ist ein typischer Hinweis auf eine Kalomel-Vergiftung. Es gibt keine anderen Gifte, wo ganz spezifisch Vorderzähne ausfallen. Außerdem haben verschiedene Besucher immer wieder berichtet, wie er gezuckt hat im Gesicht, nervöse Zuckungen hatte, einen nervösen Tick, und wie das auch in den Arm und in die Hand überging.

Erzählerin: Auch das ist ein Symptom bei Kalomel-Vergiftung. Nach Hölderlins Tod untersuchen Ärzte bei der Autopsie vor allem sein Gehirn, finden jedoch keine Anzeichen für eine krankhafte Veränderung.

OT 50: Horowski: Aber so en passant stellen sie fest, er hat einen völlig verknöcherten Aortenbogen. Und diese Aortensklerose führt zu schweren Durchblutungsstörungen, vor allem im Ruhezustand. Das heißt: Wenn Hölderlin nachts keine Luft mehr bekam, nicht mehr genug Blut, nicht mehr genug Sauerstoff ins Gehirn bekam, dann musste er aufspringen und sich bewegen und den Blutdruck steigern. Er rannte dann an die frische Luft raus, um durch die Bewegung wieder richtig atmen zu können und nicht diesen Sauerstoffmangel zu haben. Und wenn er dann schon im Garten war, hat er griechische Verse rezitiert, die hat er im Gehen oder im Hüpfen rezitiert. Da die Nachbarn dort alle keine Ahnung von Griechisch hatten, erschien das als geisteskrank.

Erzählerin: Im späten 19. und dem 20. Jahrhundert befassen sich etliche Psychiater mit dem „Fall“ Hölderlin und diagnostizieren „Katatone Schizophrenie“ – die üblicherweise Stimmenhören einschließt, wovon bei Hölderlin aber nichts bekannt ist.

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OT 51: Horowski: Wenn man die Gedichte von Hölderlin liest auch aus seinem letzten Lebensjahr oder der Zeit davor, dann ist völlig klar, dass ein Schizophrener solche Gedichte einfach nicht schreiben kann. Und das Katatone ist noch besonders falsch. Denn Katatonie ist ein Zustand, wo ein Schizophrener, und das gibt´s auch heute noch, sich praktisch nicht mehr bewegt, irgendwelche Positionen, in die man ihn bringt, einbehält, sich auch nicht mehr rührt.

OT 52: Noack: Friedrich Hölderlin hat seinen Freund Ernst Friedrich Zimmer überlebt um einige Jahre. Die letzten Lebensjahre Hölderlins war die jüngste Tochter Lotte für die Pflege verantwortlich, die auch an seinem Sterbebett dann saß. Er ist im Juni 1843 in dem Türmchen in seinem Bett gestorben…

Erzählerin: … und wurde auf dem Tübinger Friedhof begraben, der damals ruhig am Stadtrand lag.

OT 53: Noack: Wir sind jetzt an dem wunderbaren Stadtfriedhof an Hölderlins Grab angekommen, im ersten Abendlicht. Idyllisch ist es hier drumrum, wenn man den Lärm der benachbarten Straße ausschalten kann. Eine mehrspurige Straße führt hier hoch zu den Kliniken, die muss man einfach ignorieren. Das Grab liegt unmittelbar neben dieser Straße, ein schlichter Sandstein. Das Schöne ist, wenn ich hier immer wieder vorbeikomme, zu sehen, was sich wieder geändert hat. Immer wieder kommen Hölderlin-Verehrer vorbei, legen was ab, einen kleinen Stein auf den Grabstein selbst, legen eine Blume hin, zünden eine Kerze an. Der Grabstein ist von seinem Stiefbruder dereinst gestiftet worden und aufgestellt worden. Was ins Auge fällt ist das Geburtsdatum. Dort steht 29. März 1770 und nicht 20. März 1770, was eigentlich korrekt wäre…

Erzählerin: Hölderlin, der es in seinen späten Texten mit der Datierung nicht so genau nahm, würde das wohl nicht gestört haben…

OT 54: Oesterle: Er war Jahrzehnte lang vergessen nach seinem Tod. Erst die Moderne hat ihn dann mit anderen und neuen Augen gesehen.

OT 55: Noack:

Stefan George in den 1920er Jahren und davor hat ihn zu neuem Ruhm gebracht, in dem er gerade auch die späten Gedichte Hölderlins, die im Turm entstanden sind, wertgeschätzt hat und ihnen zu einer größeren Öffentlichkeit verholfen hat. Wichtige Autoren waren die Expressionisten, die ja selber die Sprache im Grunde neu erfinden wollten. Und die haben in Hölderlin viel von dem gefunden, was sie selber ausprobiert haben. Also Sprache neu zu entdecken, diese Neologismen, die Hölderlin entwickelt hat. Sie müssen ja nur das heute berühmteste Gedicht „Hälfte des Lebens“ nehmen, wo vom „heilignüchternen“ Wasser die Rede ist, wo das Land in den See „hängt“.

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Zitator 1: Hälfte des Lebens Mit gelben Birnen hänget / und voll mit wilden Rosen / das Land in den See, / ihr holden Schwäne, / und trunken von Küssen / tunkt ihr das Haupt / ins heilignüchterne Wasser. // Weh mir, wo nehm ich, wenn / es Winter ist, die Blumen, und wo / den Sonnenschein, / und Schatten der Erde? / Die Mauern stehn / sprachlos und kalt, im Winde / klirren die Fahnen. (Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hg. und mit Erläuterungen versehen von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main: Insel 1989, 134f.)

Erzählerin: Im 20. Jahrhundert wird Hölderlins Werk in alle Weltsprachen übersetzt. Seine oft dunklen oder widersprüchlichen Texte laden freilich auch dazu ein, sie politisch zu

deuten. Jeder nimmt sich heraus, was er braucht:

OT 56: Oesterle: In den Soldatentornistern beider Weltkriege fanden sich Gedichte, die den Kriegstod verklären, den „Tod fürs Vaterland“, wie er selbst sagt. Die Lieder im Geist von Revolution und Republik sind schließlich von der Linken vereinnahmt worden, um ihn als Vorläufer von Sozialismus und Kommunismus zu sehen. Klar ist am Ende auf jeden Fall, dass kein Dichter in Deutschland so oft und intensiv für politische Welt-deutung beansprucht wurde, wie er. Man könnte heute zum Beispiel ohne weiteres in seinem „Heiligtum Natur“ noch einen „grünen“ Hölderlin entdecken, wenn man wollte. Selbst an seinem Grab auf dem Tübinger Stadtfriedhof kann man diesen politischen Gebrauch oder Missbrauch noch ablesen.

Erzählerin: 1943, zum hundertsten Todestag, wurde das Grab mit Nazikränzen überhäuft.

OT 57: Oesterle: Und 1968 sind Studenten dort aufgezogen, haben seinen Stein mit Stacheldraht umwickelt und skandiert: „Schlagt die blaue Blume tot, macht die Germanistik rot!“

Erzählerin: Friedrich Hölderlins Werk hat all das gelassen überstanden. Die Antwort auf die Drehungen und Wendungen des Zeitgeistes gab er schon in seinem Gedicht „Andenken“:

Zitator 1:

Was bleibet aber, stiften die Dichter. (Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hg. und mit Erläuterungen versehen von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main: Insel 1989, 196)

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