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Ethnopolitische Konflikte in Osteuropa: Probleme und Strategien MARTIN BRUSIS unter Mitarbeit von WIM P. VAN MEURS

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Ethnopolitische Konflikte in Osteuropa: Probleme und Strategien

MARTIN BRUSISunter Mitarbeit von WIM P. VAN MEURS

Januar 1999

Diese Studie entstand im Kontext eines Projektes über Minderheitenkonflikte in Mittel- und Osteuropa, das die Bertelsmann Wissenschaftsstiftung gemeinsam mit der Forschungsgruppe Europa am Centrum für Angewandte Politikforschung realisiert hat.

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Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung............................................................................................................. I

I. Einleitung....................................................................................................................... 1

II. Konfliktkonstellationen............................................................................................... 4

1. Slowakische Republik/ ethnische Ungarn...................................................................4

2. Bundesrepublik Jugoslawien/ Kosovo-Albaner........................................................13

3. Lettland/ ethnische Russen.......................................................................................26

(WIM P. VAN MEURS)

4. Zwischenfazit: Institutionenpolitische Leitbilder......................................................36

III. Regelungsstrategien in der Evaluation....................................................................41

1. Entwicklung internationaler minderheitenrechtlicher Standards...............................41

2. Konfliktprävention und -management......................................................................47

Aktivitäten der OSZE.............................................................................................. 47

Politik der Europäischen Union...............................................................................49

Politik der Balkan-Kontaktgruppe...........................................................................53

3. Konfliktbearbeitung durch ausländische NGO..........................................................57

Projektarbeit der Bertelsmann Wissenschaftsstiftung und des CAP.........................59

Funktionen von NGO in ethnopolitischen Konflikten..............................................63

IV. Fazit: Konflikte und Regelungsstrategien...............................................................65

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Zusammenfassung

Zusammenfassung

Die vorliegende Studie untersucht ethnopolitische Konflikte in Osteuropa und entwickelt daraus institutionenpolitische Leitbilder sowie Regelungsstrategien, die Verhaltensänderungen bei den Konfliktparteien im Kontext von Demokratieförderung, gesellschaftlicher Integration und regionaler Stabilisierung zu erreichen versuchen. Empirische Grundlage sind drei exemplarische Konfliktkonstellationen, mit denen sich die Bertelsmann Wissenschaftsstiftung und das Centrum für Angewandte Politikforschung in ihrer Projektarbeit näher beschäftigt haben: die Slowakische Republik und die ethnischen Ungarn, die Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) und die ethnischen Albaner sowie Lettland und die ethnischen Russen. Diese unterschiedlich gelagerten Konflikte werden im ersten Teil der Studie in einer vergleichenden Perspektive untersucht. Im zweiten Teil der Studie geht es darum, drei Regelungsstrategien der internationalen Gemeinschaft darzustellen und ihre Wirksamkeit im Hinblick auf diese Konflikte zu bewerten: die Entwicklung internationaler minderheitenrechtlicher Standards; Konfliktprävention und Krisenmanagement von OSZE, EU und Balkan-Kontaktgruppe; sowie die Konfliktbearbeitung durch ausländische Nichtregierungsorganisationen (NGO).

Die ethnopolitischen Konflikte in Osteuropa sind Nebenprodukte der Transformationsprozesse; sie lassen sich allgemein dadurch definieren, daß politische Akteure den nationalstaatlichen Rahmen der Konfliktaustragung und die darin implizierten Zuordnungen selbst zum Konfliktgegenstand machen. Die Interessen und Rollenverständnisse von nationalen Minderheiten, neu entstehenden Nationalstaaten mit Minderheiten und benachbarten “homeland”-Staaten mit ethnischen Bindungen zu den Minderheiten ergeben sich aus symbolisch-politischen Definitionsprozessen. Ethnopolitische Konflikte beziehen sich im Kern auf die Kämpfe zwischen konkurrierenden Rollen- und Interessendefinitionen. Um die drei empirischen Konfliktkonstellationen und ihre Ursachen verstehen und vergleichen zu können, analysiert die Studie das Demokratisierungsniveau und die nationalstaatliche Konsolidierung (1), die soziale Segregation zwischen den ethnischen Gruppen (2), die Konfliktthemen und Politikmuster der Eliten (3) sowie den Einfluß von bzw. auf Nachbarstaaten (4).

Die Slowakische Republik und Lettland sind noch keine konsolidierten Nationalstaaten und weisen einige Demokratisierungsdefizite auf, verfügen aber über ausreichende institutionelle Kapazitäten, um Minderheiteninteressen zu berücksichtigen und ethnopolitische Konflikte zu bearbeiten. In Serbien und im Kosovo haben der Verlauf der Nationalstaatsbildung und das Fortbestehen semi-autoritärer Strukturen institutionelle Bedingungen geschaffen, die die Polarisierung des Konfliktes begünstigen. Die soziale Segregation ist in der Slowakischen Republik relativ gering, die in Umfragen ermittelbaren Perzeptionsunterschiede zwischen ethnisch ungarischen und ethnisch slowakischen Bürgern deuten jedoch auf ein gewisses Potential für eine ethnische Mobilisierung hin. In Lettland nimmt das soziale Gefälle zwischen der Bevölkerungsmehrheit und den ethnischen Russen stark

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zu, da letztere als Rentner und gering qualifizierte Industriearbeiter von der Transformation negativ betroffen sind. Gegenüber Lettland hat die ethnische Segregation in der Bundesrepublik Jugoslawien ein wesentlich größeres Ausmaß erreicht, nicht nur in ihrer geographischen, sondern auch in der sozialstrukturellen und perzeptiven Dimension.

In der Slowakei und in Lettland artikulieren die Konfliktparteien keine “Alles-oder-Nichts”-Positionen, sondern verstehen den Konflikt als Positivsummenspiel, in dem eigene Vorteile der anderen Seite nicht unbedingt Nachteile bringen müssen. Der Konflikt zwischen der serbischen bzw. jugoslawischen Regierung und der kosovo-albanischen Bevölkerungsgruppe ist dagegen 1998 zu einer kriegsförmigen Auseinandersetzung eskaliert, die nicht zuletzt aus dem über Jahre hinweg verfestigten konfrontativen Politikstil der beiden Konfliktparteien resultiert. In der Slowakei und in Lettland erzeugt die EU-Integrationsperspektive starke Anreize zu kompromißorientiertem Verhalten. Während aber Ungarn seine “homeland”-Interessen in den multilateralen Rahmen von Europarat, OSZE und Stabilitätspakt einordnet, versucht Rußland gegenüber Lettland bilateral als Anwalt der ethnisch russischen Bevölkerungsgruppe aufzutreten – eine Rolle, die allerdings zwischen den verschiedenen Fraktionen der russischen politischen Elite sehr umstritten ist und nur von einem Teil der ethnisch russischen Akteure in Lettland angenommen wird. Demgegenüber ist der regionale Kontext des Kosovo-Konfliktes vor allem durch die inneren politischen Instabilitäten in Albanien, der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien und Bosnien-Herzegowina geprägt.

Wirksame Regelungsstrategien für ethnopolitische Konflikte müssen diese politisch-institutionellen, gesellschaftlichen, akteurbezogenen und regionalen Dimensionen bzw. Ursachenfaktoren berücksichtigen. Ethnopolitische Konflikte zu regeln, bedeutet, normativ tolerable Institutionen aufzubauen, die die politischen Akteure als für sie geltende Regeln akzeptieren. Damit stellt die Regelung ethnopolitischer Konflikte in Osteuropa ein Problem der Institutionenbildung dar. Durch normativ-demokratietheoretische Überlegungen lassen sich, anknüpfend an die Regelungsprinzipien der Personal- und Territorialautonomie, zwei unterschiedliche institutionenpolitische Leitbilder formulieren: responsive Demokratie, die Minderheitenrechte in einem rechtsstaatlichen, dezentralisierten Rahmen als individuelle Rechte schützt und Minderheitenangehörigen besondere Mitbestimmungsrechte einräumt sowie territoriale Machtteilung, die Formen der Staatlichkeit auf eine ethnisch-territorial bestimmte Personengruppe überträgt. Diese Leitbilder gehen über die international vereinbarten Minderheitenrechte hinaus und ermöglichen eine klare Trennung zwischen möglichen Regelungsstrategien.

Die systematische Analyse von Konfliktkonstellationen stellt empirisch begründete Kriterien bereit, um sich für eines der beiden Leitbilder zu entscheiden. Demnach erscheint eine territoriale Machtteilung für Konflikte angemessen, die durch konfrontative Eliten, eine starke Segregation, ein niedriges Demokratisierungsniveau und einen destabilisierenden regionalen Kontext geprägt sind. Konfliktkonstellationen, die günstigere, d.h. stärker integrationsförderliche Merkmale tragen, sollten durch Regelungsstrategien bearbeitet werden, die eine responsive Demokratie anstreben. Insbesondere sollte dieses Leitbild die Politik gegenüber Eliten bestimmen, die durch einen konfrontativen Politikstil die ethnischen Gruppen

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gegeneinander einnehmen und das Demokratisierungsniveau verringern wollen. Daraus folgt, daß nur im Konflikt zwischen der BRJ und den Kosovo-Albanern die territoriale Machtteilung als institutionenpolitisches Leitbild gewählt werden sollte. Im slowakischen und im lettischen Fall begründen die empirischen Charakteristika des Konfliktes eine Orientierung am Leitbild der responsiven Demokratie.

Wenn man sich für ein Leitbild entschieden hat, kann man sich darauf beschränken, Instrumente einzusetzen, die die Realisierung dieses Leitbildes unterstützen. Es ist dann nicht mehr notwendig, in tief gespaltenen Gesellschaften mit konfrontativen Eliten, autoritären Strukturen und instabilen Nachbarschaften die unwahrscheinliche Herausbildung einer responsiven Demokratie zu unterstützen. Vielmehr sollte und könnte man sich dann darauf konzentrieren, eine territoriale Machtteilung unter Wahrung der territorialen Integrität des Gesamtstaates zu realisieren. Darin kommt auch eine Selbstbeschränkung zum Ausdruck, die auf der Erfahrung basiert, daß die internationale Gemeinschaft die Ursachen- und Einflußfaktoren ethnopolitischer Konflikte bisher nicht fundamental verändern konnte.

Das internationale Minderheitenschutzrecht ist als Instrument zur Bearbeitung von Minderheitenkonflikten nur begrenzt wirksam. Dies liegt zum einen an seinem derzeitigen, ungenügenden Niveau der Kodifizierung und Differenzierung. Zum anderen haben die minderheitenrechtlichen Standards nur eine begrenzte konfliktregelnde Wirkung, da sie nicht auf die Ursachen der Minderheitenkonflikte in Osteuropa zugeschnitten sind, sondern abstrakt-universale Regelungsformen entwerfen. Die politischen Akteure in den hier untersuchten Konfliktkonstellationen bezogen sich nur dann auf den internationalen minderheitenrechtlichen Rahmen, wenn sie ihre eigene Verhandlungsposition dadurch verbessern konnten. Der Umstand, daß dieser Rahmen nicht als der Interessenverfolgung vorgegebener akzeptiert wird, weist auf das allgemeine Problem der Bildung und Konsolidierung von Institutionen in Osteuropa hin.

Trotz eines generellen Konsenses über den normativen und funktionalen Primat präventiver Politik sind die Schwellen zur Mobilisierung internationalen Engagements immer noch zu hoch: Die westlichen Staaten und internationalen Akteure setzen ihre Machtressourcen zu einem Zeitpunkt ein, der ihren unmittelbaren Präferenzen und organisatorischen Eigeninteressen optimal entsprechen mag, aber im Hinblick auf die Konfliktkonstellation und die langfristigen Stabilitätsinteressen des Westens suboptimale Ergebnisse zeitigt.

Soweit die internationalen Organisationen in einer langfristigen Perspektive strukturelle Konfliktprävention betreiben oder versuchen, ”peace-constituencies” aufzubauen, mobilisieren sie dafür weniger Ressourcen und beschränken ihre Handlungsmöglichkeiten durch den gering entwickelten internationalen minderheitenrechtlichen Konsens sowie das Dogma der Staatssouveränität/Nicht-Intervention. Von den einzelnen Dimensionen einer ethnopolitischen Konfliktkonstellation bearbeiten sie primär den regionalen Kontext und das Elitenverhalten, vernachlässigen aber die Dimensionen der Demokratisierung und gesellschaftlichen Integration. Es fehlt eine präventive Strategie der Institutionenbildung, die über den Handlungsrahmen des internationalen Konfliktmanagements hinausgeht und alle Dimensionen ethnopolitischer

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Konfliktkonstellationen abdeckt. Nur wenige NGO haben versucht, zusammen mit den Konfliktparteien präventive Institutionen zu entwickeln. In der slowakischen und der jugoslawischen Konfliktkonstellation läßt sich nur das Bertelsmann/CAP-Projekt als NGO einstufen, die an dieser Aufgabenstellung arbeitete.

Regelungsstrategien, die die verschiedenen Konfliktdimensionen berücksichtigen und präventive Institutionen aufzubauen versuchen, lassen sich für die drei empirischen Konfliktkonstellationen dieser Studie folgendermaßen skizzieren: Im slowakischen Fall sollte in der politisch-institutionellen Dimension eine rechtsstaatlich fundierte Dezentralisierung der Entscheidungs- und Verwaltungskompetenzen angestrebt werden. Politikfeldspezifische Rationalitätskriterien sollten gestärkt werden, damit ethnisierte Konfliktthemen wieder stärker in den Zusammenhang von Bildungspolitik, Kulturförderung, Sprachunterricht etc. eingebettet werden können. In der gesellschaftlichen Dimension sollten die individuelle Mobilität unterstützt und durch Aufklärung, Begegnungen, sowie die Thematisierung von Vorurteilen perzeptive Differenzen verringert werden. Im lettischen Fall müßte eine Regelungsstrategie primär darauf abstellen, die gesellschaftliche Integration der ethnischen Russen zu unterstützen, politische Verfahren zu entwickeln, die einen Ausgleich zwischen Mehrheits- und Minderheitsinteressen ermöglichen und grenzüberschreitende Koalitionen von Akteuren aufzubauen, die ein Eigeninteresse an regionaler Stabilität entwickeln.

Im jugoslawischen Fall sollte eine territoriale Machtteilung realisiert werden, indem die Eliten durch stärkere Sanktionen und attraktivere Kooperationsanreize zu einer Einigung veranlaßt werden. Offizielle Verhandlungen sollten durch NGO-Aktivitäten unterstützt werden, die eine gesellschaftsweite Diskussion in Serbien und im Kosovo über die Konfliktregelung, die unbewältigte Vergangenheit und die Perspektiven einer Koexistenz organisieren. Auf beiden Seiten geht es darum, Akteurkoalitionen zu fördern, die an einem Gewaltverzicht interessiert sind. Diese Institutionenbildungsstrategie wäre mit einer weitergehenden Internationalisierung des Konfliktes und der Aufstellung eines verbindlichen Verhandlungsrahmens zu verbinden.

Die bisherigen Erfahrungen mit unterschiedlichen institutionellen Arrangements der Konfliktregelung erlauben noch keine gesicherte Aussage darüber, inwieweit Institutionen im Hinblick auf ihre Regelungsleistung als funktional äquivalent einzuschätzen sind und welches Arrangement am besten dazu geeignet ist, in einer gegebenen Konfliktlage eine dauerhafte Regelung zu erreichen. Neben den unterschiedlichen Problemwahrnehmungen und Interessen von Staaten trägt diese Unsicherheit dazu bei, daß internationale Vorgaben zur innerstaatlichen Institutionenbildung, die konfliktpräventive Aktivitäten anleiten und wirksamer gestalten würden, bisher weitgehend fehlen oder - wie im Kosovo-Konflikt - erst nach einer Gewalteskalation vereinbart werden.

Die Wissens-, Normierungs- und Engagementdefizite beschränken auch die Regelungschancen von ausländischen NGO, die zudem aufgrund des projektbezogenen Charakters ihrer Arbeit häufig gezwungen sind, einen Konflikt auf der Ebene der Eliteninteraktion zu bearbeiten und schnelle Regelungserfolge zu erzielen. Je mehr Wissen über die Leistungsfähigkeit institutioneller Arrangements in

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ethnopolitischen Konflikten entsteht, desto bessere Chancen hat eine Politik, die versucht, ”Konvergenzkriterien” der Minderheitenpolitik auf europäischer und internationaler Ebene einzubringen. In einer langfristigen Perspektive sollte jedoch die internationale Normbildung, Präventionspolitik und Konfliktbearbeitung mehr in die Konstruktion, Erprobung und Verbreitung präventiver Institutionen investieren.

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Einleitung

I. Einleitung1

Zwei möglicherweise lapidare Beobachtungen scheinen besonders geeignet, um die Problematik ethnopolitischer Konflikte in Osteuropa zu verdeutlichen: Betrachtet man die Ergebnisse der Transformationsprozesse in Osteuropa, dann fällt auf, daß die Länder, die die größten Fortschritte in der Konsolidierung von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft erzielt haben, ethnisch weitgehend homogene Nationalstaaten darstellen: Tschechien, Ungarn, Polen, Slowenien. Gescheiterte oder stagnierende Transformationen finden sich vor allem in Ländern, in denen ein großer Teil der Bürger sich ethnischen Minderheiten zugehörig fühlt: Bosnien-Herzegowina, Serbien, Aserbaidschan, Rußland. Selbstverständlich konnten auch ethnisch heterogene Länder wie z.B. Estland Transformationserfolge verbuchen, und ethnische Heterogenität ist nicht gleichbedeutend mit einer konflikthaften Entwicklung. Dennoch läßt sich angesichts der starken Korrelation die These vertreten, daß ”die ethnische Zusammensetzung eines Staates [...] der entscheidende Faktor [ist], um Erfolg oder Scheitern des Versuchs zu bestimmen, eine pluralistische, individualistische und marktorientierte Gesellschaft zu schaffen.”2

Die zweite Beobachtung bezieht sich darauf, daß die EU-Mitgliedstaaten zwar in Form der Wirtschafts- und Währungsunion detaillierte gemeinsame Rechtstandards vereinbaren konnten, an der sie ihre Wirtschafts- und Fiskalpolitik orientieren. Die zunehmende internationale wirtschaftliche Verflechtung wirkt vereinheitlichend auf die Wirtschaftssysteme einzelner Staaten und veranlaßt die Regierungen, ihre wirtschaftspolitischen Instrumente und Parameter einander anzugleichen. Ähnliche Beweggründe motivieren Standardisierungs- und Integrationsprozesse in anderen Politikfeldern. In der Regelung von Minderheitenproblemen und inter-ethnischen Beziehungen existieren gemeinsame Standards dagegen nur in rudimentären Ansätzen.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Europarat haben überwiegend Aufforderungen an ihre Mitgliedstaaten formuliert, aber nur wenige Verpflichtungen von Staaten, noch weniger subjektive Rechte von Minderheitenangehörigen und keine Organisationsformen für die Repräsentation von Minderheiteninteressen im politischen Prozeß. Obwohl die westeuropäischen Staaten sich als Wertegemeinschaft verstehen, waren sie bisher nicht in der Lage, übergreifende Leitbilder der Minderheitenpolitik und daraus abgeleitete verbindliche ”Konvergenzkriterien” hervorzubringen. Es fehlen Richtlinien, die eine transparente Beurteilung der in ethnopolitischen Konflikten erhobenen Forderungen und eine darauf basierende konfliktspezifische und normativ konsistente Politik ermöglichen. 1 Für kritische Anmerkungen zu einer früheren Version dieses Textes sei Lisa Mayrhofer,

Wim van Meurs und Josef Janning herzlich gedankt. Die in der Studie enthaltenen Wertungen spiegeln, soweit nicht anders vermerkt, selbstverständlich nur die persönliche Einschätzung der Autoren wider.

2 So der serbische Soziologe Laslo Sekelj, zitiert in: Offe, Claus (1997): Die politisch-kulturelle Innenseite der Konsolidierung. Eine Anmerkung über Besonderheiten der postkommunistischen Transformation, in: Wagener, Hans-Jürgen/ Fritz, Heiko (Hg.) (1997): Im Osten was Neues. Aspekte der EU-Osterweiterung, Bonn: Dietz, 100-114, 107.

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Einleitung

”What is lacking”, so Michael S. Lund, ”is advice [...] that is available to policymakers as to how specifically to apply [general conflict prevention] measures to achieve the needed ingredients of violence prevention and immunization in particular places and times.”3

Gewiß läßt sich prinzipiell fragen, ob die dazu erforderlichen Integrations-, Normierungs- und Klassifizierungsschritte angesichts fundamental unterschiedlicher Nationalstaatsauffassungen möglich und vor dem Hintergrund einer insgesamt positiven Konfliktpräventionsbilanz in Europa notwendig sind. Die folgende Studie beantwortet beide Fragen positiv, indem sie institutionenpolitische Leitbilder für Konfliktregelungsstrategien entwickelt und Überlegungen zu einer präventiven Institutionenpolitik anstellt. Sie versteht Konfliktprävention nicht nur als Vermeidung gewaltsamer Eskalationen, sondern umfassender als Bildung “nachhaltiger” konfliktregelnder Institutionen. Institutionenpolitische Leitbilder sollen durch eine Analyse von drei empirischen Konfliktkonstellationen begründet werden, mit denen sich die Bertelsmann Wissenschaftsstiftung und das Centrum für Angewandte Politikforschung in ihrer Projektarbeit näher beschäftigt haben: die Slowakische Republik und die ethnischen Ungarn, die Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) und die ethnischen Albaner sowie Lettland und die ethnischen Russen.4 Diese unterschiedlich gelagerten Konflikte werden im ersten Teil der Studie in einer vergleichenden Perspektive untersucht. Im zweiten Teil des Papiers geht es darum, drei Regelungsstrategien der internationalen Gemeinschaft darzustellen und im Hinblick auf diese Konflikte zu bewerten: die Entwicklung internationaler minderheitenrechtlicher Standards, Konfliktprävention und Krisenmanagement von OSZE, EU und Balkan-Kontaktgruppe sowie die Konfliktbearbeitung durch NGO. Schließlich werden die Ergebnisse der Konfliktanalyse und Strategieevaluation genutzt, um ”angeleitete” Strategien mit ihren Prioritäten und Elementen genauer zu bestimmen.

Die in dieser Studie diskutierten ethnopolitischen Konflikte sind durch ein dreipoliges Spannungsverhältnis strukturiert: zwischen der nationalen Minderheit, dem Staat, in dem die Minderheitsangehörigen leben (Aufenthaltsstaat), und dem Staat, zu dem sie ethnische Bindungen haben (“homeland”).5 Die drei Pole können

3 Lund, Michael S. (1998): Developing Conflict Prevention and Peacebuilding Strategies from Recent Experiences in Europe, in: Bonvicini, Gianni et al. (ed.) (1998): Preventing Violent Conflict. Issues from the Baltic and the Caucasus, Baden-Baden: Nomos 36-79, 39.

4 Vgl. die ausführliche Darstellung der Projektarbeit in Kapitel II.3. Die Projektkonzeption profitierte ebenso wie die hier entwickelten Überlegungen von zwei Vorarbeiten: Ein Gutachten des Osteuropa-Experten und Juristen Georg Brunner (1996): Nationalitätenprobleme und Minderheitenkonflikte in Osteuropa, Gütersloh, Bertelsmann und ein von Ferenc Glatz vorgeschlagener Verhaltenskodex zur Handhabung der Minderheitenfrage (vgl. z.B. Glatz, Ferenc (1997): Lösungsansätze für Minderheitenkonflikte. Vorschläge für einen Verhaltenskodex, in: Internationale Politik 52. Jg. H.10/97 11-18). Vgl. a. die von Werner Weidenfeld herausgegebenen Publikationen: Demokratie und Marktwirtschaft in Osteuropa, Gütersloh 1996; Neue Ostpolitik. Strategie für eine gesamteuropäische Entwicklung; Mittel- und Osteuropa auf dem Weg in die Europäische Union, Gütersloh 1996. Bericht zum Stand der EU-Integrationsfähigkeit, Gütersloh 1995, 1996.

5 Brubaker; Rogers (1996): Nationalism Reframed. Nationhood and the National Question in the New Europe, Cambridge: Cambridge University Press.

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unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen und Rollenverständnisse ausdrücken. Politische Akteure vertreten konkurrierende Repräsentationsansprüche und führen symbolische Kämpfe über die Frage, was eine nationale Minderheit ausmacht und welche prioritären Interessen sie haben sollte. Auch das Verständnis von Nationalstaatlichkeit oder die politische Rolle, die ein benachbartes “homeland” in einem ethnopolitischen Konflikt spielen sollte, sind Gegenstand sozialer Konstruktionsprozesse. In Osteuropa geschieht die Ausgestaltung dieser Selbstdefinitionen in engem Zusammenhang mit den Transformationsprozessen auf den Ebenen des nationalstaatlichen Rahmens, des politischen Systems und der Sozialstruktur.6

Diese Transformationsprozesse und die gegebene ethnische Pluralität einer Gesellschaft bilden die Rahmenbedingungen ethnopolitischer Konflikte in Osteuropa; wie sich das Spannungsverhältnis zwischen Minderheit, Aufenthaltsstaat und “homeland” entwickelt, bzw. ob ein Konflikt eskaliert, hängt in hohem Maße von den Handlungen der politischen Eliten ab. Überlegungen zu konfliktregelnden Institutionen sollten deshalb sowohl auf die Interaktion der Eliten, als auch auf die Rahmenbedingungen eines Konfliktes zielen, die je nach Fall oder Zeitpunkt variieren und als Dimensionen einer Konfliktkonstellation betrachtet werden können.

6 Offe, Claus (1994): Der Tunnel am Ende des Lichts, Frankfurt/ New York: Campus; Linz, Juan J./ Stepan, Alfred (1996): Problems of Democratic Transition and Consolidation: Southern Europe, South America and Post-Communist Europe, Baltimore: Johns Hopkins University Press; Przeworski, Adam (1996): Sustainable Democracy, Cambridge University Press.

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II. Konfliktkonstellationen

In diesem Teil sollen die einzelnen Konfliktkonstellationen in ihren politisch-institutionellen, gesellschaftlichen, akteurbezogenen und regionalen Dimensionen systematisch und vergleichend betrachtet werden. In der ersten Untersuchungsdimension geht es darum, anhand politisch-institutioneller und politisch-soziologischer Informationen das Demokratisierungsniveau der Gesellschaft und des politischen Systems in den drei Ländern einzuschätzen. Da die Staaten im Zusammenhang mit dem Zerfall der drei staatssozialistischen Föderationen (Tschechoslowakei, Jugoslawien und Sowjetunion) neu entstanden, wird jeweils untersucht, wie sich das Problem der Nationalstaatsbildung stellt. Zweitens soll mit Hilfe demographischer, geographischer, sozialstruktureller und politisch-kultureller Daten das Ausmaß an sozialer Segregation zwischen den ethnischen Gruppen ermittelt werden. Drittens dient ein Überblick über die Konfliktthemen bzw. den Konfliktverlauf dazu, die Politikmuster und –stile der Eliten zu klassifizieren. Schließlich werden in einer vierten Untersuchungsdimension der Einfluß der benachbarten homeland-Staaten Ungarn, Albanien und Rußland sowie die regionalen Implikationen des Konfliktes analysiert.

1. Slowakische Republik/ ethnische Ungarn

Demokratie und Nationalstaatsbildung

Als sich die CSFR in den Jahren 1992/93 auflöste, trat nur eine Minderheit der slowakischen Bürger für einen unabhängigen slowakischen Staat ein, wie sich aus Meinungsumfragen erkennen läßt.7 Infolgedessen waren die Teile der slowakischen politischen Elite, die die vollständige Auflösung der Föderation angestrebt hatten, gezwungen, eine ethnisch-nationale Begründung für das neue Staatsgebilde zu entwickeln. Zum einen versuchten sie, an die historischen Vorläufer des slowakischen Nationalstaates anzuknüpfen – das frühmittelalterliche Großmährische Reich und den eigenständigen slowakischen Staat zwischen 1939 und 1944. Zum anderen interpretierten sie den slowakischen Nationalstaat in der Abgrenzung vom ungarischen und tschechischen Nationalstaat, indem sie die slowakische Nation als historisches Opfer tschechischer und ungarischer Überlegenheitsansprüche und Unterdrückungspolitiken beschrieben.8 Die nationalstaatliche Identitätssuche und die Abgrenzung von Ungarn stellten einen symbolisch-assoziativen Kontext her, in dem

7 Bútorová, Zora et al (1996): Current Problems of Slovakia on the Verge of 1995-1996, Bratislava, 7ff.

8 Vgl. z.B. Fabian, Juraj (1994): Die ungarisch-slowakischen Beziehungen zwischen 1918 und 1945, in: Aspeslagh, Robert et al (Hg.): Im historischen Würgegriff. Die Beziehungen zwischen Ungarn und der Slowakei in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Baden-Baden: Nomos 31-42; Stevcek, Pavol (ed.) (1995): Slovaks and Magyars. Slovak-Magyar Relations in Central Europe, Bratislava. Marko, Augustín/ Martinický, Pavol (1995): Slovakisch-ungarische Beziehungen. Vergangenheit und Gegenwart in Fakten, Bratislava.

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Slowakische Republik/ ethnische Ungarn

die ethnisch ungarische, d.h. magyarische Minderheit als Relikt ungarischer Vorherrschaftspolitik und als (potentiell) sezessionistische ”fünfte Kolonne” Ungarns erschien – ein Deutungsmuster, das latente Ressentiments zwischen Minderheits- und Mehrheitsangehörigen mobilisieren konnte.

Die allgemeinen nationalstaatlichen Begründungszwänge verbanden sich von 1994 bis 1998 mit einer parteipolitischen Konstellation, in der der slowakische Ministerpräsident Vladimír Meciar und seine Bewegung für eine Demokratische Slowakei (HZDS) mit der nationalistischen Slowakischen Nationalpartei (SNS) und der linksradikalen Slowakischen Arbeitervereinigung (ZRS) eine Regierungskoalition bildeten. Dadurch erhielt die SNS großen Einfluß auf die besonders minderheitenrelevante Bildungs- und Kulturpolitik sowie auf die Regierungspolitik insgesamt, und die Regierungskoalition konnte immer wieder mit der ”ungarischen Karte” Gegensätze zwischen den magyarischen und slowakischen Oppositionsparteien erzeugen. Die Oppositionsparteien gerieten in das Dilemma, entweder die ethnisch-nationale Begründung mitzutragen und die nationalen Minderheiten als Gruppen vom ethnisch definierten Staatsvolk zu trennen oder ein inklusives, staatsbürgerliches Nationskonzept zu vertreten und damit die Begründung für einen selbständigen slowakischen Staat aufzugeben.

In der Amtszeit der Meciar-Regierung war die slowakische Demokratie mit gravierenden Konsolidierungsproblemen konfrontiert. Die Regierungskoalition schürte die innenpolitischen Gegensätze und verletzte zahlreiche Verfassungsgrundsätze bzw. demokratische Prinzipien. Unter anderem versuchte sie, den Staatspräsidenten durch Enthüllungen über die Entführungsaffaire um seinen Sohn zum vorzeitigen Rücktritt zu bewegen. Sie verhinderte eine wirksame Beteiligung der Opposition an parlamentarischen Kontrollausschüssen, änderte das Wahlgesetz so, daß konkurrierende Parteien benachteiligt wurden, und mißachtete einen Beschluß des Verfassungsgerichts, einem aus der Regierungspartei HZDS ausgetretenen Abgeordneten sein (in verfassungswidriger Weise entzogenes) Mandat zurückzugeben.

Im Vergleich zu Lettland und der BRJ sollten die slowakischen Konsolidierungsprobleme jedoch nicht überbewertet werden. Der Staatspräsident, das Verfassungsgericht, die unabhängigen Zeitungen, die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften, die Gewerkschaften, Wissenschaftler, Künstler und viele Organisationen des Dritten Sektors konnten in der Meciar-Ära nach wie vor autonom agieren, setzten den Hegemoniebestrebungen der Regierungskoalition Grenzen und haben sich zunehmend für die Verteidigung der Demokratie engagiert. Die vergleichsweise günstige wirtschaftliche und soziale Situation des Landes begrenzt das Potential an unzufriedenen und protestbereiten Bürgern, das von autoritär-populistischen Kräften mobilisiert werden könnte. Nach ihrem Sieg bei den Parlamentswahlen am 26./27.9.1998 haben die Oppositionsparteien große Anstrengungen unternommen, um die von den internationalen Organisationen festgestellten Demokratiedefizite abzubauen; Programmatik und Stil der neuen Regierung belegen einen deutlichen Konsolidierungsfortschritt.

Seit seiner Entstehung in den Jahren 1989/90 ist das slowakische Parteiensystem durch ein ethnisches cleavage zwischen den slowakischen und den magyarischen

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Slowakische Republik/ ethnische Ungarn

Parteien gekennzeichnet. Drei Parteien vertreten die Interessen der magyarischen Minderheit: Die Magyarische Bürgerpartei (MOS) entstand aus dem systemkritischen Oppositionsmilieu von 1989 und versteht sich als liberale Partei, die katholisch-zentristische Magyarische Christdemokratische Bewegung (MKDH) genießt die größte Popularität, und die Partei Spolužitie bildet den national-radikalen Pol im magyarischen Parteienspektrum. Während die MOS und die MKDH für eine Bildungs- und Kulturautonomie eintreten, hat Spolužitie frühzeitig eine territoriale Autonomie für die magyarischen Siedlungsgebiete gefordert. Um nicht bei den Parlamentswahlen an der Fünfprozenthürde zu scheitern, fusionierten die magyarischen Parteien Anfang 1998 zur Magyarischen Koalition. Unter den slowakischen Parteien versuchten nur die HZDS und die Allianz der Demokratischen Linken (SDL‘), das ethnische cleavage zu überbrücken, indem sie Magyaren an der Parteiführung beteiligten, die in der Slowakischen Demokratischen Koalition (SDK) vereinigten slowakischen Christdemokraten und die liberalen Parteien strebten keine organisationelle Integration mit den magyarischen Christdemokraten und Liberalen an.

Die slowakische Verfassungsordnung enthält keine besonderen Schutzklauseln für nationale Minderheiten bei den Wahlen oder der Beschlußfassung auf Landes- und lokaler Ebene.9 Neben der parteienvermittelten Interessenvertretung können Minderheitenangehörige über den Nationalitätenrat im Amt des Ministerpräsidenten ihre Interessen artikulieren. Der Rat besteht aus Vertretern der Regierung, der Slowakischen Akademie der Wissenschaften und der Minderheitenorganisationen, die vom Kulturministerium ernannt werden. Da der Nationalitätenrat bisher nur eine beratende Funktion hatte und die Regierungsvertreter in der Mehrheit waren, kritisierten die magyarischen Parteien und die Organisationen der anderen Minderheiten seinen Mangel an Einfluß und politischer Legitimität.10

In der funktionalen Interessenrepräsentation besteht kein ebenso klares ethnisches cleavage. Die Magyaren haben einen eigenen Kulturverband (Cemadok) und einen Lehrerverband, der nur als Berufsverband fungiert, nicht als Gewerkschaft. Zwar haben die Gemeinden der überwiegend magyarischen Region Zitny Ostrov innerhalb des Slowakischen Städte und Gemeindeverbandes (ZMOS) einen Regionalverband gebildet, der ZMOS und die meisten anderen Interessenverbände vertreten jedoch ihre jeweilige Klientel inklusiv.11 Insgesamt lassen die politisch-institutionellen Rahmenbedingungen zwar Demokratisierungsdefizite erkennen, bieten aber ausreichende Kapazitäten, um ethnische Spannungen zu bearbeiten und eine Integration der magyarischen Minderheit zu ermöglichen.

9 Rhodes, Matthew (1995): `National Identity and Minority Rights in the Constitutions of the Czech Republic and Slovakia´, East European Quarterly 29, 347-369.

10 Zajac, Peter (1997): ‘Culture’, in: Martin Bútora/ Péter Huncík (ed.): Global Report on Slovakia. Comprehensive Analysis from 1995 and Trends from 1996, Bratislava: Sándor Márai Foundation, 193-206.

11 Martin Brusis/ Viktor Nižnanský (1997): ‘Die slowakische Verwaltungs- und Gebietsreform unter minderheitenpolitischem Aspekt’, Südosteuropa 5, 197-212.

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Slowakische Republik/ ethnische Ungarn

Soziale Segregation

Die magyarischen Bürger der Slowakischen Republik (ca. 600.000 Personen, 11,5% der Bevölkerung) leben im südlichen Teil der Slowakei entlang der slowakisch-ungarischen Grenze. Auf Basis der in der Volkszählung von 1991 gemachten Nationalitätenangaben läßt sich schätzen, daß etwa drei Viertel der magyarischen Bürger in mehrheitlich magyarischen Gemeinden wohnen. Da mehr als die Hälfte der Magyaren in gemischt-ethnischen Gemeinden mit einem magyarischen Bevölkerungsanteil zwischen 10 und 90% leben, kann man von einer schwach ausgeprägten Segregation auf der Ebene mikroregionaler Einheiten sprechen.12 Im Wahlverhalten ist die ethnische Differenz jedoch deutlich ausgeprägt, d.h. während die magyarischen Bürger bei den bisherigen Parlamentswahlen und zunehmend auch bei den Kommunalwahlen die Parteien der Magyarischen Koalition wählten, beschränkten die ethnisch slowakischen Bürger ihre Wahl auf die übrigen Parteien.13

Eine soziologisch-sozialpsychologische Studie zu den inter-ethnischen Beziehungen in der Slowakei unterstützt die Deutung, daß das inter-ethnische Spannungsverhältnis auf tradierten Unterschieden in der Ausstattung mit kulturellem Kapital (Bildung, ”kultivierter” Lebensstil, Umgangsformen etc.) basiert.14 Die Unzufriedenheit der Magyaren richtet sich primär auf sprach-, bildungs- und kulturpolitische Fragen, während die ethnischen Slowaken in den gemischt-ethnischen Siedlungsgebieten, wie die Autoren der Studie feststellen, ”connect the threat of their assimilation with the socio-economic rather than the cultural and political factor. Dissatisfaction of Slovaks in their relations towards Hungarians generally has a strong social foundation and is stronger than their dissatisfaction in the cultural and political area.”15

Diese unterschiedlichen Unzufriedenheitsprofile lassen sich darauf zurückführen, daß die slowakischen Magyaren vor der Zeit des Staatssozialismus den größten Teil der alten Mittelschicht bildeten und ihr kulturelles Kapital während des staatssozialistischen Systems erhalten konnten. Da infolge der ökonomischen und politischen Transformation seit 1989 eine sozialstrukturelle Differenzierung

12 Duray, Miklos et al. (1994): A nemzetállam és demokratikus ellenszere, Bratislava. Az önkormányzat az önrendelkezés alapja. A szlovákiai magyar választott képviselok és polgármesterek országos nagygyulésének hiteles jegyzokönyve, Komárom.

13 Krívý, Vladimir (1995): ‘Local Determinants of Voting Behavior’, in: Slovak Political Science Association (ed.): Localities and Politics in the Transformation Process, Bratislava, 69-85; Chapman, Jane/ Malíková, Ludmila (1995): ‘The Recruitment of Local Political Elites’, in: Slovak Political Science Association (ed.): Localities and Politics in the Transformation Process, Bratislava, 59-68.

14 Péter Huncík et al. (1995): Counter-Proofs, Bratislava: Sándor Márai Foundation. Im März 1994 führte die Sándor Márai-Stiftung standardisierte und detaillierte psychologische Interviews mit Magyaren, ethnischen Slowaken aus den südslowakischen gemischt-ethnischen Siedlungsgebieten und aus den ethnisch homogenen nordslowakischen Regionen. An der standardisierten Umfrage nahmen 634, 582 und 624 Personen aus den einzelnen Gruppen teil, während die psychologischen Interviews mit 50 Personen aus jeder Gruppe geführt wurden. Die Zusammensetzung der Untersuchungsteilnehmer entsprach den üblichen soziodemographischen Repräsentativitätskriterien.

15 Ebd. S.85.

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Slowakische Republik/ ethnische Ungarn

eingesetzt hat und kulturelles Kapital wieder den sozialen und ökonomischen Status bestimmt, steht für die Magyaren in der Minderheitenpolitik auch die Erhaltung bzw. Wiederbesetzung ihres alten gesellschaftlichen Status auf dem Spiel. Da die ethnischen Slowaken im südlichen Teil der Slowakei traditionell die ländliche und urbane Unterschicht bildeten und nicht über ein vergleichbares, tradiertes kulturelles Kapital verfügen, nehmen sie das inter-ethnische Spannungsverhältnis eher in einer sozioökonomischen Dimension wahr. Für sie geht es um die Verbesserung ihres gesellschaftlichen Status.

Der zugrundeliegende vorkommunistische Gegensatz zwischen Unter- und Mittelschicht korrespondiert mit den in der Studie herausgearbeiteten unterschiedlichen Nationalgefühlen: der stark entwickelten, selbstsicheren und stolzen magyarischen Identität einerseits, der durch Minderwertigkeitskomplexe und Opfermythen geprägten slowakischen Identität andererseits. Die erwähnte Studie zeigte beispielsweise, daß ca. 80% der ethnischen Slowaken der Deutung zustimmen würden, daß die Slowaken tausend Jahre unter der ungarischen Herrschaft leiden mußten.16 Etwa zwei Drittel der ethnischen Slowaken befürchteten irredentistische Tendenzen der magyarischen Minderheit.17 Diese verbreiteten Perzeptionsmuster wurden von den politischen Akteuren bestärkt, die in der Abgrenzung von Ungarn und der magyarischen Minderheit eine ethnisch-nationale Begründung des unabhängigen slowakischen Staates zu geben versuchten.

Im ersten Jahr der Meciar-Regierung führten die minderheitenbezogenen Äußerungen und Aktionen der Regierung zu einer in Umfragen sichtbar werdenden Mobilisierung der magyarischen Bürger. Während 1994 noch die Hälfte der befragten Magyaren ihre Situation als gut einstufte, betrachteten 1995 fast drei Viertel der Magyaren ihre Rechte und Chancen als begrenzt. Von den befragten ethnischen Slowaken dagegen beurteilten etwa zwei Drittel die Entwicklungsmöglichkeiten der magyarischen Minderheit in beiden Jahren als gut und hielten die Politik der Meciar-Regierung gegenüber der magyarischen Minderheit für richtig.18 Insgesamt deuten diese Umfrageergebnisse auf Perzeptionsunterschiede hin, die für Mobilisierungsstrategien ”ethnischer Unternehmer” anschlußfähig sind. Dies steht in einem gewissen Kontrast zur sozialen Segregation der magyarischen und slowakischen Bevölkerungsgruppen, die auf Grundlage der vorhandenen, zweifellos fragmentarischen Daten als gering zu bezeichnen ist.

Konflikt und Politikmuster

Im Gegensatz zu den anderen beiden Konfliktkonstellationen besteht zwischen der slowakischen Regierung und den politischen Vertretern der ethnisch ungarischen Minderheit ein weitgehender Konsens darüber, ihren Konflikt als Minderheitenproblem zu definieren und damit Konfliktziele und –formen an

16 Ebd. S.47.17 Ebd. S. 57.18 Focus Agency (1996): Current Problems of Slovakia on the Verge of 1995-1996, Bratislava,

90 ff.

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internationalen minderheitenrechtlichen Standards bzw. Praktiken zu orientieren.19

Die politische Auseinandersetzung der letzten Jahre war durch vier zentrale Konfliktthemen geprägt.

0Mit dem Gesetz über die Staatssprache setzte die Regierungsmehrheit 1995 das alte Gesetz über die Amtssprache mit seinen Regelungen zum Gebrauch von Minderheitensprachen außer Kraft und erzeugte damit eine große Rechtsunsicherheit im Hinblick auf den Gebrauch des Ungarischen im Amtsverkehr. Die magyarischen Parteien forderten, Ungarisch in Gemeinden mit einem magyarischen Bevölkerungsanteil von mehr als zehn Prozent zur Benutzung im Amtsverkehr zuzulassen und in mehrheitlich ethnisch ungarischen Gemeinden als zweite Amtsprache einzustufen.

1Während die Regierung die Kulturausgaben im Jahre 1995 insgesamt erhöhte, reduzierte sie die staatliche Kulturförderung für Kulturorganisationen der Minderheiten und insbesondere der ethnisch ungarischen Minderheit um mehr als die Hälfte. Ein Teil der Mittel wurde dazu verwendet, ungarischsprachige Beilagen in der regierungsnahen Tageszeitung Slovenska Republika zu finanzieren. Nach Auffassung der ethnisch ungarischen Parteien sollten die Ausgaben für Minderheitenkultur von den Minderheitenorganisationen selbst verwaltet und die Minderheiten entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung Mittel für kulturelle Aktivitäten erhalten.

2Das slowakische Bildungsministerium bestimmte im April 1997, daß die Fächer Geschichte und Geographie an ungarischsprachigen Schulen von ethnisch slowakischen Lehrern in Slowakisch unterrichtet werden müssen, nachdem es zuvor vergeblich versucht hatte, den slowakischsprachigen Fachunterricht an ungarischsprachigen Schulen auf freiwilliger Basis zu erweitern. Die magyarischen Parteien und der magyarische Pädagogenverband lehnten die Ausdehnung slowakischsprachiger Unterrichtsstunden ab, da sie nach ihrer Meinung die ungarische Sprachkompetenz der Schüler verringern und zu einer schleichenden Assilimation führen würde.

3Das slowakische Parlament beschloß im März 1996, das Gebiet der Slowakei in acht Verwaltungsbezirke einzuteilen, was dazu führte, daß die entlang der Grenze zu Ungarn lebende magyarische Bevölkerung in allen Bezirken mit Ausnahme des Bezirks Nitra unter 30% sank. Die magyarischen Parteien befürchteten, daß die magyarischen Bürger durch diese Gebietsreform auf Bezirksebene zu einer vernachlässigbaren Minderheit reduziert würden. Außerdem forderten radikalere Vertreter der Minderheit, für die magyarischen Siedlungsgebiete eine weitgehende territoriale Selbstverwaltung einzuführen.

Da diese Konfliktthemen sich in die Zusammenhänge der Kultur- und Bildungspolitik sowie der Verwaltungsreform einbetten lassen, kann man annehmen, daß die Konfliktparteien bereit sind, ihre Interessenvertretung an politikfeldspezifischen Rationalitätskriterien zu orientieren. Dies bedeutet, daß beide Seiten z.B. im Konflikt um die Unterrichtssprache Erkenntnisse der 19 Nur die magyarische Partei Spolužitie verwendet anstelle des Begriffs nationale Minderheit

den Begriff der ”nationalen Gemeinschaft” und fordert, die magyarische Bevölkerungsgruppe als konstituierende Nation der Slowakischen Republik (”társnemzet”) einzustufen.

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Fremdsprachendidaktik berücksichtigen würden. Die Konfliktparteien artikulieren keine existenziellen ”Alles-oder-nichts”-Positionen, sondern perzipieren den Konflikt als Positivsummenspiel, in dem es darum geht, durch ”bargaining” relative Verbesserungen zugunsten der eigenen Seite zu erreichen.

Regionaler Kontext

Der regionale Kontext des Konfliktes ist dadurch geprägt, daß die konkrete Perspektive auf eine EU- und Nato-Integration Ungarn und der Slowakischen Republik einen starken Anreiz bot, in einem Grundlagenvertrag am 21.3.1995 die Unantastbarkeit ihrer Grenze, den Verzicht auf Grenzrevisionen und die Einhaltung der geltenden internationalen minderheitenrechtlichen Standards zu vereinbaren. Auch wenn die politisch-atmosphärischen Belastungen und Spannungen im slowakisch-ungarischen Verhältnis andauern und insbesondere die Zusammensetzung bzw. Arbeitsweise der bilateralen Kommission für Minderheitenfragen weiterhin kontrovers ist, konnten beide Seiten ihren Beziehungen mit dem Vertrag einen stabileren rechtlichen Rahmen geben. Der Vertrag wurde erst möglich, als die sozialistisch-liberale Horn-Regierung die Prioritäten in der Politik gegenüber den Nachbarländern mit magyarischen Minderheiten – insbesondere gegenüber der Slowakei und Rumänien mit ihren großen magyarischen Bevölkerungsgruppen - veränderte.20 Während die erste demokratisch gewählte, christdemokratisch-konservative Regierung Ungarns die Verbesserung der Minderheitenrechte zur Bedingung gutnachbarschaftlicher Beziehungen gemacht hatte, betrachtete die Horn-Regierung geregelte Nachbarschaftsbeziehungen als Voraussetzung, um die Interessen magyarischer Minderheiten wirkungsvoll zu schützen.21

Die Grundlagenverträge zwischen Ungarn und der Slowakischen Republik bzw. Rumänien resultieren aus diesem Prioritätenwechsel und aus der Konditionalisierungspolitik der internationalen Organisationen. Verglichen mit einer rein multilateralen Minderheitenschutzpolitik drücken die bilateralen Verträge jedoch auch aus, daß die Staatengemeinschaft Ungarn eine exponierte Rolle und Verantwortung im Hinblick auf die magyarischen Minderheiten in seinen Nachbarländern zubilligte. Diese Rollenzuschreibung können die sukzessiven ungarischen Regierungen und magyarischen Minderheitenvertreter zweifellos als Erfolg ihrer Strategie verbuchen, die sich primär darauf richtete, Minderheitenprobleme auf internationaler Ebene zu thematisieren und Minderheitenschutz zum Anliegen internationaler Organisationen zu machen. Für die Konfliktkonstellation in der Slowakischen Republik hatte die Internationalisierungsstrategie indes ambivalente Wirkungen. Einerseits konnte der Europarat die slowakische Regierung dazu bewegen, in den gemischt-ethnischen Gebieten zweisprachige Ortsschilder zuzulassen und Minderheitsangehörige nicht mehr zur Slowakisierung ihres Nachnamens zu verpflichten, indem er die Aufnahme der Slowakei an die Erfüllung dieser Bedingungen knüpfte. Im Grundlagenvertrag

20 Zellner, Wolfgang/ Dunay, Pál (1998): Ungarns Außenpolitik 1990-1997. Zwischen Westintegration, Nachbarschafts- und Minderheitenpolitik, Baden-Baden: Nomos.

21 Vgl. Tabajdi, Csaba (1995): A határon túli magyarság. A hatékonyabb érdekérvényesítés stratégiai kérdései, in: Magyar Nemzet, 12. 8.1995.

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akzeptierte die Slowakische Republik eine Bezugnahme auf die Empfehlung Nr. 1201 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, wonach Minderheitenangehörige in mehrheitlich von ihnen bewohnten Regionen ein Recht auf ”entsprechende kommunale oder autonome Verwaltungseinrichtungen oder einen besonderen Status” haben.22

Andererseits begründete die slowakische Regierung den Abbau von Rechten der magyarischen Minderheitsangehörigen mit den niedrigeren Standards des internationalen Minderheitenschutzrechts und stützte ihren Versuch, den slowakischsprachigen Fachunterricht an ungarischsprachigen Schulen auszudehnen, auf das international legitimierte Prinzip der Bilingualität. Außerdem leitete sie aus den internationalen Bemühungen zur Standardisierung des Minderheitenschutzes den Anspruch ab, die Lage der magyarischen Minderheit mit den wesentlich anders gearteten Problemen der Roma-Minderheit in der Slowakei bzw. der ethnisch slowakischen Minderheit in Ungarn zu vergleichen und damit eine Verringerung des Schutzniveaus zu rechtfertigen.

Die slowakische Konfliktkonstellation korrespondiert mit der Konstellation in Rumänien, da zwischen den magyarischen Minderheitenvertretern einerseits, den Regierungen der beiden Länder andererseits Kommunikationsnetzwerke bestehen.23

Auch in Rumänien stehen bildungspolitische Themen und die Forderung einer Territorialautonomie im Vordergrund des Konfliktes. Gravierende Veränderungen in einer Konfliktkonstellation wie z.B. die Kooptation magyarischer Politiker in die Regierung oder die Vereinbarung eines territorialen Autonomiestatuts beeinflussen auch die Erwartungshaltungen der Akteure in der anderen Konfliktkonstellation. Die ungarische Regierung versucht nicht, die Positionen und Forderungen der magyarischen Minderheiten zentral zu koordinieren, sondern orientiert ihre homeland-Politik an den Willensbildungsprozessen innerhalb der magyarischen Minderheiten bzw. an den Prioritäten ihrer politischen Eliten. Parallel dazu bemüht sie sich, durch eine vorbildliche Politik gegenüber den – allerdings kleineren und weitgehend assimilierten - innerungarischen ethnischen Minderheiten beispielgebend auf die Nachbarstaaten einzuwirken.

22 So lautet Art.11 der Empfehlung 1201 (siehe unten II.1). Im Februar 1993 hatte der ungarische Vertreter im Ministerkomitee des Europarates gedroht, aufgrund der slowakischen Politik gegenüber der magyarischen Minderheit sein Veto gegen die Mitgliedschaft der Slowakei einzulegen (Klebes, Heinrich (1998): Minderheitenschutz durch den Europarat: Richtungswechsel durch “Entrechtlichung” von Verträgen? in: Heintze, Hans-Joachim (Hg.) (1998): Moderner Minderheitenschutz. Rechtliche oder politische Absicherung? Bonn: Dietz Verlag, 138-159, 143). Bei der Unterzeichnung des Vertrages überreichte die slowakische Regierung allerdings eine Note, in der sie die Empfehlung 1201 ausschließlich als Garantie individueller Bürger- und Menschenrechte interpretierte. (Vgl. Šutaj, Štefan (1997): Die slowakische Diskussion über den ungarisch-slowakischen Grundlagenvertrag, in: Brusis, Martin/ Seewann, Gerhard (Hg.) (1997): Macht der Mythen. Geschichtsstereotypen im slowakisch-ungarischen Verhältnis, Südosteuropa Sonderheft 9-10, 471-489, 474. Der rumänisch-ungarische Grundlagenvertrag vom 16.9.96 enthält eine Fußnote, in der die Vertragsparteien anerkennen, daß die Empfehlung 1201 sich nicht auf kollektive Rechte der Minderheiten bezieht und keine Autonomie auf ethnischer Grundlage beinhaltet.

23 Demgegenüber haben die kleineren magyarischen Minderheiten in den übrigen Nachbarländern nur geringe Bedeutung.

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Insgesamt erscheint der regionale Kontext des slowakisch-magyarischen Konfliktes vor allem deshalb vergleichsweise stabil, weil Ungarn die Verbesserung der Nachbarschaftsbeziehungen der advokatorischen Vertretung von Minderheiteninteressen überordnete und bereit war, seine homeland-Interessen und die Konfliktregelung in einen multilateralen Rahmen zu stellen.

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Bundesrepublik Jugoslawien/ Kosovo-Albaner

2. Bundesrepublik Jugoslawien/ Kosovo-Albaner

Demokratie und Nationalstaatsbildung

Während die politischen Eliten der Slowakischen Republik und Lettlands die Auflösung der sie integrierenden Föderationen bzw. ihre Sezession aktiv betrieben, versuchten die politischen Eliten der jugoslawischen Teilrepublik Serbien, die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (SFRJ) zu erhalten und nach ihren Präferenzen umzugestalten. Dieses Muster einer inklusiven Nationalstaatsbildung begründete sich daraus, daß beträchtliche ethnisch serbische Minderheiten in den Teilrepubliken Kroatien und Bosnien-Herzegowina lebten. Als die staatssozialistischen Eliten die jugoslawische Identitäts- und Nationskonstruktion (”bratstvo i jedinstvo”) durch die älteren, ethnischen Nationskonzepte ersetzten, mußte die serbische Staats- und Parteiführung eine Antwort auf die ”serbische Frage” entwickeln, d.h. die Staatszugehörigkeit der ethnisch serbischen Bürger außerhalb Serbiens. Einen serbischen Nationalstaat zu bilden, implizierte daher entweder, eine serbisch dominierte SFRJ herzustellen oder das serbische Territorium um die Siedlungsgebiete der ethnisch serbischen Minderheiten zu erweitern.

Die erste Option wurde insofern umgesetzt, als es der serbischen Führung gelang, den Autonomiestatus der Sozialistischen Autonomen Provinzen Vojvodina und Kosovo auf dem Gebiet Serbiens aufzuheben und die Provinzen unter serbische Kontrolle zu bringen. Die politischen Eliten der übrigen Teilrepubliken stoppten den weitergehenden Versuch, eine serbische Hegemonie innerhalb der SFRJ bzw. ein ”Greater Serbia” auf militärischem Wege zu realisieren, indem sie die international legitimierte Auflösung der Föderation erreichen und die serbischen Angriffe zurückschlagen konnten. Während Kroatien die ethnisch serbischen Minderheiten aus der Krajina und Slawonien vertrieb, verhinderte die bosnisch-herzegowinische Regierung zusammen mit der internationalen Staatengemeinschaft den Anschluß der von den bosnischen Serben bewohnten (und von 1992 bis 1995 eroberten) Gebiete an Serbien. Die Kriege in Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina bilden deshalb einen wichtigen Kontext für den albanisch-serbischen Konflikt um das Kosovo; sie beeinflussen Akteurstrategien, Eskalationsformen und Regelungsprinzipien.

Die serbische Führung reagierte auf die Auflösung der SFRJ dadurch, daß sie 1992 aus den Teilrepubliken Serbien und Montenegro eine neue Föderation bildete, die Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ). Die BRJ knüpft in mehrerer Hinsicht an das Muster einer inklusiven Nationalstaatsbildung an: als Föderation verkörpert sie die fortbestehende nationalstaatliche Eigenständigkeit der Teilrepubliken, nur etwa 70% der Bürger der Teilrepublik Serbien sind ethnische Serben, die BRJ unterhält enge Beziehungen mit der Republika Srpska innerhalb Bosnien-Herzegowinas, und nach serbischer Auffassung ist die BRJ die alleinige Rechtsnachfolgerin der SFRJ.24

24 Die serbische Führung vertritt weiterhin die Rechtsauffassung, daß die anderen Teilrepubliken mit ihren Unabhängigkeitserklärungen in völkerrechtswidriger Weise eine Sezession vollzogen, obwohl die Internationale Jugoslawienkonferenz entschieden hatte, daß

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Bundesrepublik Jugoslawien/ Kosovo-Albaner

Im Gegensatz zur Slowakischen Republik und Lettland konnte die alte staatssozialistische Elite sich trotz der Einführung eines Mehrparteiensystems in allen demokratischen Wahlen auf serbischer und Föderationsebene behaupten – und zwar auch, nachdem sie mit ihrem Projekt der inklusiven Nationalstaatsbildung gescheitert war. Slobodan Miloševic und die Sozialistische Partei Serbiens (SPS) schufen in Serbien ein semi-autoritäres Präsidialregime, das eine begrenzte Liberalisierung und Demokratisierung mit fortbestehender autoritärer Kontrolle über die Machtressourcen der serbischen Gesellschaft verbindet. Die Sozialisten sind seit 1990 ununterbrochen an der Regierung beteiligt, da sie erstens eine stabile Wählerbasis in ländlichen, gering qualifizierten Bevölkerungsschichten entwickeln und erhalten konnten, zweitens die elektronischen Medien kontrollieren und dadurch in großen Teilen Serbiens ein Informationsmonopol besitzen, drittens die Wahlergebnisse manipulierten und viertens die Oppositionsparteien nicht in der Lage waren, eine Koalition mit einem schlüssigen Konzept und einem überzeugenden Gegenkandidaten zu Miloševic herzustellen. Miloševic‘ Macht wird durch ein Netz klientelistischer Abhängigkeitsbeziehungen stabilisiert, die die SPS, Polizei und Militär, Justiz, Verwaltung, die (teilweise privatisierten) Staatsunternehmen und die Schattenwirtschaft erfassen.25

Im Kern zielte die Machterhaltungsstrategie der alten Eliten darauf, nationalistische Perzeptionen und Einstellungen in der serbischen Bevölkerung zu mobilisieren. Dem Kosovo wuchs dabei eine Schlüsselbedeutung zu, da die Region im serbischen Geschichtsbild die mythisch verklärte Wiege der serbischen Nation darstellt und damit der serbische Anspruch auf das Kosovo als Symbol des serbischen Nationalismus fungiert. Gegen Ende der achtziger Jahre instrumentalisierte Miloševic die mythisch-affektive Bindung der serbischen Nation an das Kosovo, um – mit dem Argument, daß die serbische Nation unter der kosovo-albanischen Vorherrschaft im Kosovo leide – die ethnische Machtbalance innerhalb der SFRJ zugunsten Serbiens zu verschieben. Die politischen Eliten der anderen Teilrepubliken reagierten auf diese Hegemoniebestrebungen, indem sie ihrerseits nationalistische Deutungsmuster mobilisierten und auf die Ablösung von der SFRJ hinsteuerten.26 Die anderen Parteien in Serbien unterstützten überwiegend die nationalistische Revisionspolitik der Regierung und teilweise bzw. zeitweise auch die Beteiligung an den Kriegen in Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina. Bis zur Eskalation des Kosovo-Konfliktes im März 1998 favorisierte die nationalistische Serbische Radikale Partei (SRS) radikalere Lösungen in der Kosovopolitik, wie z.B. die Abschiebung von

keine Sezessionen stattfanden, sondern die SFRJ sich auflöste. Daher beansprucht die BRJ die alleinige und automatische Rechtsnachfolge der SFRJ, während die internationale Gemeinschaft die BRJ und die übrigen vier aus Jugoslawien hervorgegangenen Staaten als neue Staaten und als gemeinsame Nachfolger der SFRJ betrachtet. Vgl. zu den Gutachten der Badinter-Kommission: Pellet, Alain (1992): The Opinions of the Badinter Arbitration Committee. A Second Breath for the Self-Determination of Peoples, in: European Journal of International Law, Vol.3 1, 178-185.

25 Miller, Nicholas (1997): Serbia. The Case of a Failed Transition, in: Dawisha, Karen/ Parrott, Bruce (ed.) (1997): Politics, Power, and the Struggle for Democracy in South-Eastern Europe, Cambridge: CUP.

26 Vgl. z.B. Gagnon, V.P. (1996): Ethnic Nationalism and International Conflict. The Case of Serbia, in: Brown, Michael S. (ed.) (1996): The International Dimension of Internal Conflict, Cambridge/London: MIT Press, 132-168.

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renitenten Kosovo-Albanern nach Albanien. Die Oppositionsparteien vertraten Positionen, die von liberaler Demokratie und individualrechtlichem Minderheitenschutz bis zu einer Regionalisierung Serbiens reichten – und damit keine überzeugenden Alternativen für kosovo-albanische Wähler boten.27

Die Oppositionsparteien vermochten auch nicht die zivilgesellschaftlich inspirierte Protestwelle, die zur Jahreswende 1996/97 in den größeren Städten Serbiens entstand, in einen Wahlsieg zu verwandeln. Die wochenlangen Demonstrationen richteten sich unmittelbar gegen den Versuch der Regierung, die Oppositionssiege in den Kommunalwahlen nicht anzuerkennen, aber zielten auch weitergehend auf eine umfassende Demokratisierung Serbiens. Das Oppositionsbündnis Zajedno machte sich zum Anwalt dieses Protests, zerbrach aber noch vor den Parlamentswahlen am 21.9.97. Bei den Wahlen, die nicht nur von den kosovo-albanischen Wählern, sondern auch von zwei liberalen serbischen Oppositionsparteien (der Demokratischen Partei und der Bürgerallianz) boykottiert wurden, verlor die seit 1994 amtierende Regierungskoalition aus der SPS, der Vereinigten Jugoslawischen Linken (JUL) und der Neuen Demokratie die Mehrheit. Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zeigten zum einen - in Gestalt der niedrigen Wahlbeteiligung - die wachsende Apathie und Indifferenz gegenüber der Politik, zum anderen den zunehmenden Einfluß des extremen Nationalisten Vojislav Seselj und der SRS. Seselj scheiterte erst im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen knapp an dem SPS-Kandidaten, und am 31.3.1989 bildeten die sozialistischen Parteien SPS und JUL zusammen mit der SRS eine neue Regierung.

Die semi-autoritären Züge des Miloševic-Regimes äußern sich nicht nur in der Schwäche zivilgesellschaftlich-liberaler Gegeneliten, sondern auch im rechtlichen und politischen Verhältnis zwischen Serbien, der Föderation und Montenegro. Rechtliche Widersprüche existieren zwischen der Föderationsverfassung von 1992, nach deren Wortlaut die Gesetze der Republiken mit den Föderationsgesetzen übereinstimmen müssen, und der serbischen Verfassung von 1990, die das serbische Parlament ermächtigt, Föderationsgesetze zu ignorieren, die die Gleichberechtigung der Republik Serbien verletzen.28 Nachdem Miloševic und die SPS nach 1990 die Politik der Sozialistischen Partei (DPS) und Regierung Montenegros über Klientelbeziehungen beeinflussen bzw. sich auf die prinzipielle Unterstützung der montenegrinischen Sozialisten stützen konnten, veränderten sich die politischen Beziehungen zwischen Föderation und den Republiken 1997/98 aus zwei Gründen. Erstens ließ sich Miloševic am 15.7.97 zum Präsidenten der BRJ wählen, da er gemäß der serbischen Verfassung keine dritte Amtsperiode als serbischer Präsident verbringen durfte. Zweitens setzten sich die Reformsozialisten innerhalb der DPS gegen den Miloševic-treuen Flügel durch und gewannen sowohl die Präsidentschafts- als auch die Parlamentswahlen. Infolgedessen verschlechterte sich Miloševic‘ Machtbasis auf der Föderationsebene, und Montenegro begann, sich zunehmend

27 Vgl.z.B. Markotich, Stan (1995): The Serbian Opposition: A Better Offer for Kosovo? unpubl. manuskript; Markotich, Stan (1995): Closing Political Ranks within Rump Yugoslavia, in: Transition 3 November; sowie: Markotich, Stan (1995): Opposition Parties Attempt Unity – Again, in: Transition 9 June.

28 Cagorovic, Nebojsa (1997): Conflicting Constitutions in Serbia and Montenegro, in: Transition 7 March.

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gegenüber der serbischen Politik im Kosovo abzugrenzen. Miloševic versuchte mit massiven Drohungen und organisierten Krawallen, die montenegrinischen Reformsozialisten zu disziplinieren.29

Diese politisch-institutionellen und politisch-soziologischen Bedingungen in der BRJ, die insgesamt eine extrem ungünstige Wirkung auf die Konfliktkonstellation haben, müssen um die Problematik der verfassungsrechtlichen Stellung des Kosovo ergänzt werden. Die serbische Verfassung von 1990 berücksichtigt die ethnisch-territoriale Heterogenität des Landes zum einen, indem die Republik Serbien als ”demokratischer Staat aller in ihr lebenden Staatsbürger” (Art.1) bezeichnet und in der Präambel das Ziel formuliert wird ”den demokratischen Staat des serbischen Volkes zu schaffen, in dem den Angehörigen aller Völker und Nationalitäten die Verwirklichung der nationalen Rechte gesichert wird”.30 Außerdem ermöglicht der serbische Staat den Angehörigen nationaler Minderheiten grundsätzlich die Ausübung der in den internationalen Minderheitenschutzbestimmungen definierten Rechte (z.B. Unterricht in der Minderheitensprache).31

Zum anderen begründet die serbische Verfassung eine Form der territorialen Autonomie für die Vojvodina und das Kosovo (Art.108-112).32 Die ”Autonomen Provinzen” Vojvodina und Kosovo-Metohija verfügen demnach über eine Versammlung, einen Exekutivrat und Verwaltungskörperschaften. Die Provinzversammlung kann mit der Zustimmung des Parlaments der Republik Serbien ein ”Statut” beschließen. Außerdem kann die Provinzversammlung ”allgemeine rechtliche Regelungen” u.a. in den Bereichen der Kultur, Bildung und zum Sprachgebrauch im amtlichen Verkehr beschließen, die mit den serbischen Gesetzen übereinstimmen müssen. Die darin begründete territoriale Autonomie ist allerdings schwächer ausgestattet als die Autonomie von serbischen Städten und Gemeinden, da deren Statute nicht vom Serbischen Parlament bewilligt werden müssen.33

Der serbische Gesetzgeber hob mit dieser Autonomieregelung die weitergehenden Autonomieregelungen für das Kosovo und die Vojvodina in der SFRJ-Verfassung von 1974 auf, ohne für diese Aktion eine verfassungsrechtliche Grundlage zu besitzen.34 Nach der Föderationsverfassung von 1974 hatte die kosovo-albanische Bevölkerungsgruppe – im Gegensatz zu den Magyaren in der Slowakei oder den ethnischen Russen in Lettland – über einen faktischen territorialen Autonomiestatus 29 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Neue Zürcher Zeitung (16.1.998).30 Zitiert nach Marko, Joseph/ Boric, Tomislav. (Hg.) (1991): Slowenien - Kroatien - Serbien.

Die neuen Verfassungen, Graz-Wien-Köln, 318.31 Vgl. jedoch die kritische Bilanz in: Marko, Joseph (1994): Die rechtliche Stellung der

Minderheiten in Serbien, in: Frowein, Jochen Abr. et al. (Hg.) (1994): Das Minderheitenrecht europäischer Staaten, Berlin etc.: Springer Verlag, 286-319.

32 Kosovo-Albaner und Serben bezeichnen das von ihnen beanspruchte Territorium jeweils unterschiedlich. Während die Kosovo-Albaner von ”Kosova” sprechen, ist der offizielle serbische Name des Gebietes seit 1990 ”Kosovo und Metohija”. In dieser Studie wird die in der SFRJ-Verfassung von 1974 gebrauchte Bezeichnung ”Kosovo” verwendet.

33 C.f. Joseph Marko (1995): Autonomie und Integration. Rechtsinstitute des Nationalitäten-rechts in funktionaler Perspektive, Wien, 498. sowie Lilic, Stevan (1991): Die Verfassung der Republik Serbien, in: Marko, Joseph/ Boric, Tomislav (Hg.) (1991): Slowenien – Kroatien – Serbien. Die neuen Verfassungen, Wien et al.: Böhlau, 286-318.

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verfügt, da das Kosovo (ebenso wie die Vojvodina) als Sozialistische Autonome Provinz zwar zum Territorium der Teilrepublik Serbien gehörte, aber mit den gleichen internen und föderationsbezogenen Kompetenzen wie die übrigen Teilrepubliken der SFRJ ausgestattet war.35

Die politischen Vertreter der Kosovo-Albaner lehnten die Einschränkung ihres Autonomiestatus ebenso ab wie das über die Provinz verhängte serbische Notstandsregime. Sie forderten zunächst, Kosovo den Status einer gleichberechtigten Republik innerhalb der SFRJ zuzugestehen. Im September 1991 veranstalteten sie gegen den Willen der serbischen Behörden ein Referendum im Kosovo, bei dem fast 100% der Teilnehmer für ein unabhängiges und souveränes Kosovo stimmten, das auf freiwilliger Basis eine Allianz mit den Republiken Jugoslawiens bilden könne. Seither stützen die kosovo-albanischen Politiker ihre Forderung nach einem unabhängigen Staat auf dieses Referendum bzw. darauf, daß mit der Auflösung der SFRJ die Option einer gleichberechtigten Teilrepublik obsolet geworden sei.

Die serbische Regierung wies diese Forderungen zurück und setzte eine dauerhafte, auf Polizei- und Armeekräfte gestützte Notstandsverwaltung ein, die das Kosovo seit 1990 kontrolliert und das kosovo-albanische Personal aus den öffentlichen Einrichtungen und Staatsunternehmen hinausdrängte. Die Kosovo-Albaner wehrten sich gegen die serbische Herrschaft, indem sie einen eigenen Staat errichteten, der über Regierungsinstitutionen, ein Schul- und Gesundheitssystem verfügt und durch Steuerzahlungen der im Kosovo und im Ausland lebenden Kosovo-Albaner finanziert wird. Sie versuchten ebenfalls einen inklusiven Nationalstaat zu bilden, insofern die ”Republik Kosova” gemäß der Verfassung von Kacanik als ”demokratischer Staat des albanischen Volkes und der Angehörigen anderer Völker und nationalen Minderheiten, die seine Bürger sind” definiert wird. Entsprechend sahen sie auch Sitze für die Vertreter anderer ethnischer Gruppen im Parlament des Schattenstaates vor.36 Obwohl die serbischen Behörden die schattenstaatlichen Institutionen und Aktivitäten grundsätzlich duldeten, versuchten sie durch systematische

34 Vor Verkündung der neuen Verfassung (28.9.90) hatte die Serbische Staats- und Parteiführung durch eine Änderung der Föderationsverfassung bereits im Jahre 1989 die Autonomierechte der Sozialistischen Autonomen Provinzen Vojvodina und Kosovo eingeschränkt. Am 13.7.90 beschloß das Serbische Parlament bereits, unter Berufung auf einen Notstand das Parlament und den Exekutivrat der Provinz Kosovo aufzulösen. (Vgl. Marko 1995).

35 Der serbische Politikwissenschaftler Zoran Lutovac gelangt in einer Analyse der neuen Regierungssysteme Serbiens und der BRJ zu folgendem Ergebnis: ”[minority-majority relations in the newly-formed FR of Yugoslavia] were marked by an inadequate ”institutional engineering” of the first post-election period, which prompted (but did not cause) the negative reactions of minority ethnic groups. An inappropriate institutional system that was being established was primarily concerned with the majority election system accepted at the first free elections; it gravitated towards the maximalization of the parliamentary power of the majority party. The same applied to the Constitution of Serbia of the one-house parliament (which denied the possibility of an adequate representation of minorities normally provided by a two-house or multi-house parliaments); the supremacy of the president of the republic over the parliament (inappropriate as it is for the ‚society of the segmented gap‘ characteristic of Serbia); and, finally, the nature of the relationship between the central and the local government.” Lutovac, Zoran (1996): Ethnic Minorities and State-Social Transformation, in: Bianchini, Stefano/ Janjic, Dušan (ed.) (1996): Ethnicity in Postcommunism, Belgrade: Institute of Social Sciences et al., 215-224, 222.

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Repressionsmaßnahmen und Menschenrechtsverletzungen, den kosovo-albanischen Widerstand zu brechen und ihrem Herrschaftsanspruch Nachdruck zu verleihen.

Unter diesen Rahmenbedingungen konnten sich keine demokratischen Strukturen in der kosovo-albanischen Bevölkerungsgruppe entwickeln. Zwar veranstalteten die Kosovo-Albaner am 24.5.92 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu ihrem Schattenstaat, die von der Demokratischen Liga des Kosovo (LDK) und ihrem zum Staatspräsidenten gewählten Vorsitzenden, Ibrahim Rugova, gewonnen wurden. Da sich das Parlament unter den gegebenen Bedingungen aber nicht konstituieren konnte, regieren Rugova und die LDK-Führung den kosovo-albanischen Staat seitdem weitgehend allein.37 In den folgenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die nach zwei Jahren Verzögerung am 22.3.98 stattfanden und von den kosovo-albanischen Oppositionsparteien boykottiert wurden, gewannen wieder Rugova und die LDK. Persönlichkeiten und Parteien, die Rugovas Politik kritisch gegenüberstehen, verfügen nur über geringen Einfluß auf die Entscheidungen der Regierung bzw. der Institutionen des Schattenstaates.38 Auch wenn einzelne Intellektuelle auch einen Republiksstatus innerhalb der BRJ für das Kosovo akzeptieren würden,39 haben sich alle relevanten politischen Akteure dem Unabhängigkeitsziel verpflichtet. Freie Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen existieren nur in Ansätzen.

Insgesamt haben der Verlauf der Nationalstaatsbildung und die Persistenz semi-autoritärer Strukturen in Serbien und im Kosovo institutionelle Bedingungen hervorgebracht, die eine Polarisierung der ethnopolitischen Konfliktkonstellation begünstigen.

Soziale Segregation

Auf Grundlage der damaligen Volkszählung läßt sich annehmen, daß im Jahre 1991 etwa 1,6 Mio. ethnische Albaner in der serbischen Provinz Kosovo und Metohija lebten und dort ca. 81,6% der Bevölkerung umfaßten.40 Die Zahl der ethnischen Serben und Montenegriner im Kosovo betrug damals etwa 200.000 Personen, die vor allem in den Städten Kamenica, Leposavic, Novo Brdo, Štrpce, Zubin Potok und

36 Kosova Information Center London: The Constitution of the Republic of Kosova, Art. 1, bzw. Schmidt, Fabian/ Moore, Patrick (1995): Die Albaner im ehemaligen Jugoslawien als Sicherheitsproblem, in: Seewann, Gerhard (Hg.) (1995): Minderheiten als Konfliktpotential in Ostmittel- und Südosteuropa, München: Oldenbourg 70-139.

37 Schmidt, Fabian/ Moore, Patrick (1995): Die Albaner im ehemaligen Jugoslawien als Sicherheitsproblem, in: Seewann, Gerhard (Hg.) (1995): Minderheiten als Konfliktpotential in Ostmittel- und Südosteuropa, München: Oldenbourg 70-139, 83ff.

38 International Crisis Group (1998): Kosovo Spring, http://www.intl-crisis-group.org, 24 March.

39 Vgl. Pula, Gazmend (1997): Kosova – Republic in a New (Con-)Federation. Via Re-Federalization of Yugoslavia, in: Josef Janning/ Martin Brusis (ed.): Exploring Futures for Kosovo. Kosovo Albanians and Serbs in Dialogue, Forschungsgruppe Europa: Arbeitspapier Nr. 4/97 sowie in: Südosteuropa 46.Jg. H.3-4/97 184-196.

40 Die Ergebnisse sind allerdings nur begrenzt als gültig zu bezeichnen, da viele Kosovo-Albaner die Volkszählung boykottierten.

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Zvecan lebten.41 Zwischen 1961 und 1991 verdoppelte sich die Bevölkerungszahl des Kosovo, was weitgehend auf einen Anstieg des ethnisch albanischen Bevölkerungsanteils zurückzuführen ist. Seitdem dürfte sich diese Tendenz fortgesetzt haben, während sich die Zahl der Kosovo-Serben vor allem aufgrund ihrer Migration in andere Teile Serbiens weiter verringert hat. Kosovo ist die am geringsten entwickelte Region in Serbien, seine Gesellschaft ist durch traditionale Lebensweisen und Verhaltensformen sowie ökonomische Rückständigkeit geprägt.

Seit Anfang der sechziger Jahre läßt sich eine wachsende ethnisch-soziale Segregation beobachten: Die Zahl der ethnisch gemischten Gemeinden verringerte sich zwischen 1961 und 1991 um 260; die Zahl der ethnisch gemischten Ehen im Kosovo sank kontinuierlich; die traditionell große soziale Distanz zwischen den ethnischen Albanern und den anderen ethnischen Gruppen innerhalb Jugoslawiens vergrößerte sich seit Anfang der siebziger Jahre deutlich.42 Ausgelöst durch die Schattenstaatsgründung im Jahre 1991 und verstärkt durch den ökonomischen Transformationsprozeß entwickelten sich parallele Gesellschaften: Während der private und informelle Wirtschaftssektor (mit einem Umfang von 30% bzw. 40% des BIP von Kosovo) durch Kosovo-Albanern dominiert werden, sind die ethnisch serbischen Bürger fast ausschließlich im Staatssektor beschäftigt; die Bilingualität verringert sich, zumal da kosovo-albanische Schüler in den schattenstaatlichen Schulen kein Serbisch mehr lernen; die unterschiedlichen Öffentlichkeiten, revitalisierte Religionsunterschiede und die Erneuerung kommunitärer Rechtspraktiken innerhalb der kosovo-albanischen Bevölkerungsgruppe wirken als trennende Momente.43

Eine 1997 durchgeführte Umfrage zu den Selbst- und Fremdbildern von Serben und Kosovo-Albanern zeigte, daß Kosovo-Albaner und Serben feindlich geprägte Fremdbilder voneinander gewonnen haben. Angehörige beider Gruppen beschrieben sich selbst mit weitgehend identischen Attributen, aber unterstellten den Angehörigen der jeweils anderen Gruppe, ”andere Völker [zu] hassen” bzw. ”abweisend” zu sein.44

Entsprechend nahm auch unter den ethnischen Serben die Bereitschaft zu einer radikalen Problemlösung zu. Nach einer Meinungsumfrage vom März 1998 würden 41,8% der befragten ethnischen Serben das Kosovo-Problem durch friedliche oder gewaltsame Aussiedlung der Albaner lösen, 27,2% präferierten einen Autonomiestatus, 6% optierten für die Teilung und 1,8% für die völlige Unabhängigkeit des Kosovo.45

41 Eggert Hardten berichtete ausführlich über gerrymandering-Praktiken der serbischen Regierung Hardten, Eggert (1996): Administrative Units and Municipal Reforms in Kosovo (1959-1992), in: Duijzings, Ger et al. (ed.) (1996): Kosovo/a. Controntation or Coexistence, Nijmegen: Peace Research Centre/ University of Nijmegen, 167.

42 Blagojevic, Marina (1998): Kosovo: In/visible Civil War, in: Veremis, Thanos/ Kovos, Evangelos (ed.) (1998): Kosovo: Avoiding another Balkan War, 239-310, 249, 277 bzw. 286.

43 Blagojevic 1998: 278-280; vgl.a. Janjic, Dušan (1995): National Identities, Movements and Nationalism of Serbs and Albanians, Balkan Forum Vol.3 1 19-84.

44 Die Umfrage wurde von Dušan Janjic et al. durchgeführt, zitiert in Oschlies, Wolf (1998): Kosovo ‘98 (I): Ursachen und Kulmination eines alt-neuen Balkan-Konflikts, Berichte des Biost Nr.20, 14.

45 Naša Borba 6.4.98.

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Neben den Kosovo-Albanern leben etwa 80.000 bzw. 37.000 ethnische Albaner in Südserbien und Montenegro. Die südserbischen Albaner forderten 1992 in einem Referendum eine territoriale Autonomie und boykottierten die serbischen Parlamentswahlen. Im folgenden Jahr beteiligten sie sich aber an den serbischen Parlamentswahlen und gewannen zwei Parlamentssitze. Die ethnischen Albaner in Montenegro beteiligten sich an den Wahlen zum Republiks- und zum BRJ-Parlament.46 Diese unterschiedlichen politischen Strategien belegen zum einen, daß die beiden ethnisch albanischen Bevölkerungsgruppen Anfang der neunziger Jahre stärker in die serbische bzw. montenegrinische Gesellschaft integriert waren und die parallelen, schattenstaatlichen Institutionen der Kosovo-Albaner nicht mittrugen. Zum anderen kommt darin zum Ausdruck, daß die politischen Eliten der ethnischen Albaner zu diesem Zeitpunkt differenzierte Ziele verfolgten und nicht entsprechend der Logik ethnischer Nationalstaatsbildung agierten.47 Diese Abgrenzung gegen das Prinzip eines ethnischen Nationalstaats läßt sich auch daran beobachten, daß die Vereinigung ethnisch albanischer Siedlungsgebiete in der BRJ und der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien (Mazedonien) mit Albanien nur von einem kleinen Teil der ethnisch albanischen politischen Eliten propagiert wird.

Zusammenfassend muß aber festgehalten werden, daß die soziale Segregation zwischen ethnischen Serben und Kosovo-Albanern in ihrer perzeptiven wie strukturellen Dimension wesentlich stärker ausgeprägt ist als in der Slowakischen Republik oder Lettland.

Konflikt und Politikmuster

Der Konflikt zwischen der jugoslawischen bzw. serbischen Regierung und den im Kosovo lebenden Albanern unterscheidet sich von den anderen beiden Konflikten vor allem dadurch, daß er inzwischen zu einer kriegsförmigen Auseinandersetzung eskaliert ist. Diese Eskalation ist auf das Zusammenwirken von unmittelbaren und strukturellen Faktoren zurückführbar, die im folgenden dargestellt werden sollen. Zu den unmittelbaren Ursachenfaktoren gehört, daß in der kosovo-albanischen Öffentlichkeit seit 1996 zunehmend politische Akteure entstehen, die die Politik des gewaltfreien Widerstandes und die Hegemonie der LDK infragestellen. Die Kosovo-Befreiungsarmee (UÇK) trat erstmals mit einem bewaffneten Anschlag auf; der renommierte Dissident und Politiker Adem Demaci übernahm die Führung der größten Oppositionspartei mit dem Anspruch, der ”passiven” Politik Rugovas eine aktionsorientierte und stärker auf die eigenen Machtressourcen der Kosovo-Albaner gestützte Widerstandsstrategie entgegenzusetzen; die Unabhängige Studentenunion organisierte gegen den Willen der LDK Demonstrationen, um die Öffnung der vom serbischen Staat kontrollierten Schulen zu erreichen.

Ein weiterer unmittelbarer Eskalationsfaktor ist darin zu sehen, daß die Miloševic-Regierung mit einer Erosion ihrer politischen Machtbasis konfrontiert war. Um ihre Machtposition in Serbien und der BRJ zu stabilisieren, entschied sie, die UÇK-Anschläge durch massive Vergeltungsaktionen zu beantworten. Zudem bestärkten sie 46 Regierung der BRJ (1996): Report on the State and Exercise of National Minority Rights in

the Federal Republic of Yugoslavia, in: Yugoslav Survey 2/1996 35-54, 47.47 Schmidt/ Moore 1995: 112ff. (vgl. Fn. 37).

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die von der internationalen Gemeinschaft - ohne serbische Zugeständnisse in der Kosovo-Frage - eingeleitete Normalisierung der Beziehungen und die Verurteilung der UÇK als terroristische Organisation in der Annahme, daß die Liquidierung der UÇK von der internationalen Gemeinschaft toleriert würde.

Die längerfristig wirkenden und tieferliegenden strukturellen Ursachenfaktoren umfassen zum einen die bereits dargestellten Demokratiedefizite und sozialen Segregationsprozesse. Zum anderen liegen die Ursachen im Konfliktverhalten und Politikstil der politischen Eliten:

4Im Unterschied zu den Parteien im magyarisch-slowakischen Konflikt lehnen die serbische und die kosovo-albanische Seite es erstens ab, ihre Konfliktaustragung an den Standards bzw. Praktiken des internationalen Minderheitenschutzregimes zu orientieren. Die politische Elite der Kosovo-Albaner weigert sich, als nationale Minderheit im Sinne des internationalen Minderheitenrechts eingestuft zu werden. Sie beansprucht vielmehr, als Volk definiert zu werden und damit ein Selbstbestimmungsrecht zu erhalten, da die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (SFRJ) als Staat, in dem die Kosovo-Albaner eine ”Nationalität” darstellten, nicht mehr existiere und die ethnischen Albaner auf dem Territorium des Kosovo die überwiegende Bevölkerungsmehrheit bilden würden. Die serbische Regierung definiert zwar die kosovo-albanische Bevölkerungsgruppe als nationale Minderheit, betrachtet den Konflikt aber im Gegensatz zu den Normen des internationalen Minderheitenschutzes als interne Angelegenheit Serbiens und mißachtet international verankerte, elementare Bürger- und Menschenrechte der Kosovo-Albaner.

5Die Konfliktparteien vertreten zweitens intransigente Positionen, die in ihrer Begründungslogik inkonsistent bleiben, wenn man sie mit dem Referenzmodell einer Teilrepublik Kosovo innerhalb der BRJ vergleicht. Die politische Führung der Kosovo-Albaner fordert unter Berufung auf das erwähnte, 1991 veranstaltete Referendum eine unabhängige Republik Kosova, obwohl die internationale Staatengemeinschaft beschlossen hatte, nur den Teilrepubliken und nicht den Sozialistischen Autonomen Provinzen der SFRJ ein Recht auf Selbstbestimmung zuzugestehen. Einerseits versteht sie die Republik Kosova als multi-ethnischen bzw. ethnisch neutralen Staat, andererseits ist sie nicht bereit, die Republik Kosova als Teilrepublik im Rahmen einer multi-ethnischen BRJ zu institutionalisieren – ein Status, der sich im Hinblick auf die effektive Souveränität nicht grundlegend von einem formell souveränen Staat unterscheiden muß. Die serbische Regierung bietet den Kosovo-Albanern Minderheitenrechte entsprechend den europäischen Standards und den erläuterten territorialen Autonomiestatus innerhalb Serbiens an. Sie lehnt jedoch eine in Form einer Teilrepublik ausgestaltete Territorialautonomie mit dem aus der staatsrechtlichen Dogmatik der SFRJ stammenden formalistischen Argument ab, daß die Kosovo-Albaner innerhalb der BRJ nur als Nationalität (nicht aber als Nation) gelten und keinen Anspruch auf eine Teilrepublik haben könnten, da ein albanischer Nationalstaat bereits außerhalb der BRJ bestehe.48 Aus dieser dogmatischen Logik heraus wurden die ethnischen Montenegriner in der SFRJ

48 Marko, Joseph (1995): Autonomie und Integration. Rechtsinstitute des Nationalitätenrechts in funktionaler Perspektive, Wien: Böhlau, 490.

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trotz ihres viel geringeren Bevölkerungsanteils als Nation mit Anspruch auf einen Republikstatus eingestuft, den sie bei der Gründung der BRJ behielten.

6Drittens blockierten beide Konfliktparteien alle Verhandlungsansätze bereits frühzeitig, indem sie keine Kompromisse in Fragen eingingen, die verglichen mit den gegensätzlichen Statusansprüchen nur Detail- oder Randbedeutung hatten. Während die kosovo-albanische Seite nur unter Vermittlung durch die USA und/oder EU mit der serbischen Regierung verhandeln wollte, verweigerte die serbische Regierung eine ausländische Vermittlung und ließ sich diese Haltung sogar am 23.4.98 durch eine Volksabstimmung bestätigen. Die Umsetzung eines am 1.9.96 von Miloševic und Rugova unterzeichneten Schulabkommens scheiterte daran, daß die kosovo-albanische Seite die Vereinbarung als Rückgabe der Schulgebäude an den kosovo-albanischen Schattenstaat interpretierte, die serbische Regierung dagegen die Vereinbarung als Rückführung der ethnisch-albanischen Schüler in das öffentliche Schulsystem Serbiens auslegte. Die serbische Seite akzeptierte die Lehrpläne des schattenstaatlichen Schulsystems nicht, und die kosovo-albanische Seite war nicht bereit, in der Lehrplangestaltung Konzessionen zu machen.49 Aus ihrer Sicht kam einem partiellen Zugeständnis gegenüber der anderen Seite die überragende symbolische Bedeutung eines Unterwerfungsaktes zu.

Beide Konfliktparteien richteten ihren Konflikt nicht auf internationale Regelungsstandards und –instrumente aus, banden ihre Interessen an intransigente Positionen und benutzten untergeordnete Fragen zur gegenseitigen Blockade. Somit läßt sich festhalten, daß die Konfliktparteien den Konflikt als Nullsummenspiel perzipieren, in dem jeder eigene Vorteil einen Nachteil für die andere Seite darstellt und das folglich nur durch Konfrontation gewonnen werden kann.

Regionaler Kontext

Regionale Interdependenzen bestehen primär zwischen dem Kosovo-Konflikt und dem homeland Albanien sowie den Konfliktkonstellationen in Mazedonien und Bosnien-Herzegowina. Die albanische homeland-Politik hat sich in starker Abhängigkeit von der innenpolitischen Lage entwickelt.50 Die Demokratische Partei

49 Überdies benutzten beide Seiten sprachliche Unklarheiten, um die Implementierung zu blockieren. Während die serbischsprachige Version des Schulabkommens nur die Rückkehr der Schüler von Primar- und Sekundarschulen vorsah, erwähnte die albanischsprachige Version auch die Rückkehr von Studenten. Entsprechend wollte die serbische Regierung zunächst nur die Schulgebäude öffnen, während die kosovo-albanischen Vertreter auf der Öffnung der Universitäten beharrten.

50 Vgl. a. die Darstellungen von Peter Schubert (1997): Zündstoff im Konfliktfeld des Balkan: Die albanische Frage, Baden-Baden: Nomos Verlag; Nesho, Agim (1998): Political Developments after 22 March 1992 and the Albanian National Question, in: Veremis, Thanos/ Kofos, Evangelos (ed.) (1998): Kosovo: Avoiding Another Balkan War, Athens: ELIAMEP, 311-328; Troebst, Stefan (1996): Von der "Makedonischen Frage" zur "Albanischen Frage": Der Balkan am Ende des 20. Jahrhunderts. Vier vorläufige Schlußfolgerungen, in: Heuberger, Valeria et al. (Hg.): Der Balkan. Friedenszone oder Pulverfaß? Frankfurt/M. et al.: Peter Lang Verlag, 127-138; Clément, Sophia (1997): Conflict Prevention in the Balkans: Case Studies of Kosovo and the FYR of Macedonia, Paris: WEU Institute for Security Studies, Chaillot Paper Nr.30.

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unter Führung von Sali Berisha demonstrierte eine enge Verbundenheit mit den Kosovo-Albanern und setzte sich auf internationaler Ebene für ihre Forderungen ein. Während Berishas Regierungszeit erkannte Albanien als einziger ausländischer Staat den kosovo-albanischen Schattenstaat an. Demgegenüber unterstützte die sozialistische Regierung die Position der internationalen Gemeinschaft, daß der Kosovo-Konflikt innerhalb der BRJ gelöst werden müsse. Im Februar 1998 kritisierte der sozialistische Ministerpräsident Fatos Nano die Errichtung paralleler Institutionen durch die Kosovo-Albaner.51 Zugleich versuchte Nano, durch ein Treffen mit Miloševic, einen bilateralen Dialog mit der BRJ-Regierung aufzunehmen. Angesichts der Eskalation im Kosovo hat die Regierung jedoch unter dem Druck der von Berisha geführten Opposition die serbische Politik scharf kritisiert.

Die antagonistische Konstellation der politischen Akteure in Albanien begünstigt eine nationalistische Mobilisierung ebenso wie die tiefe wirtschaftliche und soziale Transformationskrise Albaniens, die 1997 zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung führte. Allerdings wirken die relativ schwachen historisch-kulturellen Bindungen zwischen den (seit fast einem Jahrhundert getrennten) albanischen Bevölkerungsgruppen, die extreme Abhängigkeit Albaniens von der internationalen Gemeinschaft und die mangelnden militärisch-ökonomischen Ressourcen begrenzend auf Ambitionen der politischen Akteure, nationalistische Gefühle in eine Politik der Konfliktintervention und Grenzrevision umzusetzen. Albanien ist bereits insofern in den Kosovo-Konflikt involviert, als etwa 80.000 Kosovo-Albaner in Albanien Zuflucht suchten. Obwohl die albanische Regierung versuchte, den Waffenschmuggel über die albanische Grenze nach Kosovo zu unterbinden, konnte die UÇK offenbar größere Mengen an Waffen aus Albanien beschaffen und im unwegsamen Norden Albaniens Trainingscamps errichten.52 Serbische und jugoslawische Polizei- und Armeeeinheiten verletzten in ihren Gefechten mit der UÇK mehrfach albanisches Territorium.

Viele sicherheitspolitische Szenarien erwarteten, daß eine Gewalteskalation im Kosovo zu einer Destabilisierung der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien (Mazedonien) führen würde, da Mazedonien nur über eine geringe Kontinuität als eigenständiger Nationalstaat verfügt, von seinen Nachbarstaaten erst spät anerkannt wurde und ein Gewaltausbruch im Kosovo eine Solidarisierung bzw. Radikalisierung der starken ethnisch-albanischen Bevölkerungsgruppe (ca. 23%) auslösen könnte.53 Die gemäßigten politischen Kräfte in Mazedonien konnten die inter-ethnischen Spannungen bisher regulieren, indem sie ein Machtteilungsmodell etablierten und in einer engen Kooperation mit den westlichen Staaten und internationalen Organisationen extern verankerten. Der erwartete spill-over-Effekt manifestierte sich zunächst nur in Gestalt von etwa 3-5000 kosovo-albanischen Flüchtlingen und in einer – allerdings überwiegend wahltaktisch motivierten - 51 International Crisis Group (1998): Kosovo Spring, http://www.intl-crisis-group.org.52 International Crisis Group (1998): The View From Tirana: The Albanian Dimension of the

Kosovo Crisis, http://www.intl-crisis-group.org: 10 July.53 Vgl. z.B.: Glenny, Misha (1995): Heading off War in the Southern Balkans, Foreign Affairs

May-June, ; Clement, Sophia (1998): Macedonian Albanians and Kosovo Albanians: Towards the Bosnian Model?, in: Veremis, Thanos/ Kofos, Evangelos (ed.) (1998): Kosovo: Avoiding Another Balkan War, Athens: ELIAMEP, 357-388.

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Annäherung der beiden ethnisch albanischen Parteien in Mazedonien. Die gemäßigte Albanerpartei, die auch an der sozialistischen Regierung beteiligt war, bildete ein Bündnis mit der radikalen Albanerpartei, um das ethnisch albanische Wählerpotential bei den Parlamentswahlen am 18.10./1.11.98 maximal auszuschöpfen. Beide Parteien verzichteten zwar im Wahlkampf darauf, die Kosovo-Krise für eine nationalistische Mobilisierung auszunutzen. Gewaltsame Demonstrationen im Sommer 1997 und die Gründung einer parallelen, nicht staatlich anerkannten Universität in Tetovo, dem Zentrum des ethnisch albanischen Siedlungsgebietes, deuten indes darauf hin, daß ein gewisses Potential zur Radikalisierung und Abkopplung aus den öffentlichen Institutionen Mazedoniens (”Kosovoisierung”) besteht.54

Eine weitere Eskalation des Kosovo-Konfliktes - etwa hin zu einer gewaltsamen Vertreibung eines Großteils der kosovo-albanischen Bevölkerung oder zur gewaltsamen Befreiung des Kosovo - würde sich nicht nur auf Mazedonien, sondern auch auf Bosnien-Herzegowina auswirken. Die staatliche Einheit Bosnien-Herzegowinas ist ein wesentliches Stabilisierungselement in der Friedensordnung des Dayton-Abkommens, da sie das Prinzip der internationalen Jugoslawienpolitik bekräftigt, wonach nur die ehemaligen Teilrepubliken der SFRJ ein Recht auf Gründung eines eigenen Staates haben. Die erzwungene Anerkennung eines kosovo-albanischen Staates hätte Präzedenzbedeutung für die kroatischen und serbischen Politiker Bosnien-Herzegowinas. Die Einrichtung und relativ erfolgreiche Tätigkeit einer protektoratsähnlichen internationalen Militär- und Zivilverwaltung in Bosnien-Herzegowina repräsentiert dagegen in umgekehrter Richtung eine Entwicklungsoption für den Kosovo-Konflikt.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der regionale Kontext des Kosovo-Konfliktes weniger durch eine revisionistische Politik des homelands Albanien, sondern vor allem durch die endogene politische Instabilität in Albanien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina geprägt ist. Diese Instabilität verstärkt die Interdependenzen und beschränkt insbesondere Albaniens Kapazität, ähnlich wie Ungarn als Stabilisierungsfaktor auf die kosovo-albanisch-serbische Konfliktkonstellation einzuwirken. Zudem erhalten diese Staaten - im Gegensatz zu den mittel- und osteuropäischen Staaten mit ihrer EU- und Nato-Beitrittsperspektive – wesentlich schwächere Integrations- und Kooperationsanreize von den internationalen Organisationen.

54 Rüb, Matthias (1998): Droht die ”Kosovoisierung” Westmazedoniens?, in: FAZ 28.5.98. Die mazedonischen Albaner fordern eine ethnisch albanische Universität, die proportionale Besetzung von öffentlichen Ämtern, ein Vetorecht für die ethnisch albanische Bevölkerungsgruppe in einer nach ethnischem Prinzip gebildeten zweiten Parlamentskammer, die Einstufung der kosovo-albanischen Bevölkerungsgruppe als konstituierendes Staatsvolk und die Einführung des Albanischen als zweite Amtsprache. Vgl.a. Perry, Duncan M. (1995): On the Road to Stability - or Destruction, Transition 25 August.

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Lettland/ ethnische Russen

3. Lettland/ ethnische Russen

(WIM P. VAN MEURS)

Demokratie und Nationalstaatsbildung

Im lettischen Falle sind seit Ende der achtziger Jahre Demokratisierung und Nationalstaatsbildung eng miteinander verknüpft: Das demokratische, unabhängige Lettland der Zwischenkriegszeit als Leitbild der postkommunistischen Transformation war parteiübergreifend konsensfähig. Die Bedeutung dieses Leitbildes wurde sowohl durch das Argument, die Annexion Lettlands durch die UdSSR 1940 und ihre Folgen – die russische Massenmigration und Industrialisierung – seien völkerrechtlich nichtig, als auch durch die Dringlichkeit einer Trendwende angesichts der nur noch minimalen demographischen Mehrheit (52%) der Letten im eigenen Lande verstärkt.55 Auch die sowjetische Nationalitäten- und Föderationspolitik spielte nachträglich eine signifikante Rolle bei der Entscheidung für das Staatsmodell des ethnischen Nationalstaats: Trotz Sowjetpatriotismus und Russifizierung hatte auch die sowjetische Politik die Idee vermittelt und institutionalisiert, daß Lettland die nationale Sowjetrepublik der ethnischen Letten sei.56

Folglich wurde Lettland zu einer ”ethnic democracy”, in der die demokratischen Rechte und Regeln nur für die ethnische Titularnation und nicht für die Einwanderer nach 1940 galten. Die Zwischenkriegszeit wurde zur Hauptlegitimationsgrundlage des Staates sowie vieler Parteien und damit zu einem zwingenden politischen Argument in den späteren Politikentscheidungen bezüglich der russischen Minderheit und der Beziehungen zum russischen Nachbarstaat.

Im nationalen Emanzipationsprozeß 1988-1991 wurde bereits deutlich, daß die völkerrechtliche Kontinuität und das ethnische Konzept des Nationalstaats die Grundlage für das neue Lettland bilden würden. Während sich die Volksfront, die im März 1990 auf demokratische Weise die Kommunisten als dominante Kraft im Obersten Sowjet ablöste, noch für die Integration der russischen Minderheit in ihre Reihen einsetzte, bestanden die nationalkonservativen Bürgerkomitees auf den äußersten Konsequenzen der Rückkehr zu einem status quo ante - Neuregistrierung der Staatsbürger von 1940 und ihrer Nachfahren. Im Prozeß der Nationalstaatsbildung ab 1991 konnten sich die Vorstellungen der Bürgerkomitees weitgehend durchsetzen: Kollektive nationale Rechte wurden vor individuelle demokratische Rechte gestellt. Im Rahmen der Staatsbürgergemeinschaft von 1940 waren Menschenrechte und Minderheitenrechte garantiert, aber über 700.000 Neusiedler wurden ausgeschlossen. Die Volksfront, die vorher in der entscheidenden Staatsbürgerschaftsfrage für eine modifizierte Nulloption plädiert hatte, bewegte sich nach der Unabhängigkeit mehrheitlich in Richtung der ”ethnic democracy”. Die

55 Dreifelds, Juris (1996): Latvia in Transition, Cambridge, 20-30.56 Brubaker, Rogers (1994): Nationhood and the National Question in the Soviet Union and

Post-Soviet Eurasia: An Institutionalist Account, in: Theory and Society Vol. 23 Nr. 1, 47-78.

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Lettland/ ethnische Russen

wenigen Persönlichkeiten, die mit diesem Kurswechsel nicht einverstanden waren,57

gründeten eigene Parteien, die für die Integration der Minderheiten und das Staatsbürgerschaftskonzept einer ”liberal democracy” eintraten, aber bei den Saeima-Wahlen im Juni 1993 keinen Erfolg hatten.

Anfang der neunziger Jahre entstand – hauptsächlich anhand der Nationalstaats- und Minderheitenfrage – ein Parteienspektrum, das auf die Parteitraditionen der Zwischenkriegszeit zurückging und mit zentrumslastig-rechten (Lettlands Weg, Demokratische Zentrumspartei) und national-konservativen Parteien (LNNK und ”Vaterland und Freiheit”-Partei) überbesetzt war, da die starke sozialdemokratische Bewegung der Zwischenkriegszeit nicht wiederbelebt werden konnte. Die Lettische Demokratische Arbeiterpartei und die russische Partei ”Gleiche Rechte” galten als Nachfolger der verbotenen LKP. Nach dem Zerfall der parteiübergreifenden Volksfront (1992) übernahm bei den Wahlen 1993 das Wahlbündnis ”Lettlands Weg” die Führung vor der opponierenden ”Nationalen Unabhängigkeitspartei” (LNNK) und der rechtsextremen ”Vaterland und Freiheit-Partei”. Weit abgeschlagen waren dagegen die sozialliberale Partei ”Harmonie und Wiedergeburt” und die Partei des ehemaligen Außenministers Jurkans, die sich beide für den ethnischen Ausgleich im Sinne einer ”liberal democracy” einsetzten, und die russisch-konservative Bewegung ”Gleiche Rechte” (Ravnopravie), deren Forderungen sowohl Elemente einer ”liberal democracy” als auch einer ”consociational democracy” umfaßte, je nachdem, ob die gleichen Rechte individuell bzw. kollektiv aufgefaßt wurden.58

Erst das Ergebnis der siebten Saeima-Wahlen am 3. Oktober 1998 läßt sich als eine gewisse politische Trendänderung und eine Neuverteilung des politischen Spektrums bewerten: Im neuen Parlament mit fünf Fraktionen vertritt nur die Partei ”Vaterland und Freiheit/LNNK” (17 Sitze) national-konservative Positionen, während die beiden anderen neuen Regierungsparteien der Koalition von Vilis Kristopans – die liberale ”Lettlands Weg” (21) und die zentristische ”Neue Partei” - eine ”neue Mitte” repräsentieren. Außerdem gelang neben der SDP Lettlands (14 Sitze) auch einem Linksbündnis, das die Russische Partei und drei links-integrationistischen Parteien - ”Gleiche Rechte”, die Sozialistische Partei und die ”Nationale Harmonie Partei” – umfaßt, trotz Obstruktion seitens der Wahlkommission, der Einzug (17 Sitze). Das gleichzeitige Scheitern mehrerer extrem nationalistischer, xenophober Parteien an der 5%-Hürde deutet auf ein neues, wenn auch nach wie vor instabiles politisches Spektrum hin, mit ausgeprägten linken und rechten Kräften, aber auch einer gestärkten Mitte. Da die neue Minderheitsregierung von der Duldung durch SDP und Linksbündnis abhängig sein wird, könnten sich die einheimischen Impulse und die Responsivität des politischen Systems im Minderheitenbereich erhöhen.59

Die Minderheiten selbst zeigten 1989-1991 in Umfragen zunehmendes Vertrauen in die Volksfront und gaben noch beim Referendum am 3. März 1991 (ca. 30% russische Ja-Stimmen) noch ein substantielles Votum für Unabhängigkeit ab. Nach der Unabhängigkeit sank das politische Engagement und die Mobilisierbarkeit

57 Atmoda (17.07.1989).58 Smith, Graham: The Ethnic Democracy Thesis and the Citizenship Question in Estonia and

Latvia, in: Nationalities Papers, 24 (1996) 2, 199-216.59 Latvian Telegraph Agency (24.07.1998 und 23.10.1998).

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Lettland/ ethnische Russen

sowohl bei den nicht zur ”body politic” gehörenden Nichtstaatsbürgern als auch bei den Russen mit Wahlrecht auf ein Minimum: Die meisten Russen sahen ihre Zukunft angesichts des hiesigen Lebensstandards und der Dauerkrise Rußlands weiterhin in Lettland, aber nur 1% von ihnen war Mitglied einer politischen oder kulturellen Organisation. Insgesamt ist es seitdem keinem politischen Akteur mehr gelungen, die russische Minderheit als ethnisches Kollektiv zu mobilisieren und zu organisieren. Die russischen Wähler verteilten sich laut Umfragen über die vorhandenen ”lettischen” politischen Parteien, wobei sie die linken und integrationistischen Parteien stärker unterstützten als die des politischen Zentrums und weiter rechts kaum noch vertreten sind.60

Diese politische Ausgangslage hat zu verschiedenen Demokratisierungsdefiziten geführt, die von Beginn an von internationalen Organisationen wie dem Europarat und der OSZE kritisiert wurden. Auf der Habenseite sollte vermerkt werden, daß zwischen den Übergriffen der Spezialtruppen des russischen Innenministeriums im Januar 1991 und den Rentnerprotesten im März 1998 keinerlei gewalttätige Auseinandersetzungen gemeldet wurden: In der ethnischen Demokratie wurden den Nichtstaatsbürgern anstandslos individuelle Freiheits- und soziale Rechte zugestanden (mit einigen Ausnahmen: Nichtstaatsbürger durften z.B. kein Land besitzen und keine Funktionen in einer Gewerkschaft übernehmen). Minderheitengruppen mit Staatsbürgerschaft erhielten auch bestimmte kollektive Rechte. Dennoch war ein Drittel der Bevölkerung politisch entrechtet: Bei den ersten freien Parlamentswahlen im Juni 1993 war mangels Staatsbürgerschaftsgesetz die Bedingung für die Aufnahme in die Wählerlisten eine auf den 17. Juni 1940 zurückgehende Staatsbürgerschaft. Dies bedeutet, daß 79% der Wähler und 93% der neugewählten Abgeordneten ethnische Letten waren und daß nur 62% der Polen, 39% der Russen und 6% der Ukrainer Wahlrecht hatten.61 Die lettischen Parteien verständigten sich in wesentlichen Fragen auf der Grundlage des ethnischen Nationalstaats: Soziale Konfliktlinien konnten somit kaum in den politischen Bereich übertragen werden.62

Eine Änderung der Minderheitenpolitik wurde aufgrund der geringen Responsitivät des politischen Systems nicht von einheimischen Akteuren auf die politische Agenda gebracht, sondern hauptsächlich durch externen Druck - bevorstehende Entscheidungen zur EU-Integration, die Kritik internationaler Organisationen und russische Drohgebärden - sowie die Erkenntnis, daß auf Dauer eine so große nicht integrierte Minderheit ein unhaltbarer Zustand ist: Für die große Mehrheit der Parteien war und ist eine Diskussion über eine Revision der allgemeinen lettischen Haltung in der Staatsangehörigkeitsfrage ein politisches Tabu. Die zentristischen Parteien zeigten sich in der politischen Praxis in vielen Fragen zu realistischen Zugeständnissen bereit, ohne dabei jedoch das Grundkonzept einer ”ethnic democracy” anzuzweifeln.

60 Klingemann, Hans-Dieter/ Lass,Jürgen/ Mattusch, Katrin: Nationalitätenkonflikt und Mechanismen politischer Integration im Baltikum, in: (1994): Konfliktregulierung durch Parteien und politische Stabilität in Ostmitteleuropa, Frankfurt/Main, 181, Tabelle 16.

61 Diena (30.10.1993), in: (Smith 1996) (Fn.58).62 Klingemann/ Lass/ Mattusch, “Nationalitätenkonflikt”, 155-186.

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Lettland/ ethnische Russen

Soziale Segregation

Der lettische Fall ist dadurch geprägt, daß die Angehörigen der Titularnation nur eine knappe Bevölkerungsmehrheit stellen. Im Jahre 1994 betrachteten sich nur 56,5% der Bevölkerung als ethnische Letten, während der ethnisch russische Bevölkerungsanteil in Lettland ca. 34,4% betrug (ca. 766000 Personen) und die übrigen neun Prozent der Bevölkerung sich primär aus ethnischen Ukrainern, Weißrussen und Polen zusammensetzten.63 Die ethnisch-russischen Bewohner Lettlands konzentrieren sich geographisch in den Städten (mit Ausnahme von Lettgallen) und sektoral in der Industrie: 1989 stellten die ethnischen Letten in der Industrie 40% der Arbeitskraft, in den Agrarbetrieben 70%.64 In Riga sind 47% der Bevölkerung russisch, in Daugavpils (der Hauptstadt von Lettgallen) 58% und in der Hafenstadt Liepaja 38%.65 Insgesamt ist in den Städten die ethnische Segregation auf Mikroebene ausgeprägter als auf dem Lande: In den Städten sind ethnisch gefärbte Wohnviertel entstanden, während die minoritäre Landbevölkerung in Lettgallen in geringerem Maße in ethnisch segregierten Dörfern lebt und besser integriert ist (Mischehen, Sprachkenntnisse usw.).

Die perzeptive Segregation wurde zu Sowjetzeiten nicht nur durch die gemeinsame sowjetische Staatsangehörigkeit, sondern vor allem auch durch baltisch-regionale und substaatlich-regionale Identifikationsmuster durchbrochen: Russischsprachige Neusiedler betrachteten das Baltikum einerseits als integralen Teil der UdSSR, andererseits als dem Westen sehr ähnlich, ein eigener wohlhabender Teil der Union. Die baltische Kultur im breitesten Sinne wurde als der russischen mindestens ebenbürtig angesehen und viele Einwanderer fühlten sich von dieser Kultur beeinflußt. Dies führte zur Entstehung einer sich von der russischen unterscheidenden, eigenen baltisch-russischen Identität. Diese Identitätsentwicklung wurde gefördert durch die große Zahl der Russen, die seit mehr als einem Jahrzehnt im Baltikum lebten.66 Der Trend zur Identifikation mit bzw. die Loyalität zu der lettischen Republik wurde erst durch die antirussische Orientierung der lettischen Nationalbewegung der späten achtziger Jahre und die diskriminierende Gesetzgebung der frühen neunziger Jahre in Richtung einer ethnischen Bewußtwerdung gewendet.

Die Gewichtung der Konfliktthemen hat sich seit 1994-1995 deutlich geändert: Die russische Minderheit läßt sich kaum noch politisch mobilisieren und hat sich in dem Sinne weitgehend mit der politischen Entrechtung abgefunden. Die kurze Emigrationswelle nach der Unabhängigkeit ist ein Indiz für die Zukunftsorientierung der russischen Minderheit: Die Zahl derjenigen, die nach Rußland emigrierten,

63 Die Zahlenangaben stammen aus dem Human Development Report Latvia des UNDP, Riga 1995.

64 van Meurs, Wim P. (1999) Die Transformation in den baltischen Staaten: baltische Wirtschaft und russische Diaspora, in: Berichte des BIOST 6; Karklins, Rasma (1994): Ethnopol-itics and Transition to Democracy. The Collapse of the USSR and Latvia, Baltimore, 133, Tabelle 6.2.

65 Smith, Graham/ Aasland, Aadne/ Mole, Richard: Statehood, Ethnic Relations and Citizen-ship, in: Smith, Graham (ed.) (1996): The Baltic States, London , 193, Tabelle 8.1.

66 Lieven, Anatol (1993): The Baltic Revolution: Estonia, Latvia , Lithuania and the Path to Independence, New Haven, 185-190.

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Lettland/ ethnische Russen

änderte sich 1990 und 1991 kaum, stieg in den Jahren 1992-1994 während der Gesetzesdebatte auf das Vierfache an, um, als die Gesetzeslage zum Nachteil der Russen geklärt war und diese sich damit auf neue, relativ gesicherte Lebensumstände einrichten konnten, wieder auf das übliche Niveau (ca. 5000 jährlich) zu sinken. Somit ging die Zahl der Russen in Lettland zwischen 1989 und 1996 insgesamt um 80.000, von 34,0% auf 32,5% zurück.67 Die große Mehrzahl der Russen hat sich offensichtlich entschlossen, trotz politischer Entrechtung wegen der relativ günstigen sozio-ökonomischen Lebensumstände im Baltikum zu bleiben. Der neuen Ungleichheit durch Wirtschaftstransformation und Privatisierungspolitik entsprechend gehören die Russen in Lettland überdurchschnittlich zu den sozial Schwächeren und Verlierern der Transformation: von Arbeitslosigkeit bedrohte, gering qualifizierte Industriearbeiter und Rentner. Die Unzufriedenheitsprofile dieser Gruppen richten sich seit der Konsolidierung der Minderheitengesetze 1994-1995 zunehmend auf die Sicherstellung ihrer direkt mit dem Aufenthaltsrecht zusammenhängenden sozialen Rechte und die Verschlechterung ihrer sozio-ökonomischen Position.

Die sektorale und soziale Segregation wurde durch die Wirtschaftstransformation und die Privatisierungspolitik verstärkt, oftmals unter umgekehrten Vorzeichen. Die russische Minderheit konzentrierte sich in der sowjetischen Schwer- und Militärindustrie – damals die Vorzeigebetriebe, aber in der Transformation der Wirtschaftsbereich, der am schnellsten die größten Produktionsrückgänge hinnehmen mußte: Eine erfolgreiche Transformation zur Marktwirtschaft unterstellt eine Verschiebung von Industrie zu Dienstleistung und auch eine Verschiebung innerhalb des Industriesektors, auf die die unqualifizierten Industriearbeiter am schlechtesten vorbereitet sind. Gleichzeitig sind die Rentner am wenigsten in der Lage, von den wirtschaftlichen Entwicklungen zu profitieren und sind mehr noch als Arbeitslose vom Staat abhängig. Die lettische Privatisierung hatte unübersehbare ethnopolitische Dimensionen:68 Obwohl keine zuverlässigen Zahlen zur ethnischen Aufteilung dieses neuen Volksreichtums vorliegen, wird sie ähnlich wie in Estland (wo die Titularnation über 80% des Neukapitals erhielt) eine signifikante neue Ungleichheit geschaffen haben.

Konflikt und Politikmuster

Die Minderheitenpolitik ist offensichtlich eines der zentralen Konflikt- und Spannungsfelder der postkommunistischen Entwicklung Lettlands, wurde aber durch verschiedene Faktoren (z.B. der nationalstaatliche Konsens der lettischen Parteien und das fehlende Wahlrecht der Minderheiten) kaum Thema der innenpolitischen Auseinandersetzung: Dementsprechend führte politischer Pluralismus in dieser Frage nicht zu einer Responsivität, einer Sensibilisierung für die Position der Minderheiten. 67 Demographic Statistics in the Baltic Countries (Tallinn/Riga/Vilnius 1996), Tabelle 6;

Dreifelds, 164, Meurs, Die Transformation.68 UNDP Human Development Report Latvia 1997 (Riga 1997), Kap. 1; Hirschhausen, Chris-

tian von/ Wan-Sze Hui: Industrial Restructuring in Post-Socialist Eastern Europe and the Baltic Countries: Privatization, Enterprization and New Enterprise Networks, in: Hirschhausen, Chris-tian von (ed.) (1998): New Neighbours in Eastern Europe: Economic and Industrial Reform in Lithuania, Latvia and Estonia, Paris, 23, Fn. 9.

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Lettland/ ethnische Russen

Eine Mäßigung in der Minderheitenpolitik konnte nur durch externe Einflußnahme hergestellt werden.69 Lettland unterscheidet sich in der Minderheitenpolitik vom benachbarten Estland weniger durch die formalen gesetzlichen Regelungen (obwohl diese in Lettland in der Tat generell härter und kompromißloser sind), sondern vor allem dadurch, daß die relevanten Gesetze erst zwei Jahre später zustandekamen. In der Gesetzesdebatte (1991-1994) eskalierten die gegenseitigen Anschuldigungen und Feindbilder. Insgesamt ist die soziale und geographische Segregation in Estland wesentlich größer, aber politische Handreichungen (z.B. lokales Wahlrecht für Nichtstaatsbürger) und eine Regierungspolitik zur Verbesserung des Organisationsgrads der russischen Minderheit haben in Estland positive Ergebnisse gebracht, während in Lettland besonders die Dauer der eskalierenden Debatte die perzeptive Segregation negativ beeinflußt hat.

Die wichtigsten Gesetze, die verwendet wurden, um die Umkehrung der politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse zwischen Titularnation und Russischsprechenden durchzusetzen, waren das Sprachgesetz und das Staatsbürgerschaftsgesetz. In Lettland wurde das Sprachgesetz von 1989, noch bevor es im Mai 1992 in Kraft treten sollte, grundlegend revidiert: Die Verwaltung sollte mit den Bürgern nicht in der Sprache des Bürgers, sondern immer in der Staatssprache korrespondieren. Eine strenge Kontrolle der Verwendung der Staatssprache im öffentlichen Dienst, aber auch bei Privatfirmen wurde angekündigt. Die Modifizierung des Gesetzes 1992, die einer Neuregelung gleichkam, bedeutete eine Verschiebung vom Kohabitationsmodell zur ethnischen Demokratie.

Eine erste Parlamentsresolution 1991 beschränkte die automatische lettische Staatsbürgerschaft auf die, die ihre Ansprüche auf die Zeit vor der Sowjetannexion zurückführen konnten. Die ethnischen Russen, die zu dieser Kategorie gehörten, erhielten die Rechte einer nationalen Minderheit nach den liberalen Gesetzen der Kulturautonomie der Zwischenkriegszeit: Alle anderen wurden de facto zu ”illegalen Ausländern”. Die Frage der Einbürgerung wurde nicht geregelt. Erst am 22.7.1995 beschloß die Saeima das Staatsbürgerschaftsgesetz und ein entsprechendes Einbürgerungsgesetz mit den folgenden Anforderungen: Treueid auf die lettische Verfassung, Sprachkenntnisse, 10 (erst 16) Jahre Aufenthalt - nach Protest ohne Quoten, aber dafür mit einer nach Jahrgängen gestaffelten Einbürgerung. Dieses Fenstermodell macht – ebenso wie die geplante Quotenregelung –das Recht auf Einbürgerung abhängig von pauschalen Kollektivkriterien statt von erfüllbaren Anforderungen an individuelle Vertreter der Minderheit.70 Während in Estland ca. 120000 ethnische Russen die estnische Staatsbürgerschaft erworben haben, erhielten in Lettland von den 93000 ethnischen Russen, die seit 1995 zur Einbürgerung berechtigt waren, nur 7170 Personen die lettische Staatsbürgerschaft.71

69 Muiznieks, Niels: Latvia, in: Bremmer, Ian/ Taras, Ray (eds.) (1993): Nations and Politics in the Soviet Successor States, Cambridge, 200-201.

70 Hayden, Robert (1992): Constitutional Nationalism in the Former Yugoslav Republics, in: Slavic Review Vol. 51 Nr. 4, 654-673.

71 Europäische Kommission: Stellungnahme zum Antrag Estlands auf Beitritt zur Europäischen Union, in: Bulletin der Europäischen Union, Beilage 11/97, 18-20; Europäische Kommission: Stellungnahme zum Antrag Lettlands auf Beitritt zur Europäischen Union, in: Bulletin der Europäischen Union, Beilage 10/97, 19-20 bzw. Girnius, Saulius (1997): Back in

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Lettland/ ethnische Russen

Auffällig ist dabei, wie stark sich die russischen Proteste (sowohl in Lettland selbst als auch von Moskau aus) gegen diese Gesetzgebung auf Völkerrecht, internationale Verträge und allgemeine Menschenrechte berufen.72 Minderheitenrechte sind eher ein sekundäres Argument. Diese Argumentationslinie ist weitgehend unabhängig von der Frage, ob die Forderungen der Protestierenden Minderheitenrechte für Nichtstaatsbürger betreffen, einen ”consociational state” oder individuelle Gleichberechtigung. Diese Präferenz scheint von der geringen Responsivität des lettischen demokratischen Systems für Minderheitenfragen per se und den externen westlichen Einflüssen bestimmt zu sein: Die Frage der Behandlung der Nichtstaatsbürger wird von der Frage nach ihrem Anspruch auf einen Minderheitenstatus getrennt. Die russischen Vertreter provozieren somit das lettische politische Selbstverständnis, das nationale vor demokratische Rechte stellt: Sie profilieren sich als die eigentlichen Demokraten im westlichen Sinne und halten sich von russisch-nationalen Kontexten fern.

Als Beginn einer zweiten Phase der Demokratisierung und Nationalstaatsbildung lassen sich das Ausländergesetz und die Einführung der Nichtstaatsbürgerpässe im April 1995 betrachten. Zu dem Zeitpunkt war einerseits der Hauptkonflikt mit Rußland, der Truppenabzug (August 1994), weitgehend zur Zufriedenheit Lettlands geklärt, während andererseits deutlich wurde, daß die russische Minderheit nichtsdestotrotz weder massiv emigriert (die Nettoemigration sank von 20.000 (1992) auf 11.000 (1995) und 6.000 (1996)) noch die (beschränkten) Möglichkeiten, die lettische Staatsbürgerschaft zu beantragen, in Anspruch nahm (einige Tausend bis 1997).73 Somit sahen sich die Mitte-Rechtsparteien Lettlands gezwungen, sich mit dem Problem einer dauerhaft nicht-integrierten Bevölkerungsgruppe auseinanderzusetzen. Die verschiedenen Minderheiten erhielten nach dem Modell der Zwischenkriegszeit eine Vertretung im Minderheitenrat beim Präsidenten (der auch Nichtstaatsbürger umfaßt).

Nicht nur angesichts der bevorstehenden Entscheidungen zur EU-Integration, der Kritik internationaler Organisationen und der russischen Drohgebärden, sondern auch aus internen Motiven haben Estland und Lettland seit 1997 Initiativen im Bereich der Staatsbürgerschafts- und Ausländerregelungen ergriffen. Das lettische Parlament beschloß 1998 eine Gesetzesänderung, die die Einbürgerungsfenster abschaffte, den Sprachtest vereinfachte und nach dem 21. August 1991 geborene Kinder von Nichtstaatsbürgern auf Wunsch der Eltern automatisch die Staatsbürgerschaft verleiht. Die Änderung hatte am 3.10.98 auch Bestand in einem von der ”Vaterland und Freiheit-Partei” initiierten Referendum.74 Diese Veränderung zusammen mit dem Sieg der gemäßigten Volkspartei ”Lettlands Weg” und des Linksbündnisses ”Nationale Harmonie Partei” vor der nationalistischen Partei ”Vaterland und

Europe, to Stay, in: Transition Vol.3 No.4 4 April, 7-10.72 Siehe dazu die Diskussionen in der Internet-Liste MINELRES oder Cilevic, Boris (1993):

Vremija zestkich Resenii, Riga73 Stranga, Aivars: Baltic-Russian Relations: 1995-Beginning of 1997, in: Lejins, Atis/

Ozolina, Zaneta (eds.) (1997): Small States in a Turbulent Environment: The Baltic Perspective, Riga, 206.

74 Current Latvia (15.06.1998).

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Lettland/ ethnische Russen

Freiheit” bei den gleichzeitig abgehaltenen Wahlen zeigt, daß Vertreter einer realistischeren und integrationsorientierten Position sich zunehmend behaupten können.

Regionaler Kontext

In den bilateralen Beziehungen zwischen Lettland und Rußland ist die Frage der russischen Minderheit nur einer von vielen Faktoren. Abgesehen von der Frage, inwieweit von der russischen Lettlandpolitik die Rede sein kann, war das Schicksal der Minderheit zu keinem Zeitpunkt politisch entscheidend. Nachdem Jelcin 1991 die baltischen Staaten gegen Gorbacev unterstützt hatte, betrachteten russische Demokraten die Frage der russischen Minderheit in den baltischen Staaten anfangs als eine interne Angelegenheit dieser souveränen Staaten, auf der Grundlage des Abkommens vom 13. Januar 1991, das den Russen in Lettland das Recht zusprach, sich frei zwischen lettischer und russischer Staatsbürgerschaft zu entscheiden. Unter dem Druck der Opposition, die sich, nachdem sie die Ratifizierung dieses Abkommens im russischen Parlament erfolgreich verhindert hatte, zunehmend des populistischen Themas der antirussischen Gesetzgebung Lettlands (und Estlands) bediente, begann die russische Regierung 1992, unter Anführung von Jelcin75 dieses Thema politisch zu besetzen: Ohne sich dem ethnischen Nationskonzept der Opposition zu verschreiben, begannen Jelcin und Kozyrev, die Behandlung der russischen Minderheit in Lettland und Estland anzuprangern und im Rahmen des Konzeptes des ”Nahen Auslands” opportunistisch mit den anderen offenen Fragen der bilateralen Beziehungen zu verbinden, vor allem mit der des Truppenabzugs.

Die Rußlandpolitik Lettlands entwickelte sich weitgehend parallel zur Innenpolitik: Die kurze Phase der Solidarisierung zwischen lettischen und russischen Demokraten endete mit der Unabhängigkeit beider Staaten und der Entstehung neuer innenpolitischer Vorgaben: Der nationalistischere Kurs der lettischen politischen Mehrheit führte zu einer auf Prinzipien basierenden Rußlandpolitik ohne Kompromißbereitschaft. Im schwierigen Verhandlungsprozeß über den russischen Truppenabzug sorgte das lettische Parlament im Januar 1992 für neuen Konfliktstoff, indem es – dem Dogma der historischen Kontinuität getreu – die Rückgabe des 1945 von Rußland annektierten Abrene-Gebiets forderte. Auch die These, daß die nationalistischen Parteien in der Außenpolitik und besonders in den Beziehungen zu Rußland mangels substanzieller Konflikte neue Streitthemen aufwerfen, um den eigenen Anhang zu mobilisieren und eine Normalisierung der interethnischen Beziehungen im Lande sowie zum russischen Nachbarn entgegenzuwirken, ist nicht völlig von der Hand zu weisen.76

Die enge Kooperation und Koordination zwischen den drei baltischen Volksfrontbewegungen wurde nach der Unabhängigkeit auf Staatsebene fortgesetzt. Dennoch wurden sie von drei Themen zunehmend belastet: EU-Mitgliedschaft, Rußlandpolitik und Minderheitenpolitik. Während die EU-Erweiterung zu einer Konkurrenzsituation und einer abnehmenden Kooperationsbereitschaft zwischen den

75 Rossijskaja Gazeta (18.07.1992).76 Stranga, “Baltic-Russian Relations”, 184-237.

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Lettland/ ethnische Russen

drei Nachbarstaaten führte, ließen die Staaten sich von Rußland in den anderen Fragen gegeneinander ausspielen: Mit einer spezifischen Politik für jedes einzelne baltische Land versuchte Rußland, die Differenzen und Konkurrenzkalküle gezielt auszunutzen: Lange Zeit galt Estland wegen seiner Minderheitenpolitik als “Feind Nr. 1” und wurde Litauen als positives Beispiel dargestellt und auch mit politischen Konzessionen belohnt. Ende 1996 wurde eine lettische Parlamentserklärung zu der Annexion 1940 zum Anlaß genommen, Lettland als schwierigsten Nachbarn zu qualifizieren und so einen Zwiespalt zwischen Estland und Lettland zu generieren. Im März 1998 verhängte die russische Regierung nach dem Eklat mit den Rentnerdemonstrationen einen Handelsboykott gegen Lettland.

Bei den Konflikten, die die russische Seite an die Minderheitenfrage koppelte, wurden aber Fortschritte erzielt, ohne daß die lettische Minderheitenpolitik sich grundlegend änderte. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Rußland und Lettland entwickelten sich weitgehend unabhängig von der politischen Spannungslage: Mehr als im Falle Estland ist die Abhängigkeit in diesem Bereich gegenseitig: Lettland ist noch immer für Rohstoffe und Energieträger auf Rußland angewiesen, aber ein bedeutender Teil der russischen Exporte geht traditionell als Transit durch die lettischen Häfen oder via die Öl- und Gasleitungen bis Ventspils und Liepaja.77 Nach dem Truppenabzug im Jahre 1994 wurde 1997 auch die Grenzfrage geklärt, doch Rußland versuchte trotzdem, sich Druckmittel vorzubehalten und reagierte entsprechend zurückhaltend auf das Ergebnis des Referendums zur Staatsbürgerschaft im Oktober 1998.78

Dementsprechend ist die offizielle Unterstützung seitens der russischen Regierung für die Minderheit in Lettland gering. Die eher medienwirksame als substanzielle Unterstützung seitens russischer Nationalisten führt zu heftige Reaktionen in Lettland, auch wenn der Moskauer Bürgermeister Luschkov lediglich russischen Studenten aus Lettland und Estland Moskau-Stipendien anbietet. Während ein Teil der ethnisch russischen Verbände und Organisationen die Hilfe des homelands sucht, ist ein anderer Teil bemüht, jeden Anschein von russischem Nationalismus zu vermeiden und sich als loyale Bürger Lettlands zu verhalten. Auffällig gering sind besonders bei letzteren auch die Kontakte zwischen den Interessenvertretern der Minderheiten in Estland und Lettland.79

Die Bewertung der externen Einflußnahme von EU und NATO durch die Möglichkeit eines Beitritts und die damit verbundenen Konditionen ist im lettischen Falle zweideutig. Ohne Zweifel haben die europäischen Anforderungen einerseits die Entwicklung des Minderheitenrechtes positiv beeinflußt und andererseits zu einer Kompromißbereitschaft in den politischen Beziehungen mit Rußland beigetragen. Paradoxerweise hat ”Europa” aber nicht nur Lettland unter Zugzwang gesetzt, sondern auch Rußland neue Möglichkeiten geöffnet, durch Offenhaltung der zu

77 Götz, Roland: Die Wirtschaft der baltischen Staaten, in: Meissner, Boris (ed.) (1991): Die Baltischen Nationen. Estland, Lettland, Litauen, Köln, 338-355; Stranga, Baltic-Russian Relations, 190-191.

78 RFE/RL Newsline (05.10.1998).79 Interviews mit den Minderheitenvertretern Boris Cilevic (Riga) und Aleksej Semenov

(Tallinn), April 1998.

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Lettland/ ethnische Russen

lösenden bilateralen Fragen immer wieder Unruhe in der lettischen Politik zu stiften und die Erfüllung der Beitrittskriterien in Frage zu stellen. Demgegenüber hat die Aussicht der EU- und NATO-Mitgliedschaft jahrelang viele baltische Politiker in ihrer Überzeugung gestärkt, daß sich ein politisches und wirtschaftliches Arrangement mit dem Nachbarn Rußland erübrige und daß eine totale Fokussierung auf den Westen nicht nur ausreiche, sondern auch Bedingung der Integration wäre. Erst in den letzten Jahren hat sich in diesem Bereich eine pragmatischere Politik durchgesetzt.80

80 Stranga, “Baltic-Russian Relations”, 193-194.

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Zwischenfazit: Institutionenpolitische Leitbilder

4. Zwischenfazit: Institutionenpolitische Leitbilder

Die ausführliche Analyse der drei empirischen Konfliktkonstellationen in der Slowakischen Republik, der BRJ und Lettland hat gezeigt, daß das Spannungsverhältnis zwischen Staat, nationaler Minderheit und homeland bereits auf der Ebene basaler Selbstdefinitionen sehr unterschiedlich gestaltet sein kann. Die Analyse zielte darauf, diese disparaten Konstellationen in ihrer politisch-institutionellen, gesellschaftlichen, akteurbezogenen und regionalen Dimension miteinander zu vergleichen, die für die Entwicklung von Regelungsstrategien und institutionenpolitischen Leitbildern bedeutsam sind. In der folgenden Tabelle werden die drei analysierten empirischen Konfliktkonstellationen zusammenfassend dargestellt.

Tabelle 1: Eine Typologie ethnopolitischer Konflikte

Slowakei/ethnische Ungarn

BR Jugoslawien/ Kosovo-Albaner

Lettland/ethnische Russen

Demokratisierungsniveau mittel gering mittel- nationalstaatliche Konsolidierung

gering gering gering

- Responsivität des politischen Systems

hoch, konkordanzdemokratisc

he Ansätze

gering mittel

- Ausgeprägtheit des ethnischen cleavages

primär in Parteiensystem parallele Institutionen in den meisten

Lebensbereichen

stärker in den gesellschaftlichen

Institutionen als im Parteiensystem

Segregationsgrad niedrig hoch mittel- geographisch mittel mittel mittel- sozial niedrig hoch mittel- perzeptiv mittel extreme Gegensätze hochPolitikstil der Eliten bargaining Konfrontation bargaining- compliance mit internationalen Minderheitenschutzregeln und –praktiken

hoch gering mittel

- Konfliktfokus primär Sprach-, Kultur- und Bildungspolitik

Territorialherrschaft Einbürgerung, Sprachpolitik, zunehmend

sozioökonomischRegionaler Kontext stabilisierend destabilisierend destabilisierend- homeland-Politik gute Nachbarschaft, int.

Regime prioritärschwankend schwankend

- Interdependenz mit benachbarten Konflikten

mittel hoch mittel

- externe Integrations- und Kooperationsanreize

hoch niedrig hoch

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Zwischenfazit: Institutionenpolitische Leitbilder

Diese Tabelle unterstreicht die Einsicht, daß es keine universale Lösung für ethnopolitische Konflikte gibt. Zugleich strukturiert sie die empirische Vielfalt singulärer Konfliktkonstellationen in jeweils untergliederte Dimensionen, in denen die Konflikte unterschiedliche, teils durch ordinale Kategorien beschriebene Ausprägungen annehmen können. 81 Hier wird die These vertreten, daß ethnopolitische Konflikte regelmäßig durch eine Kombination von politisch-institutionellen, gesellschaftlichen, akteurbezogenen und regionalen Faktoren verursacht werden. Wirksame – oder anders ausgedrückt – nachhaltige Regelungsstrategien müssen deshalb die Ursachenfaktoren in allen vier Dimensionen berücksichtigen.

Im folgenden wird erläutert, wie die unterschiedliche Ausprägung der Konflikte in den einzelnen Dimensionen die Entscheidung zwischen zwei institutionenpolitischen Leitbildern empirisch begründen kann, die mit den minderheitenrechtlichen Prinzipien der liberalen Demokratie, Personalautonomie und der Territorialautonomie korrespondieren. Zu den einzelnen Konfliktdimensionen lassen sich Elemente und Prioritäten von Regelungsstrategien formulieren, die zugleich den Spezifika des Konfliktes und dem institutionenpolitischen Leitbild angepaßt sind.

Konfliktregelung als Institutionenbildung

Zunächst soll hier aber dargelegt werden, warum die Regelung ethnopolitischer Konflikte in Osteuropa als Institutionenpolitik verstanden wird. Die Bildung von Institutionen stellt ein Problem der Konsolidierung sozialer Ordnungen dar: Es geht darum, Akteure dazu zu veranlassen, nicht über Regeln, sondern unter Regeln Konflikte auszutragen.82 ”[A consolidated, M.B.] social order is one in which the (contingent, ”non-natural”) rules according to which political and distributional conflicts are carried out are relatively immune from becoming themselves the object of such conflict.”83 Als konsolidierte soziale Ordnungen verfügten die staatssozialistischen Systeme in Osteuropa über institutionelle Arrangements für die in den osteuropäischen Gesellschaften gegebene ethnische Pluralität. Die ethnopolitischen Konflikte in Osteuropa sind Nebenprodukte der Auflösung dieser 81 Eine Reihe von Autoren haben versucht, analytische Dimensionen zur vergleichenden

Beschreibung ethnopolitischer Konflikte zu entwickeln (vgl. de Nevers, Renée (1998): Conflict Prevention in Multi-Ethnic Societies: The Impact of Democracy-Building, in: Bonvicini et al. (ed.) (1998): Preventing Violent Conflict...; Brown, Michael S. (ed.) (1996): The International Dimension of Internal Conflict, Cambridge/London: MIT Press, 199. Michael S. Lund differenziert das Elitenverhalten weitergehend in folgenden Dimensionen: Positionen, Charakter der Konfliktthemen, Ziele, Mobilisiertheit, Zahl der Parteien, Unrechtsperzeption, Vertrauen, Existenz von Kommunikation, Fremdbild, institutionelle/soziale Bindungen, Flexibilität gegenüber der eigenen Unterstützungsbasis und Konfliktstil (Lund, Michael S. (1996): Preventing Violent Conflicts. A Strategy for Preventive Diplomacy, Washington: USIP Press: 55-56). Diese Einzelaspekte gehen hier teilweise in die Dimension ”Politikstil der Eliten” ein, teilweise werden sie auch in den anderen Dimensionen mitberücksichtigt.

82 Offe, Claus 1997: 105 (vgl. Fn. 2).83 Elster, Jon/ Offe, Claus/ Preuß, Urich K. (1997): Institutional Design. Rebuilding the Ship at

Sea, Cambridge: Cambridge University Press: 28.

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Zwischenfazit: Institutionenpolitische Leitbilder

Ordnungen; sie lassen sich allgemein dadurch definieren, daß politische Akteure den nationalstaatlichen Rahmen der Konfliktaustragung und die darin implizierten Zuordnungen selbst zum Konfliktgegenstand machen. Ethnopolitische Konflikte zu regeln, bedeutet deshalb, normativ tolerable Institutionen aufzubauen, die die politischen Akteure als für sie geltende Regeln akzeptieren, d.h. Regeln, die ihrer Präferenzbildung vorgegeben sind, aber nicht selbst zum Gegenstand ihrer Interessenverfolgung werden.

Zur Institutionenbildung in ethnopolitischen Konflikten stehen zwei prinzipielle Optionen zur Verfügung, die jeweils typische Probleme aufwerfen. Entweder man führt rechtstaatlich-demokratische und international akzeptierte Institutionen neu ein. Dann muß man jedoch bestimmen, wie genau ein institutionelles Arrangement gestaltet werden sollte, denn auf internationaler Ebene existieren nur Grundregeln für den Umgang mit ethnischer Pluralität (vgl. III.1) und konsolidierte Demokratien wie die Schweiz, Italien, Belgien oder Finnland haben im Verlauf der Geschichte sehr unterschiedliche Regelungsformen entwickelt. Außerdem muß man plausibel machen, warum sich Akteure an die neuen Regeln binden sollten, wenn sie unter großer Erwartungsunsicherheit stehen und neue Regeln als Einschränkung ihrer Autonomie deuten könnten.

Oder man erhält ”bewährte” alte Institutionen, d.h. Arrangements, über deren handlungsregelnde Funktion über einen längeren Zeitraum hinweg ein breiter gesellschaftlicher Konsens bestand und die insofern konsolidiert waren. Diese Option löst zwar das Gestaltungsproblem, könnte aber zu normativ fragwürdigen Institutionen führen. Überdies dürfte ein ”Konsenskonsens” zwischen den politischen Akteuren insbesondere dann schwierig herzustellen sein, wenn in der Zwischenzeit irreversible Entwicklungen eingetreten sind.

Aufgrund dieser Probleme soll hier ein mittlerer Weg der Institutionenbildung eingeschlagen werden, der darauf zielt, konfliktspezifische und demokratieverträgliche institutionelle Arrangements zu entwickeln, die alte und neue Regelungselemente verbinden. Dies bedeutet, daß das institutionenpolitische Leitbild und die damit verbundene Regelungsstrategie einerseits normativ, andererseits empirisch begründet werden müssen.

Normative und empirische Begründung

Die normative Begründung stützt sich auf die allgemeine minderheitenrechtliche Diskussion, in der sich drei Regelungsprinzipien unterscheiden lassen: die liberale Demokratie, gemäß derer Minderheitenrechte als individuelle Rechte geschützt werden; die Personalautonomie, die Minderheitenangehörigen ermöglicht, über Vertretungskörperschaften mit öffentlich-rechtlichem Status besondere Mitbestimmungsrechte wahrzunehmen und die Territorialautonomie, die über eine allgemeine Verwaltungsdezentralisierung (Regionalisierung/Föderalisierung) hinausgehende, territorial gebundene Selbstbestimmungsrechte für Minderheitsangehörige vorsieht.84 Die Prinzipien der liberalen Demokratie und der 84 Während das individualrechtliche Minderheitenschutzkonzept die Strategie der

internationalen Organisationen bis zum Ende des Ost-West-Konfliktes dominierte, gehen die Regelungsprinzipien der Territorial- und Personalautonomie auf Überlegungen der

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Zwischenfazit: Institutionenpolitische Leitbilder

Personalautonomie lassen sich zum institutionenpolitischen Leitbild der responsiven Demokratie kombinieren.85 Eine responsive Demokratie umfaßt demnach Institutionen, die individuelle Freiheitsrechte und das Diskriminierungsverbot wirksam schützen, politische Macht rechtsstaatlichen Kontrollmechanismen unterstellen, Entscheidungskompetenzen dezentralisieren und Minderheitsangehörigen besondere Mitbestimmungsrechte in den Fragen einräumen, die ihr kulturelles Selbstbestimmungsrecht betreffen. Besondere Mitbestimmungsrechte können im Gesetzgebungs- und Entscheidungsprozeß über Sperrminoritäten für Minderheitenvertreter oder über besondere Vertretungskörperschaften institutionalisiert werden.

Das Regelungsprinzip der Territorialautonomie führt dagegen zum institutionenpolitischen Leitbild der territorialen Machtteilung, die nicht aus dem kulturellen Selbstbestimmungsrecht der Minderheitsangehörigen ableitbar ist, sondern als Delegation von Staatlichkeit auf eine ethnisch-territorial bestimmte Personengruppe begründet werden muß. Entsprechend kann man die territoriale Machtteilung als Ausgestaltung der internen Dimension des Selbstbestimmungsrechtes der Völker interpretieren.86 Die Föderalisierung oder Regionalisierung eines Staates ist diesem Leitbild nur dann zuzurechnen, wenn sie einzelnen Gebietseinheiten und den darin lebenden Bevölkerungsgruppen umfangreichere Rechte gibt als den übrigen Einheiten.87 Soweit die der nationalen Minderheit bzw. ihrer territorialen Selbstverwaltungskörperschaft übertragenen Rechte mit den Rechten der übrigen Selbstverwaltungskörperschaften eines Staates übereinstimmen, erscheinen die genannten Formen der territorialen Selbstverwaltung bzw. Selbstregierung mit dem Leitbild der responsiven Demokratie vereinbar.

Austromarxisten Otto Bauer und Karl Renner zurück (vgl. zur Geschichte: Mommsen, Hans (1993): Die habsburgische Nationalitätenfrage und ihre Lösungsversuche im Licht der Gegenwart, in: Winkler, Heinrich-August/ Kaelble, Hartmut (Hg)(1993): Nationalismus, Nationalitäten, Supranationalität. Europa nach 1945, Stuttgart: Klett-Cotta, 108-122.). Der Völkerrechtler Stefan Oeter hat vorgeschlagen, mit der "funktionalen Autonomie" ein weiteres Regelungsprinzip einzuführen, das die Delegation öffentlicher Aufgaben an private Organisationen der Minderheit beschreibt (Oeter, Stefan (1994): Minderheiten im institutionellen Staatsaufbau, in Frowein, Jochen A./ Hofmann, Rainer/ Oeter, Stefan (Hg) (1994): Das Minderheitenrecht europäischer Staaten, Berlin etc.: Springer, 492-522.). Vgl. a. die juristische Diskussion der Regelungsprinzipien in: Brunner, Georg (1996): Nationalitätenprobleme und Minderheitenkonflikte in Osteuropa, Gütersloh: Bertelsmann 132-148; Lapidoth, Ruth (1996): Autonomy. Flexible Solutions to Etnic Conflicts, Washington: USIP Press, 37-40.

85 Vgl. dazu das Buch von Will Kymlicka, der eine liberalistische Begründung von gruppenbezogenen Rechten entwickelt (1995). Unter den von ihm begründeten poly-ethnic rights, special representation rights und territorial self-government rights erscheint die letzte Kategorie von Rechten jedoch zu allgemein gefaßt. Territoriale Selbstregierungsrechte lassen sich dann nicht mehr aus dem kulturellen Selbstbestimmungsrecht von Minderheitsangehörigen begründen, wenn sie über die Rechte hinausgehen, die anderen territorialen Einheiten eines Staates gewährt werden.

86 Vgl. z.B. Cassese, Antonio (1995): Self-Determination of Peoples: A Legal Reappraisal, Cambridge: Cambridge University Press.

87 Georg Brunner dagegen betrachtet aus einer stärker institutionalistischen Perspektive Föderalismus und Territorialautonomie als Unterfälle des Territorialitätsprinzips (Brunner 1996: 132-140 vgl. Fn. 34).

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Zwischenfazit: Institutionenpolitische Leitbilder

Da andere Regelungsmöglichkeiten wie die Revision von Grenzen, der Austausch von Bevölkerungen, die Assimilation oder Unterdrückung von nationalen Minderheiten mit gravierenden normativen Problemen und Sicherheitsrisiken verbunden sind, eignen sie sich nicht als institutionenpolitische Leitbilder. Normativ zulässig erscheinen nur die responsive Demokratie und die territoriale Machtteilung. Eine normativ-demokratietheoretische Abwägung zwischen beiden Leitbildern dürfte zu dem Ergebnis gelangen, daß die responsive Demokratie Vorrang gegenüber der territorialen Machtteilung hat. Diese normativ begründete Präferenz steht jedoch im Kontrast zu der osteuropäischen Tradition territorialer Autonomieregelungen, die in der ehemaligen Sowjetunion und im ehemaligen Jugoslawien weit verbreitet waren, lange Zeit eine Konfliktregelung leisteten und in den Nachfolgestaaten beider Länder noch immer als wirksames Regelungsinstrument angesehen werden. In Konfliktkonstellationen, die nicht über eine Tradition der territorialen Machtteilung verfügen, kann die Einführung besonderer territorialer Selbstverwaltungsrechte polarisierend und desintegrierend wirken. Umgekehrt kann sich ein ethnopolitischer Konflikt unter den osteuropäischen Bedingungen nicht konsolidierter Demokratien ebenfalls verschärfen, wenn man das tradierte territoriale Autonomiegefüge durch - theoretisch demokratieverträglichere – besondere Mitbestimmungsrechte ersetzt.88

Die empirische Begründung des zu wählenden Leitbildes basiert auf der oben dargestellten Typologie. Konfliktkonstellationen, die in den Dimensionen der Typologie ein niedriges Demokratisierungsniveau, einen hohen Segregationsgrad, konfrontative Eliten und einen stabilitätsbedrohenden regionalen Kontext aufweisen, erfordern eine Institutionenpolitik, die eine territoriale Machtteilung anstrebt. Konfliktkonstellationen, die günstigere, d.h. stärker integrationsförderliche Merkmale tragen, sollten durch Regelungsstrategien bearbeitet werden, die auf eine responsive Demokratie hinauslaufen. Insbesondere sollte dieses Leitbild die Politik gegenüber Eliten bestimmen, die durch einen konfrontativen Politikstil den Segregationsgrad erhöhen und das Demokratisierungsniveau verringern wollen. Daraus folgt, daß nur im Konflikt zwischen der BRJ und den Kosovo-Albanern die territoriale Machtteilung als institutionenpolitisches Leitbild gewählt werden sollte. Im slowakischen und im lettischen Fall begründen die empirischen Charakteristika des Konfliktes eine Orientierung am Leitbild der responsiven Demokratie.

Regelungsstrategien sollten einerseits am institutionenpolitischen Leitbild orientiert, andererseits auf jede der einzelnen Konfliktdimensionen bezogen werden. Sie bestehen aus miteinander abgestimmten Elementen der Demokratieförderung, der Integrationsförderung, der Einflußnahme auf Eliten und der regionalen Stabilisierung. Bevor im Schlußteil detaillierter auf einzelne Regelungsstrategien, ihre Elemente und Prioritäten eingegangen wird, resümiert das folgende Kapitel die wesentlichen bisherigen Regelungsstrategien in Bezug auf die dargestellten ethnopolitischen Konfliktkonstellationen und arbeitet ihre spezifischen Schwachpunkte heraus.

88 Wahlwettbewerb kann zu einem Prozeß des ”ethnic outbidding” unter den politischen Akteuren führen, die einzelne ethnische Gruppen zu vertreten suchen.

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III. Regelungsstrategien in der Evaluation

In diesem Teil werden drei Strategien der internationalen Staatengemeinschaft zur Regelung ethnopolitischer Konflikte vorgestellt und im Hinblick auf ihre Wirksamkeit untersucht. Zunächst soll die Entwicklung internationaler Minderheitenschutzbestimmungen im Rahmen der OSZE, der Vereinten Nationen und des Europarates betrachtet werden. Dann wird die Politik der OSZE, der EU und der Balkan-Kontaktgruppe zur Konfliktprävention in der Slowakei bzw. Lettland und zur Bewältigung der Kosovo-Krise analysiert. Abschließend wird erörtert, welche Funktionen ausländische NGO in ethnopolitischen Konflikten übernehmen. Besonderes Augenmerk gilt hier der Projektarbeit, die die Bertelsmann Wissenschaftsstiftung und das Centrum für Angewandte Politikforschung in der Slowakei und der Bundesrepublik Jugoslawien geleistet haben.

1. Entwicklung internationaler minderheitenrechtlicher Standards

Die internationale Staatengemeinschaft hat unter dem Eindruck ethnopolitischer Konflikte nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes versucht, ein umfassendes Minderheitenschutzregime aufzubauen und damit den bereits zuvor bestehenden menschenrechtlichen Schutz zu ergänzen.89 Dieses Regime besteht aus den minderheitenbezogenen Erklärungen, Abkommen und Kontrollmechanismen der Vereinten Nationen (VN), der OSZE und des Europarates. 1992 verabschiedete die VN-Generalversammlung eine Erklärung, die Minderheitsangehörigen u.a. das Recht auf die Pflege eines eigenen Kulturlebens, auf die Gründung eigener Vereinigungen und ”auf eine wirksame Beteiligung an den auf nationaler und gegebenenfalls regionaler Ebene getroffenen Entscheidungen, welche die Minderheit betreffen,” einräumt. Außerdem fordert sie die Staaten auf, Maßnahmen zu ergreifen, damit Minderheitsangehörige ihre Muttersprache erlernen oder Unterricht in ihrer Muttersprache erhalten sowie ihre eigene Geschichte, Kultur und Traditionen kennenlernen können.90 Als Erklärung ist das Dokument allerdings nicht mit direkten Überprüfungs- und Sanktionsmöglichkeiten ausgestattet und verpflichtet nur die Organe der VN, im Rahmen ihrer Tätigkeit zur Durchsetzung der Rechte und Postulate beizutragen.

Das Dokument des Kopenhagener KSZE-Treffens im Jahre 1990 geht insofern über diese Erklärung hinaus, als es Minderheitsangehörigen ein Recht zur Gründung und Unterhaltung eigener Bildungs- und Kultureinrichtungen erteilt. Außerdem bemühen sich die KSZE-Staaten darum, Minderheitsangehörigen den Gebrauch ihrer Muttersprache im amtlichen Verkehr zu ermöglichen und sie nehmen die Einrichtung 89 Benoît-Rohmer, Florence (1996): The Minority Question in Europe. Towards a

Comprehensive System of Protection for National Minorities, Strasbourg: Strasbourg Council of Europe Publishing.

90 Resolution 47/135 der VN-Generalversammlung vom 18.12.1992, in: Heintze, Hans-Joachim (1995): Autonomie und Völkerrecht. Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker innerhalb bestehender Staaten, Stiftung Entwicklung und Frieden zusammen mit dem Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg.

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Entwicklung internationaler minderheitenrechtlicher Standards

lokaler oder autonomer Verwaltungen, die ”den spezifischen historischen und territorialen Gegebenheiten [nationaler] Minderheiten Rechnung tragen und in Einklang mit der Politik des betreffenden Staates stehen” als eine Möglichkeit des Minderheitenschutzes zur Kenntnis.91 Das Kopenhagener Dokument hat jedoch keine völkerrechtliche, sondern nur politische Bedeutung.

Die parlamentarische Versammlung des Europarates versuchte 1993, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) um einen Katalog der Rechte von Minderheitsangehörigen zu ergänzen. In ihrer Empfehlung 1201 an das Ministerkomitee formuliert sie eine Reihe von subjektiven Rechten, die über die VN-Resolution und das Kopenhagener Dokument der KSZE hinausgehen.92 Demnach haben Angehörige nationaler Minderheiten das Recht auf Unterricht in der Muttersprache, die Gründung von eigenen Organisationen einschließlich politischer Parteien und auf die Benutzung ihres Namens und Vornamens in ihrer eigenen Sprache. In Regionen, in denen ein ”wesentlicher Teil” einer nationalen Minderheit lebt, haben Minderheitsangehörige das Recht, ihre Muttersprache im amtlichen Verkehr zu gebrauchen und Ortsbezeichnungen bzw. andere öffentiche Informationen in ihrer Sprache zu verfassen. Minderheitsangehörige erhalten nach Art. 11 der Empfehlung auch einen Rechtsanspruch auf ”entsprechende kommunale oder autonome Verwaltungseinrichtungen oder einen besonderen Status”, wenn sie in der betreffenden Region die Mehrzahl der Bevölkerung darstellen. Schließlich verbietet die Empfehlung willkürliche Veränderungen der Bevölkerungsstruktur einer Region, in der sich eine nationale Minderheit niedergelassen hat.

Das Ministerkomitee des Europarates kam der Empfehlung 1201 jedoch nicht nach, sondern beschloß im Februar 1995 ein Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, das wesentlich schwächere Minderheitenschutzbestimmungen enthält.93 Die am 1.2.98 in Kraft getretene Vereinbarung sieht nur ein Recht der Minderheitsangehörigen zur Gründung privater Bildungseinrichtungen (ohne finanzielle Verpflichtung der Staaten) vor und verpflichtet die Staaten nur dazu, Minderheitsangehörigen die Pflege ihrer Kultur bzw. die Benutzung ihrer Namen in der Muttersprache zu ermöglichen. Ansonsten bemühen sich die Staaten, Minderheitsangehörigen die Benutzung ihrer Muttersprache im amtlichen Verkehr und den Unterricht in ihrer Muttersprache zu ermöglichen. Während das Verbot von Änderungen der Bevölkerungsstruktur 91 Dokument des Kopenhagener KSZE-Treffens über die menschliche Dimension vom

29.6.1990, in: Europa-Archiv 15/1990 D380-394.92 Die Empfehlung 1201 basiert auf dem Entwurf der Kommission von Venedig (”Demokratie

durch Recht”, dem Europarat angegliedert) vom 9.2.91 zu einer Europäischen Konvention zum Schutz der Minderheiten sowie auf dem Bozener Entwurf zur ”Konvention über die Grundrechte der europäischen Volksgruppen, Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention”, die von der österreichischen Regierung im November 1991 dem Europarat vorgelegt wurde. Der Bozener Entwurf enthielt kollektive Minderheitenrechte. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates unterstützte jedoch keinen der beiden Entwürfe, sondern verabschiedete die Empfehlung 1201 (Klebes, Heinrich (1994): Noch Chancen für ein europäisches Minderheitenrecht? Zum Stand der Arbeiten im Europarat, in: Integration 17, Jg. 3, 176-186. Klebes, Heinrich (1995): Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten, in: Europäische Grundrechtezeitschrift, 262-285.

93 Vgl. Klebes 1998 (Fn.22); 1995; 1994.

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Entwicklung internationaler minderheitenrechtlicher Standards

aufgenommen wurde, enthält das Rahmenübereinkommen kein Recht auf kommunale oder autonome Verwaltungseinrichtungen oder einen besonderen Status.

Im Gegensatz zum Kopenhagener Dokument der KSZE enthält das Rahmenübereinkommen in einigen Punkten einen detaillierteren Minderheitenschutz und stellt einen rechtsverbindlichen internationalen Vertrag dar. Durch seinen ”Rahmen”-Charakter läßt das Übereinkommen den Staaten aber einen weiten Ermessensspielraum. Ein Kontrollmechanismus besteht nur, insofern die Vertragsparteien dem Generalsekretär des Europarats regelmäßig Berichte über die Umsetzung des Übereinkommens vorlegen müssen. Verglichen mit dem Rahmenübereinkommen bindet die Empfehlung 1201 nur die Parlamentarische Versammlung, nicht die Mitgliedstaaten. Als Bestandteil der EMRK hätte die Empfehlung Minderheitsangehörigen eine Individualbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eröffnet.

Die Versuche, detailliertere Bestimmungen zu den kulturellen Rechten von Minderheitsangehörigen zu entwickeln, stagnieren gegenwärtig. Die am 1.3.98 in Kraft getretene Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen enthält keine bindenden Normen, sondern nur programmatische Aussagen zur Erhaltung dieser Sprachen. Sie wurde aber bis Anfang Mai 1998 nur von sieben der 40 Mitgliedstaaten des Europarates ratifiziert. Zunächst hatte das Ministerkomitee des Europarates geplant, nicht nur ein Rahmenübereinkommen zu schließen, sondern auch die EMRK um ein Protokoll über die kulturellen Rechte von Minderheitsangehörigen zu ergänzen. Anfang 1996 entschied es jedoch, dieses Protokoll vorerst nicht zu beschließen.

In den letzten Jahren hat die Institutionalisierung eines internationalen Regimes von Minderheitenschutzrechten zwar Fortschritte gemacht, stieß aber in den intergouvernemental geprägten Institutionen der VN, der OSZE und des Europarates an Grenzen.94 In den vereinbarten Dokumenten sind die Rechte von Minderheitsangehörigen umso schwächer und umso mehr als staatliche Absichtserklärung anstatt als subjektiver Rechtsanspruch gefaßt, je stärker der rechtlich bindende Status des Dokuments ist (vgl. die folgende Tabelle). Die weitergehende Verankerung von Rechten und die Aufnahme von Gruppenrechten werden von mehreren Staaten abgelehnt, die ihren Handlungsspielraum gegenüber ihren eigenen Minderheiten nicht einschränken wollen (z.B. Türkei) oder sich als Staatsnation ohne Minderheiten verstehen und Minderheitenangehörige ausschließlich über individuelle Bürgerrechte schützen (z.B. Frankreich).

Die gewachsene Arbeitsteilung zwischen der EU und der OSZE bzw. dem Europarat, die intergouvernementale Entscheidungslogik des zweiten und dritten EU-Pfeilers sowie die unbewältigten Minderheitenkonflikte in den EU-Mitgliedstaaten selbst haben die Entwicklung eines weitergehenden acquis communautaire der Minderheitenrechte in der EU bisher wirksam blockiert. Dabei haben die EU-Mitgliedstaaten sich der Chance begeben, institutionenpolitische Vorgaben für ihren 94 Versuche, eine Charta der Volksgruppenrechte zum Bestandteil der EU-Verträge zu

machen, sind bisher ebenfalls gescheitert (vgl. Brunner, 1996: 111ff. (Fn.34); Streinz, Rudolf: Minderheiten- und Volksgruppenrechte in der Europäischen Union, in: Blumenwitz, Dieter/ Gornig, Gilbert (Hg.) (1996): Der Schutz von Minderheiten- und Volksgruppenrechten durch die Europäische Union, Köln: Wissenschaft und Politik, 11-30.)

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Entwicklung internationaler minderheitenrechtlicher Standards

eigenen Integrationsprozeß sowie für die integrationsbereiten Staaten Mittel- und Osteuropas zu vereinbaren.

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Tabelle 2: Ausgewählte Minderheitenrechte und –schutzbestimmungen in internationalen Dokumenten

Minderheitendeklaration der UN-Generalvers. von 1992

Kopenhagener OSZE-Dokument von 1990

Rahmenübereinkommen des Europarates von 1995

Empfehlung 1201 der Parl. Vs. des Europarates von 1993

Politische Partizipation M’angehörige haben ein Recht auf wirksame Beteiligung an den Entscheidungen auf lokaler und ggf. regionaler Ebene, die die Minderheit betreffen

Staaten achten Recht der Minderheiten, wirksam an öff. Angelegenheiten teilzunehmen, einschl. der Mitwirkung an Schutz und Förderung der Minderheitenidentität

Staaten schaffen Voraussetzungen für wirksame Teilnahme der Minderheitenangehörigen an öff. Angel., insbesondere denjenigen, die sie betreffen.

Territoriale Selbstverwaltung/ Autonomie

– Staaten nehmen Bemühungen zur Kenntnis, lokale oder autonome Verwaltung als eine der Möglichkeiten zum Schutz der Identität nationaler Minderheiten einzurichten

– M’angehörige haben ein Recht, in Regionen, in denen sie in der Mehrzahl sind, über entsprechende kommunale oder autonome Verwaltungseinrichtungen oder einen besonderen Status zu verfügen, entsprechend der besonderen hist. und terr. Situation und in Übereinstimmung mit den nationalen Gesetzen.

Schulunterricht in Minderheitensprache

Staaten sollen M’angehörigen, soweit möglich, angemessene Möglichkeiten bieten, Unterricht in Muttersprache zu erhalten.

M’angehörige haben ein Recht zur Gründung eigener Bildungseinrichtungen, Staaten bemühen sich um Unterricht in Muttersprache

M’angehörige haben ein Recht zur Gründung privater Bildungseinrichtungen ohne finanzielle Verpflichtung der Staaten, Staaten bemühen sich, Minderheitensprache erlernen oder in ihr unterrichten zu lassen.

M‘angehörige haben ein Recht auf Unterricht in Muttersprache an staatlichen und Gründung privater Bildungseinrichtungen

Minderheitenkultur M’angehörige haben Recht, ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen

M’angehörige haben ein Recht zur Gründung eigener Kultureinrichtungen, Staaten bemühen sich um Unterstützung

Staaten verpflichten sich zur Förderung der kulturellen Identität

M‘angehörige haben ein Recht zur Gründung eigener Organisationen einschließlich Parteien.

Sprachgebrauch im Behördenverkehr

– Staaten bemühen sich um Gewährleistung

Staaten bemühen sich um Gewährleistung

Recht der M’angehörigen in Regionen mit wesentlichem Minderheitenanteil

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Konfliktprävention und -management

In den drei dargestellten empirischen Konfliktkonstellationen läßt sich beobachten, daß die Versuche zur Institutionalisierung von internationalen minderheitenrechtlichen Standards sehr ambivalente Wirkungen hatten. Eine fundamentale Unsicherheit entstand daraus, daß die Staatengemeinschaft nicht in der Lage war, allgemein akzeptierte Definitionen der Begriffe ”Minderheit” und ”Volk” festzulegen. Da manche Rechtsdefinitionen einer Minderheit voraussetzen, daß die Minderheitsangehörigen Staatsbürger sind, mußten Estland und Lettland ihre ethnisch russischen Einwohner nicht als nationale Minderheiten behandeln.95 Wie viele andere Minderheitenvertreter akzeptierten die kosovo-albanischen Politiker nicht den Rechtsstatus der nationalen Minderheit, definierten sich stattdessen als Volk und beanspruchten damit aufgrund der VN-Charta ein Selbstbestimmungsrecht.

Die Empfehlung Nr. 1201 des Europarats mit ihren konkreten und detaillierten Minderheitenrechten erhielt in den Grundlagenverträgen zwischen der Slowakei bzw. Rumänien und Ungarn zwar rechtliche Bindungskraft und die slowakische Regierung erfüllte auch die minderheitenpolitischen Auflagen im Zusammenhang mit ihrem Europaratsbeitritt. Sie betrachtete die mangelnde Präzisierung anderer minderheitenpolitischer Standards daraufhin jedoch als legitimen Ermessenspielraum eines Staates, innerhalb dessen sie Minderheitenrechte z.B. im Bereich der Kulturförderung und Lehrerausbildung abbauen konnte (vgl. II.1).

Zur Regelung des Kosovo-Konfliktes erwiesen sich die internationalen minderheitenrechtlichen Standards als völlig unangemessen. Zum Zeitpunkt der Auflösung Jugoslawiens in den Jahren 1991/92 fehlten der Staatengemeinschaft normativ konsistente Regelungsprinzipien, um auf die Unabhängigkeitserklärungen der Nationen und Nationalitäten der SFRJ zu reagieren. Die von der Internationalen Jugoslawien-Konferenz zur Formulierung solcher Prinzipien eingesetzte Badinter-Kommission entschied einerseits, die Anerkennung als Staat damit zu verknüpfen, daß ein neuer Staat auch die Rechte der auf seinem Gebiet lebenden Angehörigen nationaler Minderheiten schützt. Die westeuropäischen Staaten mißachteten jedoch ihre aus diesem Prinzip (und einer entsprechenden Prüfung der Rechtssituation) abgeleitete Empfehlung, Mazedonien anzuerkennen, Kroatien aber nicht anzuerkennen.

Andererseits wendete die Kommission das Prinzip "uti possidetis" an, das zur völkerrechtlichen Beurteilung von Grenzen im Zuge der Dekolonisierung entwickelt wurde und besagt, daß zwischenstaatliche Grenzen dem Verlauf ehemaliger Verwaltungsgrenzen folgen sollten.96 Auf der Grundlage dieses Prinzips empfahl die 95 Im Gegensatz zur Empfehlung 1201 enthält das Rahmenübereinkommen des Europarates

keine Definition des Begriffes der nationalen Minderheit und macht daher die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates nicht zur Voraussetzung. Während Heinrich Klebes das Fehlen dieser Voraussetzung so interpretiert, daß die ethnischen Russen in Estland und Lettland eine Minderheit im Sinne des Rahmenübereinkommens darstellen (1995:263), nimmt Hans-Joachim Heintze (1998: 45) an, daß das Rahmenübereinkommen nur Minderheitsangehörige schützt, die die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates haben.

96 Pellet, Alain (1992): The Opinions of the Badinter Arbitration Committee. A Second Breath for the Self-Determination of Peoples, in: European Journal of International Law, Vol.3 1, 178-185; Rich, Roland (1993): Recognition of States: The Collapse of Yugoslavia and the Soviet Union, in: European Journal of International Law, Vol.4 1, 36-65; Radan, Reter (1997): The Badinter Arbitration Commission and the Partition of Yugoslavia, in: Nationalities Papers 25.Jg.

Konfliktbearbeitung durch ausländische NGO

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Fazit: Konflikte und Regelungsstrategien

Kommission, die Grenzen der SFRJ-Teilrepubliken als zwischenstaatliche Grenzen anzusehen, obwohl die neugeschaffenen Staaten dadurch beträchtliche nationale Minderheiten mit benachbarten homeland-Staaten erhielten. Außerdem begründete die Badinter-Kommission mit diesem Prinzip ihre Entscheidung, die Republiksgrenzen, nicht aber die innerserbischen Grenzen der Sozialistischen Autonomen Provinzen Vojvodina und Kosovo als neue zwischenstaatliche Grenzen einzustufen – ohne näher zu erläutern, warum es sich bei diesen Grenzen nicht um Verwaltungsgrenzen im Sinne von uti possidetis handelte.

Daraus läßt sich die Schlußfolgerung ziehen, daß das internationale Minderheitenschutzrecht als Instrument zur Bearbeitung von Minderheitenkonflikten nur begrenzt wirksam ist. Dies liegt zum einen an seinem derzeitigen, ungenügenden Niveau der Kodifizierung und Differenzierung. Man kann zugespitzt argumentieren, daß internationaler Minderheitenschutz dem Anspruch nach ethnisch heterogene Staaten stabilisieren müßte, da er zulässige politische Zielsetzungen und Interessen von Minderheitenvertretern definiert und die Formulierung bzw. Verfolgung weitergehender Interessen international sanktioniert.97 Die Unsicherheiten des bisher existierenden internationalen Minderheitenschutzregimes veranlassen Staaten mit nationalen Minderheiten jedoch, Stabilität durch eine uneingeschränkte Ausübung ihrer Souveränität herzustellen.

Zum anderen haben die minderheitenrechtlichen Standards nur eine begrenzte konfliktregelnde Wirkung, da sie nicht auf die Ursachen der Minderheitenkonflikte in Osteuropa zugeschnitten sind, sondern abstrakt-universale Regelungsformen entwerfen. Die politischen Akteure in den gegebenen Konfliktkonstellationen bezogen sich nur dann auf den internationalen minderheitenrechtlichen Rahmen, wenn sie ihre eigene Verhandlungsposition dadurch verbessern konnten. Der Umstand, daß dieser Rahmen nicht als der Interessenverfolgung vorgegebener akzeptiert wurde, weist auf das erläuterte allgemeine Problem der Bildung und Konsolidierung von Institutionen in Osteuropa hin.

In diesem Zusammenhang könnte man grundsätzlich fragen, ob besondere Minderheitenrechte ein geeignetes Instrument darstellen, um Demokratien zu stabilisieren, die allgemeine Defizite beim Aufbau rechtsstaatlicher Mechanismen und in der Konsolidierung demokratischer Verfahren aufweisen.98 In Bezug auf Minderheitenrechte, die dem institutionenpolitischen Leitbild responsiver Demokratie entsprechen, ist dies insgesamt zu bejahen, auch wenn sich argumentieren läßt, daß die Einführung besonderer Mitbestimmungsrechte im

537-557. 97 Vgl. z.B. Bartsch, Sebastian (1995): Minderheitenschutz in der internationalen Politik.

Völkerbund und KSZE/ OSZE in neuer Perspektive, Opladen: Westdeutscher Verlag.98 ”Do We Need Minority Rights?” lautet z.B. der provokante Titel eines Bandes (Juha Räikkä

(ed.) (1996): Do We Need Minority Rights? Conceptual Issues, The Hague etc.: Martinus Nijhoff Publishers). Vgl. a. Kymlicka, Will (1995): Multicultural Citizenship, Oxford: Oxford University Press. Beide Bände diskutieren das Problem allerdings mehr aus der Perspektive liberaler politischer Philosophie als im Hinblick auf die empirischen Bedingungen nicht-konsolidierter Demokratien.

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Fazit: Konflikte und Regelungsstrategien

Konsolidierungsprozeß der Verbesserung rechtsstaatlicher Schutzbestimmungen untergeordnet werden sollte.

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Konfliktprävention und -management

2. Konfliktprävention und -management

Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist in Europa ein sicherheitspolitisches Regime entstanden, das die aus dem Zerfall des Warschauer Paktes und der Sowjetunion resultierenden ethnopolitischen Konflikte zwar begrenzen und Gewalteskalationen in einigen Fällen vermeiden, aber die Kriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien und im Kaukasus nicht verhinderte konnte. Innerhalb dieses Konfliktpräventionsregimes sind die Instrumente und Prinzipien der OSZE, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union und die Politik der Balkan-Kontaktgruppe besonders relevant.

Aktivitäten der OSZE

Grundlage des OSZE-Engagements in ethnopolitischen Konflikten ist die Übereinstimmung der OSZE-Staaten, daß Fragen nationaler Minderheiten keine ausschließlich innere Angelegenheit eines Staates, sondern ein berechtigtes internationales Anliegen darstellen. Um zwischen den Parteien eines ethnopolitischen Konfliktes zu vermitteln und die OSZE vor einer Konflikteskalation zu warnen, wurde 1992 das Amt eines Hohen Kommissars für nationale Minderheiten geschaffen.99 Der Hohe Kommissar agiert als dritte Partei, die von den Konfliktparteien zur Streitschlichtung hinzugezogen werden kann und ihren Interessen bzw. Zielsetzungen gegenüber neutral ist. Sein Mandat weist ihm eine über die klassische Vermittlung hinausgehende Rolle insofern zu, als er detaillierte Kenntnisse der Konfliktkonstellation und -hintergründe erwerben und aus eigenem Ermessen tätig werden, d.h. ohne Aufforderung der Regierung ein Land besuchen und sich über die Problemlage informieren kann. Die konfliktpräventorische Funktion des Kommissars kommt auch darin zum Ausdruck, daß er nicht als Ombudsmann auftreten und Klagen von Minderheitsangehörigen wegen der Verletzung von OSZE-Verpflichtungen untersuchen darf. Außerdem befaßt er sich nur mit ethnopolitischen Konfliktkonstellationen, die über die Involvierung eines homeland-Staates die zwischenstaatliche Sicherheit betreffen.100

Der amtierende Hohe Kommissar Max van der Stoel machte bisher keinen Gebrauch von der ebenfalls in seinem Mandat vorgesehenen Möglichkeit, der OSZE eine Frühwarnung zu übermitteln oder um eine frühe Aktion zu bitten. Er beschränkte

99 Chigas, Diana/ Mc Clintock, Elizabeth/ Kamp, Christophe (1996): Preventive Diplomacy and the Organization for Securtiy and Cooperation in Europe: Creating Incentives for Dialogue and Copperation, in: Chayes, Abram/Handler-Chayes, Antonia (ed)(1996):Preventing Conflict in the Postcommunist World. Mobilizing International and Regional Organizations, Washington: Brookings; Huber, Konrad/ Zaagman, Rob (1994): Peace, Human Rights and Minorities: Multilateral Responses and the CSCE High Commissioner on National Minorities, in: International Journal on Group Rights Vol. 2 1994 No. 1 55-68; Reschke, Brigitte (1997): Ethnische Konflikte und Hoher Komissar der OSZE für nationale Minderheiten, in: Heintze, Hans-Joachim (Hg.) (1997).

100 Huber/Zaagman 1994; Haselhuber, Jakob (1998): Institutionalisierung ohne Verrechtlichung: Der Hohe Kommissar für Nationale Minderheiten der OSZE, in: Heintze 1998, 116-137.

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sich darauf, nach seinen Besuchen in Briefen an die Regierungen Empfehlungen zur Minderheitenpolitik auszusprechen. Neben dem Amt des Hohen Kommissars hat die OSZE seit 1992 zehn Langzeitmissionen in einzelnen osteuropäischen Ländern geschaffen, die Aufgaben der Krisenprävention und des Konfliktmanagements durchführen.101 Im Unterschied zum Hohen Kommissar sind die Missionen darauf angewiesen, daß die Regierungen in den Aufenthaltsländern ihre Arbeit unterstützen. Die Missionen sind länger im jeweiligen Land präsent und beschäftigen sich auch mit sozioökonomischen und politischen Dimensionen eines ethnopolitischen Konfliktes.

In Lettland war die OSZE mit ihren Instrumenten und Mechanismen erfolgreicher als in der Slowakischen Republik und der BRJ. Die Besuche des Hohen Kommissars trugen dazu bei, daß die lettische Regierung Anstrengungen unternahm, um den ethnischen Russen die gleichen Rechte einzuräumen wie den lettischen Staatsbürgern.102 Die zweigleisige Politik der OSZE in Lettland, die einerseits konkrete Integrationsmaßnahmen wie Sprachkurse unterstützte, andererseits die lettische Regierung beriet und mit Hilfe einer internationalen Öffentlichkeit unter Druck setzte, die gesetzlichen Regelungen den internationalen Richtlinien anzupassen, wurde allerdings von Menschenrechtsorganisationen wie Helsinki Watch als zu entgegenkommend kritisiert. Van der Stoels Diplomatie entschärfte zwar insgesamt die Minderheitenregelungen und unterstützte die Integration, sanktionierte aber auch die Grundidee der ethnischen Demokratie.103 In der Slowakischen Republik machte der Hohe Kommissar dem slowakischen Außenminister eine Reihe von Vorschlägen, um kontroverse Fragen der minderheitenbezogenen Bildungs- und Kulturpolitik zu regeln.104 Die Meciar-Regierung berücksichtigte diese Vorschläge jedoch nicht.

Im Kosovo-Konflikt waren die Einsatzmöglichkeiten des Hohen Kommissars und der OSZE aus mehreren Gründen eingeschränkt. Erstens hatte die damalige KSZE aufgrund der Gewalteskalation in Bosnien-Herzegowina die SFRJ am 8.7.92 von der Teilnahme an der KSZE suspendiert.105 Die BRJ-Regierung beendete daraufhin 101 OSZE-Langzeitmissionen existieren in Estland, Lettland, Ehemalige Jugoslawische Republik

Mazedonien, Ukraine, Georgien, Moldova, Tadschikistan, Tschetschenien, Bosnien-Herzegowina und (bis 1993) in der BRJ. Der Hohe Kommissar beschäftigt sich mit den folgenden Problemen: Albanien /ethnische Griechen, Estland/ ethnische Russen, Lettland/ ethnische Russen, Mazedonien/ ethnische Albaner, Ungarn/ ethnische Slowaken, interethnische Beziehungen in Kasachstan, Kyrgistan und in Moldova, Rumänien/ ethnische Ungarn, Slowakische Republik/ ethnische Ungarn, Ukraine (Krim) (Reschke 1997: 209).

102 Birckenbach, Hanne M. (1997): Gewaltprävention durch internationale Organisationen – der Konflikt um die ethnische und lettische Staatsbürgerschaft, in: Matthies, Volker (Hg.) (1997): Der gelungene Frieden. Beispiele und Bedingungen erfolgreicher friedlicher Konfliktbearbeitung, Bonn: Dietz Verlag, 252-277.

103 Smith, Aasland, Mole, “Statehood”, S. 200-205.104 Die Anregungen und Einschätzungen des Hohen Kommissars lassen sich aus den Briefwechseln

zwischen ihm und dem Slowakischen Außenminister vom 20.6. und 28.10.94 sowie vom 24.8. und 20.10.95 nachvollziehen. Leider wurden die Briefe nach seinen folgenden Besuchen nicht mehr veröffentlicht.

105 Zunächst akzeptierte die BRJ-Regierung, die die BRJ als (alleinige) Rechtsnachfolgerin der SFRJ verstand und entsprechend für die SFRJ an der KSZE teilnehmen wollte, trotz der Suspendierung die Entsendung von KSZE-Langzeit-Missionen in die Vojvodina, den Sandzak und das Kosovo.

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ihrerseits die Zusammenarbeit mit der KSZE/OSZE und stellte die Genehmigung von OSZE-Langzeitmissionen unter die Bedingung, daß die BRJ wieder an der OSZE beteiligt werde.106 Zweitens konnte der Hohe Kommissar nicht nur wegen der unterbrochenen OSZE-BRJ-Beziehungen nicht zwischen kosovo-albanischer und serbischer Seite vermitteln, sondern auch, weil sein auf ”nationale Minderheiten” bezogenes Mandat aus kosovo-albanischer Sicht eine Parteinahme zugunsten der serbischen Rechtsauffassung darstellte. Auch nachdem die dänische OSZE-Präsidentschaft am 6.2.97 van der Stoel zum Persönlichen Kosovo-Repräsentanten des amtierenden OSZE-Vorsitzenden ernannt hatte, wurde er von einem Teil der kosovo-albanischen Vertreter nicht akzeptiert und erhielt von der BRJ-Regierung nur ein privates Visum zur Einreise. Drittens agierte die OSZE selbst inkonsistent, als die polnische Präsidentschaft im März 1998 den spanischen Ministerpräsidenten Felipe González zum Persönlichen BRJ-Repräsentanten des amtierenden Vorsitzenden ernannte, sein Mandat auf das Kosovo ausdehnte und damit van der Stoel gewissermaßen die Legitimität entzog.107 Viertens führte das intensive Engagement der US-Vermittler Richard Holbrooke und Christopher Hill dazu, daß die OSZE bei den internationalen Bemühungen zur Anbahnung von Verhandlungen in den Hintergrund geriet.

Dennoch hat die OSZE seit Oktober 1998 eine wichtige Unterstützungsfunktion im Konfliktmanagement übernommen. Auf Basis des am 13.10.98 zwischen Holbrooke und Miloševic vereinbarten Abkommen überprüfte die OSZE durch die Entsendung von 2000 unbewaffneten Beobachtern, ob die BRJ-Regierung die Gewaltmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung einstellte, die seit März 1998 zusätzlich im Kosovo eingesetzten Sicherheitskräfte zurückzog und ob der Waffenstillstand von beiden Konfliktparteien eingehalten wurde. Mit dieser Rollenzuweisung erweiterte sich das konkrete Funktionsspektrum der OSZE,108 ohne daß die Organisation auch eine mandatierende und interventionslegitimierende Funktion im Sinne eines kollektiven Sicherheitsregimes ausbilden konnte.

Grundlage war eine Vereinbarung mit der KSZE, wonach die BRJ wieder als Teilnehmerstaat zugelassen werden sollte, falls die Missionen ungehindert arbeiten und keine Menschenrechtsverletzungen melden sollten. Nachdem die KSZE wegen der andauernden ”ethnischen Säuberungen” in Bosnien-Herzegowina die BRJ nicht wieder zulassen wollte, obwohl die Missionen keine gravierenden Menschenrechtsverletzungen beobachteten, beendete die BRJ-Regierung die Tätigkeit der Langzeit-Missionen am 28.7.93. Vgl. Troebst, Stefan (1998): Conflict in Kosovo: Failure of Prevention? An Analytical Documentation, 1992-1998. Flensburg: European Centre for Minority Issues, Working Paper No.1, 26-29.

106 Angesichts der Nato-Vorbereitungen zu Luftangriffen gab die BRJ-Regierung am 5.10.98 in dieser Frage nach (Frankfurter Allgemeine Zeitung 6.10.98).

107 Troebst 1998: 32. González hatte zuvor als Sondergesandter der OSZE die serbischen Kommunalwahlen untersucht und dazu beigetragen, daß Milosevic am 4.2.97 die Wahlergebnisse anerkannte.

108 Die Kosovo-Verifizierungsmission knüpft insofern an eine Entwicklung an: Mit dem Dayton-Abkommen wurde die OSZE erstmals mit der Organisation von Parlamentswahlen beauftragt, und in Albanien übernahm 1997 ebenfalls die Wahlorganisation.

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Politik der Europäischen Union

Die EU hat die Konfliktprävention vor allem dadurch unterstützt, daß sie ihre Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten an der Einhaltung von Menschen- und Minderheitenrechten sowie demokratischen Prinzipien orientierte, regionale Integrationsbestrebungen und Nachbarschaftsbeziehungen förderte und gegen die SFRJ-Nachfolgestaaten ein Sanktionsregime aufbaute.109 Die EU-Außenminister beschlossen 1991 einen Gemeinsamen Standpunkt, in dem sie die Rechtsgarantien für ethnische und nationale Gruppen entsprechend den KSZE-Verpflichtungen zur Voraussetzung der Anerkennung neuer Staaten in Osteuropa machten.110 Der Europäische Rat nannte auf seinem Kopenhagener Treffen 1993 die Beachtung der Minderheitenrechte als Kriterium für die Aufnahme der assoziierten mittel- und osteuropäischen Staaten in die EU. Auf dieser Grundlage überprüfte die Kommission in der Agenda 2000, inwieweit die Beitrittskandidaten die Minderheitenrechte beachteten. Sie kritisierte im Fall der Slowakischen Republik, daß das Parlament noch kein Minderheitensprachgesetz beschlossen hatte und im Fall Lettlands, daß die Regierung eine zu restriktive Einbürgerungspolitik verfolge.111

Mit dem Stabilitätspakt versuchte die EU, über wirtschaftliche Kooperation und vertragliche Beziehungen hinaus, die sicherheitspolitische Dimension ihres Verhältnisses zu den osteuropäischen Staaten zu strukturieren.112 In dieser 1995 unterzeichneten Erklärung verpflichteten sich die EU-Mitgliedstaaten zusammen mit einer Reihe osteuropäischer Länder dazu, die Stabilität in Europa zu sichern. Sie bekräftigten darin die Einhaltung der OSZE- und Europaratsdokumente über den Schutz nationaler Minderheiten und sprachen sich für die Förderung der gutnachbarlichen und Wirtschaftsbeziehungen aus.113 Zuvor hatte die EU mit den ostmitteleuropäischen Ländern einerseits, den baltischen Ländern und Rußland andererseits regionale ”Runde Tische” veranstaltet, an denen über Minderheitenprobleme und Fragen der grenzüberschreitenden Kooperation diskutiert wurde. Der Pakt selbst bestand aus einer Liste von etwa 80 bilateralen, rechtlich bindenden Abkommen, die die Teilnehmerstaaten allerdings bereits in den Vorjahren 109 Vgl. allgemein: Algieri, Franco et al. (ed.) (1996): Managing Security in Europe. The European

Union and the Challenge of Enlargement, Gütersloh: Bertelsmann; Bricke, Dieter W. (1995):Minderheiten im östlichen Mitteleuropa. Deutsche und europäische Optionen, Baden-Baden: Nomos; Rummel; Reinhardt (1996): The European Union’s Politico-Diplomatic Contribution to the Prevention of Ethno-National Conflict, in: Chayes/ Handler Chayes, 1996, 197-236.

110 Richtlinien für die Anerkennung neuer Staaten in Osteuropa und in der Sowjetunion, in: Europa-Archiv 2/1992, D 120.

111 Europäische Kommission: Stellungnahme zum Antrag der Slowakei auf Beitritt zur Europäischen Union, in: Bulletin der Europäischen Union, Beilage 9/97, S.20; Europäische Kommission: Stellungnahme zum Antrag Lettlands auf Beitritt zur Europäischen Union, in: Bulletin der Europäischen Union, Beilage 10/97, S.19-20.

112 Ehrhart, Hans-Georg (1996): EU, OSZE und der Stabilitätspakt für Europa – Präventive Diplomatie als gemeinsame Aufgabe, in: Integration 19.Jg 1/ 1996 37-48; Heintze 1998.

113 Zunächst hatte der Initiator des Paktes, der französische Ministerpräsident Balladur, vorgesehen, entsprechend der KSZE-Schlußakte von Helsinki friedliche Grenzrevisionen zu ermöglichen. Der Rat der EU-Außenminister verzichtete jedoch auf die Grenzrevisionspassagen (vgl. Ehrhart 1996).

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abgeschlossen hatten, und einer weiteren Liste von Projektvorschlägen, flankierenden PHARE- und sonstigen EU-Förderungsmaßnahmen. Das einzige neue Abkommen war der Grundlagenvertrag zwischen der Slowakei und Ungarn, der während der Abschlußkonferenz zum Stabilitätspakt unterzeichnet wurde.

Obwohl der Stabilitätspakt selbst nur wenige greifbare Verbesserungen bewirkte, konnte die EU insgesamt durch die Konditionalisierung der Beitrittsperspektive zur Stabilisierung Mittel- und Osteuropas beitragen. Es gelang, den mittel- und osteuropäischen Staaten zu vermitteln, daß Spannungen in ihren Nachbarschaftsbeziehungen ein wesentliches Hindernis auf dem Weg zu ihrer NATO- und EU-Mitgliedschaft darstellen würden.114 Um seine EU- und Nato-Beitrittsperspektiven zu verbessern, vereinbarte Ungarn nicht nur mit der Slowakei, sondern auch mit Rumänien Grundlagenverträge. In Lettland akzeptierten die Bürger aus diesem Grund am 3.10.98 eine erleichterte Einbürgerungsregelung für ethnische Russen, und Estland einigte sich mit Rußland auf den genauen Verlauf der beiderseitigen Grenze.115 Diese Erfolgsbilanz ist jedoch insofern getrübt, als die Grundlagenverträge nur einen bilateralen vertraglichen Rahmen für Dialogprozesse schufen, die sachlichen Differenzen zwischen Minderheitenvertretern und Regierungen aber nicht verringerten. Zu substanziellen Fortschritten in der rumänischen und slowakischen Minderheitenpolitik kam es erst, als in beiden Ländern 1996 bzw. 1998 die Regierungen wechselten und die Minderheitenparteien in die neuen Regierungskoalitionen eintraten.

Aufgrund des andauernden Krieges in Bosnien-Herzegowina bezog die EU die nicht-assoziierten Länder Südosteuropas nicht in den Stabilitätspakt ein. Erst nach der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens versuchte die EU, mit dem ”regionalen Ansatz” und dem ”Royaumont-Prozeß” ein strategisches Konzept für die Konfliktprävention in dieser Region zu entwickeln. Kerngedanke des im Februar 1996 beschlossenen regionalen Ansatzes ist, daß die EU die Entwicklung von Zusammenarbeit und vertraglichen Beziehungen mit der BRJ sowie Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Mazedonien davon abhängig macht, daß diese Länder gutnachbarschaftliche Beziehungen untereinander aufbauen sowie die Menschen- und Minderheitenrechte, demokratische und marktwirtschaftliche Prinzipien beachten.116 Im November 1997 begann die EU mit der Ernennung eines Koordinators den - bereits zwei Jahre zuvor angekündigten - ”Royaumont-Prozeß für Stabilität und gute Nachbarschaft in Südosteuropa”. Im Unterschied zum Stabilitätspakt werden in den Gesprächskreisen des Royaumont-Prozesses Minderheitenprobleme nicht behandelt, vielmehr steht die Zusammenarbeit zwischen NGO und Parlamenten im Vordergrund.117

114 Vgl. aber Florence Benoît-Rohmer 1996: 35.115 Estland verzichtete dabei auf eine Erwähnung des estnisch-russischen Friedensvertrages von

Tartu (1920), aus dem die Regierung die Einstufung der ethnisch russischen Einwohner als Nicht-Staatsbürger ableitete.

116 Kretschmer, Hans-Jörg (1997): Das Verhältnis der Länder Südosteuropas zur Europäischen Union, in: Südosteuropa-Mitteilungen 37. Jg. H.2, 79-83.

117 Die amerikanische South-East European Cooperative Initiative verzichtete auch darauf, in ihren Einzelprojekten Minderheitenprobleme zu thematisieren.

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Obwohl die EU-Mitgliedstaaten mit diesen Beschlüssen und Standpunkten der Prävention ethnopolitischer Konflikte einen herausragenden Stellenwert innerhalb ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) einräumte, gelang es dem Ministerrat nicht, die Politik gegenüber den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien konsequent konditional zu gestalten. So hatte die Badinter-Kommission unter Hinweis auf den unzureichenden Schutz der ethnisch serbischen Minderheit im Jahre 1991 gegen die Anerkennung Kroatiens plädiert (vgl. II.1); dennoch beschloß die damalige EG, das Land anzuerkennen.118 Auch gegenüber der Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) zeigte die EU mangelnde Konsistenz in ihrer Außenpolitik. Im Dezember 1995 stellte der Rat der EU-Außenminister die Anerkennung der BRJ noch unter die Voraussetzung, daß die BRJ die Rechte ihrer nationalen Minderheiten garantieren müsse und forderte eine weitergehende Autonomie für die Provinz Kosovo. Dies entsprach auch der zwischen der EU und den USA beim Abschluß des Dayton-Abkommens abgesprochenen Strategie, die "äußere Mauer von Sanktionen" gegen die BRJ solange aufrechtzuerhalten, bis die BRJ Schritte zur Normalisierung der Situation im Kosovo einleite. Im April 1996 nahmen die EU-Mitgliedstaaten aber sukzessive diplomatische Beziehungen mit der BRJ auf, ohne daß die BRJ Veränderungen im Kosovo eingeleitet hatte.119

In der Kosovo-Krise hatten die Sanktionsmaßnahmen der EU keinen sichtbaren Einfluß auf die Politik der Konfliktparteien. Als Reaktion auf den ersten massiven serbischen Gewalteinsatz im Kosovo verhängte der EU-Außenministerrat am 20.3.98 in einem Gemeinsamen Standpunkt ein Waffenembargo, stoppte die Gewährung von Exportkrediten und schloß BRJ-Vertreter, die für die repressiven Aktionen im Kosovo Verantwortung trugen, von der Visa-Erteilung aus. Trotzdem weigerte sich die Miloševic-Regierung, den Kampf gegen die UCK einzustellen und der kosovo-albanischen Seite ein ernsthaftes Verhandlungsangebot zu machen. Deshalb kündigten die westlichen Teilnehmer der Balkan-Kontaktgruppe am 29.4.98 an, mit unmittelbarer Wirkung die Auslandsguthaben der BRJ- und der serbischen Regierung zu sperren und ein Verbot für ausländische Investitionen in der BRJ/Serbien zu verhängen, wenn die Miloševic-Regierung ihre Forderungen nicht erfülle. Der EU-Außenministerrat schloß sich dieser Position am 8.5.98 an. Als Miloševic sich am 15.5. mit Rugova und einigen Mitgliedern der kosovo-albanischen Verhandlungsdelegation traf, suspendierten die Kontaktgruppe und die EU das Investitionsverbot zunächst. Da beide Konfliktparteien unbeeindruckt von den Verhandlungssignalen weiterkämpften, verbot der Ministerrat am 8.6.98 neue Investitionen von EU-Unternehmen in Serbien und der BRJ. Zu diesem Zeitpunkt

118 Vgl. aus der Fülle von Studien zur Problematik: Giersch, Carsten (1998): Konfliktregulierung in Jugoslawien 1991-1995. Die Rolle von OSZE, EU, UNO und Nato, Baden-Baden: Nomos; Calic, Marie-Janine (1995): Der Krieg in Bosnien-Herzegowina. Ursachen, Konfliktstrukturen, internationale Lösungsversuche, Frankfurt: Suhrkamp; Woodward, Susan (1995): Balkan Tragedy. Chaos and Dissolution after the Cold War, Washington D.C.: Brookings.

119 Die EU-Staaten begründeten den Schritt zur Anerkennung damit, daß die BRJ und Mazedonien sich gegenseitig anerkannt hätten. Die USA dagegen halten bisher an dem Junktim von Anerkennung und Fortschritten in der Minderheitenpolitik/Kosovoproblematik fest und bezeichnen die BRJ weiterhin offiziell als ”Serbia and Montenegro”. Vgl.a. Reuter, Jens (1998): Die internationale Gemeinschaft und der Kosovo-Krieg, in: Südosteuropa 47. Jg. H.7-8 281-297, 283.

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hatte die EU die einen Monat vorher beschlossene Einfrierung der Auslandsguthaben noch nicht in Form einer Verordnung umgesetzt.120

Am 29.6.98 versuchten die EU-Außenminister, die Sanktionen weiter zu verschärfen, indem sie ein Start- und Landeverbot für jugoslawische Fluggesellschaften in der EU beschlossen. Damit demonstrierte die EU jedoch erneut die Grenzen ihrer außenpolitischen Handlungsfähigkeit, denn Großbritannien, Spanien und Griechenland, die dem Verbot im Ministerrat zugestimmt hatten, weigerten sich im September 1998, die entsprechende Verordnung umzusetzen.121 Während die Nato bereits eine glaubwürdige Interventionsdrohung aufbaute, entschieden sich die Außenminister noch zu einer wohl eher symbolischen Sanktionsverschärfung, indem sie am 5.10.98 das Einreiseverbot auf alle serbischen und BRJ-Regierungsmitglieder ausdehnten und die gesamten Auslandsguthaben der staatlichen Banken Serbiens und der BRJ einfroren.

In dieser Verlaufsgeschichte der EU-Sanktionspolitik wurde einerseits (erneut) sichtbar, daß Sanktionen auf ein international weitgehend isoliertes, semi-autoritäres Regime wie die BRJ keine hinreichende Hebelwirkung in dem Sinne ausübten, daß sie die Präferenzbewertungen der Miloševic-Regierung veränderten. Stärkere Sanktionen und insbesondere ein Handelsembargo wurden offenbar deshalb nicht verhängt, weil das Handelsembargo während des Krieges in Bosnien-Herzegowina die serbische Bevölkerung und die Nachbarstaaten geschädigt, der Miloševic-Regierung aber zusätzliche Einnahmen aus dem Schmuggel beschert hatte. Daher versuchte die EU in der Kosovo-Krise, die Sanktionen besser zu fokussieren, indem sie der jugoslawischen Teilrepublik Montenegro demonstrativ Wirtschaftshilfe gewährte und die BRJ-Organisationen und Bürger während des Jahres 1998 in vollem Umfang an den Aktivitäten des Royaumont-Prozesses beteiligte.122

Andererseits spiegelt die zurückhaltende, unstimmige und verzögert erfolgende Sanktionspolitik wider, daß die EU-Mitgliedstaaten ihre Ressourcen nicht dazu nutzten, eine eigenständige Rolle im Management des Kosovo-Konfliktes auszuprägen. Die (rhetorische) Frage des EU-Kommissars Hans van den Broek, ”Is it compatible with vital EU interests that we accept that vital EU interests are seriously affected by lack of consensus in the Contact Group?”, bezeichnete genau diese Leerstelle in den Rollenauffassungen der EU-Mitgliedstaaten.123

Politik der Balkan-Kontaktgruppe

Die Balkan-Kontaktgruppe erwies sich in der Kosovo-Krise als Instrument, das den westlichen Staaten und Rußland durchaus eine wirksame Koordinierung ihrer Politik gegenüber den Konfliktparteien ermöglichte, eine Gewalteskalation indes nicht

120 Agence Europe Nr. 7237 vom 8./9.6.98.121 Die britische Regierung argumentierte, daß sie vor ihrem EG-Beitritt ein bilaterales

Luftverkehrsabkommen mit der SFRJ abgeschlossen habe, das dem EG- und EU-Recht vorgehe. 122 Agence Europe Nr. 7308 vom 25.9.98.123 Zitat aus einem Brief van den Broeks, der die EU-Außenminister bei einem Treffen in Salzburg

am 5.9.98 aufforderte, Milosevic ein Ultimatum zur Aufnahme von Verhandlungen zu stellen (Financial Times 15.9.98).

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verhindern konnte.124 Zu den Erfolgen der Kontaktgruppe gehört, daß sie erstens einen internationalen Konsens darüber herstellte, weder die Beibehaltung des Status Quo noch die Unabhängigkeit als Konfliktlösung zu akzeptieren. Zweitens löste sie sich in ihrer Bewertung des Konfliktes von den internationalen minderheitenrechtlichen Standards und gestand der kosovo-albanischen Bevölkerung einen erweiterten Status des Kosovo innerhalb der BRJ zu, der eine als ”meaningful” einzustufende Selbstverwaltung beinhalte.125 Über diese Zielvorgabe hinaus einigten sich die Kontaktgruppenstaaten am 8.7.98 auf Grundprinzipien einer Friedenslösung für das Kosovo, die den Konfliktparteien in einem vertraulichen Papier übermittelt wurden. Dieser weitgehende Konsens bedeutete eine wichtige Unterstützung für die amerikanischen Vermittler, die den Konfliktparteien im August und September 1998 kodifizierte Fassungen eines Interimsabkommens als Verhandlungsbasis vorlegten.

Drittens gelang es über die Kontaktgruppe, nicht nur einen Konsens unter den westlichen Staaten herzustellen, sondern auch Rußland in eine gemeinsame Politik zu integrieren. Die russische Regierung unterstützte zwar nicht alle Sanktionsmaßnahmen der Kontaktgruppe und kritisierte insbesondere die Nato-Vorbereitungen zu Luftangriffen gegen die BRJ. Aber sie trug die Stellungnahmen der Kontaktgruppe mit, setzte ihre Mitarbeit fort und warnte Miloševic sogar davor, daß die Nato Gewalt anwenden könne.126 Außerdem beteiligte sich die russische Regierung an der Vermittlung und erreichte, daß Miloševic am 16.6.98 eine internationale Beobachtermission für das Kosovo akzeptierte, die ein Zugeständnis zur Internationalisierung des Konfliktes bedeutete und Vorbildcharakter für die im Oktober vereinbarte OSZE-Verifizierungsmission erhielt.

Diese Erfolge werden jedoch davon überschattet, daß die Kontaktgruppe die Gewalteskalation und die von ihr ausgelöste humanitäre Katastrophe im Kosovo nicht verhindern konnte. Sie versäumte es, das vom Abschluß des Dayton-Abkommens im November 1995 bis zu den serbischen Parlamentswahlen im September 1997 bestehende ”window of opportunity” zu nutzen. In diesem Zeitraum deuteten viele Anzeichen darauf hin, daß die Konfliktkonstellation in ein ”mutually hurting stalemate” geraten war, das einen lösungsreifen Konflikt charakterisiert.127

Die Miloševic-Regierung hatte sich dazu entschlossen, den Friedensvertrag von Dayton mitzutragen und Jugoslawiens internationale Isolation zu beenden, wußte aber, daß die Aufhebung der äußeren Mauer von Sanktionen an eine Lösung des Kosovo-Konfliktes gebunden war. Nachdem die USA die Kosovo-Frage nicht in die Dayton-Verhandlungen einbezogen hatten, war einem großen Teil der kosovo-albanischen Politiker endgültig klar geworden, daß die internationale Gemeinschaft ihre Staatsgründung nicht akzeptieren würde. Dies bedeutete, daß Rugovas Strategie, zivilen Ungehorsam mit der Internationalisierung des Problems zu verbinden, 124 Bei der Balkan-Kontaktgruppe handelt es sich um eine informelle Gruppe, die aus den USA,

Rußland, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und (seit 1997) Italien besteht und von diesen Staaten zunächst zur Abstimmung ihrer Bosnien-Politik gegründet, nach dem Dayton-Abkommen aber als Instrument des Krisenmanagements auf dem Balkan beibehalten wurde.

125 Stellungnahme der Kontaktgruppe vom 9.3.98, mimeo.126 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.10.98.127 Zartman, William (1985): Ripe for Resolution. Conflict and Intervention in Africa, New York/

Oxford: Oxford University Press, 9.

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gescheitert war, zugleich aber die dadurch entstandene Lebenssituation im Kosovo unerträglich wurde.

Beide Konfliktparteien konnten den Konflikt nicht durch unilaterale Maßnahmen beenden, bzw. nur durch solche Schritte, die ihre eigene Position verschlechtern würden. Um eine Verständigung zu erreichen, mußten beide Seiten jeweils ein strategisches Problem lösen: Die kosovo-albanischen Politiker mußten ihr Gesicht wahren, d.h. der Bevölkerung glaubhaft machen, daß eine Rücknahme des schattenstaatlichen Zustandes und eine Normalisierung der Lebenssituation nicht die Aufgabe des Unabhängigkeitsziels bedeutete. Die serbische Regierung mußte gegenüber der serbischen Öffentlichkeit kommunizieren, daß Zugeständnisse an die Kosovo-Albaner nicht den Verlust des serbischen Nationssymbols Kosovo bedeuteten und zum Zerfall Serbiens führen würden.

Die Kontaktgruppe hätte beide Parteien bei der Bewältigung dieser Probleme unterstützen können, wenn sie einen verbindlichen, Dayton-ähnlichen Verhandlungsrahmen geschaffen und einerseits Serbien die territoriale Integrität der BRJ, andererseits den Kosovo-Albanern ein internes Selbstbestimmungsrecht innerhalb Jugoslawiens garantiert hätte. Sie war jedoch nicht in der Lage, einen entsprechenden Verhandlungsrahmen aufzubauen und beschränkte sich darauf, beide Konfliktparteien zu Gesprächen aufzufordern. Die genannten Garantien für beide Seiten bot sie erst in ihrem Dokument vom 8.7.98 an, als es bereits zur Eskalation gekommen war.

Insgesamt ist festzuhalten, daß die internationale Gemeinschaft in ihrer Konfliktpräventionspolitik mit mehreren Handlungsdilemmata konfrontiert ist. Am Beispiel des Kosovo-Konfliktes läßt sich erkennen, daß sie auf Konflikteskalationen zwar mit Adhoc-Maßnahmen reagiert,128 die das Ausmaß der Gewaltanwendung und regionale spill-over-Effekte wirksam eindämmen. Aber sie verhindert die Konflikteskalation selbst nicht und nimmt damit ihre irreversiblen Konsequenzen – Todesopfer und die Zerstörung inter-ethnischer Koexistenzkulturen - in Kauf. Trotz eines generellen Konsenses über den normativen und funktionalen Primat präventiver Politik sind die Schwellen zur Mobilisierung internationalen Engagements immer noch zu hoch: Die westlichen Staaten und internationalen Akteure setzen ihre Machtressourcen zu einem Zeitpunkt ein, der ihren unmittelbaren Präferenzen und organisatorischen Eigeninteressen optimal entsprechen mag, aber im Hinblick auf die Konfliktkonstellation und die langfristigen Stabilitätsinteressen des Westens suboptimale Ergebnisse zeitigt.

Soweit die internationalen Organisationen in einer langfristigen Perspektive strukturelle Konfliktprävention betreiben oder versuchen, ”peace-constituencies”129

aufzubauen, mobilisieren sie dafür weniger Ressourcen und beschränken ihre Handlungsmöglichkeiten durch den gering entwickelten internationalen minderheitenrechtlichen Konsens sowie das Dogma der Staatssouveränität/Nicht-Intervention. Von den einzelnen Dimensionen einer ethnopolitischen

128 Sisk, Timothy D. (1996): Power Sharing and International Mediation in Ethnical Conflicts, Washington: Carnegie Commssion, 88.

129 Vgl. Ropers, Norbert (1996): Rollen und Funktionen dritter Parteien bei der konstruktiven Bearbeitung ethnopolitischer Konflikte, in: Die Friedenswarte H.4/ 71.Jg. 417-441, 439-441.

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Konfliktprävention und -management

Konfliktkonstellation bearbeiten sie primär den regionalen Kontext und das Elitenverhalten, vernachlässigen aber die Dimensionen der Demokratisierung und gesellschaftlichen Integration. Zudem scheint die Wirksamkeit der Konditionalisierungspolitik in umgekehrtem Verhältnis zum Demokratisierungsniveau eines Landes zu stehen: Während die mittel- und osteuropäischen Länder in Grundlagenverträgen ihre Nachbarschaftsbeziehungen regelten, um die Voraussetzungen für den Nato- bzw. EU-Beitritt zu erfüllen, war die Regierung der BRJ nicht bereit, der kosovo-albanischen Seite weitgehende Zugeständnisse zu machen, um die äußere Mauer der Sanktionen zu überwinden. Es fehlt eine präventive Strategie der Institutionenbildung, die über den Handlungsrahmen des internationalen Konfliktmanagements hinausgeht und alle Dimensionen ethnopolitischer Konfliktkonstellationen abdeckt.

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Konfliktprävention und -management

3. Konfliktbearbeitung durch ausländische NGO

Da die Eskalation ebenso wie die Beendigung ethnopolitischer Konflikte entscheidend durch die Interaktion der politischen Eliten beeinflußt wird, haben sich die Präventionsbemühungen seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes zunehmend darauf gerichtet, durch Verhandlungen zwischen den politischen Vertretern der Konfliktparteien Kompromißregelungen zu erreichen. Grundgedanke dieser Mediationsversuche ist, daß unbeteiligte dritte Parteien die vor allem eskalierte Konflikte kennzeichnenden konfrontativen Positionen der Akteure zu ”bargaining”-Orientierungen und Nullsummenspiele in Positivsummenspiele umgestalten können. Offizielle Verhandlungen unter Vermittlung von Diplomaten und Regierungsvertretern führten zu Friedensabkommen in den jahrzehntelang blockierten Konfliktkonstellationen Palästinas und Nordirlands. Mit dem Hohen Kommissar für Nationale Minderheiten und den Langzeitmissionen hat die OSZE spezielle Mediationsinstrumente geschaffen (vgl. II.2).

Neben dieser ”track-1 diplomacy” versucht eine wachsende Zahl von Nichtregierungs-Organisationen (NGO), durch ”track-2 diplomacy” Verständigungsprozesse in ethnopolitischen Konflikten zu initiieren. In manchen Fällen besitzen NGO insofern komparative Vorteile gegenüber staatlich-offiziellen Vermittlern, als sie mehr über die Konfliktkonstellation wissen, flexibler und frühzeitiger agieren sowie den Konfliktparteien weniger förmlich-verbindliche Gesprächskanäle bieten können. Nachteile bestehen vor allem darin, daß NGO über öffentlichen Protest hinaus keine Sanktionsmittel einsetzen können, um Konfliktparteien zur Einhaltung von Verpflichtungen zu bewegen und daß ihre Aktivitäten nicht durch Mandate legitimiert sind. Um Potentiale und Restriktionen der Konfliktbearbeitung von Nichtregierungs-Organisationen einschätzen zu können, sollen im folgenden NGO-Aktivitäten in den drei empirischen Konfliktkonstellationen dargestellt und die Arbeit des Minderheitenprojektes der Bertelsmann Wissenschaftsstiftung und des Centrums für Angewandte Politikforschung (im folgenden: Bertelsmann/CAP-Projekt) genauer analysiert werden.130 Die folgende Tabelle versucht, das – relativ unübersichtliche - Feld der NGO-Aktivitäten in den Konfliktkonstellationen nach unterschiedlichen Funktionen zu strukturieren.

130 Vgl. zum Bertelsmann/ CAP-Projekt auch Brusis, Martin (1998): Regelungsmöglichkeiten für Minderheitenkonflikte in Mittel- und Osteuropa. Erste Ergebnisse und Erfahrungen eines Projektes, in: Ethnos – Nation 1998.

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Tabelle 3: Aktivitäten von ausländischen NGO in den drei Konfliktkonstellationen

Slowakei/Magyaren BR Jugoslawien/ Kosovo-Albaner

Lettland/ethnische Russen

Adressat: KonfliktparteienMediation Project on Ethnic

RelationsSant‘ EgidioProject on Ethnic Relations

Pre-mediation, Institutionenbildung

Bertelsmann Wissenschaftsstiftung/CAP

Bertelsmann Wissenschaftsstiftung/CAP

Adressat: Internationale GemeinschaftFrühwarnung, Präventionsberatung

Stiftung Wissenschaft und Politik/ Conflict Prevention NetworkAspen/ Balkan Commission, International Crisis Group, Council on Foreign Relations/ Southern Balkans Study Group etc.

Öffentlichkeitsbildung, Akkumulation von Wissen

Open Media Research Institute, Südost-Institut, Clingendael Institute

European Action CouncilAspen/ Balkan CommissionEuropean Centre for Minority IssuesELIAMEP

Latvian Center for Human Rights and Ethnic StudiesCenter for Educational and Social Research

Die Tabelle illustriert, daß im Kosovo-Konflikt besonders viele ausländische Nichtregierungs-Organisationen versuchten, die internationale Gemeinschaft zu informieren und zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln.131 Dies ist darauf zurückzuführen, daß zum einen in der internationalen Öffentlichkeit wegen der Kriege im ehemaligen Jugoslawien eine relativ große Kenntnis und Aufmerksamkeit bezüglich der Konfliktkonstellation bestand. Zum anderen existierte im Kosovo über Jahre hinweg eine stabile Pattlage, in der beide Seiten keine Eskalationsschritte unternahmen und eine bedingte Verhandlungsbereitschaft signalisierten. Nach Abschluß des Dayton-Abkommens wandelte–sich die Situation zu einem ”mutually hurting stalemate” (vgl. II.2.), in der track-1-Verhandlungen – abgesehen von der fehlenden Handlungsbereitschaft der Kontaktgruppe - dadurch blockiert waren, daß die serbische Regierung eine internationale Vermittlung ablehnte, die Kosovo-Albaner aber eine internationale Vermittlung vorzugsweise durch die USA forderten.132 Diese Blockadekonstellation eröffnete ausländischen NGO besondere

131 Vgl. den Überblick bei Troebst 1998: 72-103.132 Vor allem die serbische Seite hatte sich damit in einen typischen ”sidetrack” verrannt, denn eine

internationale Beteiligung an Verhandlungen hätte ihre eigentliche Verhandlungsposition keineswegs verschlechtert, sondern vermutlich eher verbessert.

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Chancen, da keine der beiden Konfliktparteien eine Vermittlung durch internationale nicht-staatliche Akteure explizit ausgeschlossen hatte.

Projektarbeit der Bertelsmann Wissenschaftsstiftung und des CAP

Das Projekt der Bertelsmann Wissenschaftsstiftung und der Forschungsgruppe Europa am Centrum für Angewandte Politikforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München unterschied sich von den Mediationsversuchen der katholischen Laienorganisation Sant‘ Egidio und dem amerikanischen Project on Ethnic Relations vor allem in zwei Punkten. Einerseits sprachen die Projektpartner nicht direkt die politischen Repräsentanten an, sondern bildeten eine Arbeitsgruppe aus Intellektuellen und politiknahen Persönlichkeiten. Zu den letzteren gehörte auf der serbischen Seite ein Führungsmitglied der Partei Nova Demokracija, die bis 1997 zusammen mit Miloševic Sozialistischer Partei und der Vereinigten Jugoslawischen Linken an der Regierungskoalition beteiligt war. Auf der kosovo-albanischen Seite bezogen die Projektpartner den Leiter des Londoner Kosovo-Informationszentrums ein, der dem Exilministerpräsidenten Bukoshi nahestand. Die übrigen Teilnehmer der Arbeitsgruppe lassen sich am besten als ”Intellektuelle” einstufen, da sie kein politisches Amt innehatten, über öffentliche Autorität verfügten, argumentativ-deliberativen Verfahren gegenüber aufgeschlossen waren und in gewissem Maße das politische Spektrum in Serbien und im Kosovo repräsentierten.

Andererseits verfolgten die Projektpartner im Gegensatz zu einer Mediation nicht direkt den Anspruch, einen beiderseitig akzeptablen Regelungskompromiß zu erzielen, sondern versuchten, mit den Teilnehmern zunächst einen Lernprozeß aufzubauen. Lerneffekte können durch den Transfer von Wissen über die internationalen minderheitenrechtlichen Standards oder über erfolgreiche Regelungsmodelle anderer Staaten erzielt werden. Im Kosovo-Kontext inszenierten die Projektpartner einen experimentellen Planungs- und Verhandlungsprozeß. Zunächst ließen sie die Teilnehmer drei hypothetische Szenarien zur weiteren Entwicklung des Konfliktes formulieren: Mögliche praktische Verbesserungen der Situation unter der Annahme, daß sich der verfassungsmäßige Status des Gebietes nicht verändert; die Ausgestaltung eines erweiterten Autonomiestatus; und die im Konsens erfolgende Herstellung und Ausgestaltung einer unabhängigen Republik Kosovo.133

Dann erarbeiteten die Projektpartner auf Basis der Ergebnisse der Szenario-Diskussionen einen gemeinsamen Ansatz zur praktischen Verbesserung der Situation bzw. zur Verhandlung von Statusfragen. Im Verlaufe von zwei Arbeitstreffen im Juni und September 1997 konnte ein Konsens über diese Empfehlungen erzielt werden.134

Als die Miloševic-Regierung Teile ihrer politischen Machtbasis verlor und der Gewaltverzichtskonsens unter den Kosovo-Albanern infragegestellt wurde, 133 Vgl. Josef Janning/ Martin Brusis (ed.): Exploring Futures for Kosovo. Kosovo Albanians and

Serbs in Dialogue, Forschungsgruppe Europa: Arbeitspapier Nr. 4/97; vgl. a.:St. Protic, Milan (1996): Nationale Minderheiten und ihre Rechte: Serbien und der Kosovo, in: Europäische Rundschau 24.Jg. H.4/96, 125-132; Surroi, Veton (1997): Mehrheit und Minderheit im Kosovo: Albaner contra Serben, in: Internationale Politik 52.Jg. H.10/97 49-52; Pula, Gazmend (1997): Kosova – Republic in a New (Con-)Federation Via Re-Federalization of Yugoslavia, in: Südosteuropa 46.Jg. H.3-4/97 184-196.

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verschlechterten sich die Rahmenbedingungen der Gespräche. Dennoch setzten die serbischen und kosovo-albanischen Teilnehmer ihre Mitarbeit in dem geschaffenen Rahmen fort und entwickelten Vorschläge zur Ausgestaltung eines Interimsabkommens.

Die im Projekt realisierten experimentellen Plan- und Verhandlungsspiele sollten die Akteure dabei unterstützen, Empathie herzustellen, bzw. gemeinsame Referenzpunkte oder Verhandlungsnormen zu entwickeln. Darüber hinaus sollte durch die ”as-if-” Verhandlungen eine Möglichkeit eröffnet werden, reale Verhandlungen zu führen, indem Kommunikationskanäle zwischen den Verhandlungsteilnehmern und den politischen Führungen entstehen und die Verhandlungsteilnehmer über diese Kanäle Quasi-Mandate erhalten. Dies gelang insofern, als ein serbisches Regierungsmitglied und ein hochrangiger politischer Vertreter der Kosovo-Albaner im Oktober 1997 mit dem stellvertretenden Leiter des CAP über Möglichkeiten zur Umsetzung der Empfehlungen sprachen.

Das Bertelsmann/CAP-Projekt zielte nicht – wie viele andere NGO-Initiativen - primär auf die Information bzw. Alarmierung der internationalen Öffentlichkeit und der politischen Entscheidungsträger in Europa. Trotzdem versuchten die Projektpartner, gezielt Beamte und Diplomaten der EU-Kommission, des Auswärtigen Amtes und der OSZE einzubeziehen. Die as-if-Verhandlungen ermöglichten diesen Vertretern, ihre eigene Argumentations- und Handlungsstrategie zu überprüfen und kontroverse Punkte, Reizbegriffe sowie typische Argumente kennenzulernen, die für track-1-Verhandlungen relevant waren.

Im slowakischen Fall beteiligten die Projektpartner in ähnlicher Weise Vertreter der internationalen Staatengemeinschaft und versuchten, einen Verständigungsprozeß mit den Konfliktparteien einzuleiten. Die detaillierte Untersuchung der Konfliktkonstellation ergab, daß bei einem niedrigen Segregationsgrad, relativ geringen regionalen Spannungspotentialen und bargaining-orientierten Eliten vor allem Demokratisierungsdefizite bestehen (vgl. II.1). Vor diesem Hintergrund entschlossen sich die Projektpartner, eine ”institutionalistische” Strategie zu entwickeln, die zu einer weitgehenden Normierung und Institutionalisierung der umstrittenen Konfliktthemen führen sollte. Im Gegensatz zu einer Vermittlung, die stärker auf Machtmechanismen abstellt, geht es bei dieser Bearbeitungsstrategie darum, die Konfliktthemen zu reformulieren und in den sachlichen Zusammenhang von Bildungspolitik, Kulturpolitik und Verwaltungsdezentralisierung einzubetten.135

Zu den Diskussionsteilnehmern gehörten politische und funktionale Eliten, d.h. Vertreter der slowakischen Oppositionsparteien, des Slowakischen Außenministeriums, des Bildungsministeriums, des Nationalitätenrates und

134 Vgl. Rüb, Matthias (1998) : Vertrauensbildung und Statusfragen. Vorschläge für eine Annäherung zwischen Serben und Albanern im Streit um das Kosovo, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.1.1998, 12.

135 Vgl. die ähnlich gelagerte Unterscheidung zwischen “operational” und “structural” mediation in: Sisk 1996: 102ff.

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regierungsnahe Intellektuelle auf der slowakischen Seite, führende Vertreter der magyarischen Parteien und Bildungsexperten auf der magyarischen Seite. Die Vermittlungsstrategie basierte auf der Überlegung, daß die Konfliktparteien in den symbolisch aufgeladenen, prestigeträchtigen Streitpunkten sich möglicherweise keine Zugeständnisse erlauben durften, aber ein Interesse an umfassenderen institutionellen Reformen – wie z.B. der Dezentralisierung der Schulverwaltung - entwickeln konnten, die einer Ethnisierung einzelner Streitfragen wie z.B. der Entlassung magyarischer Schuldirektoren entgegenwirken sollte. Die folgende Tabelle zeigt die institutionalistische Vermittlungsstrategie im Kontrast zu einer machtgestützten Vermittlung, die eher für die Arbeit des Project on Ethnic Relations in der Slowakischen Republik charakteristisch war.

Tabelle 4: Vermittlungsstrategien

machtgestützte Vermittlung institutionalistische Vermittlung

Regelungstyp Deal, politischer Tausch RegimeRegelungsbereich Politics, die politischen

KonfliktthemenPolicy, der vorpolitische Raum

Schlüsselakteure politische Eliten politische und funktionale ElitenVerhandlungsstrategie Interessenkonfrontation,

diplomatischer und politischer Druck

Wieder-Einbettung des Problems, Überzeugungsarbeit, Empathieförderung, Verständigung über legitime Interessen

zugrundeliegende Problemdeutung

Eliten instrumentalisieren ethnische Differenzen, aber können ihr Verhalten ändern.

Institutionenversagen im Transformationsprozeß verursacht eine Politisierung ethnischer Differenzen, beide Parteien können präventive Institutionen bilden.

In der ersten Phase des Bertelsmann/CAP-Projektes erhielten die slowakische Regierung und die Vertreter der magyarischen Minderheit die Möglichkeit, ihre Positionen gegenüber den Projektpartnern und der international zusammengesetzten Lenkungsgruppe des Projektes darzustellen.136 Nachdem die Konfliktparteien vor allem in der Bewertung historischer Ereignisse fundamentale Differenzen zeigten, entschieden die Projektpartner, zunächst einen Anstoß zur Aufarbeitung der slowakisch-ungarischen Geschichte zu geben. Dazu initiierten sie in der zweiten 136 Mitglieder der Lenkungsgruppe waren Franz-Lothar Altmann (Südost-Institut, München),

Shlomo Avineri (Hebrew University, Jerusalem), Georg Brunner (Institut für Ostrecht, Universität Köln), Wim van Eekelen (Centre for European Policy Studies, Bruxelles), Curt Gasteyger, (Institute Universitaire d’Hautes Etudes Internationales, Genève), Ferenc Glatz (Präsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Budapest), Jerzy Holzer (Polnische Akademie der Wissenschaften, Warszawa), Dušan Kovác (Slowakische Akademie der Wissenschaften, Bratislava), Paul Lendvai (Intendant des Österreichischen Rundfunks, Wien).

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Phase einen Dialog über die Rolle von Geschichtsbildern im slowakisch-ungarischen Verhältnis. Auf dieser Basis entstand im Oktober 1995 eine Forschungskooperation zwischen ungarischen und slowakischen Historikern und Soziologen mit dem Ziel, die Rolle von Geschichtsstereotypen im slowakisch-ungarischen Verhältnis zu untersuchen und kritisch zu reflektieren.137 Die Untersuchung bezog sich auf die Darstellung der slowakisch-ungarischen Beziehungen in der Literatur und der öffentlichen Diskussion, auf die politischen Debatten über den slowakisch-ungarischen Grundlagenvertrag vom März 1995, auf die in der Slowakei und Ungarn verbreiteten nationalen Selbst- und Fremdbilder sowie auf die Geschichtsdeutungen in ungarischen und slowakischen Schulbüchern.

Die dritte Projektphase bestand darin, durch die Vereinbarung einer Geschäftsordnung und einer Problemagenda einen verbindlichen Diskussionskontext herzustellen. Die anschließend vorgesehene Diskussion von Regelungsvorschlägen zu den einzelnen Punkten der Agenda wurde zwar durch die zunehmende innenpolitische Polarisierung in der Slowakischen Republik beeinträchtigt. Aber es gelang, zwischen den Teilnehmern einen Konsens über regelungsbedürftige Fragen der slowakischen Minderheitenpolitik herzustellen. Die Problemagenda, die auf einer Detailstudie des CAP basierte,138 listete fünf Problemkomplexe auf: Gebrauch der Sprache, Minderheitenschulpolitik, staatliche Förderung der Minderheitskultur, Verwaltungs- und Gebietsreform und die Repräsentation von Minderheiteninteressen im politischen System. Damit reformulierte sie die Konfliktthemen als gemeinsame Probleme und bereitete eine Diskussion von präventiven institutionellen Arrangements vor.

Insgesamt muß man zweifellos feststellen, daß die Projektpartner mit ihrer bisherigen Arbeit weder im slowakischen noch im jugoslawischen Fall eine dauerhafte Konfliktregelung erzielen und auch nicht die Eskalation des Kosovo-Konfliktes verhindern konnten. Es gelang dem Projekt dagegen, Regelungsansätze gemeinsam mit den Konfliktparteien zu entwerfen und dadurch in gewissem Maße Lernprozesse anzustoßen bzw. konstruktive Handlungsorientierungen zu stärken. Die experimentellen Verhandlungen boten den teilnehmenden Diplomaten und EU-Vertretern Gelegenheiten, die im Rahmen von track-1-Diplomatie nicht zur Verfügung stehen: nämlich ein Erprobungs- und Entwicklungsfeld für ihre eigenen Argumentations- und Verhandlungsstrategien. Dennoch fällt die Gesamtbilanz

137 Vgl.: Macht der Mythen. Geschichtsstereotypen im slowakisch-ungarischen Verhältnis, Südosteuropa Sonderheft 9-10/1997, herausgegeben von Martin Brusis unter Mitwirkung von Gerhard Seewann. Neben diesem Heft entstand noch ein Arbeitspapier, in dem die Historiker Shlomo Avineri, Horst Haselsteiner und Jerzy Holzer über die Geschichtsaufarbeitung im jüdisch-deutschen bzw. israelisch-ägyptischen, im österreichisch-ungarischen und im polnisch-deutschen Verhältnis reflektieren (vgl. Shlomo Avineri/ Horst Haselsteiner/ Jerzy Holzer: Dialoge über die gemeinsame Geschichte. Erfahrungen aus Israel, Österreich und Polen, FG Europa: Arbeitspapier 4/ 1996).

138 Eine überarbeitete und stärker argumentativ gefaßte Version wurde in englischer Sprache veröffentlicht: vgl. Brusis, Martin(1997) : Ethnic Rift in the Context of Post-Communist Transformation: The Case of Slovakia, in: International Journal on Minority and Group Rights, Vol. 5 No.1 1997, 3-33 bzw. zu einem Teilaspekt: Brusis, Martin/ Nižnanský, Viktor: Die slowakische Verwaltungsreform unter minderheitenpolitischem Aspekt, in: Südosteuropa 46. Jg H.3-4 1997 S.197-212.

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ernüchternd aus, was auch nicht dadurch relativiert wird, daß die erwähnten anderen NGO ebenfalls keine dauerhafte Konfliktregelung erreichen konnten. Mehr noch als track-1-Diplomatie scheint die Konfliktbearbeitung durch ausländische NGO von vielen, begrenzt steuerbaren Variablen abzuhängen, die Regelungsergebnisse unsicher machen. Zu diesen Variablen gehört nicht nur die jeweilige politische Lage, deren Wendungen Verhandlungsfenster öffnen oder schließen können. Vielmehr sind die Arbeitsschwerpunkte und -stile von NGO auch durch Rechtfertigungszwänge gegenüber ihren Förderern sowie existenznotwendige Interessen an Öffentlichkeitsdarstellung beeinflußt.

Funktionen von NGO in ethnopolitischen Konflikten

Tabelle Nr. 3 zu den ausländischen NGO-Aktivitäten vernachlässigt mehrere Aspekte der Konfliktbearbeitung durch Nichtregierungs-Organisationen: Sie berücksichtigt nur ausländische Organisationen, nicht aber die vielfältigen Initiativen, die in der Slowakei, der BRJ und Lettland von Organisationen und Gruppen der einheimischen Zivilgesellschaft ausgegangen sind. Zu erwähnen sind überdies NGO-Aktivitäten, die der humanitären Hilfe, dem Monitoring von Menschenrechtsverletzungen, oder der allgemeinen Demokratieförderung zuzurechnen sind und ebenfalls zur Konfliktbearbeitung gehören.139 Außerdem sollte man in einer umfassenden Übersicht zur Rolle von NGO auch Diaspora-Organisationen und andere ausländische nicht-staatliche Akteure berücksichtigen, die eine der beiden Parteien in den jeweiligen Konflikten unterstützen.

Die Zusammenstellung von NGO-Funktionen in den drei ethnopolitischen Konflikten zeigte, daß viele ausländische Nichtregierungs-Organisationen Aufgaben der Frühwarnung, Präventionsberatung und Öffentlichkeitsbildung erfüllen oder direkt Verhandlungen zu organisieren versuchen. Im Bereich der Öffentlichkeitsbildung sind in Lettland zum Beispiel mehrere NGO tätig: Das Latvian Center for Human Rights and Ethnic Studies (LCHRES), eine Rigaer NGO mit internationaler Unterstützung oder die russische Organisation ”Center for Educational and Social Research”. Die Methoden der NGO in diesem Bereich variieren: Während das LCHRES einen Forschungsansatz verfolgt, bieten mehrere russische Organisationen konkrete (juristische) Beratung für individuelle Opfer der Gesetzgebung. Außerdem gibt es eine Vielzahl von Aktivitäten im Bereich der “Völkerverständigung”. Auffällig ist insgesamt, daß die meisten NGO sich in Nachfolge der lettischen Regierung auf die ”klassischen” Aspekte der Minderheitenfrage konzentrieren (Gesetzgebung, Kulturautonomie und Sprachkurse), während nur wenige Organisationen die sozio-ökonomische Dimension des Konfliktes bearbeiten.

In der slowakischen und der jugoslawischen Konfliktkonstellation läßt sich nur das Bertelsmann/CAP-Projekt als Nichtregierungs-Organisation einstufen, die zusammen mit den Konfliktparteien präventive Institutionen zu entwickeln versuchte. Das von Sant’ Egidio vermittelte Schulabkommen und die Deklarationen bzw. Konsenspunkte der vom Project on Ethnic Relations vermittelten Roundtables stellten zwar Verhandlungserfolge und öffentliche Signale der Verständigungsbereitschaft dar, schufen aber keine stabilen institutionellen Arrangements. Dies liegt zum Teil an der 139 Ropers, Norbert (1998): 92-97.

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Mediationsmethode selbst: ”Mediators have a process bias that keeps them from focusing on good institutional arrangements, in favor of ‚getting to yes‘, any yes”140

Darüberhinaus sind jedoch auch die organisationsbedingten Erfolgsimperative von NGO und die tendenzielle Ausblendung institutioneller Dimensionen in der Problemdiagnose für diese Ergebnisse verantwortlich.

140 Donald Horowitz, zitiert in: Sisk 1996: 94; Vgl.a. die Kritikpunkte in Ropers 1998: 97-115.

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IV. Fazit: Konflikte und Regelungsstrategien

In diesem abschließenden Kapitel sollen die Überlegungen zu den ethnopolitischen Konfliktkonstellationen und den Regelungsstrategien zusammengeführt werden. Auf dieser Grundlage wird versucht, einen Bedarf an präventiver Institutionenpolitik aufzuzeigen. Wie das Zwischenfazit verdeutlichte, lassen sich durch eine normativ-demokratietheoretische Abwägung institutionenpolitische Leitbilder formulieren – responsive Demokratie und territoriale Machtteilung. Diese Leitbilder gehen über die international vereinbarten Minderheitenrechte hinaus und ermöglichen eine klare Trennung zwischen den Regelungsstrategien. Die systematische Analyse von Konfliktkonstellationen stellt empirisch begründete Kriterien bereit, um für das eine oder das andere Leitbild zu optieren. Demnach erscheint eine territoriale Machtteilung für Konflikte angemessen, die durch konfrontative Eliten, starke Segregation, niedriges Demokratisierungsniveau und einen destabilisierenden regionalen Kontext geprägt sind. Konfliktkonstellationen mit weniger ungünstigen Merkmalen legen eine Orientierung am Leitbild der responsiven Demokratie nahe.

Wenn man sich für ein Leitbild entschieden hat, kann man sich darauf beschränken, Instrumente einzusetzen, die die Realisierung dieses Leitbildes unterstützen. Es ist dann nicht mehr notwendig, in tief gespaltene Gesellschaften mit konfrontativen Eliten, autoritären Strukturen und instabilen Nachbarschaften die unwahrscheinliche Herausbildung einer responsiven Demokratie zu unterstützen. Vielmehr sollte und könnte man sich dann darauf konzentrieren, eine territoriale Machtteilung unter Wahrung der territorialen Integrität des Gesamtstaates zu implementieren. Darin kommt auch eine Selbstbeschränkung zum Ausdruck, die auf der Erfahrung basiert, daß die internationale Gemeinschaft die Ursachen- und Einflußfaktoren ethnopolitischer Konflikte bisher nicht fundamental verändern konnte.

Weder normative Überlegungen noch die derzeitigen empirischen Erfahrungen mit ethnopolitischen Konflikten reichen jedoch aus, um - unterhalb der Abstraktionsebene von Leitbildern - Entscheidungen für bestimmte Institutionen nahezulegen und etwa festzulegen, ob Minderheiteninteressen in einem gegebenen Konflikt besser über einen Minderheitenrat mit Vetokompetenzen oder über Sperrminoritäten innerhalb des Parlaments geschützt werden können. Die bisherigen Erfahrungen mit unterschiedlichen institutionellen Arrangements erlauben noch keine gesicherte Aussage darüber, inwieweit Institutionen im Hinblick auf ihre Regelungsleistung als funktional äquivalent einzuschätzen sind und welches Arrangement am besten dazu geeignet ist, in einer gegebenen Konfliktlage eine dauerhafte Regelung zu erreichen.

Neben den divergenten Problemperzeptionen und Interessen von Staaten trägt auch diese Unsicherheit dazu bei, daß internationale minderheitenrechtliche Standards bisher nur in unzureichendem Maße kodifiziert, differenziert und auf die osteuropäischen Konfliktlagen zugeschnitten wurden. Konfliktprävention und Konfliktmanagement der internationalen Gemeinschaft sind auf Adhoc-Maßnahmen orientiert, die im Hinblick auf die Konfliktkonstellation und die langfristigen Stabilitätsinteressen des Westens suboptimale Ergebnisse zeitigen. Mit der Fixierung

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auf konflikteindämmende Notmaßnahmen korrespondiert die geringe Bereitschaft, Ressourcen in eine wirksame Prävention zu investieren. Internationale Vorgaben zur innerstaatlichen Institutionenbildung, die konfliktpräventive Aktivitäten anleiten und wirksamer gestalten würden, fehlen weitgehend oder werden - wie im Kosovo-Konflikt - erst nach einer Gewalteskalation vereinbart. Die Wissens-, Normierungs- und Engagementdefizite auf internationaler Ebene beschränken auch die Regelungschancen von ausländischen NGO, die zudem aufgrund des projektbezogenen Charakters ihrer Arbeit häufig gezwungen sind, einen Konflikt auf der Ebene der Eliteninteraktion zu bearbeiten und schnelle Regelungserfolge zu erzielen.

Bisher haben Sozialwissenschaftler erst wenige Erkenntnisse über die Leistungsfähigkeit institutioneller Arrangements in ethnisch pluralen Gesellschaften gewonnen, wie an einigen Beispielen verdeutlicht werden soll. Timothy Sisk hat vorgeschlagen, anknüpfend an Arend Lijphart und Donald Horowitz zwei Typen von Arrangements zu unterscheiden: Consociationalism und Integration.141 Der erstgenannte, konkordanzdemokratische Regelungsansatz umfaßt die Schaffung föderaler und territorialer Autonomiestrukturen, die Verteilung öffentlicher Ämter nach ethnischem Proporz, Entscheidungen nur im Konsens aller beteiligten Gruppen, ein proportionales Wahlsystem und institutionalisierte Beteiligungsrechte für alle Gruppen. Der integrative Ansatz umfaßt die Schaffung gemischt oder nicht-ethnischer föderativer Strukturen, einen inklusiven, zentralisierten Einheitsstaat mit einer ethnisch neutralen Politik und nach dem Mehrheitsprinzip funktionierende Entscheidungsstrukturen verbunden mit einem Wahlsystem, das ethnienübergreifende Koalitionen begünstigt. Sisk kann jedoch nicht bestimmen, für welche Konfliktkonstellation das eine oder das andere Arrangement angemessener ist und muß seine Typologie dadurch relativieren, daß auch Mischtypen vorstellbar und regelungswirksam sind.142

Michael S. Lund stellt das gesamte Instrumentarium präventiver Diplomatie dar, ordnet einzelne Instrumente den typischen Verlaufsphasen eines Konfliktes zu und identifiziert Faktoren, die das Verhalten von Konflikt- und Dritten Parteien beeinflussen bzw. eine friedliche oder gewaltsame Konfliktaustragung präjudizieren.143 Dadurch, daß er den Konfliktverlauf als Hauptdimension der Strukturierung wählt, tendiert er dazu, Konfliktkonstellationen aus sehr unterschiedlichen Weltregionen und –kulturen als ”Konflikte” gleichzusetzen. Lund versäumt es, die existierenden unterschiedlichen Präventionsinstrumente und -maßnahmen (”preventive diplomacy toolbox”) auf bestimmte Kombinationen von Kausalfaktoren anzupassen und Faktorkombinationen zu identifizieren, die über allgemeine Syndrome wie z.B. ”poor governance” hinausgehen. Aus einer rechtswissenschaftlichen Perspektive untersucht Joseph Marko eine Vielzahl von ”Rechtsinstituten des Nationalitätenrechts”, konzentriert sich jedoch mehr auf die

141 Sisk 1996; Lijphart, Arndt (1977): Democracy in Plural Societies, Yale: Yale University Press; Horowitz, Donald L. (1985): Ethnic Groups in Conflict, Berkeley: UCLA Press.

142 Sisk 1996: 116.143 Lund 1996: 148-151 bzw. 55-57; 1998: 46-67.

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funktionale Äquivalenz dieser Arrangements, anstatt Kriterien zur Einschätzung ihrer Regelungsleistung in spezifischen Konfliktkonstellationen zu entwickeln.144

Je mehr Wissen über die Leistungsfähigkeit institutioneller Arrangements in ethnopolitischen Konflikten entsteht, desto bessere Chancen hat eine Politik, die versucht, ”Konvergenzkriterien” der Minderheitenpolitik auf europäischer und internationaler Ebene einzubringen. Ohne das an den Beispielen verdeutlichte generelle Wissensdefizit über die Leistungsfähigkeit von Institutionen beheben zu können, soll hier doch versucht werden, die Konfliktspezifika und die Elemente der Regelungsstrategien stärker zu integrieren. Die folgende Tabelle bestimmt zunächst Prioritäten auf Grundlage der Dimensionen, die zur Analyse einzelner ethnopolitischer Konfliktkonstellationen dienten.

Tabelle 5: Eine Typologie von Regelungsstrategien

Slowakei/Magyaren BR Jugoslawien/ Kosovo-Albaner

Lettland/ethnische Russen

Institutionenpolitisches Leitbild

Responsive Demokratie

Territoriale Machtteilung

Responsive Demokratie

Demokratieförderung ++ + +Integrationsförderung + + ++Beeinflussung der Eliten + ++ +Regionale Stabilisierung + ++ ++

Aus der Tabelle wird deutlich, daß im lettischen und im slowakischen Fall zwar das institutionenpolitische Leitbild übereinstimmt, die Strategieprioritäten jedoch divergieren. Dies liegt daran, daß die lettische Konfliktkonstellation durch einen destabilisierenden regionalen Kontext und eine stärkere soziale Segregation geprägt ist, während in der Slowakischen Republik die Institutionen der Demokratie größere Funktionsdefizite aufweisen. Gravierendere Demokratiedefizite kennzeichnen zweifellos die jugoslawische Konfliktkonstellation; da in diesem Fall auch die anderen Konfliktdimensionen ungünstiger ausgeprägt sind und deshalb das Leitbild der territorialen Machtteilung gewählt wurde, haben Demokratie- und Integrationsförderung innerhalb der Regelungsstrategie einen geringeren Stellenwert. Auch wenn eine Kosovo-Strategie primär auf die Veränderung des Politikstils der Eliten und die regionale Stabilisierung abstellen sollte, dürfen die anderen beiden Dimensionen im Interesse einer nachhaltigen Konfliktregelung nicht ignoriert werden.

Im slowakischen Fall sollte in der politisch-institutionellen Dimension eine rechtsstaatlich fundierte Dezentralisierung der Entscheidungs- und Verwaltungskompetenzen angestrebt werden. Ansätze zu einer responsiven Demokratie wie die Einrichtung eines Nationalitätenrates beim Ministerpräsidenten sind auszubauen, etwa durch erweiterte Beratungsfunktionen und 144 Marko 1995.

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Mitentscheidungsrechte. Parallel zur allgemeinen Dezentralisierung des Landes sollten weitergehende magyarische Forderungen nach einem ethnisch-territorialen Sonderstatus abgelehnt werden, da sie auf eine territoriale Machtteilung hinauslaufen und die geographische Segregation vertiefen würden. Politikfeldspezifische Rationalitätskriterien sollten gestärkt werden, damit ethnisierte Konfliktthemen wieder stärker in den Zusammenhang von Bildungspolitik, Kulturförderung, Sprachunterricht etc. eingebettet werden können. In der gesellschaftlichen Dimension sollten die individuelle Mobilität unterstützt und durch Aufklärung, Begegnungen, sowie die Thematisierung von Vorurteilen perzeptive Differenzen verringert werden. Dies kann etwa durch die Fortsetzung des slowakisch-ungarischen Geschichtsdialoges oder durch die Publikation eines ostmitteleuropäischen, d.h. aus einer nicht-nationalstaatlichen Perspektive geschriebenen Geschichtsbuches für den Schulunterricht geschehen.

Im lettischen Fall geht es primär darum, die gesellschaftliche Integration der ethnischen Russen zu unterstützen. Dies umfaßt neben Maßnahmen der schnelleren Einbürgerung und der Sprachförderung auch sozial- und arbeitsmarktpolitische Programme, die arbeitslosen Minderheitsangehörigen eine neue Perspektive eröffnen. Außerdem sind politische Verfahren zu entwickeln, die einen Ausgleich zwischen Mehrheits- und Minderheitsinteressen ermöglichen und grenzüberschreitende Akteurkoalitionen aufzubauen, die ein Eigeninteresse an regionaler Stabilität entwickeln und gegen nationalistische Kräfte in Rußland oder Lettland eintreten können.

Im jugoslawischen Fall sollte eine territoriale Machtteilung realisiert werden, indem die Eliten durch stärkere Sanktionen und attraktivere Kooperationsanreize zu einer Einigung veranlaßt werden. Offizielle Verhandlungen lassen sich nur erreichen, indem die Balkan-Kontaktgruppe ihre Machtmittel nutzt, um den politischen Prozeß in Serbien/Kosovo stärker zu kontrollieren, einen verbindlichen Verhandlungsrahmen aufzustellen und positive Verhaltensänderungen der Konfliktparteien entsprechend zu belohnen. Es bedarf einer weitergehenden Internationalisierung des Kosovo-Konfliktes - “which leaves the issue of sovereignty fuzzy. But that is its main merit.”145 Zugleich müssen über die unmittelbare Konflikteindämmung hinaus die internationalen Anstrengungen zur Stabilisierung und wirtschaftlichen Entwicklung der Nachbarländer verstärkt werden.

Die fortbestehenden semi-autoritären Strukturen in Serbien und im Kosovo sind eng mit der Ethnisierung der Kosovo-Frage verknüpft. Um hier einen mittelfristigen Wandel auszulösen, sollten NGO-Aktivitäten unterstützt werden, die eine gesellschaftsweite Diskussion in Serbien und im Kosovo über die Konfliktregelung, die unbewältigte Vergangenheit und die Perspektiven einer Koexistenz organisieren. Auf beiden Seiten geht es letztlich darum, Akteurkoalitionen zu fördern, die an einem dauerhaften Gewaltverzicht interessiert sind.

Die hier skizzierten Regelungsstrategien versuchen im Gegensatz zu den Regelungsformeln, die internationale Vermittler für einzelne Konfliktkonstellationen entwickelt haben, nicht zwischen den deklarierten Zielsetzungen der Konfliktparteien

145 Avineri, Shlomo (1998): Yes to Autonomy for Kosovo, but Internationally Administered, in: International Herald Tribune 17 July 1998.

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einen Kompromiß herzustellen, sondern setzen die Ziele der Konfliktparteien in Beziehung zu den weniger veränderbaren politisch-institutionellen, gesellschaftlichen und regionalen Dimensionen der Konfliktkonstellation. Die Einbeziehung dieser Dimensionen erlaubt es, eine Fixierung auf die Eliten zu überwinden und eine akteurbezogene Strategie enger mit Strategien zu verbinden, die auf gesellschaftliche Integration, Demokratieförderung und regionale Stabilisierung zielen. Wenn es gelänge, solche integrierten, leitbild- und konfliktspezifischen Regelungsstrategien zwischen den internationalen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren abzustimmen, wäre schon viel erreicht. In einer langfristigen Perspektive sollte jedoch die internationale Normbildung, Präventionspolitik und Konfliktbearbeitung mehr in die Konstruktion, Erprobung und Verbreitung präventiver Institutionen investieren.