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Essstörungen –Aspekte der stationären Behandlung
Igor Djukic
BKH Augsburg
Augsburg 1518
Anna Lamenittia
• behauptete, dass sie jahrelang nichts aß und trank und
sich nur vom Geist Gottes ernährte
• soll dabei auch Zwiegespräche mit Gott geführt haben,
der ihr besondere Mysterien offenbarte
• wurde von vielen für eine Heilige gehalten und war über
die Stadtgrenzen hinaus bekannt
Fastenheilige als Vorbilder
Heiliger Antonius:
„Nahrung nahm er einmal täglich nach Sonnenuntergang
zu sich. Bisweilen aß er nur alle zwei, oft aber auch bloß
alle vier Tage. Er lebte von Brot und Salz, als Getränk
diente ihm nur Wasser“
(aus „Vita Antonii“,nach Athanasius,4.Jhr.)
Heilige Katharina von Siena
Neurosen haben ihren Zeitstil.
In bestimmtem Situationen blühen sie auf,
In anderen werden sie fast unsichtbar.
Karl Jaspers
Schlankheitsideal
Leistungsorientierung
Selbstoptimierung
Wer hilft?
Psychotherapie
und
Psychosomatik am
BKH Augsburg
Psychotherapie
und
Psychosomatik am
BKH Augsburg
Station G3
Psychotherapie und
Psychosomatik
Hochgradiges Untergewicht Grad I: 13-15,9
Hochgradiges Untergewicht Grad II: < 13
Anorexia nervosa▪ Prävalenz: ca. 0,3 (bis 1 %) bei
Frauen zwischen 15 und 18 Jahren
▪ Ersterkrankungsalter: 2 Häufigkeits-
gipfel (14 und 18 Jahre)
▪ Verhältnis Frauen/Männer: 11 : 1
▪ Risikopopulationen: Berufe, bei
denen Körpergewicht und Aussehen besonders wichtig
sind (Model, Balletttänzerin, Leistungssportler)
▪ Inzidenzrate: 8 Neuerkrankungsfälle/100 000 Einwohner
▪ Nach Studienlage kein Anstieg der Inzidenz und Prävalenz
in den letzten 20 Jahren
Anorexia nervosa
• AFFEKTIVE EBENE:
− starke ANGST vor Gewichtszunahme (→wird nicht
durch Gewichtsverlust vermindert!)
− Niedriges Selbstwertgefühl (gekoppelt an Figur und
Gewicht)
− Insuffizienz- und
Schamgefühle
Anorexia nervosa
• KOGNITIVE EBENE:
− Geringe Krankheitseinsicht
− Wahrnehmungsstörung bzgl. der eigenen Figur/ Verkennung des kachektischen Zustands
− Streben nach extremer Schlankheit
− Ständige kognitive Beschäftigung mit dem Essen
− Leistungsorientiertheit
− Perfektionismus
− Gewichtsverlust wird positiv erlebt: als Zeichen von Stärke und außergewöhnlicher Selbstdisziplin)
Kernüberzeugungen
Anorexia nervosa
• VERHALTENSEBENE:
− Bizarre Verhaltensweisen im Umgang mit Essen (Essen
wird in kleine Stücke geschnitten, langsames Verzehren,
langen Kauen mit anschließendem Ausspucken, Lesen
von Kochbüchern, Auswendiglernen von Rezepten,
Zubereiten von meist hochkalorischen Mahlzeiten für
andere Personen, Wiegen nach jedem Essen,
Hyperaktivität)
− Nahrungsrestriktion
− Essanfälle
− Kompensatorische Maßnahmen
Anorexia nervosa
• PHYSIOLOGISCHE EBENE:
− Vermindertes Körpergewicht
− Hormonelle Funktionsstörung (Amenorrhoe)
− Verzögerung der pubertären Entwicklung
− Veränderung der Interezeptionsfähigkeit (Reize wie
Hunger werden verändert wahrgenommen oder
geleugnet)
− Wahrnehmen von Völlegefühl, Übelkeit, Blähungen nach
Aufnahme kleinster Nahrungsmengen
− Verminderte Schmerzempfindlichkeit
Anorexia nervosa – Mortalität
• Höchste Sterblichkeitsrate unter allen psychiatrischen
Erkrankungen (Mortalität 10%!)
• 4x höheres Risiko zu sterben (0,56% der Erkrankten
sterben durchschnittlich pro Jahr)
• Todesursachen: bei 54% medizinische Komplikationen,
27% der Betroffenen suizidieren sich
• Therapieabbruchrate bei Anorexia nervosa: 22-57%
Bulimia nervosa
▪ Prävalenz: ca. 1%, 3x so häufig wie
Anorexie
▪ Ersterkrankungsalter: 20 - 24 Jahre
▪ Mortalität: ca. 1,6%,
▪ Inzidenz 11,5-13,5/ 100 000 Einwohner
▪ Verhältnis Frauen: Männer 33 :1
▪ Häufig Anorexia nervosa in der Vorgeschichte
Bulimia nervosa
• Andauernde Beschäftigung mit Essen
• Essanfälle
− Konsum großer Nahrungsmengen in kurzer Zeit, Dauer
15-60 Minuten, im Durchschnitt 10/Woche, geheim,
3000-4000 kcal/Anfall, meist hochkalorische
Lebensmittel, auf die sonst rigoros verzichtet wird
− mindestens 2x/Woche innerhalb von 3 Monaten (bzw.
1x/Woche laut DSM V)
− Gefühl von Kontrollverlust während der Essanfälle
Bulimia nervosa
• Selbstwahrnehmung als „zu fett“, gewichtsphobische
Ängste, übermäßige Abhängigkeit des Selbstwertgefühls
von Figur und Gewicht
• Kompensatorische Maßnahmen, die eine
Gewichtszunahme verhindern
− selbstinduziertes Erbrechen
− Missbrauch von Abführmitteln
− zeitweilige Hungerperioden
− Appetitzügler, Schilddrüsenpräparate oder Diuretika,
Insulinmanipulation bei Diabetikern
− Übermäßige körperliche Aktivität
Binge-eating Störung
• Wiederholte Episoden von Essanfällen (mindestens
1x/Woche für 3 Monate)
• Mindestens drei der folgenden Kriterien:
− viel schneller Essen als normal
− Essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl
− Große Mengen essen ohne körperliches Hungergefühl
− Alleine essen aus Scham über die zugeführten Mengen
− Ekelgefühle, Deprimiertheit, Schuldgefühle nach dem
Essanfall
• Ausgeprägter Leidensdruck
• Keine kompensatorischen Maßnahmen, keine
Anorexie/Bulimie
Komorbidität
• Depressionen (>50%, bis zu 94%)
• Angststörungen (40-90%)
• Zwangsstörungen (30-40%)
• Alkohol- und Substanzmissbrauch
− Bulimie: 40%
− Anorexie: 12-18%
• Persönlichkeitsstörungen (ca. 2/3)
• ADHS (erhöht Risiko für eine Essstörung um bis zu 20%)
• Selbstverletzendes Verhalten
− Restriktive Anorexie (14-42%)
− Anorexie vom binge-burging-Typ (28-68%)
− Bulimie (26-55%)
Multifaktorielle Genese
• Individuelle Faktoren
− Gefühl eigener Unzulänglichkeit, mangelndes
Selbstwertgefühl, hohes Leistungsstreben
• Biologische Faktoren
− Genetische Komponente, serotonerge Dysfunktion, Pubertät
• Soziokulturelle Einflüsse
− Schlankheitsideal, Medien, Diät
• Familiäre Einflüsse
− Eltern als Modelle, überbehüteter Erziehungsstil
• Lebensgeschichtliche Risikofaktoren
− Übergewicht in der Kindheit, belastende Lebensereignisse,
kritische Kommentare zu Gewicht/Figur
Leistungsdenken/ Perfektionismus
• Funktion:
− stabilisiert das geringe und meist instabile
Selbstwertgefühl, aus dem Versagensängste
resultieren
→ diese sind begleitet vom ständigen Gefühl, die
eigenen hohen Ansprüche nicht erfüllen zu können,
was zu permanenter Selbstkritik und chronischer
Selbstabwertung führt
Leistungsdenken/ Perfektionismus
− durch eine starke Selbstkontrolle soll das befürchtete
Versagen bzgl. der eigenen hohen Ansprüche vermieden
werden
− um das subjektive Gefühl der Kontrolle zu erhalten,
werden selbst auferlegte Prinzipien hartnäckig verfolgt
und bestimmte „Leistungsbereiche“(z.B.
Essgewohnheiten/Gewicht/Figur) kontinuierlich
überwacht
Mögliche Funktionen der Essstörungen
▪ Unterdrückung von als unangenehm erlebten Gefühlen
▪ Verbesserung des Selbstbildes (Schlankheitsideal,
Erleben von Leistungsfähigkeit)
▪ Erleben von Autonomie durch Gewichtskontrolle
Mögliche Funktionen der Essstörungen
▪ Vermeidung der Auseinandersetzung mit anderen Problembereichen
▪ Wunsch nach Aufmerksamkeit und Zuwendung
▪ Abgrenzung gegenüber Anforderungen von außen
▪ Vermeidung der Auseinandersetzung mitEntwicklungsaufgaben
▪ Stabilisierung des Familiensystems
Indikation für stationäre Behandlung
• Rapider oder anhaltender Gewichtsverlust (>20% über
sechs Monate)
• Gravierendes Untergewicht (BMI < 15)
• Fehlender Erfolg einer ambulanten Behandlung
• Unzureichende Gewichtszunahme über 3 Monate
• Soziale oder familiäre Einflussfaktoren, die einen
Gesundungsprozess stark behindern (z.B. soziale
Isolation, problematische familiäre Situation)
• Krankheitsschwere und/ oder ausgeprägte psychische
Komorbidität
Indikation für stationäre Behandlung
• Schwere bulimische Symptomatik oder exzessiver Bewegungsdrang, der ambulant nicht beherrscht werden kann
• Körperliche Gefährdung oder medizinische Komplikationen
• Geringe Krankheitseinsicht
• Überforderung im ambulanten Setting, da dieses zu wenig strukturierende Vorgaben (z.B. Mahlzeitenstruktur) bieten kann
• Notwendigkeit der Behandlung durch ein multi-professionelles Team
• Suizidalität
Therapiebausteine
Stationäre Psychotherapie
„Two-Track-Approach“
Zweigleisige Vorgehensweise
1. Kurzfristige Veränderung des Essverhaltens:
▪ Gewichtsrestoration (im Extremfall auch durch invasive
Methoden wie künstliche Ernährung)
▪ Vorgehen: normal- bis hochkalorische Kost mit
pflegerischer Betreuung
▪ zunächst Selbstbestimmungsphase
▪ bei Ausbleiben der erwünschten Gewichtszunahme:
Fremdkontrollphase
Stationäre Psychotherapie
„Two-Track-Approach“
▪ GEWICHTSVERTRAG: Festlegen eines Mindest-
gewichts, wöchentliche Gewichtszunahme, regel-
mäßiges Wiegen unter Sicht, Vorzeigen des Tabletts,
Sitzzeit nach Ende der Mahlzeit, Festlegen positiver
Verstärker und Konsequenzen bei Nichteinhaltung des
Vertrags
▪ Normalisierung des Essverhaltens (ausreichende
Kalorienzufuhr, adäquate Nahrungszusammensetzung,
zeitliche Verteilung der Nahrungsaufnahme)
Beispiel für Therapieplan/ operanten Verstärkerplan
Gewichtsverlaufskurve
Stationäre Psychotherapie
„Two-Track-Approach“
▪ Vorgehen: Ernährungsmanagement
− Selbstbeobachtung mittels Essprotokollen
− Informationsvermittlung
− stufenweise praktisches Einüben eines normalen,
spontanen und ausreichenden Essverhaltens
ZIEL:
➢ Etablierung eines natürlichen Hunger- und
Sättigungsgefühls
➢ Abbau kognitiver Kontrolle über die
Nahrungsaufnahme
Stationäre Psychotherapie
„Two-Track-Approach“
2. Langfristige Veränderung des Essverhaltens
Veränderung der krankheitsauslösenden und
aufrechterhaltenden psychosozialen Belastungsfaktoren:
▪ Erarbeiten des individuellen Störungsmodells
▪ Kognitive Umstrukturierung (Identifikation und
Modifikation dysfunktionaler Gedanken)
▪ Training der Emotionsregulation
▪ Förderung von Konflikt- und Problemlösekompetenzen
Stationäre Psychotherapie
„Two-Track-Approach“
2. Langfristige Veränderung des Essverhaltens
▪ Verbesserung der Kommunikationsfertigkeiten
▪ Stärkung der sozialen Kompetenz und der Ressourcen
▪ Verbesserung des negativen Körperbildes
▪ Aufbau des Selbstwertgefühls und positiver Aktivitäten
▪ Konfrontationstherapie
▪ Genusstraining
▪ Einbezug der Angehörigen bei dysfunktionalen familiären Interaktionsmustern
▪ Stabilisierung des neu erlernten Verhaltens und die Vorbeugung von Rückfällen
Training emotionaler Kompetenzen (TEK)
Körperbildstörung
• Zentraler Faktor für Entstehung und Aufrechterhaltung
• Prädiktor für den Behandlungsverlauf
• Ziel: Akzeptanz des gesunden Normalgewichts
• Gewicht/ Esserhalten ↑ ≠ Körperbildstörung↓
• Direkte Interventionen sind dringend erforderlich
− Selbstwertstärkung (andere Quellen erschließen)
− Positive körperbezogene Aktivitäten
− Abbau des körperbezogenen Vermeidungs- und Kontrollverhaltens
− Korrektur der Körperwahrnehmungsstörung
Körperakzeptanz
• Gefühle:
− Wohlfühlübungen (schöne Kleidung tragen, ein Duftbadnehmen, sich in die Sonne legen, barfuß durchs Gras laufen, in eine warme Decke kuscheln usw.)
− Umgang mit Sich-Dick-FÜHLEN
• Verhalten:
− Angstübungen zum Abbau von körperbezogenem Vermeidungs-und Kontrollverhalten
Körperakzeptanz
• Wahrnehmung:
− neutrale/positive Spiegelkonfrontation
− Videokonfrontation
− Zeichen- und Abtastübungen, Körperumrisszeichnung
− Seilübung
• Gedanken:
− Automatische Gedanken identifizieren
− Grundannahmen identifizieren
− Disputation von Kognitionen
− Umgang mit Figurvergleichen
Beispiel eines Selbstbildnisses vor und nach dem Abtasten
Beispiele für Tonfiguren aus der Modellierübung
Verlauf von Anorexie und Bulimie
• Langzeitstudie: nach 13 Jahren gelten 60% als genesen,
26 % als gebessert, 13% haben weiterhin
Krankheitssymptome
• Subklinisch symptomatisch: 30-40%
• Chronischer Verlauf: 10-20%
• Restriktive Symptomatik kippt häufig in bulimische um
• Cave: gedankliche Überbeschäftigung mit den Themen
Essen/Figur/Gewicht bessert sich zuletzt!
Was wurde aus
Anna Lamenittia ?
• wurde als Betrügerin entlarvt: auf Anordnung von
Kunigunda, der Witwe des Herzogs von Bayern, wurde
sie heimlich beobachtet, als sie sie sich allein wähnte.
• Schon bald stellte sich heraus, dass sie 2 Beutel unter
ihrem Bett verborgen hatte-der eine enthielt
verschiedenes Gebäck, der andere Äpfel und Birnen
• Wurde daraufhin auf Anordnung des Kaisers Maximilian
I. ins Kloster gesteckt, wo sie wegen ihres „gottlosen
Lebens“ verjagt wurde
• Ihr lockerer Lebenswandel führte schließlich dazu, dass
sie im Jahre 1518 zum Tode verurteilt wurde
Literatur