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1 Ethik Moral Die Begriffe Ethik und Moral werden häufig nicht trennscharf benutzt. Historisch betrachtet bezeichnet der Begriff „Moral“ zunächst übliches Verhalten oder gelebte Sitte (> lat. Mos = Sitte, Gebrauch). In dieser Bedeutung wird der Begriff i.d.R. auch im angelsächsischen Sprachraum benutzt (z.B. moral economy oft he poor bei Thompson = übliche ökonomische Haltung von Armen). Im Deutschen bezieht sich der Begriff moralisch dagegen meistens auf das spezifische Verständnis der Moralität bei Kant (= Handlungen, die aus Pflicht getan werden). Man kann davon ausgehen, dass zur Verhaltensregelung ursprünglich Moral ausreichte. Ein bestimmter Kanon von Handlungs- und Verhaltensweisen ist kulturell unreflektiert vorgegeben und wird einfach als Rahmen für das eigene Entscheiden akzeptiert (vgl. Heideggers „Man“). Vor allem in archaischen Gesellschaften mit segmentärer

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Ethik – Moral

Die Begriffe Ethik und Moral

werden häufig nicht

trennscharf benutzt.

Historisch betrachtet

bezeichnet der Begriff

„Moral“ zunächst übliches

Verhalten oder gelebte Sitte

(> lat. Mos = Sitte,

Gebrauch). In dieser

Bedeutung wird der Begriff

i.d.R. auch im

angelsächsischen

Sprachraum benutzt (z.B.

moral economy oft he poor

bei Thompson = übliche

ökonomische Haltung von

Armen). Im Deutschen

bezieht sich der Begriff

moralisch dagegen meistens

auf das spezifische

Verständnis der Moralität bei Kant (= Handlungen, die aus Pflicht getan werden).

Man kann davon ausgehen, dass zur Verhaltensregelung ursprünglich Moral ausreichte. Ein

bestimmter Kanon von Handlungs- und Verhaltensweisen ist kulturell unreflektiert

vorgegeben und wird einfach als Rahmen für das eigene Entscheiden akzeptiert (vgl.

Heideggers „Man“). Vor allem in archaischen Gesellschaften mit segmentärer

2

Differenzierung wird der Entscheidungsrahmen durch die Ehrfurcht vor den Göttern/dem

Numinosen hergestellt, Handlungsreglementierung erfolgt durch Tabus (vgl. lat nefas).

Vor allem im Übergang zur hochkulturellen Standesgesellschaften mit stratifikatorischer

Differenzierung entwickeln sich Standesethiken, die das Verhalten der Personen darüber

steuern, dass bestimmte Verhaltensweise für die Aufrechterhaltung des Ansehens, des

Standes und der Abgrenzung gegenüber (vor allem niedriger) Stände erwartet oder als

notwendig empfunden werden. Von einem freien Adligen kann erwartet werden, dass er

sich großzügig und nicht kleinlich zeigt, dass er sich um Bildung kümmert, sich besonnen

zeigt usw. (vgl. die Megalopychia als Wert im klass. Griechenland), da ein anderes Verhalten

eine pöbelhafte Gesinnung (vgl. Pöbel, peuble, populus und die heutige Verwendung des

Begriffs „gemein“) verriete. Grundlage ist die persönliche Ehre und die Ehre des Standes

(noblesse oblige) und gerade keine ethische Universalisierung mit Bezug auf alle Menschen.

Es geht nicht um Pflichten, die für alle Menschen aus moralischen Gründen gelten, sondern

um solche, mit denen man sich gerade von der Mehrheit abgrenzen kann.1

In entsprechender Abwandlung nach dem Durchgang durch Prinzipien der Moralität kann

man hierin allerdings eine Vorform der Kantischen Pflichten gegenüber der Menschheit in

der eigenen Person sehen.

In dem Augenblick, wo moralische Standards und Standesethiken keine ausreichende

Verhaltenssteuerung mehr leisten oder hinsichtlich ihrer Begründbarkeit oder

Anwendbarkeit Zweifel aufwerfen, kommt es zur Ausbildung von Ethik als Reflexionstheorie

von Moral.2 In der Ethik werden Fragen aufgeworfen, warum es überhaupt sinnvoll ist, sich

nach Normen zu richten und welche Maßstäbe hierfür gelten sollen.

In klassischen griechischen Antike wird dieser Impuls durch Beobachtungen und die

Ansprüche der Sophisten ausgelöst. Zum einen kommt man in Bekanntschaft mit

offenkundig andersartigen Normen anderer Völker, wodurch die selbstverständliche Geltung 1 In der Ilias ist Agamemnon offenbar durchaus berechtigt, dem Achill die Sklavin Briseis zu stehlen (die dieser

seinerseits gestohlen hatte), weil Achill nicht in der Lage ist, sie gegen den Angriff zu verteidigen. Hier herrscht noch einfach das Naturrecht des Stärkeren. Das Verhalten von Agamemnon ist allerdings problematisch, weil Briseis Tochter eines Priesters ist und für sie schon Lösegeld bezahlt wurde. 2 Vgl. Niklas Luhmann, Paradigm lost, Frankfurt/M. 1990, S. 14ff.; Luhmann ist allerdings der Meinung, dass

hierfür insbesondere die Umstellung von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung in der modernen Gesellschaft verantwortlich ist, vgl. ebd. S. 20.

3

der eigenen Normen in Frage gestellt werden, zum anderen behaupten die Sophisten nicht

nur, sie könnten andere tugendhaft machen, sondern stellen auch Normen auf, die zur Kritik

aufrufen (so z.B. die These des Trasymachus, Gerechtigkeit sei nichts anderes als das Recht

des Stärkeren).

Diese Tendenz trifft zusammen mit philosophischen Spekulationen darüber, wie man ein

angenehmes oder glückliches Leben führen kann. Beim Urvater der teleologischen Ethik (<

telos=Ziel) Aristoteles wird als oberstes Ziel noch ohne ethische Qualifizierung aus

deskriptiven Sätzen (also empirischen Beobachtungen) die Glückseligkeit gesetzt. Da der

Mensch allerdings ein kulturell anspruchsvolles, also gutes Leben nur in Gemeinschaft

erreichen kann (anthropos physei zoon politikon= der Mensch ist von Natur ein

gesellschaftsbezogenes, staatenbildendes Wesen) ergibt sich aus diesem Umweg die

Notwendigkeit, z.B. gerecht zu sein.3

Teleologische Ethiken zeichnen sich dadurch aus, dass die Bestimmung der Handlung aus

den nächstliegenden und letztlich höchsten Zwecken abgeleitet werden, eine Handlung ist

gut, wenn sie geeignet ist, dieses Ziel zu befördern. In der Ethik von Aristoteles steht ebenso

wie in den Lebensphilosophien des klass. Griechentums die Glückseligkeit (Eudämonia) als

oberstes Ziel unreflektiert fest.

Dabei hat die Ethik etwa von Epikur noch ganz den Charakter von Empfehlungen zu

Verhaltensweisen, die geeignet sind, die eigene Glückseligkeit zu befördern

(individualistischer Hedonismus). Im Wesentlichen wird dazu geraten, sich besonnen zu

verhalten, da übermäßige Ansprüche ebenso wie z.B. Völlerei auf die Dauer mehr Unglück

als Glück erzeugen. Hier zeigen sich bereits die Grundprinzipien des Utilitarismus: Glück

vermehren, Unglück vermindern, allerdings auf einer ethisch noch unreflektierten Ebene.

Zu ethischen Reflexionen zwingt allerdings in der römischen Moralphilosophie die

Konkurrenz solcher Empfehlungen für ein gutes Leben mit weiterhin wirksamen Regeln

konventioneller Moral und insbesondere des in der römischen Oberschicht ausgeprägten

Standesethiken. In Ciceros „De officiis“ (von den Pflichten -> Kant) entwickelt sich das klare

3 Strukturell analog folgen bei Kant die Ansprüche anderer Menschen mir gegenüber aus den Pflichten, die ich

der Menschheit in meiner eigenen Person gegenüber habe. Da ich verpflichtet bin, auf meiner eigenen Ehre zu bestehen, dies aber faktisch zu sicherstellen kann, wenn ich anderen Menschen dasselbe zugestehe, haben diese sekundär mir gegenüber Ansprüche. In der politischen Philosophie Kants folgt daraus mit Notwendigkeit die bürgerliche Gesellschaft und ich bin aus ethischen Gründen berechtigt, wenn nicht gar verpflichtet, andere dazu zu zwingen, mit mir in eine bürgerliche Gesellschaft einzutreten.

4

Gegensatzpaar von utile (nützlich) und honestum (ehrenhaft) und wird breit diskutiert. Hier

schlägt sich die Erfahrung nieder, dass unehrenhaftes Verhalten für den einzelnen nützlich

sein kann (während für Sokrates noch feststand, dass es besser ist, Unrecht zu leiden als

unrecht zu tun), während umgekehrt ehrenhaftes Verhalten (in der ausgehenden Republik)

nicht mehr ohne weiteres Ansehen und Ruhm (und die entsprechenden Ämter) mit sich

führt. Bereits hier wird eine Abgrenzung spezifisch ethisch begründeter Regeln

von solchen, die aus Erfolgsabsichten resultieren, nötig: Es ist besser, sich

ehrenhaft zu verhalten, weil man sich dann besser fühlt? In den Invektiven

gegen Epikur, er begründe eine Ethik für Schweine (der dann später bei den

Utilitaristen wiederholt wird) zeigt diesen Widerstreit von Ehrenbegriffen und

Nützlichkeitserwägungen (vgl. a. die Abgrenzung der Ethik gegenüber

hypothetischen Imperativen bei Kant).

Für die Ausbildung einer eigenständigen Ethik als Reflexionstheorie moraltheoretischen

Probleme entscheidend ist die Abgrenzung ethischer Imperative gegenüber Präferenzen

und Empfehlungen. Eine individuelle Präferenz („Ich möchte ...) zu äußern ist unabhängig

davon, ob alle anderen dieselbe Präferenz haben, selbst dann, wenn sie sich auf das Handeln

eines anderen bezieht („Ich

möchte, dass du ...) etwas

anderes als einen ethischen

Imperativ zu formulieren. Ein

solcher Imperativ führt

zwangsläufig einen

Universalisierungsanspruch

mit sich („Jeder sollte ...“),

unabhängig davon, wie dieser

Anspruch begründet wird

(teleologisch „jeder sollte dies

tun, weil sonst ein

notwendiges Ziel, das alle

teilen sollten, nicht erreicht

5

werden kann“, situationsethisch „jeder sollte in dieser Situation so handeln, weil so die

Situation am besten bewältigt werden kann“, deontologisch „jeder sollte so handeln, weil

nur so allgemeinen Pflichtbegriffen genüge getan werden kann“). Schwieriger ist die

Abgrenzung gegenüber Empfehlungen, weil viele moralische (möglicherweise aber ethisch

nicht qualifizierte) Regeln genau solche hypothetischen Imperative formulieren4, die sich auf

die Förderlichkeit auf eigene Glückseligkeit beziehen. Diese Abgrenzung wird letztlich erst

von Kant geleistet. Der Utilitarismus dagegen führt den antiken Vorläufern gegenüber

zunächst nur das Universalisierbarkeitsprinzip ein. An die Stelle von Imperativen wie „Du

solltest dies tun, um deine eigene Glückseligkeit zu befördern“ treten Imperative der Art

„Jeder sollte dies tun, um die allgemeine Glückseligkeit, das Glück der Mehrheit usw. zu

befördern“; der individualistische Hedonismus weicht einem universalistischen

Hedonismus.

Utilitarismus

Der Utilitarismus steht in der Tradition der teleologischen Ethiken, weitet diese jedoch stark

auf Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit aus. Menschliches Handeln wird im wesentlichen

auf Probleme der Verteilung von Gütern und property rights reduziert. Er steht zudem in

derselben liberalen Tradition, die in der Staatstheorie die Vertragstheorie zur Grundlage

politischer Systeme macht, hier allerdings in der gegen den

Pessimismus und Egoismus bei Hobbes und für das

optimistische, ausgleichende Modell eines Locke. Hinzu

kommen als Traditionsgrundlagen die Überlegungen der

klassischen Nationalökonomie, die sich im 18. und 19.

Jahrhundert verbreitet. Gegen die Theorie A. Smiths spielen

Gefühle (Mitleid) keine Rolle und der Markt hat nicht in jedem Falle eine ausgleichende

Wirkung (invisible hand), auch die Theorien von Malthus werden moralisch abgelehnt.

4 So z.B. die goldene Regel „was du nicht willst, das man dir tu, das füge auch keinem anderen zu“ oder „wer

anderen eine Grube gräbt...“ „mit dem Hut in der Hand...“, „Lügen haben kurze Beine“, auch die 10 Gebote: „du wirst nicht stehlen, dann wirst du lange im Land deiner Väter leben...“.

S. 267 Z. 58ff 1

6

Allerdings ist Bezugspunkt immer die Mehrheit der Gruppe, der gegenüber die Interessen

der Minderheit geopfert werden dürfen. Die Vorstellung von der Gruppe als organischer

Körper (vgl. Rousseau) wird wie in der liberalen Staatstheorie vermischt von der Vorstellung,

der Körper bestehe aus Individuen und der Wert für das Gesamtsystem sei am Wert für die

einzelnen Beteiligten zu messen.

Der Utilitarismus steht überdies in der Tradition des Empirismus (Locke).

Jeremy Bentham

Bentham geht dementsprechend nicht von einer präskriptiv gewonnenen Norm, sondern

von einer deskriptiven Beschreibung aus, um daraus Kriterien für gut und schlecht

abzuleiten. Hieran zeigt sich bereits eine Schwierigkeit des Utilitarismus: Versteht man unter

„gut“ lediglich nützlich in einem hypothetischen Sinne, ist die

Ableitung logisch korrekt, verfällt dann aber möglicherweise

dem Verdikt, im ethischen Sinne nicht prinzipienfähig zu sein.

Versteht man unter „gut“ dagegen eine ethisch qualifizierte

Aussage, also einen moralischen Wert, dann unterliegt der

Utilitarismus einem naturalistischen Fehlschluß5. Zudem

berücksichtigt er in der simplen Form bei Bentham keine

kulturellen Güter. Die Begriffe von Freud und Leid sind so nicht

qualifiziert.

Bentham geht davon aus, dass alle Menschen faktisch von Leid

und Freude regiert werden und deshalb nach Vermehrung von

Freude und Verminderung von Leid streben. Daraufhin wird

für jede Handlung umstandslos gefordert, dass sie geeignet ist,

das Glück derjenigen, die davon betroffen sind, zu vermehren

bzw. das Leid zu vermindern.

5 Ein naturalistischer Fehlschluss zieht logisch falsch präskriptive Folgerungen aus deskriptiven Aussagen,

erhebt also das faktische Sein zum Sollen, obwohl es sich um sprachlogisch völlig unterschiedliche Klassen von Aussagen handelt.

Bentham S. 266 Z. 0-21 1

7

Bentham entwickelt daraufhin einen geradezu ökonomischen Kalkül, wie die Qualität einer

Handlung berechnet werden kann. Hierzu muss berücksichtigt werden, wie stark das

Glücksempfinden ist, das durch die Handlung bei den Betroffenen ausgelöst wird, wie lange

dieses Glücksgefühl anhält und wie sicher das Eintreten dieser Folge ist.

Daraufhin wird berechnet, welche Glücks- und Leidwerte kurzfristig und welche langfristig zu

erwarten sind. Fällt die Rechnung positiv aus, ist die

Handlung gut. Hier zeigt sich bereits eine

Grundproblematik jeder Ethik, die den moralischen Wert

einer Handlung aus ihren Folgen ableitet, also

konsequentionalistisch verfährt: Ähnlich wie in der

klassischen und neoklassischen Nationalökonomie werden

den handelnden Subjekten vollständige Rationalität und

vollständige Kenntnis unterstellt. Versucht man aber bei allen Handlungen die Folgen für

sämtliche direkt oder indirekt Betroffenen zu kalkulieren, wird eine solche Rechnung

unmöglich6, außerdem können die z.B. ökologischen Folgen von Handlungen auf

unbegrenzte Zeit berechnet, infinit werden, so dass gar nicht mehr gehandelt werden kann.

Bentham sagt zwar, es sei nicht zu erwarten, dass eine solche Rechnung immer akkurat

durchgeführt wird, hält sich aber trotzdem für eine anzustrebendes Ideal.

Robert Spaemann kritisiert dagegen:

„Der Utilitarismus scheitert erstens an der Komplexität und

Undurchschaubarkeit der langfristigen Folgen unserer

Handlungen. Wenn wir die Gesamtheit der Handlungsfolgen in

Betracht ziehen müssten, kämen wir vor lauter Kalkulieren nicht

mehr zum Handeln. Die Senkung der Kindersterblichkeit in armen

Ländern hat oft langfristig katastrophale Folgen, diese aber führen

dann wieder zu einem Druck, die Lebensverhältnisse insgesamt zu

verbessern; ob das gelingt, ist offen. Was insgesamt am Ende

6 Darauf, dass die Berechnung solcher Folgen selbst mit Zeitaufwand und damit mit Transaktionskosten

verbunden ist, reagiert der sogenannte Regelutilitarismus (im Unterschied zum Handlungsutilitarismus): Er formuliert Regeln, die der Erfahrung nach meistens zur Glücksvermehrung führen und fordert, dieser Regel auch dann zu folgen, wenn sie im Einzelfall nicht zum Erfolg führt, weil dieser Verlust immer noch geringer ist, als die Kosten durch eine Dauerreflexion über mögliche Folgen einer einzelnen Handlung.

Norbert Hörster, S. 269 Z. 1-10 1

Bentham S. 266 Z. 25-34 1

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überwiegt, wer will das beurteilen? Niemand könnte mir handeln, wenn er zunächst zu

einem solchen Urteil kommen müsste. […]“ (s. S. 276).

Entscheidend ist letztlich, wie viele mittelbar Betroffene ins das Kalkül einbezogen werden.

Die Effizienz des Verfahrens neigt dabei natürlich dazu, bestimmte Interessen für nicht

relevant zu erklären.

Ein weiteres Problem zeigt sich darin, dass jede konsequentionalistische Ethik letztlich dazu

neigt, die Mittel um des Zweckes willen zu heiligen, also keine eigene Qualifikation der

Mittel anbietet: „Jedes Verbrechen wäre gerechtfertigt, wenn der, wer es begeht, dabei

einen Zweck verfolgt, der dieses Mittel „heiligt“.“ (Spaemann, S. 276).

„Das zweite Argument ist das folgende: der Utilitarismus liefert das sittliche Urteil des

normalen Menschen der technischen Intelligenz von Experten aus. Denn man kann nach ihm

die sittliche Qualität von Handlungen nicht an diesen selbst ablesen, sondern man bedarf

dazu einer universalen Nutzenfunktion; und diese zu erstellen, ist Sache von Experten, seien

diese auch selbst ernannt. […]

Unsere sittliche Verantwortung ist nur dann konkret, bestimmte und nicht beliebig

manipulierbar, wenn sie zugleich begrenzt ist, das heißt, wenn wir nicht davon ausgehen, wir

müssen jeweils die Gesamtheit der Folgen jeder Handlung und jeder Unterlassung

verantworten. […]“ (ebd.)

Zudem gibt es in der utilitaristischen Ethik keine absoluten Werte (z.B. Menschenrechte),

vielmehr ist alles kalkulierbar und gegeneinander aufrechenbar:

„Es gibt […] bestimmte Handlungsweisen, die ohne Ansehung der Umstände immer und

überall schlecht sind, weil durch sie unmittelbar […] die Würde der Person negiert wird. Bei

solchen Handlungen gehört jeder Kalkül der Folgen auf. Das aber heißt: für die Folgen der

Unterlassung einer in Sie schlechte Behandlung trifft uns keine Verantwortung. Der Mann,

der sich weigerte, ein jüdisches Mädchen zu erschießen, das ihn um sein Leben an flehte,

hatten nicht die Verantwortung dafür, dass sein Vorgesetzter daraufhin 10 andere

Menschen erschießt, mit deren Erschießung er ihm zuvor gedroht hat. Sterben müssen wir

schließlich alle einmal; aber morden müssen wir nicht. Für die Unterlassung dessen, was wir

9

nicht dürfen, trifft uns so wenig die Verantwortung wie für die Unterlassung dessen, was wir

physisch gar nicht können.“ (Spaemann, ebd.)

„Im Übrigen fördert der Konsequentialismus Erpressungen. Ein Konsequenzialist muss immer

bereit sein, einen Mord zu begehen, wenn man ihm droht, ansonsten zehn Menschen

umzubringen. Aber nur einem Konsequenzialisten kann man damit drohen. [...]

Wer den konsequenzialistischen informierten Begriff von Verantwortung teilt, muss dieser

Erpressung nachgeben. In Wirklichkeit aber kann kein Mensch auf die Länge mit diesem

Begriff von Verantwortung leben, ohne sich einerseits moralisch zu korrumpieren und ohne

sich andererseits permanent zu überfordern.“ (Robert Spaemann, Die schlechte Lehre vom

guten Zweck, FAZ, 23. Oktober 1999, Nummer 247)

McIntyre zu Bentham S. 269 1

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John Stuart Mill

Als eines des zentralen Probleme des Utilitarismus bei Bentham

zeigt sich, dass dessen Kriterien für das Glück rein quantitativ

gedacht sind. Mill versucht, den utilitaristischen Ansatz in dieser

Hinsicht weiterzuentwickeln, indem er qualitative Kriterien für Glück

auszumachen versucht. Damit versucht Mill zugleich, der Kritik am

Utilitarismus zu begegnen, dieser sei eine rein egoistische Ethik, die

nur an einem verwerflichen Lustprinzip orientiert sei.

Wie Bentham geht Mill zunächst davon aus, dass eine Handlung

dann moralisch gut ist, wenn sie die Tendenz hat, Glück zu

befördern, und moralisch schlecht ist, wenn sie die Tendenz hat,

Leid zu vermehren.

Er bezieht aber in seine Überlegungen mit ein, dass der Wert des

Glücks nicht ausschließlich in seiner Quantität, sondern in seiner

Qualität zu suchen ist.

Eine erste Schwierigkeit zeigt sich hierbei jedoch darin, dass es keine

objektiven Maßstäbe dafür gibt, welche Freude einen höheren

qualitativen Wert hat. Mill gibt daher als Grundlage der

Qualitätsprüfung letztlich rein empirische, statistische Messungen an,

bei denen fraglich ist, inwiefern sie einen spezifisch moralischen Wert

(kontrafaktisch) begründen können.

Dabei geht Mill ohne weiteres davon aus, dass kein vernünftiger

Mensch wählen würde, z.B. ein Tier zu sein, selbst dann, wenn man

garantierte, dass es dann ungestört der tierischen Lust nachgehen

könnte.

Als weiteres Problem zeigt sich, dass die subjektive Einschätzung des

Glücks durch den bloßen Zuwachs an Freude bestimmt sein könnte,

so dass dasselbe Glück von verschiedenen Menschen unterschiedlich

eingeschätzt werden könnte, z.B. ist das Glück, Nahrung zu

bekommen für denjenigen höher, der hungert, als für den, der stets

genug zu essen hat.

Letztlich zeigt sich dasselbe Ergebnis wie bei Epikur, dass nämlich eine

Steuerung der Bedürfnisse die Glückserwartung erhöht.

Zwar betont Mill, dass es jenseits subjektiver Maßstäbe quasi objektiv

feststehe, dass manche Werte besser sind als andere, damit sprengt er

aber letztlich den eigenen Ansatz, der bei den empirisch feststellbaren

Mill S. 270 2

Mill S. 270 1

Mill S. 270 3

Mill S. 271 4

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Vorstellungen der Menschen ansetzt. Seiner Meinung nach liegt der

feststellbare Gegensatz zwischen objektiven und subjektiven

Interessen in der mangelnden Kenntnis (von Ungebildeten) über

den wahren Wert des Glücks begründet. Deshalb fordert er auch,

dass die Erziehung dahin wirken solle, dass die Menschen sich Ziele

und Wünsche setzen, die mit dem Gemeinwohl vereinbar sind.

Mill verteidigt zudem den Ansatz des Utilitarismus gegen den

Vorwurf, egoistisch zu sein, indem er betont, dass der Utilitarist den

Wert seiner Handlung nicht allein daran bemisst, wie viel Nutzen er

selbst davon hat, sondern den Nutzen aller Betroffenen zum Maßstab

macht.

Dadurch, dass der Utilitarismus in dem Augenblick, wo er den Glücksbegriff qualitativ bestimmen

will, entweder Erziehung, also letztlich Manipulation, benutzen muss, um gemeinwohlfördernde

Wünsche bei den Einzelnen zu erzeugen, begibt er sich in einen Widerspruch zu den ursprünglichen

empirischen Prinzipien. Der Inhalt der eigentlichen Wertbegriffe bleibt auf diese Weise unbestimmt.

Letztlich ist in dieser Hinsicht der Präferenzutilitarismus bei Singer konsequenter, indem er dem

Nutzenkalkül eine subjektive Wertlehre unterlegt, so dass tatsächlich die zufälligen Präferenzen des

Einzelnen als qualitativer Maßstab für die Bemessung des Glücks herangezogen wird. Hier entsteht

dann freilich das Problem, welche Präferenzen (z.B. beim Kind) man ernst nehmen kann und welche

nicht, zudem zeigt sich wie in allen letztlich ökonomischen Ansätzen das Problem von nichtstabilen

Präferenzen bzw. das Problem, dass den einzelnen Subjekten keine vollständige Rationalität und

Kenntnis unterstellt werden kann (homo ökonomicus).

Einen Ausweg bietet hier die Umstellung auf die Verteilung von Lebenslagen bzw. die Allokation von

property rights. In diesem Falle löst sich dann allerdings das ursprünglich als ethisch gedachte Projekt

des Utilitarismus in ein Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit auf, also in einen ökonomischen Ansatz.

Kant

Kant geht in seinen Überlegungen in der Grundlegung zur

Metaphysik der Sitten unmittelbar vom Universalisierungsprinzip

aus. Dieses hatte sich ja als für eine Ethik konstitutiv gezeigt.

Zunächst ist ein Imperativ der praktischen Vernunft anders als ein

Gesetz der theoretischen Vernunft ein Grundsatz, der, weil der

Mensch kein reines Vernunftwesen ist, stets einen präskriptiven

Mill S. 271 5

Mill S. 272 1

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und keinen deskriptiven Satz enthält. Ein praktisches Gesetz ist also ein solches, das bei einem reinen

Vernunftwesen deskriptiv dessen Handlungsweisen beschreibt, bei einem nicht reinen

Vernunftwesen dagegen präskriptiv beschreibt, was dieses tun soll. Dadurch wird von vornherein ein

naturalistischer Fehlschluss vermieden.

Anschließend unterscheidet Kant zwischen Maximen und

Gesetzen. Maximen sind Bestimmungsgründe, die für den

Willen nur subjektiv sind, also nur für das Subjekt gelten,

Gesetze sind dagegen Bestimmungsgründe, die objektiv, also

für alle Menschen gelten. Es ist ohne weiteres klar, dass nur die

Gesetze dem ethischen Anspruch auf Universalisierbarkeit

genügen können. Daraus leitet sich im Grunde schon die spätere

Formulierung des kategorischen Imperativs ab, nämlich dass die

Maximen, also die subjektiven Beweggründe zu einer Handlung, von objektiven, also

universalisierbaren Gesetzen bestimmt sein müssen. Der kategorische Imperativ ist also nichts

anderes als das Universalisierungsprinzip.

Die praktischen Grundsätze können nun bezogen sein auf die Kausalität des Menschen in Ansehung

auf eine Wirkung, oder lediglich den Willen zur Hervorbringung von Wirkungen betreffen. Sie

können also teleologisch oder deontologisch sein.

Grundsätze, die sich auf die Hervorbringung von

Wirkungen beziehen, sind zunächst immer

hypothetisch, d.h. sie gelten nur insoweit als geboten,

als die Wirkung selbst geboten ist. D.h. sie sind

Grundsätze der Geschicklichkeit (wenn man diesen

Zweck erreichen will, muss man jenes tun). Solange

solche Grundsätze aber ein Bedingungsgefüge (wenn-

dann) enthalten sind sie solange bloß hypothetisch, wie

der anvisierte Zweck nicht als solcher durch ein

kategorisches Gesetz bestimmt werden kann (dieser

Zweck ist später die Menschheit).

Hypothetische Grundsätze können daher niemals

kategorisch sein, weil der darin vorausgesetzte Zweck

zunächst ein bloß subjektiver ist (er ist durch kein

kategorisches Gesetz bestimmt) und überdies von empirischen Grundlagen abhängt und als

Geschicklichkeitsregel durch empirische Grundsätze bestimmt ist. Ohnehin wäre ein solcher

Imperativ nicht unversalisierbar, weil dann auch die Fähigkeit, die Zwecke zu bewirken, moralisch

vorgeschrieben sein müsste, was für einen empirisch gegebenen Menschen nicht möglich ist.

Daraus folgt, dass hypothetische Imperative kein moralisches Gesetz abgeben können, so dass weiter

folgt, dass die Qualifikation für ein universalisierbares praktisches Gesetz nur Imperative haben

können, die sich ausschließlich auf den Willen beziehen (unabhängig davon, was dieser Wille

bewirkt). Gut ist also allein ein guter Wille. Folglich gelten kategorische Imperative zwangsläufig

unabhängig von jeder Wirkung.

13

Aus diesen Darlegungen folgt bereits, dass der Ansatz einer

Ethik beim Prinzip der Glückseligkeit von vornherein

versperrt ist. Kant geht zwar deskriptiv wie die Utilitaristen

davon aus, dass Glückseligkeit notwendig der

Bestimmungsgrund für das Begehrungsvermögen jedes

Menschen darstellt, jeder also notwendig glückselig werden

möchte. Dass dies notwendig der Bestimmungsgrund ist,

liegt darin, dass Menschen bedürftig sind. Daraus folgt

jedoch zugleich, dass alle Menschen in unterschiedlichen

Dingen bedürftig sind, folglich auch Unterschiedliches

erstreben. Auf diese Weise ist es nicht möglich, aus den

subjektiven Bestimmungsgründen ein objektives praktisches Gesetz zu machen, zumal die jeweilige

Bedürftigkeit nur aus Erfahrung, also a posteriori bestimmt werden kann. Selbst wenn alle Menschen

an denselben Dingen bedürftig wären, wäre diese Übereinstimmung nur zufällig, würde also auch

dann nicht für ein praktisches Gesetz taugen.

Da nach Kant alle materialen, also inhaltlichen, Bestimmungen des Begehrungsvermögens,

notwendig durch das Strebe nach Glückseligkeit erfüllt sind, können materiale Bestimmungsgründe

insgesamt kein praktisches Gesetz abgeben, so dass für ein solches nur noch formale

Bestimmungsgründe übrig bleiben.

Danach kann dann aber auch der Inhalt einer gebotenen Handlung nicht mehr selbst ein praktisches

Gesetz sein. Kant unterscheidet deshalb bei einer Handlung zwischen der Legalität und der Moralität

derselben. Legalität bedeutet, dass eine Handlung material dem entspricht, was geboten ist, also

eine pflichtgemäße Handlung ist, Moralität dagegen bedeutet, dass eine Handlung nicht nur

pflichtgemäß ist, sondern auch nur deshalb erfolgt, weil sie pflichtgemäß ist, also aus Pflicht.

14

Dass der moralisch Handelnde nicht nur das tut, was solchen Prinzipien entsprechen kann,

sondern es auch nur deshalb tut, weil er das Prinzip als vernünftig erkannt hat, scheint

zunächst überflüssig. Warum mir jemand hilft, wenn ich in Not bin, kann mir zunächst egal

sein, Hauptsache er tut es. Ohnehin kann ich die Motive des Handelnden von außen gar

nicht einsehen oder gar beurteilen. Anders sieht es jedoch aus, wenn ich die subjektive

Berechenbarkeit der Handlung in Betracht ziehe. Hilft mir jemand nur deshalb weil er mich

mag, kann ich mit seiner Hilfe nur solange rechnen, wie ich sein Wohlwollen genieße. Wenn

ich dagegen in Ungnade falle, muss ich damit rechnen, dass die Hilfe ausbleibt. Ohnehin

könnte ich von völlig Fremden keine Hilfe erwarten. Ähnliches ergibt sich, wenn ich auf

Mitleid, Nächstenliebe oder Eigeninteresse setze. Denn alle diese Faktoren können im

besonderen Falle ausbleiben und so bliebe auch die Handlung aus. Alle Systeme, die auf

Gerechtigkeit ohne Ansehen der Person angewiesen sind, setzen ohnehin voraus, dass

bestimmte Leistungen aus Pflichtbewusstsein der Handelnden beruhen, so z.B. die

gerechten Urteile eines Richters, die unparteiische Beurteilung des Finanzamtes oder auch

die gerechte Benotung eines Lehrers.

Auch für den Handelnden selbst ergibt sich aus der Grundlegung des kategorischen

Imperativs ein nicht zu verachtender Vorteil hinsichtlich der Sicherheit des moralischen

Urteils. Der kategorische Imperativ sichert nämlich vor moralischer Überforderung

insbesondere in Situationen und Umständen, in denen der Handelnde nur einen geringen

Einfluss auf das Gesamtergebnis hat, bzw. voraussetzen muss, dass auch bei Aufbietung aller

zur Verfügung stehenden Mittel ein bestenfalls akzeptables, ethisch aber jedenfalls nicht

wünschbares Ergebnis herauskommt. In einem ungerechten System (Schule) oder gar einer

Diktatur müsste der Handelnde stets daran verzweifeln, dass das Ergebnis seiner

Handlungen unterhalb des geforderten Maßstabes bleibt. Die berühmte Einschränkung „so

viel an mir ist“ bewirkt, dass der Handelnde sicher sein kann, richtig gehandelt zu haben,

wenn vorausgesetzt werden kann, dass alle vernünftigen Wesen die zugrundeliegenden

Prinzipien teilen könnten, auch wenn dies faktisch nicht der Fall ist. Auch in einer Welt voller

Teufel kann so noch moralisch richtig gehandelt werden.

Umgekehrt schützt der kategorische Imperativ aber auch vor moralischer Unterforderung.

Die Tatsache, dass durch den moralisch gebotenen Einsatz faktisch nichts bewirkt wird,

hindert nicht, dass die Handlung dennoch geboten ist. Auch die möglicherweise gegebene

Tatsache, dass auch alle anderen unmoralisch handeln, kann an diesem Urteil nichts ändern.

Schließlich hat insbesondere auch die sogenannten Menschheitszweckformel wichtige

ethische Valenzen: Dass man Menschen nie nur als Mittel, sondern jederzeit zugleich als

Zweck behandeln soll, schließt einerseits aus, dass andere Menschen nur Spielfiguren in

einem Spiel, gleichviel welchen Wertes, gesehen werden können. Kein Ziel kann so erhaben

sein, dass auf die mögliche Zustimmung der beteiligten Personen (vorausgesetzt sie können

als vernünftig angesehen werden) verzichtet werden könnte. Interessanter noch ist der

Schutz vor den sogenannten objektiven Interessen. Die Menschheitszweckformel verbietet

es nämlich auch, als wohlmeinender Diktator zugunsten einer fremden Glückseligkeit zu

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handeln, die der Betroffene so gar nicht sieht (wir wollen doch nur Dein Bestes…). Auch hier

muss der Betroffene (als vernünftiges Subjekt vorgestellte) prinzipiell selbst zustimmen

können, man kann also letztlich nicht besser wissen, was gut für andere ist, es sei denn, man

kann es beweisen. Schließlich verhindert die Formulierung der Menschheit in der eigenen

Person dann auch, dass jemand sich selbst zu einer bloßen Figur in der Verwirklichung

fremder Glückseligkeit macht und damit als Subjekt selbst herabwürdigt. Kein noch so

hehres Ziel erlaubt es nach Kant, sich selbst aufzugeben und zum bloßen Faktor eines

vermeintlich höherwertigen Zweckes zu machen und damit als Person aufzugeben.

In anwendungstheoretischer Hinsicht ergeben sich freilich erhebliche Bedenken hinsichtlich

der Ethik Kants. Kant scheint überall vorauszusetzen, dass schon klar ist, welche Handlungen

pflichtgemäß und welche pflichtwidrig sind. Denn eine solche Bestimmung folgt aus dem

kategorischen Imperativ nicht. Der kategorische Imperativ ist vielmehr ein rein formales

Prinzip, das als Filter angewandt werden kann, wenn aus irgendwelchen anderen Gründen

heraus eine Handlung schon beabsichtigt ist und erst nachträglich gefragt werden kann, ob

die Prinzipien, aus denen die Handlung als gut bewertet wird, verallgemeinerbar sind. Kants

Ethik setzt überdies einen Menschen voraus, der in seinem Willen durchweg nicht von

Gefühlen und Neigungen bestimmt ist. Dass dies faktisch nie der Fall ist, tut der Ethik keinen

Abbruch, weil man ja trotzdem moralisch fordern kann, dass dies so sein soll. Fraglich ist

allerdings in der Anwendung, ob dies überall wünschenswert sein kann. In den Fällen (s.o.),

wo ein unbeeinflusstes Handeln ohne Ansehung der Person wünschenswert ist, ist dies klar,

ob aber reines Pflichtbewusstsein für das Handeln im sozialen Nahbereich ausreicht und ob

der moralische Wert einer Handlung unter Umständen nicht gerade darin besteht, dass darin

eine Zuneigung, Philanthropie oder ähnliches ausgedrückt wird, bleibt bei Kant außen vor.

Jonas

Der Verantwortungslosigkeit der Kantischen Ethik versucht Jonas zu entkommen, indem er

objektive Zwecke formuliert, die sich seiner Meinung nach aus dem Wandel der Technik

ergeben haben. Diese Technik ist zum bestimmenden Moment des Daseins des Menschen

geworden, weil sie inzwischen Dimensionen erreicht hat, die alle bisherige Technik weit

übersteigt. Die Technik strebt eine universelle Herrschaft über die Natur und den Menschen

an, die zwangsläufig neue Dimensionen der Verantwortung erzeugen muss. Bislang nämlich

war die Anwesenheit des Menschen in der Welt „ein erstes und fraglos Gegebenes“, jetzt

dagegen ist „sie selber ein Gegenstand der Verpflichtung geworden“. Denn Technik ist

inzwischen in der Lage, jegliches menschliches Leben auf der Erde unmöglich zu machen,

und Technik ist inzwischen in der Lage, den Menschen selbst zu verändern. Letzteres kommt

im Wesentlichen in zwei Hinsichten zum Tragen: Durch medizinischen Fortschritt wird es

immer stärker möglich, die Lebenszeit der Menschen zu verlängern. Daraus resultiert das

Problem, das entschieden werden muss, welche Menschen in den Genuss des medizinischen

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Fortschritts kommen, bzw. welche Menschen leben sollen und welche Menschen kein Recht

auf Leben haben. Es muss auch gefragt werden, in welchem Verhältnis alte und junge

Menschen leben sollen, ob z.B. eine Gesellschaft unendlich altern soll oder darf. Die

Möglichkeiten der Gentechnik erlauben es darüber hinaus, den Menschen selbst zu

verändern und zu gestalten. Auch hierfür muss es ethische Kriterien geben (wer darf sich

wann klonen lassen, welche Eigenschaften von Kindern dürfen von den Eltern gestaltet

werden, welche Klone darf man aus möglicherweise egoistischen Gründen in die Welt setzen

(s. Die Klavierspielerin), darf man Menschen als Ersatzteillager verwenden usw.?)

Die moderne Ethik kann also nicht einen existierenden Menschen einfach voraussetzen, wie

es die Ethik Kants tut. Vielmehr muss sie zunächst dafür sorgen, dass es überhaupt

Menschen auf der Erde gibt, und dass diese menschenwürdig leben können. Das ist nämlich

die physische Voraussetzung dafür, dass es moralisch handelnde Menschen geben kann.

Jonas behauptet deshalb, dass es über die Imperative Kants hinausgehende Imperative

geben muss, die dies sicherstellen. Kant dagegen setzt diese Existenz der Menschheit immer

schon voraus.

Die neuen Imperative bei Jonas sind:

a) Positiv ausgedrückt: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind

mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden!“

b) Negativ ausgedrückt: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht

zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens.

Für Jonas gilt aufgrund der oft noch unabsehbaren Folgen von Technik dabei das Prinzip der

Heuristik der Furcht. Man muss bei der Planung einer Handlung (oder eines

Regierungsprogramms) immer von den schlechtest möglichen Folgen ausgehen (also vom

worst case). Jede Handlung, die unter diesem Gesichtspunkt das Überleben der Menschheit

gefährden könnte, ist dann zu unterlassen.

Das Problem dabei ist freilich, dass sich die Folgen technischen Handelns für die Zukunft in

der Regel nicht hinreichend bestimmen lassen. Wie jede teleologische Ethik setzt Jonas

vollständige Rationalität und vollständiges Wissen voraus. Die Heuristik der Furch umgeht

zwar dieses Problem, weil die bloße Möglichkeit katastrophaler Folgen schon ausreicht, um

eine Handlung als unmoralisch zu qualifizieren, wenn man diesem Prinzip konsequent folgt,

kann aber jede Handlung unabsehbare Folgen haben. Folglich könnte man eigentlich nie

handeln, was unter Umständen aber auch katastrophale Folgen haben kann. Jonas ist

überdies beeinflusst von einer Technikphobie, wie man sie in der Entstehungszeit seines

Buches „Prinzip Verantwortung“ (erschienen 1979) hatte. Es ist fraglich, ob man diesen

Zeitgeist ohne weiteres jeder Ethik unterstellen kann.