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EUROPARECHT Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden Heft 2 März – April 2006 E 21002 F

EuR 06 02 - europarecht.nomos.de · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die Verfassungswidrigkeit des Europäischen Haftbefehlsgesetzes – gebotener

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EUROPARECHT

Nomos VerlagsgesellschaftBaden-Baden

Heft 2 • März – April 2006

2006

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Fortsetzung Inhaltsverzeichnis hintere Umschlagseite

Inhaltsverzeichnis

Aufsätze

Prof. Dr. Bernd Grzeszick, LL.M., ErlangenDas Grundrecht auf eine gute Verwaltung – Strukturen und Perspektiven des Charta-Grundrechts auf eine gute Verwaltung .......................................... 161

Dr. Sebastian Graf Kielmannsegg, MannheimDie verteidigungspolitischen Kompetenzen der Europäischen Union ........... 182

Dr. Martin Kment, LL.M., MünsterDie Stellung nationaler Unbeachtlichkeits-, Heilungs- und Präklusions-vorschriften im europäischen Recht ................................................................. 201

RechtsprechungEuropäischer Gerichtshof/Gerichte der Mitgliedstaaten

Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs vom 11.05.2005, Az. K 18/04 ...................................................................................................... 236

Fragen der EU-Mitgliedschaft vor dem polnischen Verfassungsgerichtshof– Anmerkung zum Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs vom 11.05.2005Von Dr. Magdalena Bainczyk und Dr. Ulrich Ernst, Krakau ........................... 247

Verhältnis der Grundfreiheiten zu Regelungen der direkten Steuern in den MitgliedstaatenUrteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 13.12.2005, (Vorabentschei-dungsersuchen des High Court of Justice (Vereinigtes Königreich)), Marks & Spencer plc/David Halsey (Her Majesty’s Inspector of Taxes), Rs. C-446/03 .................................................................................................... 266

Die Rechtssache Marks & Spencer und ihre Folgen– Anmerkung zum Urteil des EuGH v. 13.12.2005, Rs. C-446/03 Von Daniel Dürrschmidt und Martin Schiller, Erlangen-Nürnberg ................ 275

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Fortsetzung Inhaltsverzeichnis

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Die Verfassungswidrigkeit des Europäischen Haftbefehlsgesetzes – gebotener Grundrechtsschutz oder euroskeptische Überfrachtung?von Dr. Tonio Gas, Osnabrück ......................................................................... 285

Rezensionen

Matthias Traub, Einkommensteuerhoheit für die Europäische Union? (Dr. Veit Öhlberger, Wien) ............................................................................... 299

Morton P.Broberg, The European Commission’s Jurisdiction to Scrutinise Mergers(Dr. Gerd E. Messner, LL.M., Klagenfurt) ...................................................... 301

BibliographieBücher und Zeitschriften .................................................................................. 302

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EUROPARECHT

In Verbindung mit der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht

herausgegeben von

Claus-Dieter Ehlermann, Ulrich Everling, Hans-J. Glaesner, Meinhard Hilf,Hans Peter Ipsen †, Joseph H. Kaiser †, Peter-Christian Müller-Graff,

Gert Nicolaysen, Hans-Jürgen Rabe, Jürgen Schwarze

Schriftleiter:Armin Hatje, Ingo Brinker

41. Jahrgang 2006 Heft 2, März – April

Das Grundrecht auf eine gute Verwaltung –Strukturen und Perspektiven des Charta-Grundrechts

auf eine gute Verwaltung

Von Bernd Grzeszick, Erlangen*

I. Einleitung

Die Rechtsstaatlichkeit ist nach Art. 6 Abs. 1 EUV ein Fundamentalprinzip der Union, und der EuGH bezeichnet die Europäische Gemeinschaft regelmäßig als eine auf dem Recht gegründete Gemeinschaft.1 In der Literatur wird der rechtstaat-liche Charakter der Gemeinschaft dahingehend präzisiert, dass die Europäische Gemeinschaft auf dem Verwaltungsrecht beruht.2 Um so mehr überrascht deshalb der Befund, dass die Verträge der Union nur wenige Aussagen über das Verwal-tungsverfahrensrecht der Gemeinschaft enthalten.3 Diese prekäre Lücke wurde von den Gemeinschaftsgerichten entdeckt und zu schließen versucht: Durch „Grundsät-ze einer ordnungsgemäßen Verwaltung“4 und „einer guten Verwaltungsführung“,5 die aus den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV

* Prof. Dr. Bernd Grzeszick, LL.M. ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Rechtsphi-losophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

1 Deutlich EuGH, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 – Les Verts.2 J. Schwarze, European Administrative Law, 1992, S. 4.3 G. Haibach, NVwZ 1998, 456.4 EuGH, Rs. 32/62 (Alvis), Slg. 1963, 107 (123); EuGH, Rs. C-255/90 (Burban), Slg. 1992, I-2253, Rn. 7, 12.5 Zuerst: EuGH, verb. Rs. 56 u. 58/64 (Consten), Slg. 1966, 321, LS 12. Siehe auch EuG, Rs. T-167/94 (Nölle),

Slg. 1995, II-2589, Rn. 53 ff., „Erfordernisse […] einer einwandfreien Verwaltungsführung“.

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entwickelt wurden und die – oberhalb des Sekundärrechts6 – ein allgemeines Ei-genverwaltungsverfahrensrecht der Europäischen Union bilden.7

Dieser Zustand wurde mit der fortschreitenden Europäischen Integration und der damit einhergehenden Konstitutionalisierung sowie Positivierung des primären Ge-meinschaftsrechts zunehmend als unzureichend angesehen.8 Wegen der diver-gierenden Interessen und unterschiedlichen Verwaltungskulturen der Akteure wur-de aber einer Kodifikation des allgemeinen Verwaltungsrechts der Gemeinschaft nur geringe Chancen eingeräumt: Die Vorstellung einer allgemeinen Kodifizierung des Verwaltungsrechts sei noch verwegener als diejenige, eine Gemeinschaftsver-fassung zu entwerfen.9

Diese Argumentation schien zwischenzeitlich widerlegt worden zu sein. Der Ent-wurf einer Gemeinschaftsverfassung liegt in Form des Verfassungsvertrags für Eu-ropa10 vor. Ein Teil des Verfassungsvertrags ist die Grundrechtecharta, die in Art. II-101 VVE ein Recht auf eine gute Verwaltung garantiert. Diese Regelung ist die erste explizite Verbürgung eines Rechts auf gute Verwaltung in einer internationa-len Menschenrechtserklärung.Allerdings ist die Verwegenheit des Versuchs, einen Gemeinschaftsverfassungsver-trag zu entwerfen und in Geltung zu setzen, mittlerweile offenbar geworden. Die Risiken, die mit der Erweiterung und der dazu erforderlichen rechtlichen Vertie-fung der EU einhergehen,11 werden möglicherweise zu einem endgültigen Schei-tern der Ratifikation des Verfassungsvertrags führen.Treffen die gegen den Verfassungsvertrag vorgebrachten Gründe und dessen unsi-chere Zukunft auch den Versuch, die Kodifizierung des Eigenverwaltungsrechts der Union voranzutreiben? Tatsächlich hat die Regelung des Art. II-101 VVE zu unterschiedlichen Reaktionen geführt. Die Gemeinschaftsgerichte scheinen die Re-gelung zu begrüßen, denn sie haben sie bereits rezipiert: Das EuG hat in der Ent-scheidung max.mobil vom 30. Januar 2002 zur Begründung des Anspruchs auf ei-ne sorgfältige und unparteiische Behandlung einer bei der Kommission erhobenen Beschwerde ausdrücklich auf Art. II-101 Abs. 1 VVE rekurriert und dieser Rege-lung eine Bekräftigung des aus der Rechtsstaatlichkeit der Gemeinschaft folgenden

6 Vgl. dazu näher P. Szczekalla, in: H.-W. Rengeling (Hrsg.), EUDUR, 2. Aufl., 2003, Band I, § 11 Rn. 27 ff. m.w.N.

7 Umfassende Übersicht und Analyse: H. Nehl, Principles of Administrative Procedure in EC Law, 1999. Darstel-lung der wesentlichen Rechtsprechung einschließlich der Schlussanträge der Generalanwälte: R. Bauer, Das Recht auf eine gute Verwaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002, S. 21 ff. Weiter: J. Usher, The „Good Administration“ of European Community Law, Current Legal Problems 1985, 269 ff.; J. Schwarze, NJW 1986, 1067 ff.; M. Chiti, EPL 1 (1995), 241 ff.; K. Lenaerts/J. Vanhamme, CMLR 34 (1997), 531 ff.; M. Lais, ZEuS 5 (2002), 447 (453) ff.; K. Klańska, ELJ 10 (2004), 296 (303 ff.).

8 Dazu K. Lenaerts/J. Vanhamme (Fn. 7); C. Harlow, in: P. Craig/G. de Burca (Hrsg.), The Evolution of EU Law, 1999, 261 ff.; K. Klańska (Fn. 7), 298 f.; jew. m.w.N.

9 So H. P. Ipsen nach K. Iliopoulos, Diskussionsbericht, in: J. Schwarze (Hrsg.), Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, 1992, S. 123. Zurückhaltend auch C. Harlow, ELJ 2 (1996), S. 3 ff. Positivere Perspektive bei J. Schwarze, EuGRZ 1993, 377 (382 f.).

10 Dazu nur C. Calliess/M. Ruffert, EuGRZ 2004, 542 ff. m.w.N.11 Vgl. dazu nur C. Calliess/M. Ruffert (Fn. 10).

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Rechts auf eine geordnete Verwaltung entnommen.12 In der Literatur fallen die Re-aktionen dagegen zurückhaltender und differenzierter aus. Überwiegend wird er-wartet, dass die Kodifizierung eines Rechts auf gute Verwaltung den Schutz dieses Rechts verstärkt.13 Die Kritiker bemängeln dabei, dass die Regelung zu sehr vom Konzept des Individualrechtsschutzes geprägt sei.14

Dass die Reaktionen auf Art. II-101 VVE so heterogen ausfallen, dürfte vor allem deren ambivalentem Neuerungsgehalt geschuldet sein. Abs. 1 und 2 sind im We-sentlichen eine Zusammenfassung der bisherigen Rechtsprechung der Gemein-schaftsgerichte zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Verwaltung und bieten insoweit nichts Neues. Über diesen Stand geht Abs. 1 zwar insoweit hinaus, als dem Einzelnen ein Recht auf eine „gerechte“ Behandlung eingeräumt wird.15 Was dieses Recht beinhaltet, ist aber noch weitgehend unbestimmt.16 Ob Art. II-101 VVE als Ausdruck einer „neuen Kategorie von Grundrechten“17 zu verstehen ist und die Charta damit die „Grundprinzipien des Verwaltungsverfahrens in einem Ausmaß konstitutionalisiert, das den Verfassungen der Mitgliedstaaten unbekannt ist“,18 ist deshalb nicht klar; erst recht gilt dies für die an der Regelung geäußerte Kritik. Zudem sind die Folgen der ins Stocken geratenen Ratifikation des Verfas-sungsvertrags für Art. II-101 VVE und dessen Wirkungen in den Blick zu neh-men.Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen. Dazu werden zunächst Genese und Inhalt der Regleung kurz skizziert (II.). Danach werden die dogmatischen Grundzüge des allgemeinen Rechts auf eine gute Verwaltung erarbeitet (III.). Auf dieser Grundlage wird der Kritik an der Regelung nachgegangen (IV.). Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf das Entwicklungspotential des Rechts auf eine gu-te Verwaltung (V.).

II. Regelungsüberblick

1. Genese und Struktur

Dass die Grundrechtecharta ein Grundrecht auf eine gute Verwaltung enthält, be-ruht ganz wesentlich auf den Aktivitäten des Europäischen Bürgerbeauftragten. Dessen zahlreiche Initiativen, Anregungen und Forderungen in Richtung einer Ko-

12 EuG, Rs. T-54/99 (max.mobil), Slg. 2002, II-313, Rn. 48. – Ein derartiges Vorgehen wurde erwartet von C. Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (11).

13 R. Bauer (Fn. 7), 2002, S. 145 m.w.N.14 M. Bullinger, Das Recht auf eine gute Verwaltung nach der Grundrechtscharta der EU, in: FS für Winfried

Brohm, 2002, S. 25 (28 ff.); K. Klańska (Fn. 7), 299, 323 ff.15 R. Bauer (Fn. 7), S. 90 ff., 138 f.16 Siehe z.B. S. Magiera, in: J. Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrecht der EU, 2003, Art. 41 Rn. 7:

„Der genauere Inhalt liegt […] nicht […] fest, sondern ist allmählich – nach Sachmaterien, näheren Umständen und Stand der Rechtsordnung – zu entwickeln“

17 K. Klańska (Fn. 7), 297.18 K. Klańska (Fn. 7), 297.

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difizierung des Verwaltungsrechts19 haben bei den Beratungen über die Charta der Grundrechte der Europäischen Union20 ganz wesentlich dazu beigetragen, dass sich der gleichfalls von ihm vorgetragene Vorschlag, in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ein eigenständiges Recht auf eine gute Verwaltung aufzu-nehmen, durchsetzen konnte.Art. II-101 VVE fasst als administratives Grundrecht eine Reihe elementarer Ver-fahrensrechte im Verwaltungsverfahren zusammen.21 Abs. 1 enthält ein allgemeines Recht auf eine gute Verwaltung und in Abs. 2 werden Beispiele dieses Rechts ange-führt: Das Recht auf Anhörung, das Recht auf Akteneinsicht sowie das Recht auf Begründung von Entscheidungen. Abs. 3 beinhaltet einen Haftungsanspruch, und in Abs. 4 wird eine Sprachengarantie gewährt.

2. Hintergrund: bisherige Rechtslage

Das Recht auf eine gute Verwaltung enthält damit in der Sache in weiten Teilen nichts Neues.22 Nach den Erläuterungen des Grundrechte-Konvents zu Art. II-101 VVE23 ist diese Regelung auf den Charakter der Gemeinschaft als einer Rechtsge-meinschaft gestützt, und in den verschiedenen Vorgaben des Primärrechts sowie in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte finden sich bereits zahlreiche kon-krete Ausprägungen des rechtsstaatlichen Charakters der Gemeinschaft.

a) kodifiziertes Primärrecht

Die in Art. II-101 VVE geregelten Grundsätze und Rechte sind teilweise bereits im EG-Vertrag enthalten. Art. 253 EGV statuiert eine Pflicht zur Begründung, Art. 288 Abs. 2 EGV gewährt einen Schadensersatzanspruch und Art. 21 Abs. 3 EGV sieht eine Sprachengarantie vor. Zudem steht Art. II-101 VVE im Zusammenhang mit weiteren, in der Grundrechtecharta und dem EG-Vertrag geregelten, Rechten: den Rechten gemäß Art. II-102 bis 104 VVE für den Zugang zu Dokumenten, Be-schwerden an den Bürgerbeauftragten, Petitionen an das Europäische Parlament; dem Recht gemäß Art. II-107 VVE auf einen wirksamen und unparteiischen ge-richtlichen Rechtsschutz; den Rechten gemäß Art. II-68 VVE hinsichtlich des Schutzes personenbezogener Daten, die zu einer Begrenzung des Aktenzugangs-rechts führen können; den Rechten auf Datenschutz gemäß Art. 286 EGV sowie der Geheimhaltungspflicht für Berufsgeheimnisse gemäß Art. 287 EGV.

19 Vgl. dazu nur P. G. Bonnor, ELR 25 (2000), S. 39 ff.; J. Martínez Soria, EuR 2001, 683 f.; jew. m.w.N.20 Dazu sowie zur Grundrechtecharta im Übrigen nur I. Pernice, DVBl. 2000, 847 ff.; A. Weber, NJW 2000, 537

ff.; C. Grabenwarter (Fn. 12), 1 ff.; ders., in: FS für T. Öhliger, 2004, S. 469 ff.; jew. m.w.N.21 So die Charakterisierung von T. Kingreen, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., 2002, Art. 6

EU Rn. 190.22 Dazu G. Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2004, S. 253 ff. m.N.23 Abgedruckt in: EuGRZ 2000, 559 (566).

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b) Rechtsprechung: Rechtsstaatliche Grundsätze

Im Übrigen sind die durch Art. II-101 VVE garantierten Rechte ganz überwiegend eine Kodifizierung der von den Gemeinschaftsgerichten entwickelten Grundsätze und Rechte, die in der Rechtsprechung als „Grundsätze der ordnungsgemäßen Ver-waltung“24 und „Grundsätze einer guten Verwaltungsführung“25 bezeichnet wer-den. Der EuGH hat einzelne Rechte als Ausfluss der Rechtsstaatlichkeit bereits zu einer Zeit entwickelt, als er selbst den Bestand von Gemeinschaftsgrundrechten noch nicht ausdrücklich anerkannt hatte.26

Die Entscheidungen der Gemeinschaftsgerichte zu den rechtsstaatlichen Grundsät-zen einer guten und ordnungsgemäßen Verwaltung sind zwar nicht immer klar und widerspruchsfrei. Sie lassen aber erkennen, dass in der bisherigen Rechtsprechung die unterschiedlichen Verfahrensrechte verschiedenen Begründungslinien folgen. Im Unterschied zum in Art. 255 EGV geregelten Recht auf Zugang zu Dokumen-ten, das im Demokratieprinzip wurzelt,27 sind die beiden tragenden Begründungs-linien der aus den rechtsstaatlichen Grundsätzen folgenden Rechte des Bürgers der Belastungsgedanke sowie der Kompensationsgedanke.Rechtsstaatliche Verfahrensrechte des Bürgers folgen zum einen daraus, dass das Ergebnis des Verfahrens den Einzelnen belastet. So werden insbesondere das rechtsstaatliche Recht auf Zugang zu Informationen sowie das rechtsstaatliche An-hörungsrecht vor allem auf die individuelle Belastung bzw. Benachteiligung durch eine Maßnahme gestützt.28

Zum anderen sind Verfahrensrechte Kompensation dafür, dass die Behörde einen erheblichen inhaltlichen Entscheidungsspielraum hat. So werden vor allem der rechtsstaatliche Untersuchungsgrundsatz sowie die Begründungspflicht als Kom-pensation für inhaltliche Entscheidungsspielräume angesehen:29 Durch diese Rech-te und die korrespondierenden Pflichten sollen der Ermessensgebrauch gesteuert und eine wirksame gerichtliche Kontrolle der Ermessensausübung ermöglicht wer-den.30

24 EuGH, Rs. 32/62 (Alvis), Slg. 1963, 107 (123); EuGH, Rs. C-255/90 (Burban), Slg. 1992, I-2253, Rn. 7, 12; EuG, Rs. T-167/94 (Nölle), Slg. 1995, II-2589, Rn. 53 ff., „Erfordernisse […] einer einwandfreien Verwaltungs-führung“.

25 Zuerst: EuGH, verb. Rs. 56 u. 58/64 (Consten), Slg. 1966, 321, LS 12.26 Vgl. EuGH, Rs. 8/55 (Fédération Charbonnière de Belgique), Slg. 1955/1956, 297 (311); verb. Rs. 7/56 und

3-7/57 (Algera), Slg. 1957, 83 (117 ff.).27 Dazu B. Wegener, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., 2002, Art. 255 EG Rn. 1 m.w.N.28 H. Nehl (Fn. 7), S. 82 ff., 94 f.29 H. Nehl (Fn. 7), S. 115 ff.30 H. Nehl, Europäisches Verwaltungsverfahren und Gemeinschaftsverfassung, 2002, S. 323 ff., 330.

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3. Das allgemeine Recht auf eine gute Verwaltung

Dieser rechtsstaatliche Hintergrund prägt auch das in Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE geregelte allgemeine Recht auf eine gute Verwaltung.31 Abs. 1 lautet: „Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Angelegenheiten von den Organen und Einrich-tungen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden“. Dieses Recht ist zwar im Verhältnis zu den in den Absätzen 3 und 4 gewährten Rechten ein eigenständiges Grundrecht. Auch ist die Aufzählung in Abs. 2 nicht abschließend, sondern nur beispielhaft,32 wie sich aus dem „insbe-sondere“ zu Beginn von Abs. 2 ergibt. Die Grundsätze einer unparteiischen sowie einer zeitlich angemessenen Behandlung von Angelegenheiten der Bürger bestan-den allerdings bereits nach bisheriger Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte als Teile der aus dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit abgeleiteten „Grundsätze der ordnungsgemäßen Verwaltung“ und „Grundsätze ei-ner guten Verwaltungsführung“.33

Dies gilt aber nicht für das gleichfalls in Abs. 1 gewährte Recht des Bürgers auf eine gerechte Behandlung seiner Angelegenheiten. Dieses Recht ist ohne jedes konkrete Vorbild: Weder die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte noch der Grundrechte-Konvent oder andere positive internationale Rechtsgewährungen ken-nen ein allgemeines Recht des Bürgers auf eine gerechte Behandlung seiner Ange-legenheiten. Die Grundrechtecharta geht mit diesem Recht über den bestehenden Rechtszustand hinaus und öffnet das Recht auf eine gute Verwaltung für neue Ent-wicklungen, die es noch zu erörtern gilt.34

III. Grundfragen des allgemeinen Rechts auf eine gute Verwaltung

1. Verpflichtete

Zunächst ist aber zu klären, wer durch das allgemeine Recht auf eine gute Verwal-tung nach Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE verpflichtet werden kann. Der Anwen-dungsbereich der Grundrechte der Charta wird allgemein in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE bestimmt. Danach bindet die Charta die Organe und Einrichtungen der Uni-on sowie die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“.35

31 C. Grabenwarter (Fn. 12), 8.32 S. Magiera (Fn. 16), Rn. 9; G. Sydow (Fn. 22), S. 254 f.33 Dazu R. Bauer (Fn. 7), 2002, S. 90 ff., 138.34 Zum Inhalt siehe unten III. 3.35 Dazu nur W. Cremer, NVwZ 2003, 1452 ff. m.w.N.

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a) Bindung der Mitgliedstaaten

Art. II-101 Abs. 1 VVE weicht nun von dieser allgemeinen Regelung ab. Als Ver-pflichtete werden ausdrücklich nur die Organe und Einrichtungen der Union er-wähnt. Diese Formulierung soll die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grund-rechtecharta beschränken.36 Hinter dieser nur eingeschränkten Bindung steht die Überlegung, dass angesichts der zum Teil sehr unterschiedlichen Verwaltungs-rechtskulturen der Mitgliedstaaten sowie wegen der erheblichen inhaltlichen Reich-weite des Gemeinschaftsrechts eine umfassendere Bindung der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union im Ergebnis eine ganz erhebliche Harmo-nisierung der nationalen Rechtsordnungen bedeutet hätte.37 Der Ansicht, dass der in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE bestimmte allgemeine Anwendungsbereich der Chartagrundrechte ohne weiteres auch der Anwendungsbereich des Rechts aus Art. Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE ist,38 ist demnach nicht zuzustimmen. Art. II-101 VVE betrifft im Grundsatz nur das Eigenverwaltungsrecht der Union.Allerdings wird eine Bindung der Mitgliedstaaten an das gemeinschaftsrechtliche Recht auf gute Verwaltung nicht vollständig ausgeschlossen. Zum einen bleibt die bereits vor Abfassung des Art. II-101 VVE bestehende Bindung der Mitgliedstaa-ten beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts an die rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV erhalten, denn die Grundrechtecharta soll das in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte bereits erlangte Grundrechtsniveau nicht absenken.39

Zum anderen ist davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten in den Bereichen ko-operativer Gemeinschaftsverwaltung,40 vor allem bei der Verwaltung gemein-schaftseigener Beihilfen durch die Mitgliedstaaten,41 nicht nur an die rechtsstaatli-chen Grundsätze im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV gebunden sind, sondern in glei-chem Maße auch an Art. II-101 VVE gebunden sein werden, soweit sie in diesen Bereichen als Vertreter der Gemeinschaft anzusehen sind.42

Ob die Mitgliedstaaten darüber hinaus bei der Durchführung des Rechts der Union über den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit der Gemeinschaft im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV umfassend an Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE gebunden werden, bleibt abzuwarten.43 Für eine weitergehenden Bindung der Mitgliedstaaten wird ange-führt, dass der in Art. 6 Abs. 1 EUV bestimmte Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit der Union in Verbindung mit dem Prinzip der Effektivität des Gemeinschaftsrechts

36 Vgl. G. Sydow (Fn. 22), S. 263 f.37 Vgl. K. Klańska (Fn. 7), 309 f.38 R. Bauer (Fn. 7), S. 142.39 Vgl. dazu S. Magiera (Fn. 16), 41 Rn. 9; R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 41 GR-Charta,

Rn. 14; G. Sydow (Fn. 22), 264 f.40 Dazu G. Sydow (Fn. 22), insbes. S. 260 ff. m.w.N.41 Dazu H. Nehl (Fn. 30), S. 71 ff. m.w.N.42 K. Klańska (Fn. 7), 309.43 Zur generellen Diskussion über das Verhältnis zwischen nationalem Verfahrensrecht und europäischem Verwal-

tungsrecht W. Kahl, VerwArch. 95 (2004), S. 1 (13 ff.) m.w.N.

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gebiete, dass die gemeinschaftlichen Rechte des Einzelnen auch beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten weitgehend durchgesetzt werden.44 Allerdings ist eine derartige Auslegung nach Entstehungsgeschichte und Systema-tik der Grundrechtecharta abzulehnen, da damit die bewusste und gewollte Unter-scheidung zwischen Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 und Art. II-101 Abs. 1 VVE, womit eine grundrechtliche Harmonisierung der nationalen Rechtsordnungen durch Art. II-101 VVE gerade vermieden werden sollte, aufgehoben wird.

b) Bindung der Union

Die im Wesentlichen durch Art. II-101 VVE Verpflichteten sind demnach die Or-gane und Einrichtungen der Union.45 Allerdings taucht auch hier eine weitere grundsätzliche Frage auf: Sind die Organe und Einrichtungen der Union generell an Art. II-101 VVE gebunden oder kann dieser nur soweit Bedeutung beanspru-chen, als die Organe und Einrichtungen als Verwaltung handeln?Die nähere Betrachtung von Art. II-101 VVE zeigt, dass diese Frage für die Absät-ze 3 und 4 nicht relevant ist, da die dort geregelten Rechte inhaltlich so weit gefasst sind, dass sie durch den Bezug zum in der Überschrift von Art. II-101 VVE er-wähnten Begriff der Verwaltung nicht eingeschränkt werden.46

Für das in Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE kodifizierte allgemeine Recht auf eine gute Verwaltung sieht dies allerdings anders aus. Der Begriff „Verwaltung“ wird zwar inhaltlich nur in Abs. 2 letzter Spiegelstrich ausdrücklich erwähnt. Darüber hinaus ist aber wegen der Überschrift des Art. II-101 VVE und der Entstehungsge-schichte der Regelung vor dem Hintergrund der in der Rechtsprechung der Ge-meinschaftsgerichte gebildeten Grundsätze der guten und ordnungsgemäßen Ver-waltung davon auszugehen, dass die Rechte aus Abs. 1 und 2 die Organe und Ein-richtungen der Union nur soweit verpflichten, als diese „Verwaltung“ sind.Die Bestimmung des Begriffs „Verwaltung“ bereitet dabei Schwierigkeiten, denn die europäische Hoheitsgewalt ist in Bezug auf die Unterscheidung von Legislative und Exekutive nicht nach einem den nationalstaatlichen Rechtsordnungen entspre-chenden Gewaltenteilungsmodell organisiert.47 Deswegen kann im Gemeinschafts-recht nicht nach Organen differenziert werden. Statt dessen ist die Art der Tätigkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen.48 Was danach auf der Ebene des Ge-meinschaftsrechts allgemein als Verwaltung zu verstehen ist, ist aber weiterhin um-

44 Dazu A. W. Heringa/L. Verhey, The EU-Charter, Text and Structure, MJ 8 (2001), S. 11 (30); M. Lais (Fn. 7), 458; W. Kahl (Fn. 43), 18 f.

45 Der Begriff der Organe und Einrichtungen der Union wirft nur in Bezug auf die intergouvernementalen Säulen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit Klärungsbedarf auf; dazu M. Lais (Fn. 7), 456 m.w.N.

46 K. Klańska (Fn. 7), 310.47 Vgl. J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Band I, 1988, S. 22 f.; S. Schreiber, Verwaltungskompeten-

zen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, S. 20 f.48 Vgl. K. Klańska (Fn. 7), 310.

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stritten.49 Überwiegend wird einer Begriffsbestimmung gefolgt, die Verwaltung als Vollzug oder Aktualisierung der Regelungen des Gemeinschaftsrechts im Einzel-fall bzw. in konkreten Situationen versteht.50 Dabei wird zum Teil ausdrücklich eingeräumt, dass diese Begriffsbestimmung eher pragmatischen und heuristischen als dogmatischen Charakter habe.51

Die begrenzte Aussagekraft der allgemeinen Begriffsbestimmung von „Verwal-tung“ im Gemeinschaftsrecht zeigt sich auch beim Recht auf eine gute Verwaltung. Die Gemeinschaftsgerichte beschränken die von ihnen entwickelten rechtsstaatli-chen Grundsätze guter und ordnungsgemäßer Verwaltung nicht auf den Erlass indi-vidueller und konkreter Vollzugsakte, sondern wenden diese Grundsätze auch auf Bereiche an, in denen die Gemeinschaftsorgane generelle Regelungen setzen, bei deren Schaffung sie einen erheblichen inhaltlichen Gestaltungsspielraum haben.52

Die Rechtsprechung hat dies bei Verordnungen im Antidumpingrecht deutlich ge-macht. Der EuGH hat Verfahren zum Erlass entsprechender Verordnungen aus-drücklich als administrative Verfahren qualifiziert.53 Nach Ansicht des EuG steht dabei das Bestehen eines weiten Ermessens der Organe der Gemeinschaft der An-wendung der Grundsätze guter Verwaltung nicht entgegen, da in diesen Konstella-tionen „der Beachtung der Garantien, die die Gemeinschaftsrechtsordnung in den Verwaltungsverfahren gewährt, eine um so größere Bedeutung“ zukommt.54

Diese Rechtsprechung ist zwar zum Antidumpingrecht ergangen. Die dort ent-wickelten Grundsätze sind aber nicht auf dieses Rechtsgebiet beschränkt: Auch Verordnungen aus anderen Bereichen wurden vom EuGH als „mehr administrative als normative Durchführungsmaßnahme“ bezeichnet.55 Die Eingrenzung des An-wendungsbereichs der Grundsätze einer guten Verwaltung erfolgt demnach in der bisherigen Rechtsprechung zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht über die Handlungsform, sondern über das Maß der Konkretheit des Rechtsverhältnisses zwischen dem Gemeinschaftsorgan und dem Bürger.56 So ist für eine mögliche Berufung auf das Recht auf eine gute Verwaltung im Bereich von Rechtsverord-nungen nach Ansicht des EuGH entscheidend, dass der Bürger durch die Verord-nung unmittelbar und individuell berührt ist und nachteiligen Auswirkungen unter-liegt.57

Da der Schutz des Bürgers durch die Kodifizierung des Rechts in Art. II-101 VVE nicht hinter den in der Rechtsprechung bereits erreichten Stand zurückfallen sollte,

49 Dazu R. Bauer (Fn. 7), S. 17 f. m.N.50 So vor allem M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, KSE 9

(1969), S. 47 f.; H.-W. Rengeling, Rechtsgrundsätze beim Verwaltungsvollzug des Europäischen Gemeinschafts-rechts, KSE 27 (1977), S. 8 f.; U. Everling, DVBl. 1983, 649; K. Lenaerts, CMLR 28 (1991), 11 (13).

51 U. Everling (Fn. 50).52 Deutlich bereits EuGH, Rs. 64/82 (Tradax), 1984, 1359, Rn. 17, 22.53 EuGH, Rs. C-170/89 (BEUC), Slg. 1991, I-5709, Rn. 25.54 EuG, Rs. T-167/94 (Nölle), Slg. 1995, II-2589, Rn. 73.55 EuGH, Slg. 1973, 575, Rn. 10.56 R. Bauer (Fn. 7), S. 19.57 EuGH, Rs. C-49/88 (Al-Jubail Fertilizer), Slg. 1991, I-3187, Rn. 15. Dazu näher H. Nehl (Fn. 7), S. 75 f.

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ist der in der Rechtsprechung zu den rechtsstaatlichen Verwaltungsgrundsätzen ge-prägte Verwaltungsbegriff auf Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE zu übertragen. In der Konsequenz ist das allgemeine Recht auf gute Verwaltung in Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE nicht auf Maßnahmen mit individuellem Regelungscharakter beschränkt, sondern kann auch Maßnahmen mit abstrakt-generellem Regelungscharakter erfas-sen.58 Die Eingrenzung des Regelungsbereichs des Rechts auf eine gute Verwal-tung im Sinne von Art. II-101 VVE erfolgt – entsprechend der bisherigen Recht-sprechung – nicht über einen allgemeinen Begriff der Verwaltung, sondern über das Erfordernis einer konkreten bzw. konkretisierten Beziehung zwischen dem Ge-meinschaftsorgan und dem einzelnen Bürger.59

2. Berechtigte

Das entsprechende Kriterium, der Bezug zum einzelnen Bürger, wird im Rahmen von Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE im Zusammenhang mit der persönlichen Berech-tigung genannt: Personen haben ein Recht auf eine gute Verwaltung nur in Bezug auf „ihre“ Angelegenheiten. Damit ist die Frage nach dem persönlichen Anwen-dungsbereich des Rechts auf gute Verwaltung aus Art. II-101 VVE aufgeworfen. Durch Art. II-101 VVE kann „jede Person“ berechtigt werden. Die Regelung ist damit ausdrücklich nicht auf die Unionsbürger beschränkt, sondern ein Menschen-recht. Unter den Begriff der Person fallen in Übereinstimmung mit der Rechtspre-chung zu den Grundsätzen einer guten und ordnungsgemäßen Verwaltung zudem neben natürlichen auch juristische Personen.60 Nicht durch Art. II-101 VVE be-rechtigt werden dagegen die Mitgliedstaaten.61 Diese können sich im Verhältnis zur Gemeinschaft aber weiterhin auf die in der Gemeinschaftsrechtsprechung ent-wickelten rechtsstaatlichen Grundsätze einer guten und ordnungsgemäßen Verwal-tung berufen.62

a) persönliche Reichweite für Dritte

Mit der Frage nach der persönlichen Berechtigung von Art. II-101 VVE ist ein zen-trales Problem der Regelung verbunden: Wie weit reicht die Berechtigung für Per-sonen, die nicht Adressaten einer Maßnahme bzw. Parteien des entsprechenden Verfahrens sind? Diese Frage stellt sich zum einen in Bezug auf Art. II-101 Abs. 1 VVE. Diese Regelung ordnet das allgemeine Recht auf eine gute Verwaltung Personen nur in Bezug auf „ihre“ Angelegenheiten zu. Damit wird der Kreis der

58 So auch K. Klańska (Fn. 7), 316 für das Recht auf Anhörung.59 H. Nehl (Fn. 7), S. 30, 74, jew.m.N.60 J. Schwarze, EuZW 2001, 517 (518 f.); M. Mahlmann, ZeuS 4 (2000), S. 419 (437); M. Lais (Fn. 7), 460 f.;

R. Streinz (Fn. 39), Rn. 13.61 R. Bauer (Fn. 7), S. 141.62 Dazu R. Bauer (Fn. 7), S. 110 m.N.

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Berechtigten auf solche Personen begrenzt, die zu der Angelegenheit eine derart spezifische Beziehung haben, dass die Angelegenheit „ihre“ ist.Zum anderen ist fraglich, wie der Kreis der Berechtigten bei den einzelnen Rechten des Art. II-101 Abs. 2 VVE zu bestimmen ist. Der Text von Abs. 1 und 2 könnte so verstanden werden, dass hinsichtlich der persönlichen Reichweite nach den einzel-nen Rechten weiter zu unterscheiden ist. Bei einer entsprechenden Auslegung enthielte Abs. 1 das Erfordernis eines hinreichenden Bezugs zur Person im Sinne „ihrer“ Angelegenheiten. Dagegen träten in Abs. 2 teilweise zusätzliche, den Kreis der Berechtigten enger eingrenzende Erfordernisse hinzu: Das Recht auf Anhörung würde nur durch für die Person „nachteilige individuelle Maßnahmen“ ausgelöst63 und das Recht auf Zugang zu Akten wäre für die Person auf „sie betreffende“ Ak-ten begrenzt.64 Das Recht auf Begründung von Entscheidungen enthielte keine zu-sätzliche Eingrenzung des persönlichen Bezugs, weshalb es genügte, dass die Ent-scheidungen für die Person als „ihre Angelegenheiten“ im Sinne von Abs. 1 zu qualifizieren sind.Eine derartige Auslegung würde sich von der Rechtsprechung zu den rechtsstaatli-chen Verwaltungsgrundsätzen unterscheiden. Nach Ansicht der Gemeinschaftsge-richte können die rechtsstaatlichen Grundsätze einer guten und ordnungsgemäßen Verwaltung Drittschutz vermitteln. Dabei differenziert die Rechtsprechung bei der persönlichen Reichweite der rechtsstaatlichen Grundsätze durchaus, stellt dazu aber nicht auf die verschiedenen Rechte ab, sondern auf das jeweilige Verfahren bzw. die jeweilige Maßnahme, auf die die Rechte auf eine gute Verwaltung bezogen sind.65 Als Tendenz lässt sich festhalten, dass je konkreter und belastender das Ver-fahrensergebnis für eine Person ist, ihr desto eher der Schutz durch die rechtsstaat-lichen Grundsätze zugeordnet wird.Dies hat Auswirkungen auf das Verständnis von Art. II-101 VVE. Denn die Kodifi-zierung soll den Schutz des Einzelnen im Vergleich zur bisherigen Rechtslage nicht einschränken. Unter dieser Voraussetzung eröffnen sich für die Auslegung von Art. II-101 VVE zwei Möglichkeiten. Entweder wird die Regelung als nicht abschlie-ßende Kodifizierung verstanden, so dass in Konstellationen, in denen Art. II-101 VVE weniger Drittschutz vermittelt als die rechtsstaatlichen Grundsätze nach Art. 6 Abs. 1 EUV, weiterhin auf die Grundsätze zurückgegriffen werden kann. Oder Art. II-101 VVE wird in der Frage der Reichweite der persönlichen Berechtigung so ausgelegt, dass die von den Gemeinschaftsgerichten entwickelten Grundlinien zur persönlichen Reichweite der rechtsstaatlichen Grundsätze auf Art. II-101 VVE übertragen und die Formulierungen in Art. II-101 Abs. 2 VVE nur als Konkretisie-rungen, nicht aber Einengungen der allgemeinen Anforderungen an den Drittschutz verstanden werden.

63 Nach K. Klańska (Fn. 7), 316 f. ist dies eine erhebliche Einschränkung des persönlichen Anwendungsbe-reichs.

64 Vgl. dazu K. Klańska (Fn. 7), 318 f.65 Dazu H. Nehl (Fn. 7), S. 54 f., 62, 69, 73 ff., 84 ff., 94 ff., 127 ff., 149 ff.; ders. (Fn. 30), S. 244 ff.

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Im Ergebnis ist die zweite Lösung vorzuziehen. Zum einen wird dadurch der Ge-fahr einer divergierenden Auslegung von Art. II-101 VVE und den rechtsstaatli-chen Grundsätzen mit der Folge einer inhaltlichen Aufspaltung des Grundrechts-schutzes vorgebeugt. Dies ist insbesondere deshalb zu vermeiden, weil Art. II-101 VVE in weiten Teilen die Grundsätze einer rechtsstaatlichen Verwaltung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV kodifizieren soll. Zum anderen ist eine Differenzierung der persönlichen Reichweite von Art. II-101 VVE allein nach der Art des jeweils ein-schlägigen Rechts auch inhaltlich nicht überzeugend. Das Recht auf eine gute Ver-waltung beruht, wie oben gezeigt, auf zwei tragenden Begründungslinien: dem Belastungsgedanken sowie dem Kompensationsgedanken. Dieser Hintergrund ist bei der Bestimmung des persönlichen Anwendungsbereichs zu berücksichtigen. Die Bestimmung der Reichweite des persönlichen Anwendungsbereichs hat des-halb nicht allein strikt formal am jeweiligen Einzelrecht anzusetzen, sondern muss das die einzelnen Rechte begründende Verhältnis zur „Verwaltung“ der Union in den Blick nehmen: Je stärker eine Person durch das Verfahrensergebnis belastet wird oder auf das Verfahrensrecht als Kompensation für eine reduzierte inhaltliche Kontrolle des Verfahrensergebnisses angewiesen ist, desto eher ist der persönliche Anwendungsbereich eines Rechts gegeben.66 Hinsichtlich der Kriterien für die ent-sprechende Qualifikation der Beziehung ist deshalb grundsätzlich an die bisherige Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zu den rechtsstaatlichen Verwaltungs-grundsätzen anzuknüpfen.

b) Anlehnung an Art. 230 Abs. 4, 2. Alt. EGV?

Die Frage, wieweit jeweils ein Schutz auch Dritter besteht, wird von den Gerichten allerdings nicht anhand einer einheitlichen Formel beantwortet, sondern für die verschiedenen Konstellationen differenziert ausgeführt; ein übergreifendes, und dogmatisch hinreichend tragfähiges Konzept ist allerdings bisher nicht hinreichend klar auszumachen.67 Kann diese in ihrer Differenziertheit unbefriedigende Recht-sprechung durch ein kohärentes Konzept unterfangen werden? In Frage käme eine Anlehnung an die Regelung der Individualklagebefugnis vor den Gemeinschafts-gerichten.68 Nach Art. 230 Abs. 4, 2. Alt. EGV sind Individualklagen gegen Sekun-därrechtsakte der Gemeinschaft von Personen, die nicht Adressaten der Maßnahme

66 Deshalb stellt K. Klańska (Fn. 7), 316 hinsichtlich der Frage der persönlichen Berechtigung für das Anhörungs-recht nach Art. 41 Abs. 2, 1. Spiegelstrich zu Recht nicht darauf ab, ob eine Maßnahme individuell-konkreter oder abstrakt-genereller Art ist, sondern auf die möglichen Auswirkungen der Maßnahme auf die Interessen des Einzelnen.

67 Zu den Einzelheiten H. Nehl (Fn. 7), S. 23, 30 ff., 54 f., 62 ff., 69, 75, 77, 84, 94 ff., 127, 131, 138 ff., 150; ders. (Fn. 30), S. 55 f., 60 f., 66, 68, 228 f., 244 ff., 254 ff., 267, 272, 276, 280, 298 ff., 305 ff., 323 f., 329, 338 f., 343 ff., 352 ff., 362 ff., 385, 395, 398, 401, 416 ff., 429, 472; jew.m.N.

68 In diese Richtung K. Klańska (Fn. 7), 317. Der Gedanken einer Parallelität zwischen dem persönlichen Schutz-bereich von Verfahrensgarantien und individueller Klagebefugnis findet sich zuvor bereits bei H. Nehl (Fn. 30), S. 417 ff., der ihn aber im Wesentlichen darauf beschränkt, das Prozessrecht an das materielle Recht heran-zuführen.

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sind, nur zulässig, wenn sie den Einzelnen unmittelbar und individuell betreffen.69

Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass ein Rückgriff auf Art. 230 Abs. 4, 2. Alt. EGV zur Konturierung der persönlichen Reichweite des Schutzes durch das Recht auf eine gute Verwaltung nicht überzeugt. Zum einen fehlt für eine unmittel-bare Anlehnung von Art. II-101 VVE an Art. 230 Abs. 4 EGV die argumentative Grundlage, da Art. 230 Abs. 4 EGV allein die allgemeinen Anforderungen im Sinne der Klagebefugnis bestimmt und die daraufhin jeweils zu beurteilende bzw. einzuklagende Rechtsstellung voraussetzt.70 Zum anderen wird das Klagerecht Drittbetroffener bei Art. 230 Abs. 4, 2. Alt. EGV nach der Rechtsprechung in der Regel aus einer Vielzahl von Kriterien gefolgert, die stark am Einzelfall orientiert sind,71 weshalb auch dieser Rechtsprechung ein dogmatisch stringentes und hinrei-chend klares Konzept nicht ohne weiteres entnommen werden kann.72 Die Recht-sprechung zur Reichweite des durch den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwal-tung vermittelten Drittschutzes hat sich deshalb zu Recht bisher nicht an Art. 230 Abs. 4, 2. Alt. EGV orientiert.

c) Reichweite in Bezug auf Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren

Zur persönlichen Berechtigung und deren Reichweite gehört schließlich die Frage, ob die Kommission in Bezug auf Vertragsverletzungsverfahren durch das Recht auf eine gute Verwaltung gegenüber den Bürgern verpflichtet werden kann.73 Die Ent-scheidung, ob und wann die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV einleitet, wurde von den Gemeinschaftsgerichten bisher als eine An-gelegenheit allein zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten angesehen.74 Zudem wurde der Kommission dabei ein erheblicher, gerichtlich nur beschränkt kontrollierbarer Entscheidungsspielraum zugestanden.75

Diese Position ist vom Europäischen Bürgerbeauftragten ständig kritisiert und mit der Forderung nach Verfahrensrechten zugunsten der Beschwerdeführer konfron-tiert worden.76 In Reaktion darauf hat die Kommission in der Praxis allmählich zugunsten von Beschwerdeführern bestimmte Mindeststandards im Verfahren an-

69 Zu den Einzelheiten W. Cremer, EuGRZ 2004, 577 (577 f.) m.w.N.70 Entsprechend differenzierend W. Kahl (Fn. 43), S. 17 f., der – aus der umgekehrten Perspektive der Begründung

der Klagebefugnis aus der Verletzung von Verfahrensrechten – von einer begrenzten Korrelation ausgeht.71 H. Nehl (Fn. 30), 2002, S. 418 f. m.N.72 Kritik und Versuche eines Konzepts: M. Nettesheim, in: H.-W. Micklitz/N. Reich (Hrsg.), Public Interest Litiga-

tion before European Courts, 1996, S. 225 (237 f.); C. Nowak, Konkurrentenschutz in der EG, 1997, insbes. S. 499 ff.; W. Cremer, in: C. Callies/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., 2002, Art. 230 Rn. 52 ff.

73 K. Klańska (Fn. 7), 311 f.74 Dazu näher R. Rawlings, ELJ 6 (2000), 4 ff.75 EuGH, Rs. 247/87 (Star Fruit), Slg. 1989, 291 Rn. 13; Rs. C-87/89 (Sonito), Slg. 1990, I-1981 Rn. 6 LS 1;

Rs. C-329/88 (Kommission/Griechenland), Slg. 1989, 4159 LS 2; Rs. C-200/88 (Kommission/Griechenland), Slg. 1990, I-4299 Rn. 9 LS 1; Rs. C-422/92 (Kommission /Deutschland), Slg. 1995, I-1097 Rn. 16, 18 LS 1,2; Rs. C-207/97 (Kommission/Belgien), Slg. 1999, I-275 Rn. 24 LS 1; Rs. C-212/98 (Kommission/Irland), Slg. 1999, I-8571 Rn. 12 LS 2; Rs. C-317/92 (Kommission/Deutschland), Slg. 1994, I-2039 Rn. 4 LS 1.

76 Dazu näher P. G. Bonnor (Fn. 19), 47 ff. m.N.

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erkannt.77 Diese Mindeststandards sind zuletzt in Folge des Thessaloniki Metro-Falls im Jahr 2002 neu und weiter gefasst worden.78 Danach akzeptiert die Kom-mission jetzt unter anderem, dass der Beschwerdeführer vor der Entscheidung über die geplante Vorgehensweise der Kommission informiert und dazu gehört werden soll.79

Werden die Rechte der Bürger gegenüber der Kommission in Vertragsverletzungs-verfahren durch die Kodifizierung des Rechts auf eine gute Verwaltung in Art. II-101 VVE gestärkt? Der Bürgerbeauftragte bejaht dies: Die Grundsätze des Europä-ischen Verwaltungsrechts würden verlangen, den eine Beschwerde führenden Bür-ger als Partei des Vertragsverletzungsverfahrens anzuerkennen, weshalb ihm in diesem Verfahren gegenüber der Kommission grundsätzlich auch das Recht auf eine gute Verwaltung aus Art. II-101 VVE zustehe.80

Da der Begriff der „Verwaltung“ in Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE für diese Frage keine Eingrenzung enthält, hängt die Anwendbarkeit von Art. II-101 VVE entschei-dend davon ab, ob das vom Bürger angestoßene Vertragsverletzungsverfahren als seine Angelegenheit zu qualifizieren ist. Erforderlich dafür ist eine spezifische Nä-hebeziehung des Bürgers zu der Angelegenheit, die diese zu seiner macht. Dies wurde von den Gemeinschaftsgerichten in der tradierten Rechtsprechung zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen bisher abgelehnt.81 Diese Rechtsprechung auf Art. II-101 VVE zu übertragen würde dazu führen, dass das allgemeine Vertragsverlet-zungsverfahren nicht als Angelegenheit des eine Beschwerde führenden Bürgers anzusehen ist und ihm deshalb insoweit der Schutz des Art. II-101 VVE nicht zu-steht.Ob die Gemeinschaftsgerichte an ihrer bisherigen Linie festhalten werden, ist aber angesichts einer jüngeren Entscheidung des EuG zum Verhalten der Kommission gegenüber Beschwerdeführern im Bereich des Wettbewerbsrechts fraglich gewor-den. Das Gericht erster Instanz hat in der Entscheidung max.mobil vom 30. Januar 2002 ein Recht des Bürgers auf sorgfältige und unparteiische Behandlung seiner im Rahmen des Wettbewerbsrechts nach Art. 86 Abs. 3 EGV erhobenen Beschwer-de durch die Kommission angenommen. Dabei hat das Gericht zur Begründung des Anspruchs unter anderem auf Art. II-101 VVE verwiesen und diese Regelung als eine Bekräftigung des aus der Rechtsstaatlichkeit der Gemeinschaft folgenden Rechts auf eine geordnete Verwaltung angesehen.82

Das Urteil des EuG betrifft zwar kein allgemeines Vertragsverletzungsverfahren. Es könnte aber dafür Bedeutung erlangen, falls die vom EuG in max.mobil zum Wettbewerbsrecht gegebene Begründung des Rechts des Bürgers auf das allgemei-

77 Siehe dazu die von der Kommission erarbeitete Beschwerdevorlage OJ C 119, 30. 4. 1999, S. 5.78 Siehe dazu die überarbeitete Fassung des Beschwerdeformulars COM/2002/141 endg.79 K. Klańska (Fn. 7), 312.80 J. Södermann, The Citizen, the Rule of Law and Openness, nach: K. Klańska (Fn. 8), 311 Fn. 86.81 Vgl. EuGH, Rs. 247/87 (Star-Fruit), Slg. 1989, 291 Rn. 11 ff.; EuG, Rs. T-479/93 und 559/93 (Bernardi), Slg.

1994, II-1115 Rn. 31.82 EuG, Rs. T-54/99 (max.mobil), Slg. 2002, II-313 ff. Rn. 48.

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ne Vertragsverletzungsverfahren übertragbar ist.83 Eine Antwort auf diese Frage zu geben erfordert einen Rückgriff auf die Begründung der rechtsstaatlichen Grund-sätze einer guten und ordnungsgemäßen Verwaltung. Wie oben gezeigt, werden dem Einzelnen Verfahrensrechte vor allem aus zwei Gründen gewährt: weil das Verfahrensergebnis ihn belastet und weil die inhaltliche Kontrolle des Verfahrens-ergebnisses reduziert ist.84

Der Belastungsgedanke ist für das allgemeine Vertragsverletzungsverfahren weni-ger relevant, da allgemeine Vertragsverletzungen regelmäßig keinen hinreichenden Bezug zu einer individuellen Belastung einzelner Bürger durch das Verhalten der Kommission haben.85

Der Gedanke der Kompensation eines inhaltlich weiten Entscheidungsspielraums der Kommission durch Verfahrensrechte des Bürgers kann dagegen für das Ver-tragsverletzungsverfahren durchaus einschlägig sein. Der Kommission wird bei der Entscheidung, ob und wann sie ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet, von den Gemeinschaftsgerichten ein erheblicher Entscheidungsspielraum zugestanden. Bei konsequenter Anwendung der Leitlinien der bisherigen Rechtsprechung zu den Grundsätzen einer guten und ordnungsgemäßen Verwaltung müssten zumindest die dieser Begründungslinie entsprechenden rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätze auch auf das Vertragsverletzungsverfahren anwendbar sein.Und genau dies hat das EuG in der max.mobil-Entscheidung angenommen. Aus der Analyse der bisherigen Rechtsprechung folgt deshalb, dass die in der max.mo-bil-Entscheidung eingenommene Position des EuG keine Änderung der bisherigen allgemeinen Linie der Gemeinschaftsgerichte zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen enthält, sondern vielmehr deren konsequente Fortsetzung ist. Damit wird nicht al-lein deutlich, dass Art. II-101 VVE im allgemeinen Vertragsverletzungsverfahren vor der Kommission anwendbar sein kann. Zugleich zeigt sich, dass die Bedeutung der rechtsstaatlichen Grundsätze einer guten Verwaltung durch die Kodifizierung in der Grundrechtecharta betont werden und dadurch die Grundrechtecharta bereits vor ihrer Verbindlichkeit als argumentativer Katalysator einer Entwicklung wirkt, die in Richtung einer weitergehenden Anwendung der Grundsätze einer rechtsstaat-lichen Verwaltung führt.

3. Recht auf eine „gerechte“ Behandlung

Diese Wirkung von Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE, die Anwendung und Fortbildung von Verfahrensrechten der Bürger zu fördern, wird zusätzlich betont durch das in Art. II-101 Abs. 1 VVE gewährte Recht des Bürgers auf eine „gerechte“ Behand-

83 Vgl. K. Klańska (Fn. 7), 312.84 Dazu oben unter II. 2. b).85 Vgl. dazu auch die zurückhaltende Position von H. Nehl (Fn. 7), S. 84 ff. zur Frage, ob im Bereich der gemein-

schaftsrechtlichen Fördermittel das Stellen eines Antrags auf Zuteilung von Mitteln genügt, um rechtsstaatliche Verfahrensrechte zu begründen.

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lung seiner Angelegenheiten. Der Begriff der „gerechten“ Behandlung ist dem bis-herigen Primärrecht fremd. Er wird in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsge-richte zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen, auf die der Grundrechte-Konvent zur Interpretation des Art. II-101 VVE allgemein verwiesen hat, noch nicht einmal er-wähnt.86 Die „gerechte“ Behandlung ist eine Neuschöpfung, die über den Stand der bisherigen Rechtsprechung hinausgeht, das Recht auf eine gute Verwaltung für neue Entwicklungen öffnet und deren Inhalt es deshalb näher zu bestimmen gilt.

a) Beschwerdepraxis des Europäischen Bürgerbeauftragten

Dazu bietet sich zum einen ein Rückgriff auf die Beschwerdepraxis des Europä-ischen Bürgerbeauftragten an. Dieser hat bei der Reaktion auf Beschwerden der Bürger häufiger auf den Begriff der „Fairness“ rekurriert: Nach seinen Stellung-nahmen sollen die Bürger von der Verwaltung fair behandelt werden.87 Dieser Grundsatz ist auch in die Entstehung der Grundrechtecharta eingeflossen. Das Recht auf eine gute Verwaltung wurde insbesondere auf Anregung des Bürgerbe-auftragten in die Charta aufgenommen, der sich für ein Grundrecht der Bürger auf eine gute Verwaltung intensiv einsetzte.88 Im Rahmen der Anhörung hat er dabei ausdrücklich die Forderung aufgestellt, dass die Bürger ein Recht darauf haben sol-len, dass ihre Angelegenheiten „angemessen, fair und rasch“ behandelt werden.89 Der textliche Unterschied zwischen fair bzw. Fairness und einer „gerechten“ Be-handlung steht dabei einem Rückgriff auf die Praxis des Bürgerbeauftragen im Rahmen der Auslegung nicht entgegen, denn in der englischen Textfassung von Art. II-101 VVE wird das Recht auf eine „gerechte“ Behandlung als „the right to have his or her affairs handled [...] fairly” bezeichnet.

b) Musterkodex für gute Verwaltungspraxis

Weiter kann zur näheren Bestimmung einer „gerechten“ Behandlung auch auf den vom Europäischen Bürgerbeauftragten ausgearbeiteten Musterkodex für gute Ver-waltungspraxis90 zurückgegriffen werden. Dieser Musterkodex soll gemäß einer Entschließung des Europäischen Parlaments künftig in eine auf Art. 308 EGV ge-stützte Verordnung aufgenommen werden, die dann verbindlich für die Verwal-tungspraxis aller gemeinschaftlichen Organe und Einrichtungen gilt91 und vermei-

86 M. Lais (Fn. 7), 462.87 Europäischer Bürgerbeauftragter, Rede vom 2. 2. 2000, CHARTE 4131/00 vom 17. 2. 2000 (http://www.euro-

ombudsman.eu.int./speeches/de/charter1.htm (Zugriffsdatum: 01. 02. 2005)). Vgl. J. Martínez Soria (Fn. 19), 682 ff.

88 Dazu S. Magiera (Fn. 16), Rn. 2; R. Streinz (Fn. 39), Rn. 3; K. Klańska (Fn. 7), 306 f.89 Europäischer Bürgerbeauftragter, Rede v. 2. 2. 2000: Öffentliche Anhörung zu dem Entwurf einer Charta der

Grundrechte der Europäischen Union, http://www.euro-ombudsman.eu.int./speeches/de/charter1.htm (Zugriffs-datum: 01. 02. 2005).

90 Abrufbar unter http://www.euro-ombudsman.eu.int/code/pdf/de/code_de.pdf (Zugriffsdatum: 01. 04. 2005).91 Entschließung v. 6. 9. 2001, ABl. 2002 Nr. C 72 E S. 331.

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den soll, dass die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaften wie bisher unter-schiedliche Grundsätze anwenden, deren Rechtsverbindlichkeit zudem nicht ge-währleistet ist.92

Da die entsprechende Verordnung noch nicht verabschiedet ist, ist der Musterkodex noch nicht unmittelbar verbindlich. Zwar hat der Bürgerbeauftragte bereits vor der letzten Abfassung der Grundrechtecharta den Musterkodex an alle Gemeinschafts-institutionen und -organe übersandt und mit der Bitte versehen, entsprechende Vor-schriften zu erlassen. Die vorgeschlagenen Vorschriften wurden aber entweder gar nicht oder nur in den Anhang der Geschäftsordnungen der Organe aufgenommen.Dies verhindert aber nicht, dass der Kodex bereits jetzt im Wege der Auslegung Eingang sowohl in die rechtsstaatlichen Grundsätze der Verwaltung als auch in Art. II-101 VVE findet93. Für das nähere Verständnis einer gerechten Behandlung im Sinne von Art. II-101 Abs. 1 VVE kann insbesondere auf die Vorstellungen zurück-gegriffen werden, die in Art. 11 des Musterkodex zum Ausdruck kommen,94 wo-nach der Beamte „unparteiisch, fair und vernünftig handeln“ soll. Die textliche Differenz zwischen „gerecht“ und „fair“ bzw. „vernünftig“ steht auch hier einem interpretatorischen Rückgriff nicht entgegen, da die englische Fassung von Art. 11 des Musterkodex „fairly and reasonably“ 95 lautet und das Recht auf eine „ge-rechte“ Behandlung in der englischen Textfassung von Art. II-101 VVE als „the right to have his or her affairs handled [...] fairly” bezeichnet wird.Darüber hinaus ist das Recht des Bürgers auf eine „gerechte“ Behandlung seiner Angelegenheiten entwicklungsoffen. Es kann von den Gemeinschaftsgerichten fortgebildet werden, wie dies bereits bisher mit den Grundsätzen zu Art. 6 Abs. 1 EUV erfolgt ist. Das Recht auf eine „gerechte“ Behandlung wird auf diese Art und Weise zu einem Recht auf Beachtung der Rechtsstaatlichkeit, wie sie von den Ge-meinschaftsgerichten entwickelt wird.

c) Erlass eines Kodex und Folgen

Aus dem Zusammenspiel der inhaltlichen Offenheit einer „gerechten“ Behandlung einerseits und der Garantie eines subjektiven Rechts auf eine solche Behandlung andererseits folgt schließlich ein spezieller Doppeleffekt des in Art. II-101 VVE kodifizierten Rechts auf eine gerechte Behandlung: Es wirkt zunächst als Anreiz zum Erlass dieses Recht konkretisierender Vorschriften, und erlassenen Vor-schriften verleiht es sodann umfassenden subjektiv-rechtlichen Charakter.Wegen der inhaltlichen Unbestimmtheit und Offenheit sowohl der rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EUV als auch der „gerechten“ Behandlung im Sinne von Art. II-101 Abs. 1 VVE ist das Risiko der Verpflichteten, gegen diese

92 Vgl. dazu J. Martínez Soria (Fn. 19), 697 ff.; M. Lais (Fn. 7), 476 ff.; S. Magiera (Fn. 16), Rn. 16 f.93 K. Klańska (Fn. 7), 306.94 Vgl. dazu auch K. Klańska (Fn. 7), 306, 312 f.95 Siehe http://www.euro-ombudsman.eu.int/code/pdf/en/code_en.pdf, S. 10 (Zugriffsdatum: 31. 01. 2005).

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Anforderungen zu verstoßen und deswegen vor den Gemeinschaftsgerichten ver-klagt zu werden, erheblich. Dieses Risiko kann dadurch reduziert werden, dass die Gemeinschaftsorgane Vorschriften erlassen, die die relativ unbestimmten Pflichten konkretisieren, klare und einheitliche Vorgaben für die Mitarbeiter aufstellen und damit die Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes reduzieren.96

Soweit derartige Vorschriften erlassen worden sind, folgen daraus sodann über Art. II-101 VVE subjektive Rechte der Bürger. Zwar können Vorschriften, die das Recht auf gute Verwaltung konkretisieren, auch wenn sie gegenüber den Mitarbeitern bindende Wirkung haben,97 nur soweit klagbare subjektive Rechte der Bürger schaffen, als ihnen Außenwirkung gegenüber den Bürgern zukommt.98 Art. II-101 Abs. 1 VVE ist aber mit dem Begriff der „gerechten“ Behandlung offen für die Praxis der Unionsorgane und rezipiert insoweit auch die konkretisierenden Vor-schriften. Daher folgt aus den konkretisierenden Vorschriften in Verbindung mit dem Recht auf „gerechte“ Behandlung über ein mögliches subjektives Recht hin-aus aus dem Gedanken der Selbstbindung der Verwaltung99 ein umfassendes sub-jektives Recht des Bürgers auf Beachtung der konkretisierenden Vorschriften. Art. II-101 Abs. 1 VVE kommt damit eine erhebliche zusätzliche Wirkung in Richtung auf die Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit der Verwaltung zugunsten des ein-zelnen Bürgers zu.Diese Wirkung von Art. II-101 Abs.1 VVE könnte mit dem Argument kritisiert werden, dass damit der Kodifizierung des Rechts auf eine gute Verwaltung zu weit-gehende Rechtswirkungen zugeordnet werden. Die Kritik vermag aber nicht zu überzeugen. Ohne eine derartige Rechtswirkung würde sich die Wirkung von Art. II-101 VVE i.V.m. einem – zu erlassenden – Kodex auf einen Anspruch auf Beach-tung der Selbstbindung der Verwaltung beschränken. Dieser besteht aber schon nach bisheriger Rechtslage, weshalb durch Art. II-101 Abs. 1 VVE gegenüber der bisherigen Rechtslage kein Fortschritt erzielt würde. Der Kritik beizupflichten wür-de deshalb dazu führen, Art. II-101 Abs. 1 VVE leerlaufen zu lassen und den vom Rechtsetzer intendierten entwicklungsoffenen Regelungsgehalt des Anspruchs auf gerechte Behandlung zu negieren.

IV. Kritik

Neue Regelungen bleiben selten ohne Kritik. Dies trifft auch auf Art. II-101 VVE zu. Der Regelung des Rechts auf gute Verwaltung wird zum einen vorgeworfen, dass sie zu justizförmig geraten sei. Die Qualität einer Verwaltung hänge nicht al-lein von deren verfahrensmäßig rechtsstaatlicher Kontrolle ab, sondern auch oder

96 Europäischer Bürgerbeauftragter, Jahresbericht 2000, ABl. Nr. C 218 v. 3. 8. 2001, S. 3 (11); M. Lais (Fn. 7), 476, 480.

97 Dafür: J. Martínez Soria (Fn. 19), 698. Zweifelnd: M. Lais (Fn. 7), 477 f.98 Vgl. dazu differenzierend J. Martínez Soria (Fn. 19), 698 ff.99 Dazu J. Martínez Soria (Fn. 19), 700 f.

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vor allem von deren Ergebnissen, weshalb diese auch berücksichtigt werden müss-ten. Aus dieser Perspektive sei Art. II-101 VVE zu stark vom Konzept des Indivi-dualrechtsschutzes geprägt und vernachlässige das Ziel einer materiell guten und effektiven Verwaltung übermäßig.100

Diese Kritik vermag nicht zu überzeugen. Allein die Regelung verwaltungsverfah-rensrechtlicher Grundrechte in Art. II-101 VVE verleiht dem Verfahren noch kei-nen übermäßigen rechtlichen Selbstand. Das Verfahren ist weiterhin Mittel zur Durchsetzung des jeweiligen materiellen Rechts.101 Selbst in Konstellationen, in denen das inhaltliche Ergebnis durch das Verfahren erheblich mitbestimmt werden kann, verlangt Art. II-101 VVE lediglich ein der Verwaltungstätigkeit angemes-senes Maß an Verfahrensweisen, die die Beachtung des Rechts sichern.102 Schließ-lich ist darauf hinzuweisen, dass auch das Recht aus Art. II-101 VVE dem Bürger keinen grenzenlosen Schutz vermittelt, sondern eingeschränkt werden kann. Im Ergebnis steht Art. II-101 VVE daher einer guten im Sinne einer effektiven und effizienten Verwaltung nicht entgegen.103

Zum anderen wird der Regelung des Art. II-101 VVE vorgeworfen, dass sie am Konzept liberaler Individualrechte orientiert sei und deshalb jenseits von Individu-alinteressen liegende Gemeinschafts- und Gruppeninteressen zu stark vernachläs-sige. Öffentliche Verwaltung sei stets auf das Gemeinwohl bezogen. Der Schutz der Rechte einzelner Bürger sei dabei zwar ein wichtiges Anliegen, aber gegenüber der Verwirklichung des Gemeinwohls sekundär. Aus dieser Perspektive sei die Grund-rechtecharta und das darin garantierte Recht auf eine gute Verwaltung einseitig geraten, da die Verwaltung durch die Regelung des Art. II-101 VVE allein aus der Sicht des einzelnen Bürgers angesprochen sei.104

Auch diese Kritik vermag nicht zu überzeugen. Zunächst vernachlässigt die der Kritik zugrunde liegende diametrale Gegenüberstellung von Individualinteressen und Gemeinschaftsinteresse, dass das allgemeine Wohl durchaus durch Individu-alinteressen und entsprechende subjektive Rechte befördert werden kann. Insbe-sondere die Entwicklung der subjektiven Rechte im Gemeinschaftsrecht hat deut-lich gemacht, dass der Einzelne mittels subjektiver Rechte zum Motor für die Durchsetzung des objektiven Rechts und damit auch von Gemeinschaftsinteressen werden kann.105 Darüber hinaus verkennt die Kritik, dass das Verwaltungsverfah-rensrecht im Grundsatz keinen Selbstand hat, sondern im Zusammenhang mit dem

100 M. Bullinger (Fn. 14), S. 28 ff.101 R. Wahl, DVBl. 2003, 1285 (1286); K. Klańska (Fn. 7), 323.102 So auch selbst M. Bullinger (Fn. 14), S. 30.103 Damit entfällt die Notwendigkeit einer Interpretation im Sinne eines Rechts auf eine effektive Verwaltung, wie

sie M. Bullinger (Fn. 14), S. 30 f. verfolgt.104 K. Klańska (Fn. 7), 299, 323 ff.105 Siehe dazu insbesondere die differenzierende Sicht von S. Kadelbach, in: J. Schwarze (Hrsg.), Die rechtsstaat-

liche Einbindung der europäischen Wirtschaftsverwaltung, Europarecht Beiheft 2/2002, S. 7 (25 f.), sowie F. Schoch, Die europäische Perspektive des Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrechts, in: E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999, 279 (296 f.). In diese Richtung auch M. Bullinger (Fn. 14), S. 32.

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materiellen Recht zu sehen ist. Soweit gruppenspezifische bzw. überindividuelle Interessen gefördert und durchgesetzt werden sollen, kann dies durch entspre-chende Vorgaben im materiellen Recht differenzierter, spezifischer und damit ziel-genauer erreicht werden, als dies eine pauschale Änderung von Art. II-101 VVE bewirken könnte. Dies gilt auch für überindividuelle Verfahrensrechte, wie z.B. Verbandsklagen, die bereichsspezifisch deutlich differenzierter geregelt werden können als durch eine pauschale Erweiterung von Art. II-101 VVE.106

V. Ausblick

Im Ergebnis erweisen sich die Generalkritiken an Art. II-101 VVE als nicht über-zeugend. Der Gedanke der Grundrechtssicherung durch Verfahren, der der bishe-rigen Spruchpraxis des EuGH zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV zugrunde liegt, findet nunmehr in Art. II-101 VVE eine explizi-te Ausformung,107 erhält damit mehr Rechtssicherheit108 und führt zu einem besse-ren Schutz des einzelnen Bürgers gegenüber der Verwaltung.109 In Verbindung mit der neueren Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zu den rechtsstaatlichen Verfahrensrechten gegenüber der Gemeinschaftsverwaltung belegt dies die pro-gressive Entwicklung des administrativen Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene. Art. II-101 VVE wirkt dabei bereits vor Verbindlichkeit der Grund-rechtecharta als argumentativer Katalysator und ist damit ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einem mit rechtsstaatlichen Garantien versehenen europäischen Ver-waltungsrecht.110

Art. II-101 VVE ist zwar in einigen Bereichen relativ offen und unbestimmt. 111 Die Basis zur Bewältigung der damit verbundenen Herausforderungen ist aber be-reits gelegt in der bisherigen Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen, den Arbeiten des Grundrechte-Konvents sowie den Aktivitäten des Bürgerbeauftragten einschließlich des Musterkodexes für eine gute Verwaltungspraxis. Diese Grundlagen sind für die Auslegung von Art. II-101 VVE fruchtbar zu machen.Hier sind die Gemeinschaftsgerichte gefordert, die zu den Rechten der Bürger im Verwaltungsverfahren Stellung beziehen und diese konkretisieren müssen. Das Stocken des Ratifikationsprozesses hat daran nichts geändert, denn die Rechtslage ist dadurch in Hinsicht auf Art. II-101 VVE nicht verändert worden. Insbesondere steht es den Gerichten zumindest bis zum endgültigen Scheitern der Ratifikations-bemühungen weiterhin offen, über Art. 6 Abs. 1 EUV und das aus der Rechtsstaat-

106 Den Charakter als allgemeine Regelung anerkennt auch K. Klańska (Fn. 7), 325.107 Zur Auswirkung der Grundrechtecharta auf die Rechtsprechung des EuGH siehe C. Callies, EuZW 2001, 261

(267); C. Grabenwarter, in: FS für T. Öhlinger, 2004, 469 (472).108 K. Klańska (Fn. 7), 325.109 K. Klańska (Fn. 7), 326.110 J. Schwarze (Fn. 9), 383; K. Klańska (Fn. 7), 305.111 K. Klańska (Fn. 7), 325 f.

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lichkeit der Gemeinschaft folgende Recht auf eine geordnete Verwaltung, auf Art. II-101 VVE zu rekurrieren als Bekräftigung dieses Rechts, wie dies in der max.mobil-Entscheidung des EuG geschehen ist.Die Gerichte können damit durch Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung im Be-reich der administrativen Grundrechte weiterhin zentraler Impulsgeber für das Ver-waltungsrecht der Union bleiben.112 Sie haben es damit in der Hand, Art. II-101 VVE zu einem Meilenstein zu machen auf dem Weg zu einer besseren europä-ischen Verwaltung. Das Recht auf eine gute Verwaltung garantiert zwar noch keine inhaltlich gute Verwaltung.113 Aber es ist geeignet, das Vertrauen des Bürgers in den ordnungsgemäßen Ablauf der Verwaltungsvorgänge zu befördern und damit zur Legitimation der Union beizutragen.

112 J. Schwarze (Fn. 9), 383; H. Nehl (Fn. 7), S. 37; K. Klańska (Fn. 7), 307.113 M. Bullinger (Fn. 14), S. 28 ff.; K. Klańska (Fn. 7), 326.

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Die verteidigungspolitischen Kompetenzen der Europäischen Union

Von Sebastian Graf Kielmansegg, Mannheim*

Man hat sich schon beinahe daran gewöhnt, dass die Europäische Union ein militä-risches Gesicht bekommen hat. Dabei ist dieses Gesicht noch sehr jung. Erst Ende 1998 begann der Aufbau dessen, was seitdem als Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) bezeichnet wird. Nicht nur war dieser Schritt für die Entwicklung der Union und des europäischen Sicherheitssystems von ganz grund-legender Bedeutung, er wurde auch ungewöhnlich rasch und energisch umgesetzt. Die Frage nach Rechtsgrundlage und Kompetenz für diese weitreichende Entwick-lung ist jedoch kaum gestellt worden. Dabei darf die EU, wie jede internationale Organisation, nur in dem Rahmen handeln, der von ihrem Gründungsvertrag vor-gegeben ist. Gestattet der Unionsvertrag also der EU die Durchführung militä-rischer Operationen, den Rückgriff auf nationale oder gar den Aufbau europäischer Streitkräfte? Oder allgemeiner gefragt: Wie weit reicht die verteidigungspolitische Verbandskompetenz der Europäischen Union?

I. Die „kopernikanische Wende“ der EU: von der Zivilmacht zum verteidigungs politischen Akteur

Der Schlüssel zum Verständnis der einschlägigen Normen im Unionsvertrag liegt in der historischen und konzeptionellen Distanz, die sich über viele Jahre hinweg zwischen europäischem Integrationsprozess und Verteidigungspolitik aufgebaut hatte. Seit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 waren beide für rund vierzig Jahre streng getrennte Wege gegangen. Verteidigungspoli-tische Kooperation war keine europäische, sondern eine atlantische Angelegenheit. Sie erfolgte in der NATO und ansatzweise in der Westeuropäischen Union (WEU). Die Europäischen Gemeinschaften hingegen wurden sorgsam von der Verteidi-gungspolitik ferngehalten. Sie erschienen auf der internationalen Bühne als Schaf im Schafspelz. Man hat dies vielfach nicht nur als Charakteristikum, sondern auch als Vorteil der EG betrachtet: Wer in einer Welt voller Wölfe für alle erkennbar nur ein Schaf ist, wird nicht als Bedrohung empfunden und erscheint besonders ver-trauenswürdig. Dieses Leitbild einer „Zivilmacht“ hat auf viele Betrachter eine be-trächtliche Anziehungskraft ausgeübt.1

* Der Verfasser ist Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Deutsches und Ausländisches Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht (Prof. Dr. Eibe Riedel) an der Universität Mannheim. Dieser Aufsatz stellt eine zentrale These der Dissertation des Verfassers vor (Die Verteidigungspolitik der Europäischen Union, Stuttgart u.a. 2005, zugleich Diss. Mannheim 2005).

1 Zum Begriff der Zivilmacht und der daran anknüpfenden Debatte über die Formen europäischer Außenpolitik s. statt vieler Ehrhart, Hans-Georg, What model for CFSP?, ISS Chaillot Papers 55, Paris 2002, S. 10 ff.; Wag-ner, Wolfgang/ Hellmann, Gunther, Zivile Weltmacht? Die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union, in: Markus Jachtenfuchs/ Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, 2. Aufl.,

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Auch die Gründung der Europäischen Union änderte dieses Bild nur marginal. Im-merhin wurde die GASP nunmehr in Art. J.4 EUV – seit Amsterdam Art. 17 EUV – explizit auch auf die Verteidigungsdimension erstreckt. Aber weil dieser Schritt zwischen den Mitgliedstaaten heftig umstritten war, geriet die neue verteidigungs-politische Rechtsgrundlage zu jener unklaren Kompromissformel, die gleich im Einzelnen zu analysieren sein wird. Mehr noch: Der EU wurde im Unionsvertrag eine operative Handlungsunfähigkeit verordnet. Sie erhielt keine eigenen opera-tiven (militärischen oder zivilen) Kapazitäten, sondern wurde darauf verwiesen, zur Umsetzung ihrer verteidigungspolitischen Beschlüsse auf die WEU zurückzu-greifen.2 In diesem eigentümlichen verteidigungspolitischen Verbund zwischen EU und WEU blieb die Union ein Schaf, dem ein Wolf zur Verfügung gestellt worden war. Die Trennung zwischen entscheidendem Schaf und ausführendem Wolf führte jedoch zwangsläufig zu überaus komplizierten und schwerfälligen Entscheidungs-prozessen. Überdies war auch die WEU kaum mehr als ein Schaf, dem man halb-herzig einen Wolfspelz umgehängt hatte, denn sie verfügte nur über geringe militä-rische Kapazitäten und Fähigkeiten. Die Verteidigungsdimension, wie sie sich aus dem Unionsvertrag in den Fassungen von Maastricht und Amsterdam ergab, war deshalb im Wesentlichen ein theoretisches Konstrukt, dessen praktische Anwen-dungsfälle Marginalien blieben.Nur sehr zögerlich setzte sich die Einsicht durch, dass dieses Konstrukt weder funktions- noch entwicklungsfähig war.3 Die ESVP ist das Ergebnis dieser Ein-sicht. Mit ihr wurde der verteidigungspolitische Verbund mit der WEU aufgelöst. Die EU sollte operativ auf eigene Füße gestellt und die Verteidigungsdimension des Unionsvertrages zum Leben erweckt werden. Für die EU war das ein ebenso großer wie gewagter Schritt. Er erschütterte das traditionelle Selbstverständnis der EU als einer reinen Zivilmacht.4 Er führte die EU als Spätankömmling in eine ver-teidigungspolitische Arena, in der sie sich in ein komplexes System bereits etab-lierter Akteure einfügen musste. Er stellte die EU vor die Herausforderung, militä-rische Strukturen und einen Streitkräfteplanungsprozess aufzubauen. Und er be-rührt die Souveränität der Mitgliedstaaten an einem besonders heiklen Punkt. Zugleich ist die ESVP integrationspolitisch von erheblicher Bedeutung. Hatte das Scheitern der EVG die Verteidigungspolitik auf einen Sonderweg geführt, der sie für über vier Jahrzehnte von dem Hauptpfad des europäischen Integrationspro-zesses trennte, so sind mit der ESVP beide Stränge nunmehr wieder zusammenge-

Opladen 2003, S. 569-596 (575 ff.); Dembinski, Matthias, Kein Abschied vom Leitbild „Zivilmacht“. Die Eu-ropäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Zukunft Europäischer Außenpolitik, HSFK-Report 12/2002, Frankfurt a.M. 2002.

2 Art. J.4 Abs. 2 EUV in der Fassung von Maastricht; Art. 17 Abs. 1 UA 2 u. Abs. 3 EUV in der Fassung von Amsterdam.

3 Das Startsignal für diese Wende war die gemeinsame britisch-französische Erklärung von St. Malo vom 3./4.12.1998, abgedruckt in: Rutten, Maartje (Hrsg.), From St. Malo to Nice. European defence: core docu-ments, Bd. 1, Chaillot Paper 47, 2001, S. 8 f.

4 S. etwa die Kritik von Smith, Karen Elizabeth, The End of Civilian Power EU: A Welcome Demise or Cause for Concern?, Int Spectator 35 (2/2000), S. 11-28.

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führt worden. Eine der letzten großen Bereichsausnahmen, von denen die Union noch ferngehalten worden war, ist damit entfallen.Als diese fundamentale Entscheidung nach vielen Jahren zähen Ringens einmal getroffen war, wurde sie rasch und öffentlichkeitswirksam umgesetzt. Schon Ende 1999 wurde das Helsinki Headline Goal beschlossen,5 der Aufbau einer Schnellen Europäischen Eingreiftruppe, der bis 2003 erreicht sein sollte und bereits von einem zweiten Planziel, dem Headline Goal 2010 abgelöst worden ist.6 Drei Mili-täroperationen sind mittlerweile unter Verantwortung der EU durchgeführt worden: in Mazedonien, im Kongo und seit Dezember 2004 in Bosnien-Herzegowina, wo die dortige SFOR-Mission der NATO abgelöst worden ist. All dies geschah und geschieht weitgehend ohne eine Änderung des Unionsvertrages. Nur die obsolet gewordenen Bezugnahmen auf die WEU wurden in Nizza aus dem Unionsvertrag gestrichen.7 Die kopernikanische Wende8 der EU von einer Zivil- und Wirtschafts-macht zum verteidigungspolitischen Akteur wurde gewissermaßen zwischen den Zeilen des Unionsvertrages vollzogen.

II. Umfang und Grenzen der verteidigungspolitischen Verbandskompe-tenz der EU

Die zentrale verteidigungspolitische Kompetenzgrundlage, die vor diesem Hinter-grund zu analysieren ist, befindet sich in Art. 17 Abs. 1 UA 1 EUV.9 Das Verständ-nis dieser Norm bereitet in dreierlei Hinsicht Schwierigkeiten: Zum einen wird bei der Umschreibung der verteidigungspolitischen Kompetenzen zwischen zwei Er-scheinungsformen differenziert – zwischen „gemeinsamer Verteidigungspolitik“ und „gemeinsamer Verteidigung“ –, ohne diese Begrifflichkeiten näher zu erläu-tern. Zum zweiten werden beide Komponenten nur unter bestimmten Vorbehalten in die GASP einbezogen. Und drittens ist der im Unionsvertrag verwendete Ver-

5 Europäischer Rat am 10./11.12.1999 in Helsinki, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ziff. 28, u. Bericht des Vorsitzes zur Stärkung der GESVP, abgedruckt in: Rutten (Hrsg.), From St. Malo to Nice, S. 82 ff.

6 Europäischer Rat am 12./13.12.2003 in Brüssel, Bericht des Vorsitzes über die ESVP, Ziff. 7, abgedruckt in: Missiroli, Antonio (Hrsg.), From Copenhagen to Brussels. European defence: core documents, Bd. 4, Chaillot Papers 67, 2003, S. 299 ff.; Europäischer Rat am 17./18.6.2004 in Brüssel, Bericht des Vorsitzes über die ESVP, Anlage I: Streitkräfte-Planziel 2010, abgedruckt in: EU-Institut für Sicherheitsstudien ISS (Hrsg.), European defence: core documents 2004, Bd. 5, Chaillot Papers 75, 2005, S. 111 ff.

7 Die einzige übrige Vertragsänderung von Nizza, die sich auf die ESVP bezog, betraf die Regelung des Politi-schen und Sicherheitspolitischen Komitees in Art. 25 EUV.

8 Begriff nach Heisbourg, François, European defence takes a leap forward, NATO Review 48 (1/2000), S. 8-11 (8), der von einem „change of Copernican proportions“ spricht – allerdings nicht mit Blick auf die EU selbst, sondern auf den aufsehenerregenden britischen Kurswechsel Ende 1998, der den ESVP-Prozess einleitete.

9 „Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik umfasst sämtliche Fragen, welche die Sicherheit der Union betreffen, wozu auch die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte, falls der Europäische Rat dies beschließt. Er empfiehlt in diesem Fall den Mitgliedstaaten, einen solchen Beschluss gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften anzunehmen.“ Diese Formulierung ist beinahe unverändert in Art. I-41 Abs. 2 UA 1 und in ähnlicher Form in Art. I-16 Abs. 1 des Verfassungsvertrages übernommen worden.

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teidigungsbegriff mehrdeutig. Die Literatur tut sich angesichts dieser Schwierig-keiten mit einer befriedigenden Interpretation schwer.10

Soll eine klare und schlüssige Deutung der verteidigungspolitischen Kompetenz-grundlage gelingen, so muss die Analyse sich auf die einschlägigen völkerrecht-lichen Auslegungsmethoden zurückbesinnen:11 Sie muss vom Wortlaut und syste-matischen Zusammenhang der Klausel ausgehen und den objektiven, in den Ver-tragstext eingegangenen Willen der Vertragsparteien berücksichtigen – wozu auch das Interesse an der Funktions- und Entwicklungsfähigkeit der EU zählt. Auf die-ser Grundlage sind die Vorbehalte, denen Art. 17 Abs. 1 UA 1 EUV die Verteidi-gungsdimension unterwirft, von zentraler Bedeutung für das Verständnis dieser Vorschrift. Denn durch die Differenzierung, die sie zwischen gemeinsamer Vertei-digungspolitik und gemeinsamer Verteidigung vornehmen, geben diese Vorbehalte der Vorschrift ihre eigentümlich abgestufte Struktur. Über diese Differenzierungen hinweg wiederum wird der gesamte Artikel 17 EUV vom Verteidigungsbegriff zu-sammengehalten, der als gemeinsamer Bestandteil der verschiedenen Tatbestands-varianten erscheint und – so darf man zumindest vermuten – dabei einen einheit-lichen Bedeutungsgehalt besitzt. Normstruktur und Verteidigungsbegriff bilden die Grundlage für die konkrete Auslegung und Abgrenzung der beiden kompetenzbe-stimmenden Tatbestandselemente: der gemeinsamen Verteidigung und der gemein-samen Verteidigungspolitik. An dieser Stelle wird die eingangs angesprochene his-torische und konzeptionelle Distanz zwischen europäischem Integrationsprozess und Verteidigungspolitik zum Tragen kommen.

1. Die Normstruktur: abgestufte Einbeziehung der Verteidigungs-dimension

Art. 17 Abs. 1 UA 1 EUV unterwirft die gemeinsame Verteidigungspolitik und die gemeinsame Verteidigung zwei voneinander abweichenden Vorbehalten, die sie in auffälliger Weise von der allgemeinen Sicherheitspolitik abheben. Welche Bedeu-tung haben diese Vorbehalte?Hinsichtlich der gemeinsamen Verteidigungspolitik spricht Art. 17 EUV seit Ams-terdam von einer „schrittweisen Festlegung“. Anders als bei der noch vager gehal-tenen Maastrichter Fassung ist weitgehend anerkannt, dass es sich dabei nicht um einen Kompetenzausschluss handelt. Das Wort „schrittweise“ impliziert ein ste-tiges Voranschreiten, dessen Beginn nicht erst der Zukunft vorbehalten bleibt.12 Die Formulierung stellt also nicht etwa die Existenz der Unionszuständigkeit für die gemeinsame Verteidigungspolitik in Frage, sondern betrifft lediglich die Reali-

10 Für einen Überblick über das Meinungsbild s. Kielmansegg, Verteidigungspolitik der EU, S. 119 ff. m.w.N.11 Art. 31 Wiener Vertragsrechtskonvention. Vgl. zu der objektiven völkerrechtlichen Auslegungsmethode Ipsen,

Knut, Völkerrecht, 5. Aufl., München 2004, darin: Wolff Heintschel von Heinegg, 3. Kapitel, § 11.12 Vgl. auch die englische Version „including the progressive framing of a common defence policy“ im Gegensatz

zu “eventual framing” in der Maastrichter Fassung.

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sierung dieser Zuständigkeit. Sie macht deutlich, dass die Union auch in Amster-dam noch nicht den Anspruch erhoben hat, ihre verteidigungspolitische Kompetenz von Beginn an umfassend wahrzunehmen, sondern sich darauf beschränken wollte, sie im Rahmen eines allmählichen Prozesses nach und nach zu verwirklichen. Wenn und soweit aber der politische Wille besteht, ist die Union nicht aus Kompe-tenzgründen gehindert, ihre Verteidigungspolitik durch Beschlüsse innerhalb des GASP-Systems zu realisieren. Einer Vertragsänderung bedarf es dafür nicht.13 Anders steht es mit der gemeinsamen Verteidigung. Sie wird einem ganz anderen Vorbehalt unterworfen. In Art. 17 Abs. 1 UA 1 EUV heißt es, dass die gemeinsame Verteidigungspolitik „zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte, falls der Europäische Rat dies beschließt. Er empfiehlt in diesem Fall den Mitgliedstaaten, einen solchen Beschluss gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften anzuneh-men.“ Obwohl die genaue dogmatische Bedeutung dieser Evolutivklausel umstrit-ten ist,14 so bleibt ihr Kerngehalt doch klar: Die gemeinsame Verteidigung zählt – noch – nicht zu den Unionskompetenzen. Nur ihre zukünftige Einbeziehung durch ein spezielles Verfahren wird ermöglicht. Es handelt sich also nicht um eine Kom-petenz, sondern um eine Entwicklungsoption. Die Ausübung dieser Option ist kein Unionsinternum, denn sie setzt neben einem Beschluss des Europäischen Rates die Annahme durch jeden Mitgliedstaat voraus, also ein Ratifikationsverfahren, an dem nach Maßgabe der jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorgaben die nationalen Parlamente beteiligt sind. Solange ein solches Verfahren noch nicht durchgeführt wurde, fällt die gemeinsame Verteidigung somit nicht in den Zuständigkeitsbereich der EU.15

Für die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik hingegen gilt die Evolutivklausel eindeutig nicht. Sie bestätigt daher im Umkehrschluss den textlichen Befund, dass die gemeinsame Verteidigungspolitik schon jetzt Bestand-teil der Unionskompetenzen ist.

13 Das ist, soweit ersichtlich, unstreitig. S. z.B. Warnken, Monja, Der Handlungsrahmen der Europäischen Union im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Baden-Baden 1999, zugleich Diss. München 1998, S. 145; Hüwelmeier, Hans-Joachim, Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zwischen Union, Gemein-schaft und Mitgliedstaaten, Köln u.a. 2001, zugleich Diss. Greifswald 2001, S. 78; Grabitz, Eberhard/ Hilf, Meinhard (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt-Augabe, 22. EL, München August 2003, dar-in: Werner Kaufmann-Bühler: Art. 17, Rn. 3 u. 9.

14 Überwiegend wird die Evolutivklausel schlicht als eine erleichterte Form der Vertragsänderung angesehen, s. etwa Gerteiser, Kristina, Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union, Frankfurt a.M. u.a. 2002, zugleich Diss. Regensburg 2001, S. 221 f.; Calliess, Christian/ Ruffert, Matthias (Hrsg.), Kommentar des Vertrages über die EU und des Vertrages zur Gründung der EG, 2. Aufl., Neuwied/ Kriftel 2002, darin: Hans-Joachim Cremer: Art. 17, Rn. 1. Einige Autoren deuten die Evolutivklausel statt dessen als spezielle Er-mächtigungsgrundlage für die Weiterentwicklung des Unionsrechtes, so Thym, Daniel, Die Begründung einer europäischen Verteidigungspolitik, DVBl 115 (2000), S. 676-682, S. 679 f.; Thun-Hohenstein, Christoph, Der Vertrag von Amsterdam, Wien u.a. 1997, S. 68 u. 70. Freilich handelt es sich auch in dieser Deutung um eine Vertragsänderung, allerdings mit der Besonderheit, dass sie sich im Rahmen des übrigen Primärrechts halten muss.

15 So die ganz h.M., s. etwa Warnken, Handlungsrahmen der EU, S. 146; Gerteiser, Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik der EU, S. 70; Calliess/Ruffert-Cremer, Art. 17, Rn. 1; Grabitz/Hilf-Kaufmann-Bühler, Art. 17, Rn. 39; Geiger, Rudolf, Vertrag über die EU und Vertrag zur Gründung der EG – Kommentar, 4. Aufl., München 2004, Art. 17, Rn. 4.

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Während die gemeinsame Verteidigung und gemeinsame Verteidigungspolitik den gerade erörterten Vorbehalten unterliegen, kennt der EUV daneben noch den Ter-minus der Maßnahmen/Fragen/Beschlüsse mit verteidigungspolitischen Bezügen. Dieser wird schon seit der Maastrichter Fassung für Konstellationen benutzt, in denen die Union ganz offenkundig ohne jeden Vorbehalt zuständig sein soll – ins-besondere für militärische Aktionen, für deren Umsetzung eine Inanspruchnahme der WEU vorgesehen und jederzeit möglich war.16 Daraus ist verschiedentlich der Schluss gezogen worden, Maßnahmen mit verteidigungspolitischen Bezügen seien nicht der Verteidigungsdimension, sondern dem Bereich der Sicherheitspolitik zu-zuordnen, denn nur diese sei uneingeschränkter Bestandteil der GASP.17 Eine sol-che Begriffsverwirrung ist jedoch für ein schlüssiges Gesamtbild nicht erforder-lich. Es liegt näher, in dieser Terminologie des EUV eine Bestätigung der These zu sehen, dass die gemeinsame Verteidigungspolitik bereits Bestandteil der Unions-kompetenzen ist. Ihre umfassende Realisierung ist zwar nur „schrittweise“ vorgese-hen, punktuelles Handeln hingegen wurde von Beginn an angestrebt. „Maßnahmen mit verteidigungspolitischen Bezügen“ sind derartige Aktionen, die im Einzelfall in den Bereich der Verteidigungspolitik hineinreichen, ohne sie umfassend in An-griff zu nehmen.Im Ganzen nimmt der EUV also folgende Abstufung vor: • Die allgemeine Sicherheitspolitik ist ohne Einschränkung von der GASP um-

fasst. • Die gemeinsame Verteidigungspolitik fällt ebenfalls in den Zuständigkeitsbe-

reich der Union, ist aber insofern prozesshaft angelegt, als eine Realisierung dieser Kompetenz nur schrittweise vorgesehen ist; derartige Schritte können je-derzeit innerhalb des GASP-Systems beschlossen werden und sind als punktu-elle „Maßnahmen mit verteidigungspolitischen Bezügen“ im Unionsvertrag auch bereits Gegenstand von Sonderregelungen.

• Die gemeinsame Verteidigung hingegen liegt noch außerhalb der Unionszustän-digkeiten. Sie kann jedoch unter Anwendung der Evolutivklausel in einem ge-genüber der normalen Vertragsänderung vereinfachten Verfahren einbezogen werden.

16 Art. J.4 Abs. 2 EUV in der Fassung von Maastricht; Art. 17 Abs. 3 EUV in der Fassung von Amsterdam. S. jetzt aber auch Art. 13 Abs. 1, 17 Abs. 3, 23 Abs. 2 a.E., 27b u. 28 Abs. 3 EUV bzw. Art. III-295 Abs. 1, III-300 Abs. 4, III-313 Abs. 2 und III-422 Abs. 3 des Verfassungsvertrages.

17 S. Frowein, Jochen, Auf dem Wege zu einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: Christian Tomuschat (Hrsg.), Rechtsprobleme einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Heidelberg 1997, S. 11-18 (13); Hüwelmeier, GASP zwischen Union, Gemeinschaft und Mitgliedstaaten, S. 77; i.E. auch Gertei-ser, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, S. 97. Verständlich ist diese These nur auf der Grundlage von Art. J.4 Abs. 1 EUV in der Fassung von Maastricht, in der tatsächlich noch unklar war, ob die EU bereits die Kompetenz für eine gemeinsame Verteidigungspolitik besitzt.

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2. Der Verteidigungsbegriff des Unionsvertrages

War bisher von der Struktur der Verteidigungsdimension des EUV die Rede, so stellt sich nun die Frage nach ihrem Inhalt. Ausgangspunkt dafür ist der gemein-same Kernbegriff der relevanten Kompetenzvorschriften in Art. 17 EUV – der Be-griff der „Verteidigung“. Verteidigung bedeutet im eigentlichen Wortsinn territoriale Selbstverteidigung ge-gen einen bewaffneten Angriff. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der unions-vertragliche Verteidigungsbegriff ausgerechnet diesen eigentlichen Begriffskern ausschließen will. Zwar ließe sich einwenden, dass der Unionsvertrag den Verteidi-gungsbegriff lediglich mit den sogenannten Petersberg-Aufgaben in Art. 17 Abs. 2 EUV konkretisiert, die gerade nicht die Selbstverteidigung, sondern nur das Krisen-management betreffen. Aber diese Aufzählung ist ausdrücklich nicht abschließend.18 Mehr noch: In Art. 17 Abs. 1 UA 2 EUV wird der Verteidigungsbegriff in einem Zusammenhang verwendet, der sich eindeutig auf Fragen der territorialen Selbstver-teidigung bezieht.19 Dort heißt es, dass einige Mitgliedstaaten ihre „gemeinsame Verteidigung in der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) verwirklicht sehen“ – und die zentrale Aufgabe der NATO ist immer noch die Bündnisgarantie.Der Verteidigungsbegriff des EUV schließt also die territoriale Selbstverteidigung ein.20 Er beschränkt sich jedoch nicht darauf. Schon als Begriff impliziert er kei-neswegs eine Eingrenzung auf die Territorialverteidigung. In der politischen Praxis ist er seit langem zu einem unverfänglicheren Synonym für militärische Angele-genheiten schlechthin geworden.21 Und im Völkerrecht ist für die Territorialvertei-digung ohnehin ein etwas anderer Terminus üblich, nämlich „Selbstverteidigung/ self-defence“. Darüber hinaus enthält der Unionsvertrag ganz konkrete Hinweise darauf, dass der Verteidigungsbegriff sich auch auf das militärische Krisenmanage-ment, ja sogar generell auf die außen- und sicherheitspolitische Nutzung militä-rischer Mittel bezieht. Die EPZ – die Vorgängerin der GASP – war noch explizit auf die „politischen und wirtschaftlichen Aspekte der Sicherheit“ beschränkt gewe-sen.22 Diese Beschränkung wurde in Maastricht aufgehoben. Die GASP umfasst

18 Ebenso jetzt Art. III-309 Abs. 1 des Verfassungsvertrages.19 Noch deutlicher wird das im Verfassungsentwurf des Konvents, der die in Art. 40 Abs. 7 vorgesehene Bei-

standsklausel als „gegenseitige Verteidigung“ bezeichnete. Allerdings findet sich diese Formulierung in der endgültigen Fassung des Vertrages nicht mehr wieder.

20 So i.E. die ganz h.M, s. die Nachweise bei Kielmansegg, Verteidigungspolitik der EU, S. 123, Fn. 57. A.A. Or-tega, Martin, Military intervention and the European Union, ISS Chaillot Paper 45, Paris 2001, S. 105.

21 Ebenso Roper, John, Defining a common defence policy and common defence, in: ders./ Lau rence Martin (Hrsg.), Towards a common defence policy, Paris 1995, S. 7-12 (8, Fn. 2); Duke, Simon, CESDP: Nice’s Over-trumped Success?, in: European Foreign Affairs Review 6 (2001), S. 155-175 (157). Vgl. auch Gerteiser, Si-cherheits- und Verteidigungspolitik der EU, S. 97; von der Groeben, Hans/ Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Kommen-tar zum Vertrag über die EU und zur Gründung der EG, 6. Aufl., Baden-Baden 2003, darin: Günter Burghardt/ Gerd Tebbe/ Stephan Marquardt, Art. 17, Rn. 1.

22 Londoner Bericht der Außenminister über die EPZ vom 13.10.1981, Bull. EG 14 (1981), Beilage 3, S. 15 ff.; Stuttgarter Deklaration zur Europäischen Union vom 19.6.1983, Ziff. 1.4.2. und 3.2., Bull. EG 16 (6/1983), S. 26 ff.; Art. 30 Abs. 6 lit. a S. 2 der Einheitlichen Europäischen Akte.

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laut Art. J.4 Abs. 1 und nunmehr Art. 17 Abs. 1 UA 1 EUV „sämtliche Fragen“ der Sicherheit der EU. Da die Verteidigungspolitik in demselben Satz geregelt ist, soll mit ihr offenbar gerade die Lücke geschlossen werden, die die EPZ noch gelassen hatte, nämlich die militärischen Aspekte der Sicherheit. Für das militärische Krisenmanagement gilt ohnehin, dass es eine explizite Rechts-grundlage besitzt, seit in Amsterdam die Petersberg-Aufgaben in Art. 17 Abs. 2 EUV aufgenommen wurden.23 Allenfalls ließe sich argumentieren, diese Rechts-grundlage sei nicht der Verteidigungsdimension, sondern dem Begriff der Sicher-heitspolitik zuzuordnen. Aber diese Annahme ist nicht plausibel. Dagegen spricht – neben den oben schon angeführten Argumenten – die systematische Stellung der Petersberg-Aufgaben in Art. 17 EUV. Auch hat der Unionsvertrag in den Fassungen von Maastricht und Amsterdam den Verteidigungsbegriff im unmittelbaren Zusam-menhang mit dem Krisenmanagement gebraucht. So bezeichnete er diejenigen Ent-scheidungen und Aktionen, für die die Union damals noch die WEU in Anspruch nehmen sollte, als solche mit „verteidigungspolitische[n] Bezüge[n]“,24 und in der Amsterdamer Fassung sprach er außerdem davon, dass die WEU die Union „bei der Festlegung der verteidigungspolitischen Aspekte“ der GASP unterstütze.25 Ge-meint war damit das Krisenmanagement. Nur das Krisenmanagement stand damals wie heute als militärisches Betätigungsfeld der EU ernsthaft zur Debatte und nur im Krisenmanagement besaß die WEU seit ihrer Wiederbelebung in den 1980er-Jahren Kapazitäten, die sie der EU zur Verfügung stellen konnte. Gemeint war, um noch konkreter zu werden, die Durchführung der Petersberg-Aufgaben, die 1992 als neues Betätigungsfeld der WEU formuliert26 und in Amsterdam in den Unions-vertrag übernommen worden waren. Daraus folgt, dass mit „Maßnahmen mit ver-teidigungspolitischen Bezügen“ gerade die Durchführung von Krisenbewälti-gungsopera tio nen gemeint war. Das ist ein weiterer, klarer Anhaltspunkt dafür, dass der Verteidigungsbegriff des Unionsvertrages das militärische Krisenmanagement mit einbezieht. Es ist daher plausibel, den Verteidigungsbegriff des Unionsver-trages ganz generell als die militärische Seite der GASP zu begreifen. Er umfasst die Verfolgung aller sicherheitsrelevanten Aufgaben und Ziele der GASP gem. Art. 11 Abs. 1 EUV mit militärischen Mitteln.27

23 Nunmehr in erweiterter Form in Art. III-309 Abs. 1 des Verfassungsvertrages.24 Art. J.4 Abs. 2 in der Fassung von Maastricht; Art. 17 Abs. 3 UA 1 in der Fassung von Amsterdam.25 Art. 17 Abs. 1 UA 2 S. 2 in der Fassung von Amsterdam.26 Petersberg-Erklärung des WEU-Ministerrates vom 19.6.1992, insb. Abschnitt II. Ziff. 4, abgedruckt in: Bloed,

Arie/ Wessel, Ramses A. (Hrsg.), The Changing Functions of the Western European Union (WEU), Dordrecht u.a. 1994, S. 137 ff.

27 Ähnlich Roper, in: ders./ Lau rence Martin (Hrsg.), Towards a common defence policy, S. 8 f.; wohl auch Groe-ben/Schwarze-Burghardt/Teb be/Mar quardt, Art. 17, Rn. 1.

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3. Gemeinsame Verteidigung und gemeinsame Verteidigungspolitik

a) Grundsätzliche Abgrenzung

Der Verteidigungsbegriff – die Nutzung militärischer Mittel im Dienste der GASP also – bestimmt den gemeinsamen situativen Anwendungsbereich der beiden Tat-bestandsmerkmale, aus deren Zusammenspiel sich die verteidigungspolitische Ver-bandskompetenz der EU ergibt: der „gemeinsamen Verteidigungspolitik“, für die eine Unionskompetenz besteht, und der „gemeinsamen Verteidigung“, die der Uni-on vorenthalten worden ist. Die Abgrenzung dieser beiden Bereiche steht daher im Mittelpunkt der Bemühungen, die verteidigungspolitische Verbandskompetenz der Union zu bestimmen.Der Wortlaut legt es nahe, unter der „gemeinsamen Verteidigung“ einen Zustand zu verstehen. Das kann ein tatsächlicher Zustand sein – die Existenz gemeinsamer Streitkräfte etwa – oder ein normativer Zustand, also die Existenz bestimmter Rechtspflichten. „Gemeinsame Verteidigungspolitik“ hingegen ist ein handlungs-bezogener Begriff, deutet also auf den Bereich politischer Gestaltungshandlungen hin, die sich im Vorfeld der gemeinsamen Verteidigung abspielen.28 Genauere Anhaltspunkte ergeben sich aus systematischen und teleologischen Über-legungen. Wenn der Union mit der gemeinsamen Verteidigung bestimmte Aspekte der Verteidigungsdimension vorenthalten worden sind, so lautet die entscheidende Frage, welche Interessen der Mitgliedstaaten zu dieser Einschränkung geführt ha-ben.Das Ausgreifen der EU in den Verteidigungsbereich war zwischen den Mitglied-staaten in der Tat sehr umstritten. Dabei waren bestimmte, aber durchaus unter-schiedliche Gesichtspunkte für die Mitgliedstaaten besonders heikel, als die rele-vanten Formulierungen in Maastricht und Amsterdam ausgehandelt wurden.29 Für die neutralen Staaten – zunächst Irland, später auch Finnland, Schweden und Öster-reich – war es undenkbar, die EU in ein Militärbündnis zu verwandeln und eine rechtliche Beistandsverpflichtung im Unionsvertrag zu verankern; diese Bedenken spiegeln sich auch in der sogenannten „irischen Klausel“ in Art. 17 Abs. 1 UA 2 HS 1 EUV30 wieder. Die atlantisch orientierten Mitgliedstaaten wiederum, insbe-

28 Vgl. etwa Frowein, in: Tomuschat (Hrsg.), Rechtsprobleme einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-politik, S. 12.

29 Ausführlicher zu den unterschiedlichen Positionen und Interessen Kielmansegg, Verteidigungspolitik der EU, S. 79 ff.; s. insbesondere Duke, Simon, The Elusive Quest for European Security, Basingstoke 2000, S. 85 ff.; Stol-per, Ernst Christoph, Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union nach Maastricht, in: Gerald Mader (Hrsg.), Sicherheit in Europa, Wien 1995, S. 135-231 (140 ff.); Remmert, Mi-chael: Westeuropäische Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Baden-Baden 1994, zu-gleich Diss. Freiburg 1994, S. 117 ff.; Bailes, Alyson J.K., Western European Union: The British Vision, CFSP Forum 2/1996, S. 5 f.

30 Art. J.4 Abs. 4 HS 1 in der Fassung von Maastricht; Art. 17 Abs. 1 UA 3 HS 1 in der Fassung von Amsterdam; gem. dieser Klausel bleibt der besondere Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mit-gliedstaaten unberührt.

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sondere Großbritannien, fürchteten vor allem eine Schwächung der NATO. Auch unter diesem Gesichtspunkt musste die Einführung einer Beistandsklausel in den Unionsvertrag als besonders problematisch erscheinen. Zwar besteht im Rahmen der WEU schon jetzt eine „europäische“ Beistandsklausel,31 aber anders als die WEU hätte die EU das Potential, sich zu einer mit der NATO konkurrierenden Or-ganisation mit konkurrierendem Loyalitätsanspruch zu entwickeln. Ebenso war aus atlantischer Perspektive der Aufbau neuer Streitkräfte- und Kommandostrukturen außerhalb der NATO kaum akzeptabel, weil damit die Gefahr konkurrierender Res-sourcenverwendung und zugleich einer fortschreitenden Abkoppelung von den USA verbunden war. Die Kompatibilität der Verteidigungsdimension der EU mit der NATO ist aus diesen Gründen in Art. 17 Abs. 1 UA 2 HS 2 EUV32 ausdrücklich postuliert worden.Schließlich ist das Ausgreifen der EU in den Verteidigungsbereich auch für die Souveränität der Mitgliedstaaten eine heikle Angelegenheit. Insbesondere der Auf-bau eigener EU-Streitkräfte wäre ein bedeutender Entwicklungsschub, der nicht nur die Frage nach Charakter und Finalität des Integrationsprozesses aufwerfen, sondern auch zu einer signifikanten Gewichtsverlagerung zwischen EU und Mit-gliedstaaten als verteidigungspolitischen Akteuren führen würde. Ähnlich emp-findlich würden die Mitgliedstaaten durch den Verlust des Letzt entscheidungsrechts über Aufbau und Einsatz ihrer nationalen Streitkräfte getroffen – ein Schritt, der im Übrigen auch unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation und Kon-trolle der Streitkräfte folgenreich wäre. All dies ist nicht ohne eine ausdrückliche Entscheidung der Mitgliedstaaten unter Beachtung der verfassungsmäßigen Betei-ligungsrechte ihrer Parlamente denkbar.Dies also waren und sind die Aspekte, die zum Schutz essentieller (wenngleich nicht deckungsgleicher) Interessen der Mitgliedstaaten – Neutralität, Integrität der NATO, nationale Souveränität – aus der Unionszuständigkeit ausgeklammert und der alleinigen Entscheidungshoheit der Mitgliedstaaten vorbehalten bleiben muss-ten. Sie können somit nicht der gemeinsamen Verteidigungspolitik, sondern allen-falls der gemeinsamen Verteidigung zugeordnet werden. Nimmt man die Überle-gung hinzu, dass es sich bei der gemeinsamen Verteidigung um einen tatsächlichen oder rechtlichen Zustand, bei der gemeinsamen Verteidigungspolitik hingegen um das Vorfeld politischer Gestaltung handelt, so ergibt sich folgendes erstes Bild:• Nicht zur gemeinsamen Verteidigungspolitik und zur Unionskompetenz gehören

zum einen integrierte Streitkräfte der Union.33 Das gilt auch für integrierte Kommandostrukturen, denn schon damit würde die Union den für ihren Charak-ter fundamentalen Schritt hin zu einer Militärorganisation vollziehen und sich außerdem in Konkurrenz zu dem Herzstück der NATO begeben.

31 Art. V des modifizierten Brüsseler Vertrages, Sartorius II Nr. 100.32 Art. 17 Abs. 1 UA 3 HS 2 in der Fassung von Amsterdam; ähnlich bereits Art. J.4 Abs. 4 HS 2 in der Fassung

von Maastricht. 33 Das dürfte unbestritten sein.

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• Zum anderen umfasst die gemeinsame Verteidigungspolitik nicht die Verfü-gungsgewalt über die nationalen Streitkräfte. Das bedeutet, dass die Union nicht die Kompetenz besitzt, die Mitgliedstaaten rechtsverbindlich zum Einsatz ihrer Streitkräfte zu verpflichten – insbesondere durch eine Bündnisklausel34 – oder ihnen konkrete verbindliche Vorgaben zu Strukturen und Fähigkeiten ihrer Streitkräfte zu machen.

• Unter gemeinsamer Verteidigungspolitik ist statt dessen der gesamte politische Entscheidungs- und Gestaltungsprozess der Verteidigungsdimension zu verstehen, der unterhalb der genannten Schwellen bleibt. Dieser Bereich fällt bereits jetzt in die Unionszuständigkeiten und kann bei Bedarf jederzeit aktiviert werden.

Positiv gewendet ist die gemeinsame Verteidigungspolitik somit durch zwei Prin-zipien gekennzeichnet. Sie beruht einmal auf dem Rückgriffsprinzip: Mangels Kompetenz zum Aufbau eigener integrierter militärischer Strukturen muss die EU bei Bedarf auf Strukturen ihrer Mitgliedstaaten oder der NATO zurückgreifen. Zum anderen beruht die gemeinsame Verteidigungspolitik auf dem Freiwilligkeitsprin-zip: Mangels Kompetenz zum verbindlichen Zugriff auf die nationalen Streitkräfte bleiben alle konkreten militärischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten freiwillig – sei es die Beteiligung an einer militärischen Operation der EU, sei es die Ausstat-tung ihrer Streitkräfte mit bestimmten Fähigkeiten oder Strukturen.

b) Jenseits der gemeinsamen Verteidigung

Die Formulierung von Art. 17 Abs. 1 UA 1 EUV legt eine Zweiteilung der Vertei-digungsdimension in die gemeinsame Verteidigungspolitik und die gemeinsame Verteidigung nahe, zwischen denen die Grenze der Verbandskompetenz der EU verläuft. Diese Sichtweise ist jedoch zu einfach. Die gemeinsame Verteidigung zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass sie außerhalb der Verbandskompetenz der Union liegt, sondern auch dadurch, dass sie im Wege der Evolutivklausel durch eine vereinfachte Vertragsänderung einbezogen werden kann. Zwar bleibt die ent-scheidende Hürde, nämlich die Ratifikation durch die Mitgliedstaaten, erhalten, aber im Übrigen bringt die Evolutivklausel gegenüber dem allgemeinen Vertrags-änderungsverfahren nach Art. 17 Abs. 5 i.V.m. Art. 48 EUV einige bedeutsame Erleichterungen: An die Stelle der Regierungskonferenz tritt ein schlichter Be-schluss des Europäischen Rates und die vorherigen Anhörungen des Europäischen Parlaments und der Kommission entfallen. Eine Anwendbarkeit dieser Erleichterungen ist dann plausibel, wenn sie sachlich begründbar sind. Der Verzicht auf eine Regierungskonferenz sowie auf eine vorhe-

34 So wohl auch die h.M., die allerdings häufig nicht klar zwischen Bündnisstrukturen und Beistandsverpflichtung unterscheidet. Für die hier vorgenommene Einordnung spricht auch, dass in Art. 17 Abs. 1 UA 2 a.E. der Am-sterdamer Fassung für die Integration der WEU mit ihrer Beistandsklausel in die Union ebenfalls eine gleich-lautende Evolutivklausel mit Ratifikationserfordernis vorgesehen war. A.A. jedoch Schwarze-Krück, Art. 11-28, Rn. 36, der die Bündnisbildung letztlich der gemeinsamen Verteidigungspolitik zuordnet.

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rige Anhörung des Europäischen Parlaments bzw. der Kommission ergeben Sinn, wenn die Vertragsänderung nicht das innere Gefüge der Union, sondern nur punk-tuell das Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander oder zur Union betrifft. So liegen die Dinge insbesondere bei der Einführung einer Beistandsklausel für den Fall eines bewaffneten Angriffs. Bei ihr handelt es sich nur um eine horizontale Verpflichtung zwischen den Mitgliedstaaten, von der die Union selbst nicht unmit-telbar betroffen ist. Überdies steht die Evolutivklausel in einem engen Zusammen-hang mit der Diskussion um eine Integration der WEU in die EU, die im Vorfeld von Maastricht und Amsterdam geführt worden war. Eine Reihe von Mitgliedstaa-ten hatte zumindest mittelfristig eine solche Integration und damit gerade auch eine Überführung der WEU-Beistandsklausel in den Unionsrahmen befürwortet.35 Mit der Evolutivklausel sollte diesen Bestrebungen eine Entwicklungsperspektive er-öffnet werden.Die Einführung einer Beistandsklausel ist also ein klarer Anwendungsfall für die Evolutivklausel . Das wurde auch im Verfassungsentwurf des Konvents deutlich. Dort war in Art. 40 Abs. 7 eine militärische Beistandsklausel vorgesehen, aller-dings nur als Gegenstand einer „engeren Zusammenarbeit“ interessierter Mitglied-staaten. Diese engere Zusammenarbeit sollte nur Bestand haben, „solange der Eu-ropäische Rat keinen Beschluss im Sinne des Absatzes 2 gefasst hat“ – womit der Beschluss zur Einführung einer gemeinsamen Verteidigung nach Art. 40 (nunmehr Art. I-41 VVE) Abs. 2 UA 1 S. 2 gemeint war. Der Konvent ging also davon aus, dass die Einführung einer allgemeingültigen Beistandsklausel der gemeinsamen Verteidigung zuzuordnen sei und folglich der Evolutivklausel unterliege.Darüber hinaus dürfte die Evolutivklausel ganz generell für eine Aufhebung des Freiwilligkeitsprinzips einschlägig sein. Eine solche Aufhebung würde lediglich das Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten verändern, indem verteidi-gungspolitische Beschlüsse der Union eine rechtsverbindliche Wirkung erhiel-ten.36

Für den Aufbau integrierter Streitkräfte oder Kommandostrukturen der Union hin-gegen gilt das nicht. Eine solche Entscheidung würde den organisatorischen Unter-bau der Union verändern und damit die Gewichte zwischen den Unionsorganen verschieben. Sie zöge die Frage nach der politischen Lenkung, Kontrolle und Fi-nanzierung der neuen Strukturen nach sich. Kurz: Der Aufbau integrierter militä-rischer Strukturen ist keine punktuelle Angelegenheit, sondern würde sich unwei-gerlich auf das gesamte Gefüge der Union auswirken. Darüber hinaus läge darin

35 S. Grabitz/Hilf-Kaufmann-Bühler, Art. 17, Rn. 6; Hochleitner, Erich P., Die Europäische Union am Weg zur Sicherheits- und Verteidigungsunion, in: ders. (Hrsg.), Das europäische Sicherheitssystem zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Wien u.a. 2000, S. 153-231 (178); Algieri, Franco, Die Reform der GASP, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Amsterdam in der Analyse, 2. Aufl., Gütersloh 1999, S. 89-120 (108 f.); Stolper, in: Mader (Hrsg.), Sicherheit in Europa, S.142.

36 Auch Verfassungsvertrag stützt dieses Verständnis, denn er behält in Art. I-41 Abs. 2 UA 1 die Regelung zur Einführung einer gemeinsamen Verteidigung im Wege der Evolutivklausel unverändert bei, obwohl zugleich in Art. I-41 Abs. 7 eine Beistandsklausel verankert wird. Die Evolutivklausel muss also einen Anwendungsbereich jenseits der Beistandsklausel besitzen.

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ein noch fundamentalerer Abschied von der Tradition der EU als Wirtschafts- und Zivilmacht: Die EU würde nicht nur zu einem militärischen Akteur, sondern auch zu einer Militärorganisation.Es ist nicht ersichtlich, warum ein solch massiver Eingriff in die Entwicklung der Union ohne Regierungskonferenz, ohne Konsultation von Kommission und Euro-päischem Parlament möglich sein sollte, nur weil er die Verteidigungsdimension betrifft. Der Aufbau integrierter Streitkräfte oder Kommandostrukturen der EU stand in Maastricht und Amsterdam auch gar nicht zur Diskussion; selbst die WEU, um deren zukünftige Integration in die EU es hauptsächlich ging, besaß keine der-artigen Strukturen. Es bestand also kein Anlass, dafür mit der Evolutivklausel eine besondere Entwicklungsperspektive zu schaffen. Der Aufbau integrierter militä-rischer Strukturen der EU kann deshalb nicht der gemeinsamen Verteidigung i.S.d. Art. 17 Abs. 1 UA 1 EUV zugeordnet werden. Für ihn kommt nicht die Evolutiv-klausel, sondern nur ein normales Vertragsänderungsverfahren nach Art. 17 Abs. 5 i.V.m. Art. 48 EUV in Betracht.37

Die Verteidigungsdimension des Unionsvertrages erweist sich somit als dreige-teilt:• Sie besteht zum einen aus der „gemeinsamen Verteidigungspolitik“, die den ge-

genwärtigen Kompetenzbereich der Union definiert und den gesamten verteidi-gungspolitischen Gestaltungs- und Entscheidungsprozess innerhalb der Grenzen des Freiwilligkeits- und des Rückgriffsprinzips umfasst.

• Nicht mehr zum gegenwärtigen Kompetenzbereich gehört die „gemeinsame Verteidigung“, also die rechtsverbindliche Verfügungsgewalt über die nationalen Streitkräfte (Aufhebung des Freiwilligkeitsprinzips). Sie kann jedoch im Wege der Evolutivklausel durch ein vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren einge-führt werden.

• Ebenfalls außerhalb der Unionskompetenzen liegt der Aufbau integrierter Streit-kräfte und Hauptquartiere der EU (Aufhebung des Rückgriffsprinzips). Er wird in Art. 17 EUV überhaupt nicht angesprochen und setzt eine Änderung des Uni-onsvertrages im normalen Verfahren nach Art. 48 EUV voraus.

c) Die Durchführung militärischer Operationen

Ein wichtiger Aspekt der Verteidigungsdimension verdient eine etwas genauere Betrachtung: die Kompetenz zur Durchführung militärischer Operationen, genauer: zur Durchführung gemeinsamer Einsätze der Streitkräfte der Mitgliedstaaten im

37 I.E. ebenso Bartelt, Sandra, Der rechtliche Rahmen für die neue operative Kapazität der Europäischen Union, Münster u.a. 2003, zugleich Diss. Köln 2001, S. 31 u. 37 f. Zu einer ähnlichen, aber mehr an den konkreten Rechtsfolgen als am Tatbestand orientierten Beschränkung der gemeinsamen Verteidigung müssten auch dieje-nigen Autoren gelangen, die in der Evolutivklausel keine Vertragsänderung, sondern nur eine beschränkte Er-mächtigungsgrundlage für die Weiterentwicklung des Unionsrechtes sehen, s.o. Fn. 15. Ansonsten jedoch wird die hier vorgeschlagene Differenzierung in der Literatur, soweit ersichtlich, nicht vorgenommen, sondern alles der gemeinsamen Verteidigung zugewiesen, was nicht der gemeinsamen Verteidigungspolitik angehört. Der Aufbau integrierter Streitkräfte wird daher regelmäßig der gemeinsamen Verteidigung zugeordnet.

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Rahmen und unter der Verantwortung der EU. Auf der Grundlage der gerade herge-leiteten Abgrenzungskriterien ist die Zuordnung bereits vorgezeichnet. Militärische Operationen als solche verletzen weder das Rückgriffs- noch das Freiwilligkeits-prinzip. Sie stellen weder einen faktischen noch einen rechtlichen Zustand dar, son-dern sind Bestandteil des verteidigungspolitischen Gestaltungsprozesses. In diesem Prozess gehören die politische Entscheidung über die Anwendung militärischer Mittel und ihre tatsächliche Umsetzung so eng zusammen, dass die Verbandskom-petenz der Union kaum sinnvoll auf erstere beschränkt werden kann. Militärische Operationen sind deshalb Teil der gemeinsamen Verteidigungspolitik.38 Das ent-spricht auch der von Art. 17 Abs. 1 UA 1 EUV vorgegebenen zeitlichen und inte-grationspolitischen Sequenz, in der die gemeinsame Verteidigungspolitik das An-fangs-, die gemeinsame Verteidigung das Endstadium darstellt. Gemeinsame mili-tärische Operationen im Rahmen einer internationalen Organisation sind keine be-sondere integrationspolitische Herausforderung. Sie sind relativ häufig und im Einzelfall leichter zu verwirklichen als eine gemeinsame verteidigungspolitische Konzeption, ein Bündnis oder gar der Aufbau integrierter Streitkräfte.39 Das wird noch deutlicher, wenn man die Interessen der Mitgliedstaaten, die zur Ausgrenzung der gemeinsamen Verteidigung geführt haben, in die Überlegungen einbezieht. Un-ter keinem der Gesichtspunkte der Neutralität, der Integrität der NATO und der Souveränität der Mitgliedstaaten stellen gemeinsame Operationen im Rahmen der EU eine essentielle Gefährdung dar, solange sie auf der Grundlage des Rückgriffs- und des Freiwilligkeitsprinzips erfolgen.Diese Zuordnung gilt unabhängig davon, ob es sich um Einsätze im militärischen Krisenmanagement oder zur territorialen Selbstverteidigung handelt. Das mag auf den ersten Blick über raschen, ist die Selbstverteidigung doch eigentlich das Terrain der NATO. Der Wortlaut von Art. 17 EUV enthält jedoch keinen Anhaltspunkt für eine Beschränkung der EU-Verbandskompetenz auf das Krisenmanagement. Der Verteidigungsbegriff definiert den situativen Anwendungsbereich der gemeinsamen Verteidigungspolitik und der gemeinsamen Verteidigung einheitlich und schließt, wie gezeigt, die Selbstverteidigung ein. Auch die bereits erörterte ratio, die hinter dem Ausschluss der gemeinsamen Verteidigung aus der EU-Verbandskompetenz steht, spricht nicht für eine derartige Beschränkung. Zwar ist der Schutz der NATO ein wesentlicher Aspekt dieser ratio. Aber eine EU-Kompetenz für Operationen zur

38 Ebenso – ohne direkt auf die Frage einzugehen – i.E. Grabitz/Hilf-Kaufmann-Bühler, Art. 17, Rn. 9 u. 18; Schwarze-Krück: Art. 11-28, Rn. 36; Calliess/Ruffert-Cremer, Art. 17, Rn. 1; Thun-Hohenstein, Vertrag von Amsterdam, S. 66, Fn. 15. A.A. wohl Geiger, EUV, Art. 17, Rn. 3; Gerteiser, Sicherheits- und Verteidigungspo-litik der EU, S. 172 f. Thym, DVBl 115 (2000), S. 678 wiederum will nur Petersberg-Aktionen mit vorwiegend friedenssicherndem Charakter von dem Anwendungsbereich der Evolutivklausel ausnehmen; ähnlich, aber noch pauschaler Hochleitner, in: ders. (Hrsg.), Das europäische Sicherheitssystem zu Beginn des 21. Jahrhunderts, S. 208.

39 Ebenso Roper, in: ders./ Lau rence Martin (Hrsg.), Towards a common defence policy, S. 7; Hochleitner, in: ders. (Hrsg.), Das europäische Sicherheitssystem zu Beginn des 21. Jahrhunderts, S. 208; Gerteiser, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, S. 172 f., die daraus allerdings die umgekehrte Konsequenz ziehen und die Vorgabe einer zeitlichen und integrationspolitischen Sequenz in Art. 17 Abs. 1 UA 1 für unbeachtlich halten.

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Selbstverteidigung gefährdet als solche die Integrität und Funktionsfähigkeit des atlantischen Bündnisses nicht grundsätzlich. Ohnehin ist jeder NATO-Mitgliedstaat berechtigt, auch außerhalb der NATO Maßnahmen zur individuellen oder kollek-tiven Selbstverteidigung zu ergreifen. Eine wesentliche Gefährdung ginge von der EU erst dann aus, wenn sie für den Verteidigungsfall rechtliche Verpflichtungen (eine Beistandsklausel etwa) oder eine militärische Integration einführen würde, denn dadurch würde sie zu einem strukturell mit der NATO konkurrierenden, Res-sourcenverwendung und Krisenverhalten ihrer Mitgliedstaaten steuernden Akteur. Beides ist ihr infolge des Rückgriffs- und des Freiwilligkeitsprinzips untersagt. Un-terhalb dieser Schwelle hingegen bedarf es keines Kompetenzausschlusses. Natür-lich besteht ein Interesse daran, dass die Bündnisverteidigung durch die NATO unbeeinträchtigt bleibt. Nicht umsonst überlässt die EU dieses Feld in der Praxis gänzlich der Allianz. Aber zur rechtlichen Absicherung dieses Interesses genügt eine andere Norm des Unionsvertrages, nämlich Art. 17 Abs. 1 UA 2 HS 2 EUV,40 der als spezielle Kollisionsnorm die EU verpflichtet, die Bündnispflichten und die Verteidigungspolitik der NATO auch im Einzelfall nicht zu stören.Sowohl der Wortlaut als auch eine teleologische Interpretation sprechen also dage-gen, die Selbstverteidigung pauschal aus der Verbandskompetenz der Union auszu-schließen. Die Durchführung militärischer Operationen ist daher unabhängig von ihrer situativen Konstellation der gemeinsamen Verteidigungspolitik zuzuordnen. Ansonsten würde man nicht nur begriffliche und konzeptionelle Klarheit opfern, sondern sich auch schwierige Abgrenzungsprobleme einhandeln, denn der Über-gang zwischen Selbstverteidigung und Krisenmanagement kann fließend sein. Im Gesamtzusammenhang betrachtet bedeutet das: Die Differenzierung zwischen gemeinsamer Verteidigungspolitik und gemeinsamer Verteidigung und die damit verbundene Beschränkung der EU-Verbandskompetenz folgt nicht situativen, son-dern normativ-strukturellen Kriterien. Sie stellt nicht auf Art und Stadium der je-weiligen Krise ab, sondern darauf, ob die Union die normativen und strukturellen Rahmenbedingungen nationaler und atlantischer Verteidigungspolitik nachhaltig beeinträchtigt.

d) Rückgriffs- und Freiwilligkeitsprinzip in der europäischen Verteidigungs-politik

Rückgriffs- und Freiwilligkeitsprinzip sind nach den bisherigen Ausführungen die beiden maßgeblichen Kennzeichen der gemeinsamen Verteidigungspolitik i.S.d. Art. 17 Abs. 1 UA 1 EUV. Sie stellen damit die Grenzen der gegenwärtigen Ver-bandskompetenz der EU dar. Was bedeutet das nun konkret für den Aufbau der ESVP?

40 Ausführlich zur Bedeutung dieser Norm Kielmansegg, Verteidigungspolitik der EU, S. 229 ff.

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Das Rückgriffsprinzip untersagt den Aufbau integrierter Streitkräfte und Haupt-quartiere der Union. Eine militärische Organisationsstruktur unterhalb dieser Schwelle ist jedoch zulässig. Das gilt zum einen für die Zuweisung und Bereithal-tung nationaler Kontingente für EU-Einsätze. Ein solcher Streitkräftepool lässt die nationale Souveränität unangetastet. Er bildet nur ein lockeres Organisationsmus-ter, um militärische Operationen unter der Verantwortung der Union zu erleichtern. Da die Durchführung solcher Operationen zur gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, muss dasselbe auch für die Organisation eines dafür verfüg baren Streitkräf-tereservoirs gelten. Zum anderen geht es um die Einrichtung militärpolitischer Gremien, die den Entscheidungsträgern militärischen Sachverstand und die ent-sprechenden Analyse- und Planungsfähigkeiten liefern sowie die gerade angespro-chenen rudimentären Streitkräftestrukturen verwalten können. Auch hier gilt: Wenn die Durchführung militärischer Operationen der gemeinsamen Verteidigungspolitik zuzuordnen ist, so kann für militärische Beratungsgremien nichts anderes gelten. Denn nur auf dieser Grundlage ist die politische Entscheidung über militärische Operationen sowie deren Überwachung und Steuerung möglich.Das Freiwilligkeitsprinzip wiederum besagt, dass die Mitgliedstaaten weder zu be-stimmten Beiträgen zum europäischen Streitkräftereservoir noch zur Beteiligung an EU-Operationen rechtlich verpflichtet werden können. Das äußert sich vor allem darin, dass der Unionsvertrag (noch) keine militärische Beistands- oder Bündnis-klausel enthält. Das Freiwilligkeitsprinzip hat aber auch zur Folge, dass die Union keine sekundärrechtlichen Verpflichtungen dieser Art begründen kann – auch nicht durch den Erlass einer gemeinsamen Aktion. Das mag überraschen, denn Art. 14 Abs. 3 EUV stattet gemeinsame Aktionen ausdrücklich mit rechtlicher Verbind-lichkeit aus. Aber gemeinsame Aktionen können nur im Rahmen der Verbands-kompetenz der EU verbindliche Wirkung haben, und die Grenzen der verteidi-gungspolitischen Verbandskompetenz werden nicht in Art. 14, sondern in Art. 17 Abs. 1 UA 1 EUV bestimmt. Eine dieser Grenzen liegt, wie gezeigt, darin, dass die Union im Rahmen ihrer gemeinsamen Verteidigungspolitik keine rechtliche Verfü-gungsgewalt über die Streitkräfte der Mitgliedstaaten besitzt. Folglich wäre eine gemeinsame Aktion, die versucht, eine solche Verfügungsgewalt zu begründen, ul-tra vires und damit unwirksam.Diese Grenzen sind beim Aufbau der ESVP weitestgehend respektiert worden. Die „Schnelle Europäische Eingreiftruppe“, deren Aufbau Ende 1999 vom Europäischen Rat in Helsinki beschlossen wurde, ist keine integrierte EU-Streitmacht, sondern setzt sich aus nationalen Kontingenten und Fähigkeiten zusammen, die im soge-nannten Streitkräftekatalog (Helsinki Force Catalogue) aufgelistet sind.41 Dabei handelt es sich nur um ein Reservoir potentiell zur Verfügung stehender nationaler

41 S. insbesondere Europäischer Rat in Helsinki am 10./11.12.1999, Bericht des Vorsitzes zur Stärkung der GE-SVP, abgedruckt in: Rutten (Hrsg.), From St. Malo to Nice, S. 84 ff.; Europäischer Rat in Nizza am 7.-9.12.2000, Bericht des Vorsitzes zur ESVP, abgedruckt ebd., S. 168 ff. Ausführlich zur Struktur der Europä-ischen Eingreiftruppe Kielmansegg, Verteidigungspolitik der EU, S. 319 ff.

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Streitkräfte, aus denen im Bedarfsfall ein Verband generiert werden kann. Gleiches gilt für die Kommandostruktur. Für die konkrete Planung und Führung militärischer Operationen greift die EU entweder auf nationale Hauptquartiere ihrer Mitgliedstaa-ten oder auf die NATO zurück. An unmittelbar unionseigenen militärische Struktu-ren hat die EU lediglich einen „Militärausschuss“ und einen „Militärstab“ einge-richtet. Das ist rechtlich unproblematisch, weil es sich in beiden Fällen nur um mili-tärpolitische Gremien handelt. Sie beraten die Unionsorgane und beaufsichtigen Aufbau und Einsatz der Europäischen Eingreiftruppe. Als militärisches Hauptquar-tier zur Operationsführung hingegen sind sie weder gedacht noch ausgelegt. Auch das Freiwilligkeitsprinzip wird eingehalten. Die einschlägigen ESVP-Doku-mente stellen explizit klar, dass für die Mitgliedstaaten keinerlei rechtliche Beteili-gungspflicht besteht – weder hinsichtlich der Einbringung von Truppen in den Streit-kräftekatalog noch hinsichtlich der Beteiligung mit eigenen Streitkräften an einer bestimmten EU-Operation.42 Die gemeinsamen Aktionen, in denen die bisherigen militärischen ESVP-Operationen beschlossen wurden, enthalten denn auch gar nicht erst den Versuch, eine Beteiligungspflicht zu begründen. Gleiches gilt für die länger-fristigen Fähigkeits- und Entwicklungsziele beim weiteren Aufbau der Eingreiftrup-pe. Auch hier wird die rechtliche Unverbindlichkeit aller Beiträge und Zusagen der Mitgliedstaaten in den einschlägigen Dokumenten unmissverständlich klargestellt.Der Aufbau der ESVP stellt daher keine Kompetenzerweiterung, keine Einführung von Elementen der gemeinsamen Verteidigung dar, sondern nur eine fortschreiten-de Realisierung der bereits vorhandenen Unionszuständigkeit in der Verteidigungs-dimension – „die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik“ im Sinne des Art. 17 Abs. 1 UA 1 EUV also.43 In einem Punkt allerdings stößt die Entwicklung der ESVP an die Grenzen der ver-teidigungspolitischen Verbandskompetenz der Union. In der politischen und wis-senschaftlichen Diskussion wird immer wieder angeregt, ein eigenes militärisches Hauptquartier der EU einzurichten.44 Besonderes Aufsehen hat der Brüsseler „Pra-linengipfel“ vom 29. April 2003 mit seinem Vorschlag eines EU-Hauptquartiers im

42 S. z.B. Europäischer Rat in Helsinki am 10./11.12.1999, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ziff. 28, u. Bericht des Vorsitzes zur Stärkung der GESVP, abgedruckt in: Rutten (Hrsg.), From St. Malo to Nice, S. 82 ff.; Europä-ischer Rat in Nizza am 7.-9.12.2000, Bericht des Vorsitzes zur ESVP, Einleitung u. Anlage I, Anhang, Ziff. 6 lit. b, abgedruckt ebd., S. 181 ff.; Europäischer Rat am 17./18.6.2004 in Brüssel, Bericht des Vorsitzes über die ESVP, Anlage I: Streitkräfte-Planziel 2010, Ziff. 8 u. 14, abgedruckt in: ISS (Hrsg.), European defence: core documents 2004, Bd. 5, S. 111 ff.

43 Ebenso z.B. Grabitz/Hilf-Kaufmann-Bühler, Art. 17, Rn. 5; Gramsch, Corinna, Europa auf dem Weg zu einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Diss. Bonn 2003, S. 91. A.A. hingegen Pnevmaticou, Ly-dia, Aspects juridiques de la politique européenne de sécurité et de défense, ISS Occasional Papers 31, Paris 2001, S. 12, die die ESVP als einen qualitatitven Sprung in der Entwicklung der EU und als atypische Vertrags-änderung durch den Europäischen Rat ansieht.

44 S. Lindley-French, Julian/ Algieri, Franco, A European Defence Strategy, Gütersloh 2004, S. 24 u. 40, die die Einrichtung eines EU Permanent Combined and Joint Planning and Command Headquarters vorschlagen. Ähn-lich Biscop, Sven, Able and Willing?, European Foreign Affairs Review 9 (2004), S. 509-527 (525); ISS (Hrsg.), European defence. A proposal for a white paper, Paris 2004, S. 108 ff. u. 123.

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belgischen Tervuren erregt.45 Ein solches Vorhaben würde jedoch gegen das Rück-griffsprinzip verstoßen und liegt daher, wenn man der hier vertretenen These folgt, außerhalb der gemeinsamen Verteidigungspolitik und auch der ge meinsamen Ver-teidigung. Es setzt somit eine förmliche Vertragsänderung voraus. Vorerst sind diese Vorschläge nicht umgesetzt worden, aber die Tervuren-Kontro-verse ist nicht ganz ohne Ergebnis ausgegangen. Sie führte zu der Erweiterung des EU-Militärstabes um eine „Planungs- und Führungszelle“.46 Diese Zelle soll – im Gegensatz zum bisherigen EU-Militärstab – unter bestimmten Bedingungen als Planungs- und Führungsstab des EU-Operationsbefehlshabers dienen. Das gilt zwar nur für kleine und übergreifende zivil-militärische Operationen; auch handelt sich nicht um ein permanent einsatzfähiges Hauptquartier, sondern nur um einen kleinen personellen Kern, aus dem im Einsatzfall das eigentliche „Operationszent-rum“ generiert werden muss. Gleichwohl überschreitet die EU hier den Rubikon zwischen militärpolitischer Beratung und genuin militärischer Führung. Sie schafft sich den Embryo eines integrierten, unmittelbar bei der EU angesiedelten militä-rischen Hauptquartiers. Damit verlässt die Union den Bereich der gemeinsamen Verteidigungspolitik – so unscheinbar die Planungs- und Führungszelle auch er-scheinen mag. Denn das Rückgriffsprinzip beruht auf der ganz prinzipiellen Erwä-gung, dass der Wandel der EU in eine Militärorganisation und das damit verbunde-ne Übergreifen in die Kernkompetenzen der NATO als neuralgische Punkte der europäischen Verteidigungsdimension einer Vertragsänderung vorbehalten bleiben sollen. Die Einrichtung der Planungs- und Führungszelle als embryonales Haupt-quartier verstößt daher gegen das Rückgriffsprinzip. Sie hätte nicht ohne eine Än-derung des Unionsvertrages erfolgen dürfen.

III. Zusammenfassung: EU-Verteidigungspolitik als Dreistufenmodell

Fasst man die bisherigen Überlegungen zusammen, so führen sie zu einem komple-xen, aber dogmatisch einigermaßen klar erfassbaren Gesamtbild. Die Verteidi-gungsdimension des Unionsvertrages gliedert sich kompetenzrechtlich in drei ver-schiedene Kategorien. Diese Differenzierung basiert nicht auf situativen, sondern auf normativ-strukturellen Kriterien. Ihre Funktion ist es, der Union diejenigen Strukturen und normativen Gestaltungsmöglichkeiten vorzuenthalten, die die es-sentiellen verteidigungspolitischen Interessen der Mitgliedstaaten – Wahrung ihrer militärischen Souveränität, ihrer Neutralitätspolitik und der Integrität der NATO – nachhaltig gefährden würden. Daraus ergeben sich folgende drei Kompetenzkate-gorien:

45 Schlussfolgerungen des „Vierergipfels“ zur europäischen Verteidigung in Brüssel am 29.4.2003, abgedruckt in: Missiroli (Hrsg.), From Copenhagen to Brussels, S. 76 ff.

46 Dokument des Vorsitzes European Defence: NATO/EU Consultation, Planning and Operations vom 12.12.2003, abgedruckt in: Missiroli (Hrsg.), From Copenhagen to Brussels, S. 322 f. S. auch Europäischer Rat am 17./18.6.2004 in Brüssel, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ziff. 64 u. Anlage 1 zur Europäischen Verteidi-gung, abgedruckt in: ISS (Hrsg.), European defence: core documents 2004, Bd. 5, S. 84 ff. bzw. 97 ff.

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• Die EU besitzt keine Kompetenz zum Aufbau integrierter Streitkräfte und Kom-mandostrukturen. Eine solche Kompetenz müsste durch ein reguläres Vertrags-änderungsverfahren nach Art. 48 EUV begründet werden. Dementsprechend setzt sich die Europäische Eingreiftruppe aus nationalen Kontingenten zusam-men. Mit der neuen, im EU-Militärstab angesiedelten Planungs- und Führungs-zelle dürfte die Union jedoch diese Kompetenzgrenze verletzt haben.

• Die EU besitzt keine Kompetenz, konkret und rechtsverbindlich über die Streit-kräfte der Mitgliedstaaten zu verfügen. Dieser Kompetenzbereich ist jedoch im Unionsvertrag unter dem Begriff „gemeinsame Verteidigung“ als Option ange-legt. Er kann im Wege der Evolutivklausel nach Art. 17 Abs. 1 UA 1 EUV durch eine erleichterte Vertragsänderung in den Zuständigkeitsbereich der Union ein-bezogen werden. Mit der Einführung einer militärischen Beistandsverpflichtung für den Fall eines bewaffneten Angriffs in Art. I-41 Abs. 7 unternimmt der Ver-fassungsvertrag – sollte er noch in Kraft treten – diesen Schritt teilweise, wenn auch ohne Nutzung der Evolutivklausel.

• Der gesamte verteidigungspolitische Entscheidungs- und Gestaltungsprozess unterhalb dieser Schwellen schließlich fällt unter den Begriff der „gemeinsamen Ver teidigungs politik“. Sie entspricht dem gegenwärtigen Umfang der EU-Ver-bandskompetenz. Dabei handelt es sich um eine prozesshaft angelegte Kompe-tenz, deren Realisierung nur „schrittweise“ vorgesehen ist, aber von Rechts we-gen jederzeit durch Beschlüsse innerhalb des GASP-Systems erfolgen kann. Mit dem Aufbau der ESVP seit Ende 1998 ist das in weitem Umfang geschehen.

Aus der Abgrenzung von den anderen beiden Kompetenzkategorien ergibt sich, dass die gemeinsame Verteidigungspolitik rechtlich von zwei Prinzipien beherrscht wird: dem Freiwilligkeitsprinzip und dem Rückgriffsprinzip. Die Union muss man-gels eigener militärischer Strukturen auf die Streitkräfte und Hauptquartiere ihrer Mitgliedstaaten oder der NATO zurückgreifen. Ein solcher Rückgriff kann nur mit Zustimmung des jeweils betroffenen Mitgliedstaates erfolgen.In diesem Rahmen umfasst die gemeinsame Verteidigungspolitik und somit die Verbandskompetenz der EU insbesondere die Durchführung militärischer Operati-onen im Rahmen der Union, und zwar unabhängig von Art, Stadium und Ort des jeweiligen Konfliktes. Sie umfasst auch die Einrichtung militärpolitischer Gremien und eines der Union zugänglichen Reservoirs nationaler Truppenkontingente, wie dies mit der Europäischen Eingreiftruppe geschehen ist.Damit wird die EU noch nicht vom Schaf zum Wolf, aber sie hat das Potential, sich zu einer Symbiose von Schaf und Wolf zu entwickeln. Gerade darin liegt der be-sondere Reiz der ESVP. Die rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen für diese Ent-wicklung jedenfalls sind im Unionsvertrag klar genug vorgezeichnet.

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Die Stellung nationaler Unbeachtlichkeits-, Heilungs- und Präklusionsvorschriften im europäischen Recht

Von Martin Kment, Münster*

Die Behandlung nationaler Unbeachtlichkeits-, Heilungs- und Präklusionsvor-schriften mit europäischem Bezug hat in der Rechtsprechung des EuGH sicherlich immer eine gewisse Rolle gespielt. Doch hat keine Entscheidung dieses Themenge-biet so ins Rampenlicht gerückt wie die Peterbroek-Entscheidung vom 14.12.1995.1 Viele Autoren haben sich zu den Auswirkungen und der Bedeutung der Entschei-dung für das nationale Recht geäußert2 und ihre Schlüsse für die zukünftige Ent-wicklung dieses Konfliktbereichs zwischen nationalem und europäischem Recht gezogen. Neue Urteile des EuGH, die sich erneut mit dem Thema „Ausschlussfris-ten“ befassen,3 zeigen, dass die Peterbroek-Entscheidung kein Einzelgänger war, sondern einer Serie von Entscheidungen des EuGH zugeordnet werden kann.4 In-wiefern die Aussagen der Peterbroek-Entscheidung auch heute noch gelten und welche generellen Prinzipien sich im Umgang mit Unbeachtlichkeits-, Heilungs- und Präklusionsvorschriften entwickelt haben, soll im Folgenden Gegenstand der Untersuchung sein.

I. Autonomie der Mitgliedsstaaten bei der Ausgestaltung ihres Rechtsschutzsystems

In der Rechtsprechung des EuGH ist in ständiger Rechtsprechung anerkannt, dass es grundsätzlich den Mitgliedsstaaten obliegt, die Zuständigkeit der Gerichte und die Verfahren für die Klagen zu regeln, wenn das Gemeinschaftsrecht keine aus-drücklichen Vorschriften in dieser Richtung vorsieht.5 Dabei muss die Gewährleis-tung von Rechtsschutz nicht grenzenlos erfolgen, selbst wenn europäische Vorga-ben betroffen sind.6 Insbesondere der Grundsatz der Rechtssicherheit rechtfertigt es, die grenzenlose Durchsetzung europarechtlicher Rechte auf dem Klagewege zu

* Der Verfasser ist stellvertretender Geschäftsführer am Zentralinstitut für Raumplanung an der Universität Mün-ster unter Leitung des geschäftsführenden Direktors, Prof. Dr. Hans. D. Jarass, LL.M. Die Abhandlung geht auf die Forschungstätigkeit des Verfassers am Zentralinstitut für Raumplanung zurück.

1 EuGH, Rs. C-312/93 (Peterbroek), Slg. 1995, I-4599.2 Siehe statt vieler etwa Niedobitek, Kollisionen zwischen EG-Recht und nationalem Recht, VerwArch 92 (2001),

S. 58 ff. mwN. 3 EuGH, Rs. C-327/00 (Santex SpA), Slg. 2003, I-1877; EuGH, Rs. C-473/00 (Cofidis/Fredout), Slg. 2002,

I-10875; EuGH, Rs. C-62/00 (Marks & Spencer), Slg. 2002, I-6325; EuGH, Rs. C-470/99 (Östü-Stettin/Sim-mering), Slg. 2002, I-11617.

4 Entscheidungen in diese Richtung sind beispielsweise EuGH, Rs. C-470/99 (Östü-Stettin/Simmering), Slg. 2002, I-11617; EuGH, Rs. C-327/00 (Santex SpA), Slg. 2003, I-1877.

5 EuGH, Rs. C-312/93 (Peterbroek), Slg. 1995, I-4599, Rn. 12, EuGH, Rs. C-327/00 (Santex SpA), Slg. 2003, I-1877, Rn. 51; EuGH, Rs. C-470/99 (Östü-Stettin/Simmering), Slg. 2002, I-11617, Rn. 71.

6 Siehe etwa EuGH, Rs. 33/76 (Rewe), Slg. 1976, 1989, Rn. 5 oder EuGH, Rs. C-208/90 (Emmott), Slg. 1991, I-4269, Rn. 17.

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begrenzen, obwohl er nicht herangezogen werden kann, um pauschal jede Art des Ausschlusses von Rechtsschutzmöglichkeiten zu legitimieren.7 Die Ausgestal-tungsfreiheit wird vielmehr in ständiger Rechtsprechung des EuGH an zwei Bedin-gungen geknüpft:8 Zum einen dürfen die Verfahren nicht ungünstiger gestaltet wer-den als bei entsprechenden Klagen, die nur innerstaatliches Recht betreffen, und zum anderen dürfen sie die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschwe-ren.9 Angesprochen sind damit zwei Gebote, die seit den Urteilen des EuGH in den Rechtssachen Rewe10 und Comet11 maßgeblich das Verhältnis von nationalem und europäischem Recht mitbestimmen: Der Grundsatz der Effektivität und der Grund-satz der Gleichwertigkeit.12

II. Begrenzung von Rechtsschutzmöglichkeiten und europäisches Recht

Eine Begrenzung von Rechtsschutzmöglichkeiten (z.B. durch Unbeachtlichkeitsre-gelungen) kann sich problemlos innerhalb der oben genannten13 Vorgaben bewe-gen. Insbesondere schließt das Verbot eines „Unmöglich-Machens“ bzw. „übermä-ßigen Erschwerens“ eine Beschränkung als solche grundsätzlich nicht aus. Erst wenn die europarechtlichen Prinzipien der Effektivität und Gleichwertigkeit ver-letzt werden, stößt der nationale Gesetzgeber an seine Grenzen. Wann diese Gren-zen erreicht werden, soll die anschließende Darstellung verdeutlichen.

1. Ausschluss jeder Rechtsschutzmöglichkeit durch nationales Recht – Unbeachtlichkeitsvorschriften ohne Fristenregelung

a) Beeinträchtigung einer europarechtlich gewährleisteten subjektiven Rechtsposition

Wird auf der nationalen Ebene jede Rechtsschutzmöglichkeit gegen bestimmte Eingriffe oder einzelne Verstöße von nationalem Recht bzw. von Rechts- oder Ver-waltungsakten gegen europäische (subjektiv-rechtlich angereicherte) Vorgaben so-fort ausgeschlossen, liegt darin grundsätzlich eine Verletzung des Grundsatzes der

7 EuGH, Rs. C-327/00 (Santex SpA), Slg. 2003, I-1877, Rn. 52; Stüer/Rieder, Präklusion in der Fachplanung und Europarecht, EurUP 2004, S. 139, 146.

8 EuGH, Rs. 33/76 (Rewe), Slg. 1976, 1989, Rn. 5; EuGH, Rs. 45/76 (Comet), Slg. 1976, 2043, Rn. 12 u. 16; EuGH, Rs. 123/87 und 330/87 (Jeunehomme), Slg. 1988, 4517, Rn. 17; zuletzt auch EuGH, Rs. C-201/02 (Wells), Rn. 67.

9 EuGH, Rs. C-312/93 (Peterbroek), Slg. 1995, I-4599, Rn. 12, EuGH, Rs. C-327/00 (Santex SpA), Slg. 2003, I-1877, Rn. 51; EuGH, Rs. C-62/00 (Marks & Spencer), Slg. 2002, I-6325, Rn. 34; EuGH, Rs. C-201/02 (Wells), Rn. 67.

10 EuGH, Rs. 33/76 (Rewe), Slg. 1976, 1989.11 EuGH, Rs. 45/76 (Comet), Slg. 1976, 2043.12 Siehe dazu umfassend Jarass/Beljin, Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die

nationale Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 2004, S. 1, 10 f.13 Siehe dazu die obigen Ausführungen unter I.

Kment, Nationale Unbeachtlichkeits-, Heilungs- und Präklusionsvorschriften

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Effektivität.14 Denn in diesem Fall ist nicht mehr garantiert, dass die gemein-schaftsrechtlich gewährleistete Rechtsposition über eine realistische Chance der Rechtsverwirklichung verfügt.15 Die Rechtsverwirklichung wäre durch das natio-nale Recht unmöglich geworden. In dem Rechtsstreit Marks & Spencer plc gegen Commissioners of Customs & Excise führt der EuGH insofern ausdrücklich aus, dass eine Regelung, „deren Rückwirkung dem Einzelnen jede Möglichkeit nimmt, einen ihm zuvor zustehenden Anspruch [...] geltend zu machen, [...] mit dem Grundsatz der Effektivität unvereinbar“ ist.16 Uneinheitlich wird allerdings die Frage beantwortet, ob die Chance der Rechtsver-wirklichung für jede einzelne gemeinschaftsrechtliche Rechtsposition bestehen muss oder aber eine generalisierende Betrachtung in der Weise vorzunehmen ist, dass eine praktische Unmöglichkeit nur dann vorliegt, wenn die Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift „typischerweise“ oder „so gut wie immer“ zu einer Rechtsvereitelung führt.17 Es wird wohl der individualisierenden Auffassung der Vortritt zu lassen sein. Gerade in jüngerer Zeit betont der EuGH die Bedeutung der konkreten Umstände des Einzelfalls als Grundlage seiner Entscheidungsfin-dung.18

b) Beeinträchtigung reinen Verfahrensrechts durch nationale Vorschriften

Die Ausführungen zur generellen Unzulässigkeit des Ausschlusses von Rechts-schutzmöglichkeiten im Fall der Beeinträchtigung europarechtlich gewährter Rechtspositionen führt zu der Frage, ob diese generelle Unzulässigkeit auch auf Fälle übertragbar ist, in denen lediglich europarechtliche Verfahrensrechte vorge-geben sind, deren Verletzung in der nationalen Rechtsordnung ohne Folgen bleibt. Allein darauf abzustellen, dass individuelle Rechte nicht verletzt werden, also eine Beeinträchtigung europarechtlich vermittelter Rechtspositionen der Sache nach nicht in Betracht kommt, führt dabei nicht zum Ziel. Denn Verfahrensvorgaben be-sitzen aus europäischer Sicht einen anderen Stellenwert als auf nationaler Ebene.19 Teilweise wird bestimmten Verfahrensvorschriften ein zu erfüllender Zweck zuge-sprochen bzw. eine über die bloße Verfahrensgestaltung hinausgehende Gestaltung

14 Wiggers, Planerhaltung im Recht der Raumordnung, 2003, S. 118; siehe auch Erbguth, Zum Gehalt und zur verfassungs- wie europarechtlichen Vereinbarkeit der verwaltungsprozessual ausgerichteten Beschleunigungs-gesetzgebung, UPR 2000, S. 81, 90.

15 Niedobitek (Fn. 2), S. 58, 75.16 EuGH, Rs. C-62/00 (Marks & Spencer), Slg. 2002, I-6325, Rn. 40.17 Auf eine individualisierende Betrachtungsweise stellt Niedobitek (Fn. 2), S. 58, 75 f., ab. Eine generalisierende

Betrachtungsweise favorisiert Suerbaum, Die Europäisierung des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts am Beispiel der Rückabwicklung gemeinschaftswidriger staatlicher Beihilfen, VerwArch 91 (2000), S. 169, 206; Sinnaeve, Die Rückabwicklung gemeinschaftsrechtswidriger nationaler Beihilfen, 1997, S. 209.

18 EuGH, Rs. C-327/00 (Santex SpA), Slg. 2003, I-1877, Rn. 57; EuGH, Rs. C-231/96 (Edis), Slg. 1998, I-4951, Rn. 38; EuGH, Rs. C-473/00 (Cofidis/Fredout), Slg. 2002, I-10875, Rn. 37.

19 Wahl, Das Verhältnis von Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozessrecht in europäischer Sicht, DVBl 2003, S. 1285, 1287 ff.; Kahl, Grundrechtsschutz durch Verfahren in Deutschland und in der EU, VerwArch 95 (2004), S. 1, 8 ff.

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attestiert,20 die es nicht erlaubt, die Verfahrensvorschriften per se auf nationaler Ebene zu übergehen, d. h. entweder ihre Verletzung für unbeachtlich zu erklären oder Rechtsschutz zu versagen. In beiden Fällen würde der mit der Verfahrensvor-schrift bezweckte Erfolg „praktisch unmöglich“ gemacht. Zwar kann die Unbe-achtlichkeit eines Verstoßes gegen einen Verfahrensfehler nicht zwangsläufig mit der generellen Nichtbeachtung einer Verfahrensvorgabe gleichgesetzt werden.21 Je-doch befreit eine Unbeachtlichkeitserklärung rein faktisch von dem Sanktions-druck, der einem Rechtsverstoß grundsätzlich zukommt. Gerade europarechtliche (Verfahrens-)Vorschriften bedürfen des Instruments der Sanktion und des Bewusst-seins, dass eine Nichtbeachtung negative Rechtsfolgen auslöst, um für Verände-rungen und Rechtsgestaltungen auf nationaler Ebene zu sorgen.22 Würde man dem-gegenüber die Beachtung der europarechtlichen Verfahrensvorgaben durch die vollständige Sanktionslosigkeit eines Verstoßes indirekt in das Belieben des Rechts-anwenders stellen, würde damit der mit einer europarechtlichen Verfahrensvor-schrift bezweckte Erfolg zumindest erheblich erschwert.23 Das Effektivitätsgebot verlangt daher, den Zweck der europäischen Verfahrensvorgaben von den Folgen der Unbeachtlichkeit freizuhalten.24

c) Gebot der „vernünftigen“ Relativierung

Der dargelegte Befund führt auf den ersten Blick zu einem Dilemma: Das europa-rechtliche Verständnis, dem Verfahren einen Eigenwert zuzubilligen bzw. seine selbstständige Bedeutung zu betonen25, und der deutsche Ansatz, den Aufhebungs-anspruch bei Abweichungen vom europäischen Verfahrensrecht durch Unbeacht-lichkeitsregelungen auszu schließen, kann auf den ersten Blick nicht auf einen Nen-ner gebracht werden.26 Die verfahrensrechtlichen Anforderungen einer europä-ischen Richtlinie müssen in diesen Fällen grundsätzlich leer laufen, da ihre Nicht-beachtung keinen Einfluss auf den Bestand der Verwaltungsentscheidung hat.Andererseits erscheint es als ein Gebot der praktischen Vernunft, eine gewisse Re-lativierung von Verfahrensfehlern zuzulassen.27 Wahl fasst dies mit den Worten

20 EuGH, Rs. C-470/99 (Östü-Stettin/Simmering), Slg. 2002, I-11617, Rn. 73 ff.; EuGH, Rs. C-194/94 (CIA/Si-gnalson), Slg. 1996, I-2201; EuGH, Rs. C-39/94 (SFEI/La Poste), Slg. 1996, I-3547; Kokott, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Verw 31 (1998), S. 335, 336 f.

21 So Ziekow, Von der Reanimation des Verfahrensrechts, NVwZ 2005, S. 263, 264.22 Vgl. dazu auch EuGH, Rs. C-39/94 (SFEI/La Poste), Slg. 1996, I-3547; EuGH, Rs. 187/87 (Saarland), Slg.

1988, 5013, Rn. 18.23 Wahl (Fn. 19), S. 1285, 1291.24 Vgl. dazu auch Schoch, Die europäische Perspektive des Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrechts,

in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999, S. 279, 299; Wiggers (Fn. 14), S. 167 f.

25 Siehe dazu auch Wahl, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVD-StRL 41 (1983), S. 151 passim.

26 Kokott (Fn. 20), S. 335, 366.27 Classen, Das nationale Verwaltungsverfahren im Kraftfeld des Europäischen Gemeinschaftsrechts, Verw 31

(1998), S. 307, 323; Gellermann, Auflösung von Normwidersprüchen zwischen europäischem und nationalem Recht, DÖV 1996, S. 433, 442; a. A.: Wegener, Anforderungen an die UVP in der Fernstraßenplanung, ZUR 1996, S. 324, 326.

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zusammen: „Keine Rechtsordnung der Welt hält jeden und alle Verfahrensfehler für beachtlich.“28 Damit sind nicht die üblichen Vorbehalte zugunsten von Bagatel-len gemeint, die in der Praxis bei nahezu jeder Vorschrift gemacht werden. Viel-mehr spricht Wahl damit einen Bereich an, in dem Verfahrensfehler auf das Verfah-rensergebnis überhaupt keinen Einfluss haben und damit quasi unsichtbar bleiben.Nun ist keine Verfahrensvorschrift vorstellbar, der nicht zumindest eine dienende Funktion zukommt; sei dieses Element der dienenden Funktion auch noch so ge-ringfügig. Wo soll also die Grenze der „vernünftigen Relativierung“ verlaufen?

aa) „Eigenwert“ des Verfahrens

Manche verweisen auf die Entscheidung des EuGH in der Sache Syndicat francais de l’Express international (SFEI) und andere gegen La Poste und andere29 einer-seits und die Entscheidung zur Sache CIA Security International SA gegen Signal-son SA und Securitel SPRL30 andererseits. Diese Urteile behandeln zwar vorrangig die Frage, ob sich ein Privater auf eine Rechtsverletzung europäischer Vorschriften berufen kann; gleichwohl sollen sie verdeutlichen, dass der EuGH in einigen Ent-scheidungen dem Verfahren einen gewissen Eigenwert bzw. eine bestimmte Bedeu-tung zumisst, die eine Rechtsverletzung begründen kann.31 In dem Fall CIA Secu-rity International SA gegen Signalson SA und Securitel SPRL etwa hatte der EuGH über die mitgliedsstaatliche Informationspflicht gegenüber der Kommission bei der Erarbeitung nationaler technischer Vorschriften zu entscheiden. Der EuGH führt zu der Frage, welche rechtlichen Konsequenzen aus einem Verstoß eines Mitglieds-staats gegen die Mitteilungspflicht resultieren, aus, dass zu prüfen sei, „ob die Richtlinie 83/189 dahingehend auszulegen ist, dass der Verstoß gegen die Mittei-lungspflicht, der einen Verfahrensfehler beim Erlass der betreffenden technischen Vorschrift darstellt, zur Unanwendbarkeit dieser Vorschrift führt, so dass sie einzel-nen gegenüber nicht entgegengehalten werden können. [...] Eine solche Auswir-kung des Verstoßes gegen die Verpflichtung, die sich aus der Richtlinie 83/189 er-geben, hängt nicht von einer dahin gehenden ausdrücklichen Bestimmung ab. Wie bereits ausgeführt, ist es unstreitig, dass Ziel der Richtlinie die Kontrolle ist und dass die Mitteilungspflicht ein wichtiges Mittel zur Verwirklichung dieser gemein-schaftlichen Kontrolle darstellt. Die Wirksamkeit der Kontrolle ist um so größer, wenn die Richtlinie dahin ausgelegt wird, dass der Verstoß gegen die Mitteilungs-pflicht einen wesentlichen Verfahrensfehler darstellt, der zur Unanwendbarkeit der fraglichen technischen Vorschriften auf Einzelne führen kann.“32

28 Wahl (Fn. 19), S. 1285, 1292. 29 EuGH, Rs. C-39/94 (SFEI/La Poste), Slg. 1996, I-3547.30 EuGH, Rs. C-194/94 (CIA/Signalson), Slg. 1996, I-2201.31 Wiggers (Fn. 14), S. 168.32 EuGH, Rs. C-194/94 (CIA/Signalson), Slg. 1996, I-2201, Rn. 45, 48. Die Hervorhebungen bestehen nicht im

Original. Siehe auch EuG, Rs. T-32/91 (Solvay/Kommission), Slg. 1995, II-1825, Rn. 53. Dort wird auch nur ein „wesentlicher Formfehler“ in Bezug genommen.

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Aus der Erkenntnis, dass Verfahrensvorschriften, denen ein eigenständiger Zweck bzw. Gestaltungswert („Ziel“33) zukommt, grundsätzlich nicht für unbeachtlich er-klärt werden können, ergibt sich der Umkehrschluss, dass dies in den Fällen, in denen die verletzte gemeinschaftsrechtliche Vorschrift gerade keinen „Eigenwert“ aufweist, eine Unbeachtlichkeit grundsätzlich zulässig sein dürfte.34 Gleiches dürf-te dann gelten, wenn der verfolgte europäische Zweck nicht als derart bedeutend bzw. wesentlich erkannt wird, dass seine Verletzung mit der Unwirksamkeit der Vorschrift zu sanktionieren ist. So sieht der EuGH in der Sache Enichem Base SPA und andere gegen Commune Di Cinisello Balsamo zwar den Zweck der dort in Fra-ge stehenden Informationspflicht der Kommission darin, Abfallbildung einzu-schränken, Verwertung und die Umwandlung von Abfällen zu fördern und somit die Harmonisierung des Umgangs mit Abfall zu fördern.35 Dieser Zweck veran-lasst den EuGH allerdings nicht, aus seiner Nichtverfolgung bzw. Unterminierung durch nationale Verfahrensverstöße zur Unwirksamkeit der nat ionalen Maßnahme zu kommen. Im Einzelnen erklärt der EuGH: „Weder dem Wortlaut noch dem Zweck dieser Bestimmung (die Verfahrensvorgabe auf europäischer Ebene) ist zu entnehmen, dass allein die Nichteinhaltung der den Mitgliedsstaaten obliegenden Verpflichtung zur vorherigen Unterrichtung der Kommission zur Rechtswidrigkeit der in dieser Weise (hier gegen die Richtlinie) verstoßenden Regelung führt.“36

In der Gegenüberstellung der beiden Entscheidungsblöcke, d. h. einmal des festge-stellten Eigenwerts des Verfahrens,37 zum anderen der abgelehnten besonderen Be-deutung des Verfahrens,38 wird die Schwierigkeit offenbar, eine Abgrenzung zu finden, in welchen Fällen ein Zweck einer Richtlinie ausreichend gewichtig er-scheint, um zu einer Unanwendbarkeit bzw. Rechtswidrigkeit zu gelangen, und in welchen Fällen der Verstoß gegen europäische Verfahrensvorgaben unbeachtlich bleibt. Gerade wenn die Sachverhalte so eng beieinander liegen, wie in den aufge-zeigten Entscheidungen, eröffnen sich für den Rechtsanwender erhebliche Kompli-kationen. Dieses Abgrenzungsproblem hat der EuGH in der Sache CIA Security Internatio-nal SA gegen Signalson SA und Securitel SPRL zu lösen versucht. Im Rahmen sei-ner Feststellungen wird allerdings deutlich, dass die Entscheidungen Enichem Base SPA und andere gegen Commune Di Cinisello Balsamo, Syndicat francais de l’Express international (SFEI) und andere gegen La Poste und andere sowie CIA Security International SA gegen Signalson SA und Securitel SPRL doch – wie be-reits angemerkt39 – daran leiden, dass sie verstärkt auf die Rechts- und Verfahrens-

33 Siehe das soeben zitierte Urteil EuGH, Rs. C-194/94 (CIA/Signalson), Slg. 1996, I-2201, Rn. 45, 48.34 Wiggers (Fn. 14), S. 168.35 EuGH, Rs. 380/87 (Enichem Base), Slg. 1989, 2491, Rn. 1 f, 14, 21.36 EuGH, Rs. 380/87 (Enichem Base), Slg. 1989, 2491, Rn. 22.37 EuGH, Rs. C-39/94 (SFEI/La Poste), Slg. 1996, I-3547; EuGH, Rs. C-194/94 (CIA/Signalson), Slg. 1996,

I-2201.38 EuGH, Rs. 380/87 (Enichem Base), Slg. 1989, 2491.39 Siehe die Anmerkung in diesem Gliederungsabschnitt.

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position des Einzelnen zugeschnitten sind. Die Verfahrensvorschrift wurde also vorrangig vor dem Hintergrund überprüft, ob sie ein „Recht für Einzelne schuf, das bei einem Verstoß eines Mitgliedsstaats [...] verletzt sein könnte.“40 Die Urteile gingen aber nicht (primär) der Frage nach, wann eine Vorschrift den besagten Ei-genwert hat, dessen Verletzung nicht sanktionslos bleiben kann. Das Abgrenzungs-problem bleibt daher einstweilen ungelöst.

bb) Kausalität

Ein anderer Ansatz, eine vernünftige Relativierung vorzunehmen, geht in die Rich-tung, von der Behandlung der Verfahrensfehler auf der Ebene des ausschließlich in der Verantwortung der europäischen Verwaltung liegenden Verwaltungsrechts auf deren Behandlung im Gemeinschaftsrechtsvollzug zu schließen.41 Verwiesen wird auf die Bedeutung von Verfahrensfehlern im ausschließlichen Verwaltungsbereich der Gemeinschaft. Zwar führe dort die Verletzung von Verfahrensfehlern regelmä-ßig zur Rechtswidrigkeit.42 Dennoch seien Fälle aufzufinden, in denen Verstöße unbeachtlich gewesen seien, soweit ausgeschlossen werden konnte, dass sich die Fehler nicht auf die Entscheidung ausgewirkt hatten.43 Der EuGH greife an dieser Stelle auf das Instrument der Kausalität zurück und verlange die Befolgung der Verfahrens- und Formvorschriften nicht allein um ihrer selbst Willen. Das Prinzip der grundsätzlichen Relevanz der Fehler werde folglich relativiert.44 Die Tatsache, dass ein bestimmter Verfahrensfehler im Bereich des direkten Gemeinschaftsver-waltungsvollzugs nicht notwendig zur Aufhebung der getroffenen Entscheidung führe, lege die Erkenntnis nahe, dass im indirekten Vollzug maßgeb liche staatliche Vorschriften, die Vergleichbares anordneten, nicht dem Verdikt der Gemeinschafts-widrigkeit unterlägen.45 Schließlich bestünden keine sachlichen Erwägungen, an die Folgen von Verfahrensfehlern im mitgliedschaftlichen Vollzug des Gemein-schaftsrechts strengere Anforderungen zu stellen als im direkten Vollzug.46 Allerdings wird in der Literatur zu Recht darauf hingewiesen, dass in den Fällen, in denen der EuGH die Verletzung von Verfahrensfehlern nicht mit der Aufhebung der Maßnahme sanktionierte, er allein aus den ihm vorliegenden Verfahrensabläu-fen eine andere Sachentscheidung ausschließen konnte.47 Bei Fällen fehlender An-

40 EuGH, Rs. C-194/94 (CIA/Signalson), Slg. 1996, I-2201, Rn. 49.41 Gellermann (Fn. 27), S. 433, 442.42 Wahl (Fn. 19), S. 1285, 1292.43 EuGH, Rs. 2/56 (Geitling), Slg. 1957, S. 9, 38; EuGH, Rs. 234/84 (Belgien/Kommission), Slg. 1986, 2263, Rn.

30; EuGH, Rs. 259/85 (Frankreich/Kommission), Slg. 1987, 4393, Rn. 13; EuGH, Rs. 301/87 (Frankreich/Kommission), Slg. 1990, I-307, Rn. 31; vgl. dazu auch Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, 5. Aufl., 2001, Rn. 564; Kahl (Fn. 19), S. 1, 22 f.

44 Gornig/Trüe, Die Rechtsprechung des EuGH und des EuG zum Europäischen Verwaltungsrecht – Teil 1, JZ 2000, S. 395, 406; Kahl (Fn. 19), S. 1, 22 ff.

45 Gellermann (Fn. 27), S. 433, 442. 46 Schäfer, in: Obermayer, VwVfG, 3. Aufl., 1999, § 46, Rn. 17; kritisch hierzu insbesondere Classen (Fn. 27),

S. 307, 327 f. 47 Kahl (Fn. 19), S. 1, 24; Classen (Fn. 27), S. 307, 327 ff.

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hörung waren den Betroffenen trotz des Verfahrensfehlers alle entscheidenden Ge-sichtspunkte bekannt gewesen und sie hatten dazu auch Stellung nehmen können48 bzw. hatten generell nichts Neues vorzutragen.49 In anderen Fällen, in denen die falsche Kompetenzgrundlage gewählt wurde, verlangte der EuGH, dass alle Erfor-dernisse der eigentlich einschlägigen Vorschrift erfüllt waren.50 Dem EuGH liegt also nur ein der deutschen Judikatur angenähertes Verständnis von Kausalität zu-grunde, nicht aber ein identisches.51 Anders als auf europäischer Ebene ist es des-halb dem deutschen Richter möglich, auch aus tatsächlichen Gründen die fehlende Kausalität des Fehlers anzunehmen und die tatsächlichen Gegebenheiten zum An-satzpunkt zu machen, um Alternativen in der Sachentscheidung auszuschließen.52 Zurückzuführen ist dies auf die ausgeprägte Prüfungskompetenz der Verwaltungs-gerichte gem. § 86 VwGO, die eine umfassende Prüfung in der Sache zulässt, die aber dem EuGH in dieser Form fremd ist.53 Die Gemeinschaftsgerichte ziehen sich bei ihrer Prüfung vielmehr auf die von dem Kläger geltend gemachten Klagegrün-de zurück.54 Deshalb sehen sie einen Verfahrensmangel nur dann als unerheblich an, wenn dessen mangelnde Kausalität mit den ihnen zur Verfügung stehenden spe-zifischen Mitteln einer rechtlichen Kontrolle festgestellt werden kann.55 Daraus ergibt sich eine für die Judikatur des EuGH charakteristische Funktionsgrenze der gerichtlichen Kontrolle,56 die in der deutschen Judikatur nicht praktiziert wird. Dort ist vielmehr eine ungehinderte Kontrolle in der Sache üblich.57

cc) „Wesentlichkeit“

Ein anderes Kriterium der Relativierung der grundsätzlichen Beachtlichkeit von Verfahrensfehlern kann in der „Wesentlichkeit“ des Verfahrensverstoßes erblickt werden. Dieser Gedanke findet sich auch im Vertrag der Europäischen Gemein-schaft in Art. 230. In Abs. 2 dieser Vorschrift ist bestimmt, dass die Nichtigkeits-klage vor dem EuGH gegen Gemeinschaftsrechtsakte nur bei einer Verletzung we-sentlicher Formvorschriften zulässig ist.58 Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach ständiger Rechtsprechung des EuGH die Wesentlichkeit einer Verfahrensvorschrift,

48 Siehe etwa die Entscheidungen EuGH, Rs. 44/69 (Butchler/Kommission), Slg. 1970, 733, Rn. 17; EuGH, Rs. 259/85 (Frankreich/Kommission), Slg. 1987, 4393, Rn. 13. Ähnlich EuGH, Rs. 107/82 (AEG/Kommission), Slg. 1983, 3151, Rn. 26 ff. (insbes. Rn. 29).

49 EuGH, Rs. 301/87 (Frankreich/Kommission), Slg. 1990, I-307, Rn. 31.50 EuGH, Rs. 165/87 (Kommission/Rat), Slg. 1988, 5545, Rn. 19 f.51 Siehe zu den Differenzen auch Kahl (Fn. 19), S. 1, 22 ff., insbes. Rn. 23. 52 Classen (Fn. 27), S. 307, 328 f.53 Kahl (Fn. 19), S. 1, 19 f.54 EuG, Rs. T-171/94 (Descom Scales Manufacturing/Rat), Slg. 1995, II-2413, Rn. 98.55 Classen (Fn. 27), S. 307, 329.56 Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1996, S. 175 ff.57 Wahl, Risikobewertung der Exekutive und richterliche Kontrolldichte – Auswirkungen auf das Verwaltungs- und

das gerichtliche Verfahren, NVwZ 1991, S. 409, 415.58 Zur Auslegung des Wesentlichkeitsbegriffs siehe etwa Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Ver-

trag, Bd. IV, 6. Aufl., 2004, Art. 230, Rn. 122 ff.; Booß, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur Europäischen Union, Stand September 2004, Art. 230, Rn. 102 ff.

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die einen Unterfall der Formvorschrift darstellt,59 vorrangig nach der Bedeutung der verletzten Vorschrift im Allgemeinen bestimmt wird,60 sie jedoch zugleich da-von abhängig gemacht wird, ob ihre Missachtung überhaupt geeignet ist, den Inhalt der Rechtshandlung zu beeinflussen.61 Unter Berücksichtigung dieses Verständnisses sind Vorschriften im Sinne des Art. 230 Abs. 2 EGV dann „wesentlich“, wenn sie dem Betroffenen die Gewährung rechtlichen Gehörs sichern oder die Mitwirkung anderer Organe bzw. Stellen vor-schreiben wollen.62 Dienen Verfahrensvorschriften gezielt dem Schutz des Einzel-nen oder wollen sie die gerichtliche Nachprüfbarkeit der Rechtshandlung ermögli-chen bzw. verbessern, sind sie ebenfalls als „wesentlich“ einzustufen.63 Demzufol-ge sind Verletzungen der in Art. 253 EGV niedergelegten Begründungspflicht grundsätzlich beachtlich.64 Generell wird die Wesentlichkeit einer Formvorschrift auch anerkannt, wenn der Formfehler Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung des Rechtsakts gehabt haben konnte.65 Diese allgemeine Aussage führt jedoch zu einer Sinnverschiebung des Begriffs der Wesentlichkeit und ersetzt ihn durch Kausalität. Wesentlichkeit sollte daher als ein Synonym für „Erheblichkeit“ verstanden werden und an die Bedeu-tung des Fehlers oder an sein „Gewicht“ anknüpfen, nicht aber an seine reine Ur-sächlichkeit. Zu ergänzen ist zudem, dass EuGH und EuG bei der Frage der Wesentlichkeit einer Verfahrensvorschrift einen recht strengen Prüfungsmaßstab verwenden.66 Als Ge-gengewicht zu seiner begrenzten Prüfungskompetenz67 und dem somit der Verwal-tung eingeräumten weiten Spielraum,68 der sich sowohl im Bereich des Ermessens als auch im Bereich des Beurteilungsspielraums niederschlägt, europarechtlich aber einheitlich als „discretion“ eine Bezeichnung findet,69 sehen die europäischen Gerichte diese „harte Linie“ als angemessen an. Ausdrücklich stellt das EuG unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH70 in der Entscheidung Nölle gegen den

59 Wahl (Fn. 19), S. 1285, 1293.60 A. A. Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, Rn. 187.61 EuGH, Rs. 2/56 (Geitling), Slg. 1957, S. 9, 38; EuGH, Rs. 30/78 (Distillers/Kommission), Slg. 1980, 2229, Rn.

26 ff.; EuGH, Rs. 234/84 (Belgien/Kommission), Slg. 1986, 2263, Rn. 30; EuGH, Rs. 259/85 (Frankreich/Kom-mission), Slg. 1987, 4393, Rn. 13; Streinz, Europarecht, 6. Aufl., 2003, Rn. 523; Wiggers (Fn. 14), S. 168 ff.

62 Cremer, in: Calliess/Ruffert, Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Art. 230, Rn. 72; Kokott (Fn. 20), S. 335, 366.

63 Schweitzer/Hummer, Europarecht, 5. Aufl., 1996, Rn. 485; Wiggers (Fn. 14), S. 169; Kokott (Fn. 20), S. 335, 366.64 Vgl. Cremer (Fn. 62), Rn. 73.65 Rengeling/Middeke/Gellermann (Fn. 60), Rn. 187 mit Verweis auf EuGH, Rs. 19/63 u. 65/63 (Satya Prakash/

Kommission), Slg. 1965, S. 717, 739; siehe auch EuGH, Rs. 30/78 (Distillers/Kommission), Slg. 1980, 2229, Rn. 26 ff.; Hölscheidt, Europa 1992: Die Organe der Europäischen Gemeinschaften – Teil 2, JA 1990, S. 253, 257.

66 Kokott (Fn. 20), S. 335, 366. 67 EuGH, Rs. 26/96 (Rotexchemie/Hauptzollamt), Slg. 1997, I-2817, Rn. 10 f.; Adam, Die Kontrolldichte-Kon-

zeption des EuGH und deutscher Gerichte, 1993, S. 146 f.68 EuGH, Rs. 26/96 (Rotexchemie/Hauptzollamt), Slg. 1997, I-2817, Rn. 10 f.; EuG, Rs. T-481/93 u. T-484/93

(Levende Varkens/Kommission), Slg. 1995, II-2941, Rn. 134; EuG, Rs. T-167/94 (Noelle/Rat), Slg. 1995, II-2593, Rn. 73.

69 Kokott (Fn. 20), S. 335, 364.70 EuGH, Rs. C-269/90 (TU München/Hauptzollamt), Slg. 1991, I-5469, Rn. 14.

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Rat und die Kommission der Europäischen Union fest: „Wenn die Organe der Ge-meinschaft über ein weites Ermessen verfügen, kommt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Beachtung der Garantien, die die Gemeinschaftsrechtsord-nung in den Verwaltungsverfahren gewährt, eine um so größere Bedeutung zu. Zu diesen Garantien gehören insbesondere die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu unter-suchen, das Recht des Bürgers, seinen Standpunkt zu Gehör zu bringen, und das Recht auf eine ausreichende Begründung der Entscheidung.“71

dd) Gesamtbetrachtung von Verfahren und materiellem Recht

Erwägenswert ist es schließlich auch, den Fokus der Betrachtung der grundsätz-lichen Relevanz der Fehler nicht von vornherein auf das Verfahrensrecht zu veren-gen, sondern vor dem Hintergrund des Ergänzungs- und Komplementärverhält-nisses von Verfahrensrecht und verwaltungsgerichtlicher Kontrolle (des materiellen Rechts) zu verstehen.72 Da der EuGH im Ergebnis (lediglich) verlangt, dass die Verwirklichung des Gemeinschaftsrechts nicht praktisch unmöglich gemacht wer-den darf,73 könnten Defizite im Bereich des Verfahrensrechts gegebenenfalls durch das Gesamtgebilde von Verfahrensrecht und materiellem Recht aufgefangen wer-den. Dieser Gedanke weist jedoch Nachteile auf, denn das europäische Recht billigt dem Verwaltungsverfahren einen Eigenwert zu, der nach europäischer Auffassung durch die materielle Rechtmäßigkeit nicht ausgeglichen werden kann. Begrenzend wirken die Differenzen des unterschiedlichen Verständnisses des Zusammenspiels von Verfahren und richtigem Ergebnis. Da das zentrale Konzept des europäischen Ansatzes nicht das richtige Ergebnis ist, sondern das faire Verfahren, erweist sich das deutsche Konzept als disfunktional.74 Denn die Betonung der Richtigkeitsge-währ des Verfahrens für das Ergebnis beinhaltet zugleich eine Skepsis gegenüber der Erreichbarkeit des vermeintlich Richtigen oder Gerechten durch ein Gericht.75 Diese Komponente, d. h. das richtige und gerechte Ergebnis, kann nach europä-ischem Vorbild gar nicht unabhängig von einem fairen Verfahren erreicht werden. Das faire Verfahren ist vielmehr Voraussetzung der Entscheidungsfindung und nicht zu ersetzen.76 Den Blick auf die Gesamtbetrachtung von Verfahren und mate-riellem Recht bzw. dem Ergebnis zu richten, dürfte daher europarechtlich auf Vor-behalte stoßen.

71 EuG, Rs. T-167/94 (Noelle/Rat), Slg. 1995, II-2593, Rn. 73. 72 Wahl (Fn. 19), S. 1285, 1287.73 EuGH, Rs. 68/79 (Just/Ministerium für Steuerwesen), Slg. 1980, 501, Rn. 25; EuGH, Rs. 45/76 (Comet), Slg.

1976, 2043, Rn. 11 u. 18; EuGH, Rs. 205 bis 215/82 (Deutsche Milchkontor/Deutschland), Slg. 1983, 2633, Rn. 19.

74 Dies räumt auch Wahl (Fn. 19), S. 1285, 1287, ein.75 Vgl. Classen, Strukturunterschiede zwischen deutschem und europäischem Verwaltungsrecht -Konflikt oder

Bereicherung?, NJW 1995, S. 2457, 2459 f.76 Wahl (Fn. 19), S. 1285, 1287.

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Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass europarechtlich generell das Bedürf-nis nach einer vernünftigen Relativierung bzw. „Feinsteuerung“77 gesehen wird, seine Herleitung jedoch weiterhin ungeklärt ist. Die favorisierten Kriterien sind „Kausalität“ und „Wesentlichkeit“, die in der Rechtsprechung des EuGH wie auch den Vertragswerken zur Europäischen Gemeinschaft in der einen oder anderen Form ihren Widerhall finden. Zurzeit noch ungeklärt ist die Frage, ob die Begriffe der Kausalität und Wesentlichkeit abstrakt oder konkret zu verstehen sind. Denn die Kausalität wie auch die Wesentlichkeit können abstrakt in der Form angewandt werden, dass allein die Norm als solche im Vordergrund steht. Sie können aber auch in Bezug zu einem konkreten Einzelfall gesetzt werden. Jüngere Entschei-dungen des EuGH deuten darauf hin, die konkreten Umstände des Einzelfalls in den Vordergrund zu rücken.78

2. Beschränkung durch Fristenregelungen – Unbeachtlichkeitsvorschriften mit zeitlicher Anknüpfung

Anders als beim grundsätzlichen Ausschluss von nationalem Rechtsschutz bei der Verletzung bzw. Abweichung von europäischen Vorgaben lassen sich in der Praxis viel häufiger Fälle finden, in denen das Geltendmachen von Rechten an die Einhal-tung einer bestimmten Frist gebunden ist. Darunter sind aus europäischer Sicht nicht nur Situationen zu fassen, in denen ausdrücklich eine Frist zur Erhebung ei-ner Klage gesetzt wird, wie etwa gem. § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO. Ebenso sind hierun-ter die Fälle zu subsumieren, in denen eine nationale Vorschrift bestimmte Mängel des anzugreifenden Rechtsakts dem gerichtlichen Verfahren nach Ablauf einer be-stimmten Frist entzieht; also etwa im Fall von Unbeachtlichkeitsregelungen mit einer Fristbestimmung. Ein Beispiel ist die Regelung des § 215 Abs. 1 BauGB. Die mit diesen nationalen Vorschriften verbundene Beschränkung einer zeitlosen Rechtsschutzmöglichkeit soll Gegenstand der nachfolgenden Erörterungen sein.

a) Grundsätzliche Europarechtskonformität

Schon sehr früh hat der EuGH festgestellt, dass die Verwendung angemessener Fristen für die Rechtsverfolgung europäische Verfahrensregeln grundsätzlich nicht praktisch unmöglich macht.79 Selbst wenn die von den Fristen profitierende Ver-waltungsentscheidung europarechtswidrig sei, soll eine Aufhebung der Entschei-dung nach dem Fristablauf nicht geboten sein.80

77 Wahl (Fn. 19), S. 1285, 1292. 78 EuGH, Rs. C-327/00 (Santex SpA), Slg. 2003, I-1877, Rn. 57; EuGH, Rs. C-231/96 (Edis), Slg. 1998, I-4951,

Rn. 38; EuGH, Rs. C-473/00 (Cofidis/Fredout), Slg. 2002, I-10875, Rn. 37.79 EuGH, Rs. 33/76 (Rewe), Slg. 1976, 1989, Rn. 5; EuGH, Rs. 45/76 (Comet), Slg. 1976, 2043, Rn. 9.80 EuGH, Rs. 33/76 (Rewe), Slg. 1976, 1989, Rn. 5; EuGH, Rs. 45/76 (Comet), Slg. 1976, 2043, Rn. 9; Jarass/

Beljin (Fn. 12), S. 1, 11.

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Der EuGH stützt sich dabei seit Rewe81 und Comet82 auf das „grundlegende Prin-zip der Rechtssicherheit“,83 das er neben den Grundsätzen des Vertrauensschutzes als „Bestandteil der Rechtsordnung der Gemeinschaft“84 ansieht. Somit könne es „nicht als [...] (der europäischen) Rechtsordnung widersprechend angesehen wer-den, wenn nationales Recht [...] berechtigtes Vertrauen und Rechtssicherheit schützt“85. Diese Grundthese, dass Fristenbestimmungen den Grundsätzen des Vertrauens-schutzes und der Rechtssicherheit dienen, greift der EuGH regelmäßig dann auf, wenn er sich mit den Problematiken der Fristen befasst. In zahlreichen Entschei-dungen hat er den Rückgriff auf Gedanken der Rechtssicherheit und des Vertrau-ensschutzes86 ausreichen lassen, um die nationale Fristenregelung europarechtlich zu billigen. Eine gängige Formulierung, wie „die Festsetzung angemessener Aus-schlussfristen für die Geltendmachung von Rechtsbehelfen genügt grundsätzlich dem Erfordernis der Effektivität des Gemeinschaftsrechts, da sie ein Anwendungs-fall des grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit ist“,87 findet sich deshalb an vielen Stellen wieder.Mit Blick auf den Grundsatz der Gleichwertigkeit lässt es der EuGH ausreichen, wenn die Modalitäten der Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen „ohne Unter-schied für die auf die Verletzung des Gemeinschaftsrechts wie die auf die Verlet-zung des nationalen Rechts gestützten Klagen (gelten)“88. Mit anderen Worten: Eine nationale Frist darf nicht für Klagen aus dem Gemeinschaftsrecht weniger günstig sein als für Klagen aus dem innerstaatlichen Recht.89 Dies bedeutet für den involvierten Mitgliedsstaat jedoch nicht, dass er verpflichtet ist, die günstigste na-tionale (Fristen-)Regelung für Fälle mit europarechtlichem Bezug bereitzuhalten;90 ein Transfer von Fristen anderer nationaler Rechtsgebiete wird nicht verlangt.91 Der EuGH lässt es sogar zu, dass neben einer allgemein geltenden Frist kürzere Fristen verwendet werden.92 Anders ist es nur dann, wenn nationale Modalitäten

81 EuGH, Rs. 33/76 (Rewe), Slg. 1976, 1989.82 EuGH, Rs. 45/76 (Comet), Slg. 1976, 2043.83 Aus der neueren Rechtsprechung siehe EuGH, Rs. C-470/99 (Östü-Stettin/Simmering), Slg. 2002, I-11617,

Rn. 77; EuGH, Rs. C-327/00 (Santex SpA), Slg. 2003, I-1877, Rn. 52; EuGH, Rs. C-62/00 (Marks & Spencer), Slg. 2002, I-6325, Rn. 35.

84 EuGH, Rs. 205 bis 215/82 (Deutsche Milchkontor/Deutschland), Slg. 1983, 2633, Rn. 30.85 EuGH, Rs. 205 bis 215/82 (Deutsche Milchkontor/Deutschland), Slg. 1983, 2633, Rn. 30.86 Der Aspekt des Vertrauensschutzes ist in den neueren Entscheidungen etwas in den Hintergrund geraten. Siehe

etwa EuGH, Rs. C-62/00 (Marks & Spencer), Slg. 2002, I-6325, Rn. 35; EuGH, Rs. C-470/99 (Östü-Stettin/Simmering), Slg. 2002, I-11617, Rn. 77.

87 Ähnliche Formulierungen finden sich auch in den Entscheidungen EuGH, Rs. C-78/98 (Preston/Midland Bank), Slg. 2000, I-3201, Rn. 33; EuGH, Rs. C-343/96 (Dilexport), Slg. 1999, I-579, Rn. 26; EuGH, Rs. C-228/96 (Aprile), Slg. 1998, I-7141, Rn. 19.

88 EuGH, Rs. C-343/96 (Dilexport), Slg. 1999, I-579, Rn. 27.89 EuGH, Rs. C-78/98 (Preston/Midland Bank), Slg. 2000, I-3201, Rn. 35.90 EuGH, Rs. C-343/96 (Dilexport), Slg. 1999, I-579, Rn. 27.91 EuGH, Rs. C-228/96 (Aprile), Slg. 1998, I-7141, Rn. 20 f.92 EuGH, Rs. C-343/96 (Dilexport), Slg. 1999, I-579, Rn. 28.

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nur für Fälle mit europarechtlichem Bezug geschaffen werden. Solche Fristen ver-mag der EuGH nicht zu akzeptieren.93 Aus diesem Grund ist es auch verständlich, dass der EuGH eine nationale Rege-lung, die das Verfahren über den Ersatz des Schadens, der aufgrund einer verspäte-ten Umsetzung einer Richtlinie entstandenen ist, abweichend von der allgemeinen Regelung des Schadenersatzes ausgestaltet, nicht als mit dem Gebot der Effektivi-tät des Gemeinschaftsrechts in Kollision sieht.94 Schließlich ist die Erlangung des durch die verspätete Umsetzung entstandenen Schadens in der Praxis nicht zwangs-läufig unmöglich und – im konkreten Fall – auch nicht besonders schwierig. Der EuGH stellte jedoch heraus, dass ein solches Vorgehen durchaus gegen den Grund-satz der Gleichwertigkeit verstoßen kann.95

b) Analyse der Problemfelder

Mit den Aussagen zur grundsätzlichen Zulässigkeit nationaler Fristenregelungen ist nicht die Schlussfolgerung verbunden, dass nationale Fristenregelungen immer den Anforderungen des europäischen Rechts genügen. Selbst eine Frist von 60 Tagen kann Defizite aufweisen, auch für den Fall, dass sie zur Rechtssicherheit beiträgt.96 Mit besonderer Betonung hat der EuGH in jüngerer Zeit in der Rechtssache Cofidis S.A. gegen Jean-Louis Fredout klargestellt, dass eine typisierende Betrachtung von Ausschlussfristen nicht möglich sei und allein der allgemeine Hinweis auf die Bil-ligung von Ausschlussfristen durch den EuGH in anderen Verfahren eine andere nationale Ausschlussfrist nicht zu rechtfertigen vermag.97 Der Gerichtshof stellt ausdrücklich fest, „dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Gemeinschaftsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren vor den verschiedenen nationalen Stellen sowie des Ablaufs und der Besonderheit dieses Verfahrens zu prüfen ist. Die von der Klägerin und der französischen Regierung angeführten Entscheidungen Rewe und Palmisani sind da-her lediglich das Ergebnis von Einzelfallbeurteilungen, die unter Berücksichtigung des gesamten tatsächlichen und rechtlichen Zusammenhangs der jeweiligen Rechts-sache vorgenommen wurden und nicht automatisch auf andere Bereiche als die übertragen werden können, in deren Rahmen sie getroffen wurden.“ 98

Mit dieser für den Rechtsanwender wohl eher unbefriedigenden „Klarstellung“ hat der EuGH jenen Erwartungen eine Absage erteilt, die mit Blick auf die jüngsten

93 EuGH, Rs. C-228/96 (Aprile), Slg. 1998, I-7141, Rn. 21.94 EuGH, Rs. C-261/95 (Palmisani/INPS), Slg. 1997, I-4025, Rn. 28. 95 EuGH, Rs. C-261/95 (Palmisani/INPS), Slg. 1997, I-4025, Rn. 32 ff.96 EuGH, Rs. C-312/93 (Peterbroek), Slg. 1995, I-4599; EuGH, Rs. C-327/00 (Santex SpA), Slg. 2003, I-1877.

Siehe dazu noch ausführlich die folgende Darstellung.97 EuGH, Rs. C-473/00 (Cofidis/Fredout), Slg. 2002, I-10875, Rn. 37. In diese Richtung weist auch EuGH, Rs.

C-312/93 (Peterbroek), Slg. 1995, I-4599, Rn. 14. Siehe zudem Jarass/Beljin (Fn. 12), S. 1, 11.98 EuGH, Rs. C-473/00 (Cofidis/Fredout), Slg. 2002, I-10875, Rn. 37. Die Hervorhebung besteht nicht im Origi-

nal.

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Entscheidungen zu den Ausschlussfristen verbindliche Vorgaben erhofften. Deut-lich wie an keiner anderen Stelle betont der EuGH die Behandlung der Ausschluss-fristen als eine Bewertung des Einzelfalls. Die hierzu maßgeblichen Bewertungs-kriterien können nicht allein die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit sein, denn der vorliegende Fall Cofidis S.A. gegen Jean-Louis Fre-dout99 macht deutlich, dass auch eine Fristenregelung, die dem Grundsatz der Rechtssicherheit dient,100 vom EuGH als europarechtswidrig qualifiziert werden kann.101 Welche zusätzlichen Faktoren sind also in die Bewertung mit einzubezie-hen? Die nachfolgenden Ausführungen werden sich mit richtungsweisenden und aktuellen Entscheidungen des EuGH befassen, um diese Bewertungskriterien her-auszuarbeiten.

aa) Cofidis S.A. gegen Jean-Louis Fredout (Frist europarechtswidrig)

Die bereits erwähnte Entscheidung Cofidis S.A. gegen Jean-Louis Fredout102 be-trifft ein französisches Ausgangsverfahren. Der EuGH hatte die europarechtliche Zulässigkeit einer Klausel in einem Kreditvertrag zu beurteilen, deren missbräuch-liche Qualität von nationalen Gerichten nicht mehr berücksichtigt werden konnte, da mehr als zwei Jahre nach Vertragsschluss vergangen waren. Der Gerichtshof erklärte die diesbezügliche Ausschlussklausel des französischen Rechts für unvereinbar mit der AGB-Richtlinie. Er führte im Einzelnen aus, dass die vorliegende Ausschlussfrist – hier in der Form einer Verjährungsregelung – grundsätzlich zur Rechtssicherheit beitrage. Gleichwohl stehe dem Gericht die Be-fugnis zu, die Missbräuchlichkeit einer Klausel zu prüfen. Dies sei notwendig, um den wirksamen Schutz des Verbrauchers insbesondere angesichts der nicht zu un-terschätzenden Gefahr zu gewährleisten, dass dieser seine Rechte nicht kennt oder Schwierigkeiten hat, sie auszuüben.103 Mit dem durch die AGB-Richtlinie ge-währten Schutz sei es daher unvereinbar, wenn in von Gewerbetreibenden gegen Verbraucher angestrebten Verfahren, die auf die Durchsetzung missbräuchlicher Klauseln gerichtet sind, die Befugnis des Gerichts, solche Klauseln von Amts we-gen oder auf eine vom Verbraucher erhobene Einrede hin unberücksichtigt zu las-sen, begrenzt werde. Diese Einschränkung durch die Ausschlussfrist verstoße ge-gen die Effektivität des durch die Richtlinie statuierten Schutzes. Denn der Gewer-betreibende brauche nur den Ablauf der vom nationalen Gesetzgeber festgesetzten Frist abzuwarten und sodann eine Klage gestützt auf missbräuchliche Klauseln zu erheben, um dem Verbraucher den europarechtlich zugewiesenen Schutz zu entzie-hen. Aus diesem Grund sei die im Verfahren behandelte Fristenregelung geeignet,

99 EuGH, Rs. C-473/00 (Cofidis/Fredout), Slg. 2002, I-10875.100 EuGH, Rs. C-473/00 (Cofidis/Fredout), Slg. 2002, I-10875, Rn. 30.101 So auch EuGH, Rs. C-327/00 (Santex SpA), Slg. 2003, I-1877, Rn. 57.102 EuGH, Rs. C-473/00 (Cofidis/Fredout), Slg. 2002, I-10875.103 EuGH, Rs. C-473/00 (Cofidis/Fredout), Slg. 2002, I-10875, Rn. 32 ff.; vgl. hierzu auch EuGH, Rs. C-240/98

bis C-244/98 (Océano/Roció Murciano Quintero u.a.), Slg. 2000, I-4941, Rn. 26.

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in Rechtsstreitigkeiten die Gewährleistung des Schutzes, den die Richtlinie dem Verbraucher zukommen lassen will, übermäßig zu erschweren.104 Allgemein kann also der Schluss gezogen werden, dass eine nationale Fristenrege-lung im Sinne einer Ausschlussfrist den Effektivitätsgrundsatz verletzt, wenn die Auslegung der tangierten europarechtlichen Vorschriften ergibt, dass diese ein eu-ropäisches Recht vermitteln, das einen unbefristeten Schutz verlangt.105 Allein der Umstand, dass die Ausschlussfrist der Rechtssicherheit dient, kann den mit ihr ver-bundenen Eingriff in europarechtlich gewährte (Schutz-) Rechte bzw. Rechtspositi-onen nicht rechtfertigen.

bb) Marks & Spencer plc gegen Commissioners of Customs & Excise (Frist europarechtswidrig)

Eine weitere Entscheidung, in der der EuGH eine nationale Fristenregelung bean-standet hat und die von ihrer Argumentation in eine ähnliche Richtung weist wie die Entscheidung Cofidis S.A. gegen Jean-Louis Fredout, ist die Rechtssache Marks & Spencer plc gegen Commissioners of Customs & Excise106. Hier hatte sich der Gerichtshof der Frage zuzuwenden, ob die Grundsätze der Effektivität und des Ver-trauensschutzes einer nationalen Regelung entgegenstehen, die rückwirkend die Frist verkürzt, innerhalb derer die Erstattung von als Mehrwertsteuer gezahlten Be-trägen gefordert werden kann. Im konkreten Fall waren die Beträge unter Verstoß gegen Bestimmungen einer Richtlinie erhoben worden, wobei die Richtlinie unmit-telbare Wirkung entfaltete. In der Sache hat der EuGH auch in diesem Verfahren einen Verstoß gegen die bei-den angesprochenen Prinzipien der Effektivität und des Vertrauensschutzes ange-nommen und dies im Kern mit dem Schutz der durch EG-Recht geschaffenen Rechtspositionen begründet. Hinsichtlich des Grundsatzes der Effektivität erklärt der EuGH zwar ausdrücklich, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit mit dem Gemein-schaftsrecht vereinbar sei; insbesondere sei eine Frist von drei Jahren grundsätzlich angemessen. Gleichwohl müsse eine Regelung, die die Frist verkürze, innerhalb derer die Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gezahlten Beträgen gefordert werden könne, besonderen Voraussetzungen genügen. Zum ei-nen dürfe sie nicht dazu bestimmt sein, gerade die Auswirkungen eines Urteils des Gerichtshofs zu begrenzen, mit dem eine nationale Regelung über eine bestimmte Abgabe für unvereinbar mit dem europäischen Recht befunden wurde. Zum ande-ren müsse sie, was die Modalitäten ihrer zeitlichen Anwendung betreffe, eine Frist

104 Zu diesen und den voranstehenden Ausführungen des Gerichts siehe EuGH, Rs. C-473/00 (Cofidis/Fredout), Slg. 2002, I-10875, Rn. 30 ff.

105 So auch Jarass/Beljin (Fn. 12), S. 1, 11.106 EuGH, Rs. C-62/00 (Marks & Spencer), Slg. 2002, I-6325.

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setzen, die ausreiche, um die Wirksamkeit des Erstattungsanspruchs sicherzustel-len. Diesem Erfordernis genüge jedoch die vorliegend zur Überprüfung gestellte nationale Fristenregelung nicht, da sie in einigen Fällen dem Einzelnen rückwir-kend die Möglichkeit versperre, Ansprüche zu realisieren, die noch unter der alten Regelung hätten geltend gemacht werden können, die unter Geltung der neuen Re-gelung jedoch gesperrt seien. Der Grundsatz der Effektivität stehe zwar nicht einer Verkürzung einer Frist durch nationales Recht entgegen, die den Zeitraum regele, in dessen Grenzen europarechtswidrig erhobene Beiträge zurückgefordert werden könnten, doch müsse zumindest – etwa durch Übergangsvorschriften – gewährleis-tet sein, dass jedem Einzelnen eine Frist eingeräumt sei, um auch noch nach Erlass der neuen Ausschlussfristen die rechtlichen Optionen auszuschöpfen und wahrzu-nehmen. Sei diese Möglichkeit rückwirkend versperrt oder stehe dem Einzelnen eine zu kurze Frist zur Geltendmachung der Ansprüche zu, sei die Regelung grund-sätzlich unzulässig. Auch wenn der EuGH vom Grundsatz der Effektivität Ausnahmen etwa zugunsten der Rechtssicherheit zulasse, so müsse eine angemessene Ausschlussfrist im Vor-aus festgelegt werden, um ihren Zweck zu erfüllen. Werde dem Einzelnen aber rückwirkend ein Anspruch genommen, sei der Grundsatz der Effektivität verletzt. Mit anderen Worten: Zwar können das Bedürfnis nach Rechtssicherheit oder nati-onale Allgemeinwohlbelange die Festsetzung von angemessenen Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung rechtfertigen, „nicht aber die Anwendung dieser Fristen in einer solchen Art und Weise, dass die Wahrung der dem Einzelnen durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte nicht mehr gewährleistet ist“107.Zu dem gleichen Ergebnis führe zudem eine Betrachtung des Sachverhalts unter dem Blickwinkel des Grundsatzes des Vertrauensschutzes. Denn der rückwirkende Entzug der Möglichkeit, die Erstattung europarechtswidrig erhobener Abgaben zu verlangen, verstoße auch gegen diesen Grundsatz, der Teil der Gemeinschafts-rechtsordnung sei.108

cc) Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat (Frist europarechtswidrig) und Santex SpA gegen Unità Socio Sanitaria Locale (Frist europarechtswidrig)

Eine der bekanntesten, wenn nicht sogar die bekannteste Entscheidung, die eine nationale 60-tägige Ausschlussfrist für unzulässig erklärt hat, ist die Entscheidung Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat.109 In jüngerer Zeit ist ihr die Entscheidung des EuGH in der Sache Santex SpA gegen Unità Socio Sanitaria Locale110 nachgefolgt. Auch in Santex SpA gegen Unità Socio Sanitaria

107 EuGH, Rs. C-62/00 (Marks & Spencer), Slg. 2002, I-6325, Rn. 42.108 Zu den Ausführungen des Gerichts siehe EuGH, Rs. C-62/00 (Marks & Spencer), Slg. 2002, I-6325, Rn. 35 ff.109 EuGH, Rs. C-312/93 (Peterbroek), Slg. 1995, I-4599. 110 EuGH, Rs. C-327/00 (Santex SpA), Slg. 2003, I-1877.

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Locale hat der EuGH eine Frist von 60 Tagen Länge als nicht mit dem Gemein-schaftsrecht vereinbar angesehen. In der Rechtssache Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat begründete der europäische Gerichtshof seine Entscheidung mit den Beson-derheiten des konkreten111 Verfahrens:112 Zwar sei eine Frist von 60 Tagen als sol-che nicht zu beanstanden, in dem streitigen Verfahren sei jedoch kein nationales Gericht in der Lage gewesen, vor dem Ablauf der Frist die Vereinbarkeit des natio-nalen Rechtsakts mit dem Gemeinschaftsrecht zu überprüfen. Damit habe die nati-onale Regelung dazu geführt, dass nationale Hoheitsakte erst nach Fristablauf einem gem. Art. 234 EGV vorlageberechtigten Gericht zur Überprüfung zur Verfü-gung gestanden hätten und nicht mehr (von Amts wegen) auf ihre europarechtliche Zulässigkeit untersucht werden konnten. Daher „lässt es sich durch Grundsätze wie den der Rechtssicherheit oder den des ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs nicht in vertretbarer Weise rechtfertigen, dass es den nationalen Gerichten unmöglich ist, von Amts wegen auf Gemeinschaftsrecht gestützte Gesichtspunkte aufzugreifen“, so der EuGH.113 Die Entscheidung des EuGH zu Santex SpA gegen Unità Socio Sanitaria Locale hat mit der Entscheidung zu Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Bel-gischer Staat nicht nur insoweit gemein, dass sie sich zu einer 60-tägigen Aus-schlussfrist verhält, sondern auch, dass sie die Besonderheiten des Einzelfalls in den Vordergrund rückt. Sie ist jedoch umfangreicher und detaillierter und kann von daher durchaus als Konkretisierung der Peterbroeck-Entscheidung verstanden wer-den. Im Einzelnen führt der EuGH in Santex SpA gegen Unità Socio Sanitaria Lo-cale aus, dass „die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Einlegung von Rechtsbehelfen grundsätzlich [...] (dem) Effektivitätsgebot genügt, da sie ein Anwendungsfall des Grundsatzes der Rechtssicherheit ist“114. Die Ausschlussfrist von 60 Tagen erscheine zudem sowohl im Hinblick auf die Zielsetzung der durch sie betroffenen Richtlinie als auch mit Rücksicht auf den Grundsatz der Rechtssi-cherheit angemessen. Eine derartige Frist mache auch die Ausübung der Rechte, die dem Betroffenen gegebenenfalls nach dem Gemeinschaftsrecht zustehe, nicht unmöglich oder erschwere sie übermäßig. Gleichwohl sei die Rechtmäßigkeit der Fristenregelung „[...] unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im Ver-fahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens zu prüfen“115. Eine generell zulässige Frist könne deshalb unter den konkreten Umständen des vorliegenden Falls in ihrer situationsbedingten Anwendung zu einem Verstoß gegen das Effektivitätsgebot führen. Diesen Verstoß nimmt der EuGH im vorliegenden Fall an. Er führt aus, dass in dem zu entscheidenden Rechtsstreit durch staatliches

111 Stüer/Rieder (Fn. 7), S. 139, 147, betonen ebenfalls den Charakter einer „Einzelfallentscheidung“.112 EuGH, Rs. C-312/93 (Peterbroek), Slg. 1995, I-4599, Rn. 16 ff. 113 EuGH, Rs. C-312/93 (Peterbroek), Slg. 1995, I-4599, Rn. 20. Die Hervorhebung findet sich nicht im Original.114 EuGH, Rs. C-327/00 (Santex SpA), Slg. 2003, I-1877, Rn. 52.115 EuGH, Rs. C-327/00 (Santex SpA), Slg. 2003, I-1877, Rn. 56.

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Verhalten bei dem Betroffenen eine Ungewissheit hinsichtlich der Auslegung einer Klausel erzeugt und diese Ungewissheit erst in einem späteren Verfahrensstadium beseitigt worden sei, zu einem Zeitpunkt, als die Erhebung einer Klage durch den Betroffenen nicht mehr möglich gewesen sei. Der EuGH urteilt deshalb, dass dem Betroffenen „durch die Ausschlussvorschriften jede Möglichkeit genommen (wur-de), die Unvereinbarkeit dieser Auslegung (der Klausel) mit dem Gemeinschafts-recht gegenüber späteren ihm nachteiligen Entscheidungen gerichtlich geltend zu machen“116. Das nationale Gericht solle deshalb von der – im konkreten Verfahren gegebenen – „Möglichkeit Gebrauch machen, die nationale Präklusionsvorschrift außer Acht zu lassen“117.Es wird deutlich, dass, wie schon in den Urteilen zu Marks & Spencer plc gegen Commissioners of Customs & Excise118 und Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat, der EuGH sehr darauf bedacht ist, einen effektiven Rechtsschutz zu ermöglichen. Dabei darf dem Einzelnen weder abstrakt noch in der konkreten Verfahrenssituation die Möglichkeit genommen werden, gegen staat-liche Akte mit europarechtlichem Bezug Rechtsschutz zu erlangen. Führt eine ab-strakt als Ausschlussfrist angelegte Vorschrift konkret zu einem absoluten, quasi „fristlosen“ Rechtsschutzausschluss, ist sie europarechtlich unzulässig.

dd) ÖSTÜ-STETTIN gegen Entsorgungsbetriebe Simmering (Frist europarechtskonform)

Eine neuere Entscheidung, in der der EuGH zur Zulässigkeit einer Regelung über Ausschlussfristen gelangt, ist die Sache ÖSTÜ-STETTIN gegen Entsorgungsbe-triebe Simmering119 aus dem Jahre 2002. Das Verfahren behandelt die Anwendung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung des Nachprüfungs-verfahrens im Rahmen der Vergabe eines öffentlichen Bauauftrags. Dabei wurden durch den nationalen Gesetzgeber für bestimmte Anträge auf Nachprüfung Aus-schlussfristen von drei Tagen, ein und zwei Wochen sowie sechs Monaten gesetzt. Der EuGH stellt in seinem Urteil zunächst seinen Prüfungsmaßstab heraus: „Es ist zu prüfen, ob eine nationale Regelung [...] im Hinblick auf die Zielsetzung [...] (ei-ner bestimmten) Richtlinie nicht die dem Einzelnen durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte beeinträchtigt.“120 Sodann begnügt sich das Gericht mit den Feststellungen, dass die gefundene nationale Ausschlussregelung dem sich aus der europäischen Richtlinie ergebenden Effektivitätsgebot entspreche, das ein Anwen-dungsfall des grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit sei.121 Es würde mit

116 EuGH, Rs. C-327/00 (Santex SpA), Slg. 2003, I-1877, Rn. 60.117 EuGH, Rs. C-327/00 (Santex SpA), Slg. 2003, I-1877, Rn. 66. Siehe zu den übrigen obigen Ausführungen des

Gerichts die Rn. 52 ff.118 EuGH, Rs. C-62/00 (Marks & Spencer), Slg. 2002, I-6325.119 EuGH, Rs. C-470/99 (Östü-Stettin/Simmering), Slg. 2002, I-11617.120 EuGH, Rs. C-470/99 (Östü-Stettin/Simmering), Slg. 2002, I-11617, Rn. 73.121 EuGH, Rs. C-470/99 (Östü-Stettin/Simmering), Slg. 2002, I-11617, Rn. 76.

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dem Ziel der europäischen Richtlinie im Einklang stehen, dass rechtswidrige Ent-scheidungen der öffentlichen Auftraggeber nach ihrer Bekanntgabe „so rasch wie möglich angefochten und berichtigt werden“122. Für Ausführungen zur konkreten Situation des Betroffenen bzw. des Falls sah der EuGH keine Veranlassung.

ee) Weitere Entscheidungen zu zulässigen Ausschlussfristen

In der Rechtsprechung des EuGH lassen sich weitere Entscheidungen finden, die mit der Feststellung enden, dass die nationalen Ausschlussfristen europarechtlich zulässig seien. Dabei reicht die Spannbreite der in Frage gestellten Fristen von 6 Monaten123 bis zu 3 Jahren124. Den Entscheidungen ist gemein, dass ebenso wie in ÖSTÜ-STETTIN gegen Entsorgungsbetriebe Simmering125 die Argumentation da-mit beginnt, herauszustellen, dass „angemessene“ Ausschlussfristen für die Gel-tendmachung von Rechtsbehelfen grundsätzlich dem Prinzip der Rechtssicherheit entsprechen.126 Teilweise wird ohne nähere Begründung angenommen, dass die in Frage stehende Frist „unter diesem Gesichtspunkt“127 angemessen erscheint.128 Unklar bleibt, auf welche Erwägungen der EuGH diese Feststellung stützt. Er nennt keine Kriterien, um den unbestimmten Rechtsbegriff „angemessen“ näher zu erläu-tern. Deshalb braucht das Gericht auch nicht unter Voraussetzungen zu subsumie-ren. Die Zurückhaltung kann allerdings auch damit zusammenhängen, dass in den angesprochenen Entscheidungen die in Frage stehende Frist mit drei Jahren ver-hältnismäßig lang war und der EuGH möglicherweise deshalb keinen besonderen Begründungsbedarf sah. Anders ist es in den Fällen, in denen eine Frist von einem Jahr oder gar nur 6 Monaten zur Entscheidung stand.129 Hier sieht sich der EuGH zu einer etwas umfassenderen Ausführung veranlasst.130 In einem Fall argumen-tiert der EuGH etwa dahin gehend, dass die getroffene nationale Regelung ver-ständlich und gut handhabbar sei. Der Betroffene sei (abstrakt) in die Lage versetzt, die eigenen Rechte in vollem Umfang zu erkennen und die Voraussetzungen für den Erfolg einer möglichen Klage der Vorschrift zu entnehmen. Dies rechtfertige die Angemessenheit der Ausschlussfrist.131

122 EuGH, Rs. C-470/99 (Östü-Stettin/Simmering), Slg. 2002, I-11617, Rn. 78.123 EuGH, Rs. C-78/98 (Preston/Midland Bank), Slg. 2000, I-3201.124 Vgl. EuGH, Rs. C-343/96 (Dilexport), Slg. 1999, I-579; EuGH, Rs. C-231/96 (Edis), Slg. 1998, I-4951; EuGH,

Rs. C-228/96 (Aprile), Slg. 1998, I-7141.125 EuGH, Rs. C-470/99 (Östü-Stettin/Simmering), Slg. 2002, I-11617.126 EuGH, Rs. C-343/96 (Dilexport), Slg. 1999, I-579; EuGH, Rs. C-231/96 (Edis), Slg. 1998, I-4951; EuGH, Rs.

C-228/96 (Aprile), Slg. 1998, I-7141.127 EuGH, Rs. C-231/96 (Edis), Slg. 1998, I-4951, Rn. 35; EuGH, Rs. C-228/96 (Aprile), Slg. 1998, I-7141, Rn.

19; EuGH, Rs. C-343/96 (Dilexport), Slg. 1999, I-579, Rn. 26.128 EuGH, Rs. C-228/96 (Aprile), Slg. 1998, I-7141, Rn. 19; EuGH, Rs. C-231/96 (Edis), Slg. 1998, I-4951, Rn.

35; EuGH, Rs. C-343/96 (Dilexport), Slg. 1999, I-579, Rn. 26.129 EuGH, Rs. C-261/95 (Palmisani/INPS), Slg. 1997, I-4025; EuGH, Rs. C-78/98 (Preston/Midland Bank), Slg.

2000, I-3201.130 EuGH, Rs. C-261/95 (Palmisani/INPS), Slg. 1997, I-4025, Rn. 29; EuGH, Rs. C-78/98 (Preston/Midland Bank),

Slg. 2000, I-3201, Rn. 34.131 EuGH, Rs. C-261/95 (Palmisani/INPS), Slg. 1997, I-4025, Rn. 29.

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Die Frage eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichwertigkeit behandelt der EuGH grundsätzlich recht knapp; nur wenn es im Einzelfall Anlass zu Zweifeln gibt, finden sich nähere Ausführungen, wie etwa in Rosalba Palmisani gegen Isti-tuto nazionale della previdenza sociale (INPS)132. Hier ergeben sich allerdings kei-ne Besonderheiten.

ff) Erkenntnisse aus einem Vergleich der Urteile

Die Analyse der oben aufgeführten Urteile macht deutlich, an welchen Grundsät-zen sich die Prüfung der europarechtlichen Zulässigkeit von Ausschlussfristen in der Rechtsprechung des EuGH orientiert. Zunächst betont der EuGH, dass das eu-ropäische Recht bestimmte individuelle Garantien und Rechte eröffnet oder aber einen bestimmten Zweck verfolgt. Kommt es zu Beeinträchtigungen dieser in der europäischen Vorschrift verwurzelten „Schutzinteressen“ bzw. „Schutzgüter“, be-darf es einer Rechtfertigung.133 Bei der Festlegung von Ausschlussfristen durch nationales Recht akzeptiert der EuGH (ganz abstrakt) das Prinzip der Rechtssicher-heit, dem die Ausschlussfristen dienen. Allerdings vermag die rechtlich gewichtige Rechtssicherheit nicht, jede Form des Eingriffs in die europäischen Schutzgüter und Schutzinteressen zu rechtfertigen. Grenzen des Rechtfertigungspotentials (sog. Schranken-Schranken) sind das Effektivitäts- und Gleichwertigkeitsprinzip. Wo diese Grenzen verlaufen und ob sie in der konkreten Situation des zu entschei-denden Streits überschritten wurden, wird durch den Gerichtshof in einer Beurtei-lung des Einzelfalls entschieden. Ausführungen finden sich zu der Prüfung des Einzelfalls jedoch nur, wenn der EuGH insoweit einen Begründungsbedarf sieht, also nicht in (für ihn) offensichtlichen Fällen.134 Im Rahmen einer solchen Einzel-fallprüfung hat der EuGH bislang in nur drei Arten von Fällen nationale Rege-lungen zu Ausschlussfristen als unzulässig angesehen:Der erste Fall betrifft nationale Regelungen, die zwar abstrakt als Ausschlussfristen konzipiert sind, de facto aber keine Ausschlussfristen in Gang setzen, sondern im Vorhinein dazu führen, dass eine Möglichkeit zur Rechtsverfolgung nie bestand.135 Dazu zählen wohl auch die Situationen, in denen nachträglich eine Ausschlussfrist eingeführt wird, die zum Zeitpunkt ihres Erlasses bereits abgelaufen ist und dem Einzelnen Rechte entzieht, die das Gemeinschaftsrecht ihm zuvor verliehen hat.136 Von ihren Auswirkungen her stehen diese besonderen Ausformungen der Aus-schlussfristen wohl den fristunabhängigen, absoluten Unbeachtlichkeitsvorschriften näher als den eigentlichen Ausschlussfristen. Sie sind deshalb auch nur – wie alle

132 EuGH, Rs. C-261/95 (Palmisani/INPS), Slg. 1997, I-4025.133 Siehe zur Rechtfertigung innerstaatlicher Eingriffsregelungen Oexle, Einwirkungen des EG-Vorabentschei-

dungsverfahrens auf das nationale Verfahrensrecht, NVwZ 2002, S. 1328, 1330 ff.134 EuGH, Rs. C-231/96 (Edis), Slg. 1998, I-4951, Rn. 35; EuGH, Rs. C-228/96 (Aprile), Slg. 1998, I-7141, Rn.

19; EuGH, Rs. C-343/96 (Dilexport), Slg. 1999, I-579, Rn. 26.135 EuGH, Rs. C-312/93 (Peterbroek), Slg. 1995, I-4599.136 EuGH, Rs. C-62/00 (Marks & Spencer), Slg. 2002, I-6325, Rn. 42.

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Vorschriften, die jede Möglichkeit des Rechtsschutzes ausschließen – unter sehr engen Voraussetzungen europarechtlich zulässig.137 Vergleichbar behandelt der EuGH – zweitens – die Situation, in der zwar die natio-nale gesetzliche Regelung eine zulässige Fristsetzung erlaubt hätte, der Betroffene jedoch durch Fehlinformationen bzw. aufgrund von fehlenden Informationen dar-auf vertrauen darf, nicht innerhalb der gesetzlichen Frist gerichtlich tätig werden zu müssen.138

Der dritte Fall betrifft nationale Ausschlussfristen, die auf besondere europäische Vorgaben stoßen. Gemeint sind die europäischen Regelungen, die einen besonde-ren Zweck verfolgen oder ein besonderes europäisches Recht gewähren, und dieser Zweck oder dieses Recht sollen einen dauerhaften und uneingeschränkten gericht-lichen Schutz genießen.139 Die Beschränkung dieses Schutzes durch nationale Aus-schlussfristen ist durch das europäische Recht versagt. Wann eine europäische Vor-schrift, etwa eine Richtlinie, ein besonderes Schutzniveau aufweist, ist in der Rechtsprechung des EuGH nicht abschließend geklärt. Auf Grundlage der ausge-werteten Rechtsprechung140 deutet sich allerdings an, dass Vorschriften, die vor-wiegend oder ausschließlich dem Schutz von privaten Personen oder Verbrauchern dienen, ein besonders hohes Gewicht aufweisen, das eine Rechtsschutzbeschrän-kung und damit den Erlass einer nationalen Ausschlussfrist europarechtlich nicht erlaubt.141 Liegt das primäre Ziel der europäischen Vorgabe aber nicht im Schutz eines (besonders schutzbedürftigen)142 Betroffenen, sondern werden quasi nur se-kundär – zur Gewährleistung eines vom Schutz des Einzelnen unabhängigen Ziels, wie etwa dem Umweltschutz – subjektive Rechte gewährt, wie beispielsweise Be-teiligungs- oder Anhörungsrechte, so sind diese Rechte einschränkbar. Interessen der Rechtssicherheit können der Rechtsverwirklichung in einem solchen Fall vor-gehen.Man darf die drei (Grund-)Fälle, in denen der EuGH die Zulässigkeit der natio-nalen Ausschlussfrist verneint, wohl als Ergebnis des Wechselspiels von Rechtssi-cherheit und Effektivitäts- bzw. Gleichwertigkeitsgrundsatz verstehen, in dem der Effektivitäts- bzw. Gleichwertigkeitsgrundsatz die Oberhand im Rahmen eines Ab-wägungsvorgangs behält. Die drei (Grund-) Fälle beschreiben die äußeren Grenzen, die der EuGH in dem Balanceverhältnis der beiden grundlegenden Prinzipien von Rechtssicherheit und Effektivitäts- bzw. Gleichwertigkeitsgrundsatz sieht: Rechts-schutzmöglichkeiten dürfen nicht unmöglich gemacht werden, um den Effektivi-tätsgrundsatz nicht in seinem Kern zu treffen, und sie dürfen nicht in den Fällen

137 Siehe hierzu bereits die obigen Ausführungen unter II. 1. 138 EuGH, Rs. C-327/00 (Santex SpA), Slg. 2003, I-1877. Siehe hierzu auch Jarass/Beljin (Fn. 12), S. 1, 11.139 EuGH, Rs. C-473/00 (Cofidis/Fredout), Slg. 2002, I-10875; angedeutet auch in EuGH, Rs. C-212/94 (FMC),

Slg. 1996, I-389, Rn. 63 f.140 Siehe die obigen ausgewählten Beispiele aus der Rechtsprechung des EuGH, II. 2. b) aa) bis ee).141 Vgl. dazu etwa EuGH, Rs. C-473/00 (Cofidis/Fredout), Slg. 2002, I-10875. In diesem Fall ging es um den

Schutz eines Verbrauchers. 142 Nicht so schutzbedürftig waren die Betroffenen nach Ansicht des EuGH im Fall EuGH, Rs. C-212/94 (FMC),

Slg. 1996, I-389.

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beschränkt werden, in denen dem Effektivitätsgrundsatz ein ganz erhebliches Ge-wicht zuwächst und nach dem Inhalt der europäischen Vorgabe jede Form der Be-schränkung des Rechtsschutzes einer erheblichen Erschwerung bzw. einem Un-möglich-machen in seinem Sinne gleichkommt. Die Prüfung des Wechselspiels von Rechtssicherheit und Effektivitäts- bzw. Gleich-wertigkeitsgrundsatz verläuft allerdings nicht – wie in der Literatur als grundle-gendes Prinzip vertreten – zwingend in der Form, dass die Rechtssicherheit jeweils einer Konkretisierung bedarf, um eine rechtfertigende Wirkung zu entfalten, wobei Konkretisierung als Suche nach einem für den konkreten Fall anwendbaren Rechts-satz bzw. Rechtfertigungssatz verstanden wird.143 Einer Ermittlung einer weiteren Konkretisierung des Prinzips der Rechtssicherheit als Rechtfertigungsprinzip be-darf es nicht. Dem EuGH geht es um eine konkrete Prüfung des Einzelfalls, nicht um eine Konkretisierung eines Prinzips als solchem. Eine jeweilige Konkretisie-rung zu ermitteln, erscheint zudem in vielen Fällen kaum zu leisten. Der Umgang mit Ausschlussfristen sollte vielmehr im Sinne der im deutschen Recht bekannten Verhältnismäßigkeits- oder Angemessenheitsprüfung verstanden werden, bei denen es (vereinfacht) gilt, die involvierten Rechtsprinzipien in der konkreten Situation des Einzelfalls in einen sachgerechten Einklang zu bringen,144 wobei der EuGH einen sehr großzügigen Maßstab zugunsten der Mitgliedsstaaten anlegt. Ein spezi-fischer Rechtfertigungssatz muss in diesem Prozess nicht entwickelt werden.

3. Beschränkung durch Präklusionsregelungen

Die Beschränkung der Rechtsschutzmöglichkeiten kann nicht nur in der Weise er-folgen, dass ein Betroffener innerhalb einer bestimmten Zeit einen Rechtsakt ge-richtlich angreifen muss. Eine Einschränkung kann sich auch in der Form vollzie-hen, dass der Betroffene bereits im Vorfeld des Erlasses eines Hoheitsaktes nach dem Ablauf einer Frist mit seinen Einwendungen ausgeschlossen wird. Dies ist der Anwendungsbereich der Präklusionsvorschriften.145 Begreift man die Möglichkeit des Einzelnen, in einem Verfahren Einwendungen vorbringen zu können, als eine Form des „vorgelagerten Rechtsschutzes“, wie das Bundesverwaltungsgericht bereits in einer Entscheidung vom 17.7.1980 betont hat,146 dann ist es konsequent, die Präklusionsvorschriften als eine Begrenzung des vorgelagerten Rechtsschutzes zu qualifizieren. Dieser Befund erlaubt es sodann, die bisher gewonnenen Erkenntnisse zu den Rechtsschutzbegrenzungen durch die

143 Oexle (Fn. 133), S. 1328, 1331.144 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 7. Aufl., 2004, Art. 20, Rn. 86; Koch/Hendler, Baurecht, Raumordnungs- und

Landesplanungsrecht, 4. Aufl., 2004, § 17; Hoppe, in: Hoppe/Bönker/Grotefels, Öffentliches Baurecht, 3. Aufl., 2004, § 5.

145 Allgemein dazu Thiel, Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der (materiellen) Präklusion im Fachplanungs-recht, DÖV 2001, S. 814 passim; Brandt, Präklusion im Verwaltungsverfahren, NVwZ 1997, S. 233 passim.

146 BVerwGE 60, 297.

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Verwendung nationaler Ausschlussfristen147 auf die Beurteilung nationaler Präklu-sionsvorschriften zu übertragen.148 Zwar ist bis zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Entscheidung des EuGH zu den nationalen Präklusionsvorschriften ergangen, wel-che diese Bewertung unterstützen könnte, doch sind keine Gründe erkennbar, die einer entsprechenden Handhabung entgegenstehen würden.

III. Heilungsvorschriften

Der EuGH hatte sich in der Vergangenheit immer wieder mit Problemen der nach-träglichen Beseitigung von Mängeln eines Rechtsakts zu befassen. Seine Recht-sprechung war in einigen Bereichen lange Zeit nicht immer eindeutig.149 Zuneh-mend hat sich jedoch die Ausrichtung des Gerichtshofs gefestigt. Sie gibt in der jüngeren Vergangenheit eine stringentere Handhabung zu erkennen.150

Bei der Darstellung des europäischen Verständnisses von Heilungsvorschriften las-sen sich unterschiedliche Situationen herausstellen, in denen nationale Heilungs-vorschriften zur Anwendung kommen und eine variierende Ausprägung aufweisen. So kann zwischen dem Nachholen einer Begründung und dem Nachholen einer Anhörung wie auch Beteiligung differenziert werden. Es bietet sich ebenso an, ei-nen Blick auf die Frage nach der Zulässigkeit des Nachschiebens von Gründen im Prozess zu werfen. Es darf jetzt schon vorweggenommen werden, dass das Verhält-nis des EuGH zur Heilung von Mängeln verstärkt durch Zurückhaltung geprägt ist.151

1. Nachholen einer Begründung

In der Rechtsprechung des EuGH wie auch des EuG wird der besondere Stellen-wert der Begründung einer (belastenden) Entscheidung in ständiger Rechtspre-chung herausgestellt. Die Begründung habe zum einen die Funktion, dem Gemein-schaftsrichter zu ermöglichen, die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme im gericht-lichen Verfahren zu überprüfen.152 Zum anderen soll sie den Betroffenen im Vor-

147 Siehe dazu die obigen Ausführungen unter II. 2.148 Ebenso Stüer/Rieder (Fn. 7), S. 139, 146. Im Ergebnis so auch Bunge, Rechtsschutz bei der UVP nach der

Richtlinie 2003/35/EG, ZUR 2003, S. 141, 146.149 Calliess, in: ders./Ruffert, Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Art.253, Rn. 26; siehe

beispielsweise EuGH, Rs. 18/57 (Nold), Slg. 1959, S. 91, 115 f.; EuGH, Rs. C-329/93, C-62/95 und C-63/95 (Deutschland/Kommission), Slg. 1996, I-5151, Rn. 48 und dem entgegen EuGH, Rs. 117/81 (Geist/Kommissi-on), Slg. 1983, 2191, Rn. 7; EuGH, Rs. 264/82 (Timex/Rat), Slg. 1985, 849, Rn. 31 f. (hier wird der fehlerbe-haftete Rechtsakt aufrechterhalten, bis die fehlenden Maßnahmen ergriffen werden).

150 Kahl (Fn. 19), S. 1, 21; Pietzcker, Verfahrensrechte und Folgen von Verfahrensfehlern, in: Geis/Lorenz, Staat – Kirche – Verwaltung, Festschrift für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag, 2001, S. 695, 705.

151 Classen (Fn. 27), S. 307, 323; Kahl (Fn. 19), S. 1, 20.152 EuGH, Rs. 18/57 (Nold), Slg. 1959, S. 91, 115; EuGH, Rs. 64, 71 bis 73 und 78/86 (Sergio/Kommission), Slg.

1988, 1399, Rn. 48; EuGH, Rs. 111/83 (Santo Picciolo/Parlament), Slg. 1984, 2323, Rn. 20; EuGH, Rs. 8 bis 11/66 (Cimenteries/Kommission), Slg. 1967, S. 99, 125; EuG, Rs. T-16/91 RV (Rendo/Kommission), Slg. 1996, II-1827, Rn. 44.

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feld einer möglichen späteren Klage in die Lage versetzen, die Begründetheit der gegenüber ihm ergangenen Entscheidung zu überprüfen.153 Der Betroffene soll in Kenntnis aller Umstände entscheiden können, ob es für ihn von Nutzen ist, gericht-lichen Rechtsschutz zu ersuchen.154 Damit diene die Begründung auch einem ef-fektiven Schutz von Grundrechten der belasteten Personen.155 Die Entscheidungs-begründung dürfe, um dem mit ihr verfolgten Zweck zu genügen, nicht erst später, „wenn die Entscheidung bereits Gegenstand einer Klage vor dem Gemeinschafts-richter ist, schriftlich oder mündlich nachgeholt werden [...]“156. Ein Organ könne deshalb „wesentliche Verfahrensfehler der angefochtenen Entscheidung unmöglich durch eine einfache rückwirkende Berichtigung heilen“157. Nur in „außergewöhn-lichen Fällen“158 könnten Erläuterungen, die im Laufe des gerichtlichen Verfahrens gegeben werden, die Rüge der unzureichenden Begründung gegenstandslos ma-chen.159 So scheinbar in einer beamtenrechtlichen Streitigkeit, in der der EuGH ohne nähere Begründung feststellt: „Dem Rat (der Europäischen Gemeinschaft) ist [...] zu bestätigen, dass die auf die fehlende Begründung gestützte Rüge gegen-standslos geworden ist, nachdem im Laufe des Verfahrens Erläuterungen gegeben worden sind.“160 Eine Erklärung, welche Umstände diesen Fall zu einem „außerge-wöhnlichen“ machen, bleibt das Gericht leider schuldig. Die Feststellung, dass ein Fehler des Verwaltungsverfahrens grundsätzlich nicht mehr im gerichtlichen Verfahren geheilt werden kann,161 liegt darin begründet, den Rechtsschutz des Betroffenen effektiv zu gewährleisten. Könnte die Begründung nämlich erst nach Prozessbeginn erteilt werden, würde der betroffene Kläger in die für ihn unzumutbare Lage versetzt, sich auf einen in seinem Verlauf völlig unab-sehbaren Prozess einlassen zu müssen.162 Dies könnte potentielle Kläger wegen des drohenden Prozessrisikos von Erfolg versprechenden Klagen abhalten. Ein weiterer Grund für die strikte Haltung der europäischen Gerichte sieht das EuG in

153 EuGH, Rs. 64, 71 bis 73 und 78/86 (Sergio/Kommission), Slg. 1988, 1399, Rn. 53; EuGH, Rs. 8 bis 11/66 (Ci-menteries/Kommission), Slg. 1967, S. 99, 125; EuG, Rs. T-16/91 RV (Rendo/Kommission), Slg. 1996, II-1827, Rn. 44.

154 EuGH, Rs. 222/86 (UNECTEF/Heylens), Slg. 1987, 4097, Rn. 15; EuGH, Rs. 111/83 (Santo Picciolo/Parla-ment), Slg. 1984, 2323, Rn. 20; EuG, Rs. T-16/91 RV (Rendo/Kommission), Slg. 1996, II-1827, Rn. 44, Classen (Fn. 27), S. 307, 324.

155 EuGH, Rs. 222/86 (UNECTEF/Heylens), Slg. 1987, 4097, Rn. 15.156 EuG, Rs. T-16/91 RV (Rendo/Kommission), Slg. 1996, II-1827, Rn. 45. So auch EuGH, Rs. C-329/93, C-62/95

und C-63/95 (Deutschland/Kommission), Slg. 1996, I-5151, Rn. 48; Kokott (Fn. 20), S. 335, 367.157 EuGH, Rs. 343/87 (Culin/Kommission), Slg. 1990, I-225, Rn. 15; EuG, Rs. T-32/91 (Solvay/Kommission), Slg.

1995, II-1825, Rn. 53. Ebenso: EuG, Rs. T-52/90 (Volger/Parlament), Slg. 1992, II-121, Rn. 39 f.: „[...] das völ-lige Fehlen der Begründung einer Entscheidung (kann) [...] nach der Erhebung der Klage nicht geheilt werden.“

158 EuGH, Rs. 64, 71 bis 73 und 78/86 (Sergio/Kommission), Slg. 1988, 1399, Rn. 52; Kokott (Fn. 20), S. 335, 367.159 EuGH, Rs. 64, 71 bis 73 und 78/86 (Sergio/Kommission), Slg. 1988, 1399, Rn. 52; EuGH, Rs. 111/83 (Santo

Picciolo/Parlament), Slg. 1984, 2323, Rn. 21 f; EuGH, Rs. 12/84 (Kypreos/Rat), Slg. 1985, 1005, Rn. 5 ff.; Kokott (Fn. 20), S. 335 (367).

160 EuGH, Rs. 12/84 (Kypreos/Rat), Slg. 1985, 1005, Rn. 8.161 EuGH, Rs. 18/57 (Nold), Slg. 1959, S. 91, 115; EuGH, Rs. 8 bis 11/66 (Cimenteries/Kommission), Slg. 1967,

S. 99, 125; EuGH, Rs. 158/80 (Rewe/Hauptzollamt), Slg. 1981, 1805, Rn. 26; EuGH, Rs. 248/84 (Deutschland/Kommission), Slg. 1987, 4013, Rn. 22; EuGH, Rs. C-329/93, C-62/95 und C-63/95 (Deutschland/Kommissi-on), Slg. 1996, I-5151, Rn. 48; a. A.: EuGH, Rs. 264/82 (Timex/Rat), Slg. 1985, 849, Rn. 31 f.

162 EuGH, Rs. 222/86 (UNECTEF/Heylens), Slg. 1987, 4097, Rn. 15; Classen (Fn. 27), S. 307, 324.

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folgendem Umstand: „Eine Berichtigung nach Erhebung der Klage entzöge [...] dem Angriffsmittel, mit dem das Versäumnis der Feststellung des Rechtsakts vor dessen Zustellung gerügt wird, nachträglich seine Grundlage. Eine solche Lösung verstieße wiederum gegen die Rechtssicherheit und die Interessen des einzelnen [...].“163 Dieser letztgenannte Begründungsansatz trifft jedoch auf Vorbehalte. Schließlich können die dem Kläger drohenden Nachteile einer rückwirkenden Hei-lung auch dadurch kompensiert werden, dass der Kläger für seine Verfahrensauf-wendungen Ersatz verlangen kann, sodass ihm keine Kosten entstehen. Ein Verstoß gegen die Rechtssicherheit durch diese in Deutschland etwa gem. § 80 Abs. 1 S. 2 VwVfG164 sowie über § 161 Abs. 2 VwGO (Erklärung der Erledigung)165 ermög-lichte gängige Praxis ist nicht zu erwarten, will man nicht generelle Kritik an einer nachträglichen Heilung von Verfahrensfehlern üben.166

2. Nachschieben von Gründen

Das Nachschieben von Gründen ist deutlich vom Nachholen einer Begründung ab-zugrenzen.167 Das Nachholen einer Begründung wird dann notwendig, wenn die von dem Entscheidungsträger abzugebene Begründung gar nicht getätigt wurde oder aber den formellen Voraussetzungen nicht entspricht, also beispielsweise die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte aus ihr nicht hervorge-hen.168 Beim Nachholen einer Begründung soll also eine formal fehlerhafte Be-gründung korrigiert werden.169 Im Fall des Nachschiebens von Gründen erfüllt die Begründung die an sie gestellten formalen Voraussetzungen. Gleichwohl wünscht der Entscheidungsträger seine Begründung zu verändern oder zu ergänzen, da er befürchtet, die materielle Rechtmäßigkeit der Entscheidung sei momentan nicht gewährleistet. Das Nachschieben von Gründen will somit die getroffene Entschei-dung durch neue Argumente materiell zusätzlich rechtfertigen und stützen.170

Bei der Frage der europarechtlichen Zulässigkeit des Nachschiebens von Gründen spielt die Bedeutung des Begründungserfordernisses eine ebenso entscheidende und gewichtige Rolle, wie dies bereits im Hinblick auf das Nachholen einer Be-

163 EuG, Rs. T-32/91 (Solvay/Kommission), Slg. 1995, II-1825, Rn. 53. So auch Kokott (Fn. 20), S. 335, 366 f.164 Siehe hierzu Stelkens/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., 2001, § 80, Rn. 37 ff.; Kopp/Ram-

sauer, VwVfG, 8. Aufl., 2003, § 80, Rn. 28 f.165 BVerwG, Rs. 8 C 40/91, NVwZ 1993, S. 979, 980; OVG Münster, Rs. 3 A 264/95, NWVBl 1997, S. 109, 109;

VGH Kassel, Rs. 5 UE 512/92, NVwZ-RR 1994, S. 125, 126 f.166 Siehe dazu Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., 2001, § 45, Rn. 10 ff.; Hufen, Heilung und Unbe-

achtlichkeit grundrechtsrelevanter Verfahrensfehler? Zur verfassungskonformen Auslegung der §§ 45 und 46 VwVfG, NJW 1982, S. 2160, 2165 ff.; v. Mutius, Grundrechtschutz contra Verwaltungseffizienz im Verwal-tungsverfahren?, NJW 1982, S. 2150, 2159 f; Grimm, Verfahrensfehler als Grundrechtsverstöße, NVwZ 1985, S. 865, 871 f.

167 Siehe hierzu etwa Schoch, Nachholen der Begründung und Nachschieben von Gründen, DÖV 1984, S. 401, 402 ff.

168 Vgl. § 39 AbS. 1 S. 2 VwVfG; siehe auch Meyer, in: Knack, VwVfG, 8. Aufl., 2004, § 45, Rn. 24 ff.169 Schoch (Fn. 167), S. 401, 402 f.170 Schäfer (Fn. 46), § 45, Rn. 19; Schoch (Fn. 167), S. 401, 403; Sachs (Fn. 166), § 45, Rn. 45.

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gründung der Fall war.171 Hier findet das EuG klare Worte gegen die Zulässigkeit eines Nachschiebens von Gründen172 und stützt seine Auffassung auf folgende Er-wägungen: Die Begründungspflicht erlaube es jedem Rechtssubjekt, natürlichen und juristischen Personen gleichsam wie den Mitgliedsstaaten oder anderen Ge-meinschaftsorganen, mit Gewissheit und zu jedem Zeitpunkt den genauen Umfang ihrer Rechte oder Pflichten sowie die Gründe zu erkennen, aufgrund derer der Ent-scheidungsträger ihnen gegenüber eine Entscheidung erlassen habe.173 Dieser Pflicht komme eine umso größere Bedeutung zu, wenn der Entscheidungsträger über komplexe Themen entscheide oder über einen weiten Beurteilungsspielraum verfüge.174 Eine spätere Änderung der Begründung führe deshalb „unmittelbar zu einem Verstoß gegen [...] fundamentale Garantien“175. Neben den Nachteilen für den Betroffenen sehen die europäischen Gerichte auch die Gefahr einer Beeinträchtigung der richterlichen Kontrolle der Entscheidungen, da die Begründung dem Gericht die Ausübung der Kontrolle erst ermögliche.176 Hinzu kommt zudem grundsätzliche systematische Kritik: Die richterliche Kon-trolle beschränke sich auf die geltend gemachten Angriffs- und Verteidigungsmit-tel. Sie könne deshalb „eine vollständige Aufklärung im Rahmen eines Verwal-tungsverfahrens nicht ersetzen“177. Das EuG will damit ausdrücken, dass die Ver-fahrensdurchführung unter Einhaltung der verfahrensrechtlichen Vorgaben – ein-schließlich der Begründung – in das Verwaltungsverfahren gehöre und nicht in das gerichtliche Verfahren.178 Das gerichtliche Verfahren sei nämlich kein Ergänzungs-verfahren zum Verwaltungsverfahren, sondern habe eigene Aufgaben der Kontrolle und nicht der Verbesserung sowie Ausbesserung misslungener Verwaltungstätig-keit.Ungeachtet dieser grundlegenden Kritik hat der EuGH in Rechtsstreitigkeiten zu Fragen des Beamtenrechts Ausnahmen zur generellen Unzulässigkeit des Nach-schiebens von Gründen zugelassen. In der Entscheidung Santo Picciolo gegen Eu-ropäisches Parlament179 sieht der Gerichtshof keine Vorbehalte, nachträgliche Er-läuterungen des Parlaments zuzulassen. Es sei unbedenklich, dass die gerichtliche Kontrolle durch die Erläuterungen nachträglich möglich geworden sei und man

171 Siehe bereits die Ausführungen unter III. 1. Siehe zudem EuGH, Rs. C-137/92 P (Deutschland/BASF), Slg. 1994, I-2555, Rn. 66 ff.; EuG, Rs. T-52/90 (Volger/Parlament), Slg. 1992, II-121, Rn. 39 f.

172 EuG, Rs. T-30/91 (Solvay/Kommission), Slg. 1995, II-1775, Rn. 98; kritisch eingeschätzt wird die Heilungs-möglichkeit teilweise auch von Redeker, Neue Experimente mit der VwGO?, NVwZ 1996, S. 521, 523 f, und Hatje, Die Heilung formell rechtswidriger Verwaltungsakte im Prozess als Mittel der Verfahrensbeschleuni-gung, DÖV 1997, S. 477, 481 ff.

173 EuG, Rs. T-79/89 u. a. (BASF/Kommission), Slg. 1992, II-315, Rn. 72.174 EuG, Rs. T-79/89 u. a. (BASF/Kommission), Slg. 1992, II-315, Rn. 73 unter Hinweis auf EuGH, Rs. C-269/90

(TU München/Hauptzollamt), Slg. 1991, I-5469, Rn. 26 f. Vgl. auch die Analyse von Pietzcker (Fn. 150), S. 695, 705 f.

175 EuG, Rs. T-79/89 u. a. (BASF/Kommission), Slg. 1992, II-315, Rn. 73.176 EuGH, Rs. C-137/92 P (Deutschland/BASF), Slg. 1994, I-2555, Rn. 66; EuG, Rs. T-16/91 RV (Rendo/Kommis-

sion), Slg. 1996, II-1827, Rn. 44; EuG, Rs. T-230/94 (Enkler/Finanzamt Homburg), Slg. 1996, II-195, Rn. 36. 177 EuG, Rs. T-36/91 (Imperial Chemical Industries/Kommission), Slg. 1995, II-1847, Rn. 108.178 Vgl. dazu auch Classen (Fn. 27), S. 307, 325.179 EuGH, Rs. 111/83 (Santo Picciolo/Parlament), Slg. 1984, 2323.

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sich dadurch von der Richtigkeit der Entscheidung habe überzeugen können. Es heißt wörtlich: „Aufgrund der Erläuterungen des Parlaments auf die Fragen des Gerichtshofs hat der Gerichtshof jedoch seine Rechtmäßigkeitskontrolle ausüben und die Richtigkeit der Begründung nachprüfen können.“180

3. Nachholen einer Anhörung oder Beteiligung

Eine Analyse der Rechtsprechung des EuGH zur Frage, ob eine ausgebliebene An-hörung nachgeholt oder eine erforderliche Beteiligung, die unterblieb, nachträglich durchgeführt werden kann, fällt zu Lasten der Heilungsoption aus. Denn in vielen Urteilen hat der Gerichtshof herausgestellt, welche besondere Bedeutung diesen Verfahrensschritten zukomme181 und dass ein Verstoß nicht geheilt werden kön-ne.182 In der Entscheidung der Französischen Regierung gegen die Kommission (EAGFL)183 heißt es beispielsweise im Zusammenhang mit einer unterbliebenen Beteiligung der Kommission: „Zur nachträglichen Behebung der Mängel ist anzu-merken, dass die Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Akts im Rahmen einer Auf-hebungsklage [...] an dem Sachverhalt und der Rechtslage zu messen ist, die zur Zeit des Erlasses des Akts bestanden. Eine nachträgliche Mängelbeseitigung kann deshalb bei dieser Beurteilung nicht berücksichtigt werden.“184 Ähnlich formuliert der EuGH in Ismeri Europa Srl gegen Rechnungshof der Europäischen Gemein-schaften: „Dieser Verstoß (gegen das Recht auf Anhörung) konnte nicht dadurch beseitigt werden, dass die Rechtsmittelführerin nach Veröffentlichung des Berichts [...] Gelegenheit zur Stellungnahme hatte.“185 Eine Heilung von unterbliebenen Anhörungen und Beteiligungen kommt somit grundsätzlich nicht in Betracht. Dennoch findet sich eine Ausnahme von dieser Grundhaltung des EuGH in der Entscheidung Hoffmann-La Roche und Co. AG gegen Kommission.186 In seinem Urteil sieht der EuGH ausnahmsweise die Möglichkeit, eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör zu heilen: „Unregelmäßigkeiten dieser Art (hier: keine Mög-lichkeit zur Stellungnahme) haben jedoch nicht notwendig die Aufhebung der an-gefochtenen Entscheidung zur Folge, wenn sie während des Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof geheilt worden sind, es sei denn, der Anspruch auf recht-liches Gehör bleibe trotz der späteren Heilung verletzt.“187 Die Entscheidung, die

180 EuGH, Rs. 111/83 (Santo Picciolo/Parlament), Slg. 1984, 2323, Rn. 22.181 Siehe dazu etwa EuGH, Rs. C-315/99 P (Ismeri/Rechnungshof), Slg. 2001, I-5281, Rn. 30; EuGH, Rs. C-61/95

(Griechenland/Kommission), Slg. 1998, I-207, Rn. 40; EuGH, Rs. 85/76 (Hoffmann La Roche), Slg. 1979, 461, Rn. 14; Kokott, Die Grundrechte des europäischen Gemeinschaftsrechts, AöR 121 (1996), S. 599, 619 ff.; Schweitzer/Hummer (Fn. 63), Rn. 791.

182 EuGH, Rs. C-61/95 (Griechenland/Kommission), Slg. 1998, I-207, Rn. 40; EuGH, Rs. C-315/99 P (Ismeri/Rechnungshof), Slg. 2001, I-5281, Rn. 31; EuGH, Rs. 138/79 (Freres/Rat), Slg. 1980, 3333, Rn. 37; EuGH, Rs. C-39/94 (SFEI/La Poste), Slg. 1996, I-3547, Rn. 67; Kahl (Fn. 19), S. 1, 21.

183 EuGH, Rs. 15 und 16/76 (Französische Regierung/Kommission), Slg. 1979, 321. 184 EuGH, Rs. 15 und 16/76 (Französische Regierung/Kommission), Slg. 1979, 321, Rn. 7.185 EuGH, Rs. C-315/99 P (Ismeri/Rechnungshof), Slg. 2001, I-5281, Rn. 31.186 EuGH, Rs. 85/76 (Hoffmann La Roche), Slg. 1979, 461.187 EuGH, Rs. 85/76 (Hoffmann La Roche), Slg. 1979, 461, Rn. 15.

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eine Tür für die Heilung von Verfahrensfehlern hätte aufstoßen können, ist jedoch in der weiteren Rechtsprechung des EuGH nicht wieder aufgegriffen worden.188 Sie muss daher als Einzelfallentscheidung verstanden werden, der keine Tendenz zu entnehmen ist. Die Zurückhaltung des EuGH bei der Heilung von unterlassenen Beteiligungen und Verletzungen des Rechts auf rechtliches Gehör gründet darin, dass zum einen der Anspruch auf rechtliches Gehör ein fundamentales Gewicht aufweist,189 zum anderen dem Beteiligungsgebot eine bedeutende Funktion in der Durchführung des Verwaltungsverfahrens zukommt.190 Beide Verfahrenserfordernisse sollen einen Einfluss von außen auf den Entscheidungsprozess sichern.191 Neue Erkenntnisse sollen gegebenenfalls in die Entscheidung einfließen und die Entscheidungsgrund-lagen auf eine breitere Basis stellen.192 Diese Ziele sind aus Sicht des EuGH im Fall der Heilung von Mängeln gefährdet: „Denn es versteht sich von selbst, dass ein Organ vor der endgültigen Festlegung seines Standpunktes eher bereit ist, Be-merkungen zu entsprechen, als nach dessen Veröffentlichung; würde es nämlich Beanstandungen nach der Veröffentlichung als begründet anerkennen, so müsste es seine Entscheidung ändern und eine Berichtigung verabschieden.“193 Mit anderen Worten: Nachdem eine Entscheidung getroffen wurde, kann die Einflussnahme von außen in der Form der Anhörung oder der Beteiligung nicht mehr auf einen unein-geschränkt offenen und unvoreingenommenen Adressaten hoffen. Denn der betrof-fene Entscheidungsträger ist möglicherweise nicht mehr um die gerechte Abwä-gung aller – auch der nachträglich vorgetragenen – Belange bemüht, sondern sucht die eigene Entscheidung, die gegebenenfalls bereits zum Gegenstand eines Rechts-streits geworden ist, zu verteidigen.194 Das Ziel, die ursprüngliche Entscheidung „zu halten“, kann also möglicherweise gegenüber dem Interesse an einer „besse-ren“ Entscheidung überwiegen. Dieser Gefahr möchte der EuGH mit seiner restrik-tiven Haltung entgegenwirken.

188 Due, Verfahrensrechte der Unternehmen im Wettbewerbsverfahren vor der EG-Kommission, EuR 1988, S. 33, 38; Classen (Fn. 27), S. 307, 324.

189 EuGH, Rs. C-315/99 P (Ismeri/Rechnungshof), Slg. 2001, I-5281, Rn. 30; EuGH, Rs. C-61/95 (Griechenland/Kommission), Slg. 1998, I-207, Rn. 40; EuGH, Rs. 85/76 (Hoffmann La Roche), Slg. 1979, 461, Rn. 14; Due (Fn. 188), S. 33, 37 f.; Kokott (Fn. 181), S. 599, 619 ff.; Schweitzer/Hummer (Fn. 63), Rn. 791.

190 EuGH, Rs. 138/79 (Freres/Rat), Slg. 1980, 3333, Rn. 37; siehe zur Beteiligung der Kommission bei der Gewäh-rung von Beihilfe EuGH, Rs. C-44/93 (Namur-Les/Belgien), Slg. 1994, I-3829, Rn. 17; Schweitzer/Hummer (Fn. 63), Rn. 1317.

191 Schmidt-Aßmann, Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht, in: Müller-Graff, Perspektiven des Rechts der Eu-ropäischen Union, 1998, S. 131, 132 ff.

192 Schmidt-Aßmann (Fn. 191), S. 131, 132 ff.; vgl. auch Kahl (Fn. 19), S. 1, 10 ff. u. 26 f.; siehe ergänzend zudem Grimm (Fn. 166), S. 865, 866 u. 871; Steinberg, Komplexe Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizi-enz und Rechtsschutzauftrag, DÖV 1982, S. 619, 620; Pöcker, Irritationen einer Grundlage des Rechtssystems: Die Problematik des Verhältnisses von materiellem Recht und Verfahrensrecht bei Planungsentscheidungen, DÖV 2003, S. 980, 982; Wahl/Schütz, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand September 2004, § 42 Abs. 2, Rn. 78 f.

193 EuGH, Rs. C-315/99 P (Ismeri/Rechnungshof), Slg. 2001, I-5281, Rn. 31.194 Kokott (Fn. 20), S. 335, 367; vgl. auch Redeker (Fn. 172), S. 521, 523.

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4. Rückwirkung der Heilung

Wie bereits festgestellt,195 kann es trotz der generell distanzierten Haltung der eu-ropäischen Gerichte gegenüber der Heilung von Verfahrensfehlern durchaus Fälle geben, in denen es zu einer Heilung kommt. In dieser Situation stellt sich die Fra-ge, welche zeitliche Dimension die Heilung im Rahmen des europäischen Rechts aufweist bzw. ob die Heilung ex tunc oder ex nunc die Fehlerhaftigkeit des Rechts-akts zu beseitigen vermag.196 Der EuGH hat sich mit dieser Frage zwar erst in einem einzigen Fall197 zum Beihilferecht befasst,198 gleichwohl kann man daraus eine Tendenz erkennen, dass eine rückwirkende Heilung von Mängeln gemein-schaftsrechtlich ausscheidet.199 Der EuGH führt aus: „Die Entscheidung der Kom-mission könne keine Rückwirkung haben und den festgestellten Verstoß (im Bei-hilferecht) niemals nachträglich heilen.“200 Angedeutet wird eine ähnliche Ansicht vom EuG in der Rechtssache Solvay SA gegen Kommission.201 Das Gericht erklärt: „Ein Organ kann nach Eingang des verfahrenseinleitenden Schriftsatzes einen we-sentlichen Formfehler der angefochtenen Entscheidung unmöglich durch eine ein-fache rückwirkende Berichtigung heilen.“202 Zwar stellt das EuG seine ablehnende Haltung zur Rückwirkung der Heilung nicht so deutlich heraus wie der EuGH. Gleichwohl dürfte das Urteil des EuG einen größeren Anwendungsbereich betref-fen. Während die Ausführungen des EuGH sich noch stärker auf den Einzelfall – ihm Rahmen des Beihilferechts – konzentrieren, nimmt die Aussage des EuG einen viel allgemeineren Geltungsbereich für sich in Anspruch.203 Die Ausführungen des EuG können als generelle Feststellung interpretiert werden, dass eine rückwirken-de Heilung von Verfahrensfehlern grundsätzlich ausscheidet. Eine zulässige Hei-lung eines Verfahrensfehlers kann somit europarechtlich nur ex nunc Wirksamkeit entfalten.

195 Siehe hierzu die obigen Ausführungen zu III. 1. bis 3.196 Siehe zu dieser Frage im deutschen Recht Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, 3. Aufl., 1998, Rn. 613;

Schenke, „Reform“ ohne Ende – Das Sechste Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und ande-rer Gesetze (6. VwGOÄndG), NJW 1997, S. 81, 87.

197 Teile der Literatur (Kahl (Fn. 19), S. 1, 20; Classen (Fn. 27), S. 307, 323) wollen dieses Ergebnis auch in ande-ren Fällen bestätigt sehen, etwa in Syndicat français de l’Express international (SFEI) und andere gegen La Poste (EuGH, Rs. C-39/94 (SFEI/La Poste), Slg. 1996, I-3547, Rn. 67). Dort findet sich allerdings nur die Aus-führung, dass „eine abschließende Entscheidung der Kommission über die Vereinbarkeit [...] nicht zur Heilung der rechtswidrigen Maßnahme zur Durchführung einer Beihilfe“ führt. Damit wird die Heilung generell abge-lehnt, nicht nur in ihrer rückwirkenden Dimension.

198 EuGH, Rs. C-354/90 (Federation Nationale/Frankreich), Slg. 1981, I-5505.199 Ebenso: Kahl (Fn. 19), S. 1, 20; Classen (Fn. 27), S. 307, 323. 200 EuGH, Rs. C-354/90 (Federation Nationale/Frankreich), Slg. 1981, I-5505, Rn. 16.201 EuG, Rs. T-32/91 (Solvay/Kommission), Slg. 1995, II-1825.202 EuG, Rs. T-32/91 (Solvay/Kommission), Slg. 1995, II-1825, Rn. 53. Die Hervorhebung besteht nicht im Origi-

nal.203 Das Urteil erging allerdings auch zum Beihilferecht.

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5. Allgemeine Erkenntnisse über das europäische Verhältnis zur Heilung

a) Europäische Vorbehalte

Die Anfangsthese hat sich bestätigt: Das Verhältnis des EuGH zur Heilung von Mängeln zeichnet sich durch Zurückhaltung aus. Fälle, in denen eine Heilung von Verfahrensfehlern zugelassen wurde, bildeten erkennbar die Ausnahme.204 (1) Die Analyse der Urteile der europäischen Gerichte bringt deutlich ans Licht, welche Vorbehalte der Heilung von Verfahrensfehlern entgegengebracht werden. Zunächst stehe der Heilung das Funktionsverständnis der judikativen Gewalt ent-gegen. Die Gerichte hätten primär über den Rechtsstreit zu entscheiden, gericht-liche Prozesse seien nicht Ort des Verwaltungsverfahrens und sollten daher grund-sätzlich nicht zum Schauplatz einer nachgeholten Verfahrenshandlung gemacht werden.205 Gerichte sollten vielmehr durch bestimmte Verfahrensschritte, die im Vorfeld des gerichtlichen Prozesses zu erfolgen hätten, in die Lage versetzt werden, die Rechtmäßigkeit des hoheitlichen Handelns zu überprüfen.206 Ein Beispiel hier-für wäre die Begründung der Verwaltungsentscheidung.207 (2) Des Weiteren besitze das Verwaltungsverfahren eine bürgerbezogene Dimensi-on: Die Gemeinschaftsgerichte erwarten durch eine freizügige Heilungspraxis grundsätzlich Nachteile für die Rechtsstellung des Betroffenen. Der Einzelne müs-se Einschränkungen in fundamentalen Garantien hinnehmen, wenn etwa die Hei-lung eines Verstoßes gegen das Recht auf rechtliches Gehör zugelassen werde.208 Zudem werde seine Stellung im gerichtlichen Verfahren geschwächt, wenn seinem Angriffsmittel die Grundlage bzw. der Anknüpfungspunkt nachträglich entzogen werde.209 Schließlich könnten Verfahrensmängel den Betroffenen schon im Vorfeld eines gerichtlichen Verfahrens beeinträchtigen, wenn ihm die Einschätzung seiner prozessualen Aussichten einer gerichtlichen Durchsetzung seines Begehrens wegen einer fehlenden Begründung erschwert werde.210 (3) Darüber hinaus hat das Verwaltungsverfahren eine weitere europarechtlich stark betonte Funktion, die durch eine Heilung aus Sicht der europäischen Gerichte be-einträchtigt werden könnte und die es zu schützen gilt. Das Verfahren soll als Ga-rant für ein möglichst ausgewogenes und bestmögliches211 Ergebnis fungieren. Ist

204 Siehe die umfassende Analyse der Urteile des EuGH und des EuG unter III. 1. bis 4. So im Ergebnis auch Pietzcker (Fn. 150), S. 695, 705.

205 EuG, Rs. T-36/91 (Imperial Chemical Industries/Kommission), Slg. 1995, II-1847, Rn. 108.206 EuGH, Rs. C-137/92 P (Deutschland/BASF), Slg. 1994, I-2555, Rn. 66; EuG, Rs. T-16/91 RV (Rendo/Kommis-

sion), Slg. 1996, II-1827, Rn. 44; EuG, Rs. T-230/94 (Enkler/Finanzamt Homburg), Slg. 1996, II-195, Rn. 36.207 Siehe dazu die Ausführungen unter III. 2.208 EuGH, Rs. C-315/99 P (Ismeri/Rechnungshof), Slg. 2001, I-5281, Rn. 30; EuGH, Rs. C-61/95 (Griechenland/

Kommission), Slg. 1998, I-207, Rn. 40; EuGH, Rs. 85/76 (Hoffmann La Roche), Slg. 1979, 461, Rn. 14; EuG, Rs. T-79/89 u. a. (BASF/Kommission), Slg. 1992, II-315, Rn. 73.

209 EuG, Rs. T-32/91 (Solvay/Kommission), Slg. 1995, II-1825, Rn. 53.210 EuGH, Rs. 222/86 (UNECTEF/Heylens), Slg. 1987, 4097, Rn. 15.211 Es wird bewusst auf die Begriffe „das beste“ oder „das richtige“ Ergebnis verzichtet, da es dieses im Rechtsver-

ständnis des EuGH nicht gibt. Das Verfahren kann nur dazu dienen, möglichst dicht an ein fiktiv „bestes“ Er-gebnis zu gelangen.

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eine Entscheidung allerdings schon getroffen, dann befürchten die Gerichte der Europäischen Gemeinschaft, dass der Entscheidungsträger für die gewünschte Ein-flussnahme des Verfahrensschritts auf das Ergebnis möglicherweise nicht mehr of-fen ist, es ihm also nicht um die bestmögliche Entscheidung, d. h. um die Sache selbst, gehe, sondern um das Aufrechterhalten der bereits getroffenen Entschei-dung.212 Gewinnt das Verfahren zudem in Entscheidungsprozessen mit weitem Be-urteilungsspielraum noch zusätzlich an Gewicht, erhöhen sich die Anforderungen an seine Durchführung und die Hürden für eine Heilung.213 Denn schließlich soll der Idealfall, dass ein unvoreingenommener Entscheidungsträger aus der Fülle al-ler zugänglichen Informationsquellen schöpft, um eine ausgewogene Entscheidung zu finden, in diesem sensiblen und leicht zu beeinflussenden Prozess der Entschei-dungsfindung der Regelfall sein. Anders ausgedrückt: Es stellt sich für Europa die Frage, wie eine Entscheidung nachträglich beeinflusst werden soll, die bereits ge-troffen wurde. Die europäische Antwort kann nur sein, die Entscheidung zunächst aufzuheben, um wieder Raum für Einfluss zu schaffen. Eine Beseitigung des Man-gels durch Heilung erscheint nicht adäquat. (4) Letztlich noch unbeachtet in der Rechtsprechung ist die Bedeutung des Kon-senses innerhalb der Gesellschaft. Die Beteiligung von Betroffenen im Vorfeld ei-ner Entscheidung hat nicht nur Bedeutung für die Entscheidung selbst, sie hat auch Einfluss auf die Akzeptanz, die eine Entscheidung bei den Betroffenen findet.214 Der Einzelne fühlt sich in den Entscheidungsprozess eingebunden, da seine Belan-ge berücksichtigt wurden bzw. berücksichtigt worden zu sein scheinen. Der hoheit-liche Rechtsakt wird nicht (einfach) indoktriniert. Damit befriedet die Beteiligung im Verwaltungsverfahren die Rechtsverhältnisse von Entscheidungsträger und Be-troffenen und vermeidet auf diese Weise gegenüber dem Entscheidungsergebnis spätere Widerstände und Vorbehalte, die in gerichtlichen Auseinandersetzungen en-den können. Eine nachträgliche Beteiligung im Rahmen einer Heilung kann diese befriedende Funktion nicht umfassend ausfüllen.

b) Nationale Rechtfertigungsversuche von Heilungsvorschriften

Auf Grundlage dieses Befundes stellt sich die Frage, ob das deutsche Recht mit seinem Verständnis vom Wert und Nutzen der Heilungsvorschriften auf die gene-rellen europäischen Vorbehalte Antworten findet. Allein darauf zu hoffen, dass der

212 EuGH, Rs. C-315/99 P (Ismeri/Rechnungshof), Slg. 2001, I-5281, Rn. 31; siehe auch EuGH, Rs. 187/87 (Saar-land), Slg. 1988, 5013, Rn. 18.

213 EuG, Rs. T-79/89 u. a. (BASF/Kommission), Slg. 1992, II-315, Rn. 73; vgl. auch EuGH, Rs. C-269/90 (TU München/Hauptzollamt), Slg. 1991, I-5469, Rn. 26 f.

214 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1983; Fisahn, Effektive Beteiligung solange noch alle Optionen offen sind – Öffentlichkeitsbeteiligung nach der Aarhus-Konvention, ZUR 2004, S. 136, 137; siehe hierzu auch die Erwägungen des Europäischen Parlaments und des Rats der Europäischen Union im Rahmen der Richtlinie 2003/35/EG. Unter den aufgeführten Erwägungen zum Erlass der Richtlinie findet sich unter Punkt (3) die Feststellung, dass eine effektive Beteiligung der Öffentlichkeit bei Entscheidungen dazu führe, dass in der Öf-fentlichkeit die Unterstützung für die Entscheidung wachse.

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EuGH die bisher im europäischen Recht anerkannten Ausnahmefälle auch auf das deutsche Rechtssystem anwenden werde, greift wohl zu kurz. Ebenfalls geringe Aussicht auf Erfolg ist einem Ansatz zu bescheinigen, der allein mit den deutschen Herleitungen und Rechtfertigungen der Heilungsvorschriften operiert. Schließlich sind die dogmatischen Fundamente der Heilungsvorschriften, d. h. die Gewährleis-tung von Beschleunigung und Effektivität des Verwaltungsverfahrens, der Erhal-tungsgedanke oder das Prinzip der Rechtssicherheit, keine unbekannten juristi-schen Größen, und doch wurden sie in den entsprechenden Urteilen der euro-päischen Gerichte nicht als Rechtfertigung der Heilung herangezogen.215 Die euro-parechtlich attestierten Verfahrenseinbußen – die Entwertung des Verwaltungsver-fahrens durch Heilung – müssen anders gerechtfertigt werden, will man Zuspruch für die national ausgeprägte Verwendung von Heilungsvorschriften erhalten. Es könnte ein möglicher Ansatz sein, Verwaltungsverfahren und Entscheidung nicht als getrennte Prozesse zu beschreiben, sondern als ein einheitliches Ganzes.216 Schließlich zielt sowohl die nationale wie auch die europäische Rechtsprechung bei der Behandlung von Fehlern im Verfahren darauf ab, ein bestimmtes Ergebnis zu gewährleisten. Es soll garantiert sein, dass die Lebenswirklichkeit durch rechts-staatliche Akte gestaltet und verändert wird, ein angemessen hohes Niveau an An-forderungen an das Verwaltungsverfahren besteht und rechtswidriges Handeln sanktioniert wird.217 Dabei liegt die Betonung im nationalen Recht auf der Kon-trolle der materiellen Entscheidung durch das Gericht und im europäischen Recht auf der Gewährleistung eines fehlerlosen Verfahrens. Als Korrelat zu dieser Grund-prämisse ist die materielle Prüfungsdichte des EuGH im Verhältnis zur nationalen Praxis eher gering, während die nationale Behandlung des Verfahrens europäischen Beurteilern wohl etwas „locker“ erscheinen mag. Man könnte also argumentieren, dass trotz dieser Unterschiede das deutsche Recht im Ergebnis eine rechtsstaatliche Steuerung der Lebenswirklichkeit ermöglicht, die dem europäischen Niveau ent-spricht.218 Denn das befürchtete Verfahrensdefizit werde durch einen materiellen Prüfungsüberschuss des Gerichts ausgeglichen. Diese Argumentation führt allerdings zu einer grundsätzlichen Diskussion, die rechtsphilosophische Züge annimmt. Kann das „richtige Ergebnis“ überhaupt durch ein Gericht bestimmt werden? Gewährleistet nicht das durchgeführte Verfah-ren die „bestmögliche“ Lösung? Und gibt es eigentlich „das eine, richtige Ergeb-nis“? Deutsche und europäische Juristen werden möglicherweise unterschiedliche Antworten auf diese Fragen finden.219 Die Diskrepanz zwischen den Rechtsan-sichten basiert auf den verschiedenen Rechtssystemen. Der Disput dreht sich zum

215 Vgl. dazu die Auswertung der Rechtsprechung unter III.216 Wahl (Fn. 19), S. 1285, 1287.217 Vgl. auch Wahl (Fn. 19), S. 1285, 1287.218 Siehe zu diesen Erwägungen auch Schoch (Fn. 24), S. 279, 301.219 Schoch (Fn. 24), S. 279, 300 ff.

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einen um den Eigenwert des Verfahrens und zum anderen um die Kompetenzab-grenzung zwischen Verwaltung und Gericht. Denn ist das Gericht in der Lage und dazu berufen, die „einzig richtige“ Entscheidung sachgerecht zu fällen, dann kann es einen Verfahrensmangel austarieren. Demgegenüber ist aber schon fraglich, ob es das „einzig richtige Ergebnis“ überhaupt gibt. Vielleicht gibt es vielmehr eine bestimmte Auswahl unter vielen möglichen Handlungs- und Entscheidungsalterna-tiven? Ist eine solche Bandbreite an Entscheidungsmöglichkeiten gegeben, dann sollte die Auswahl von der Gewalt getroffen werden, die zu dieser Aufgabe berufen ist. Das verfassungsrechtlich verankerte Gewaltenteilungsgebot verlangt nämlich nicht nur, dass Gewalten gehemmt werden, sondern auch dass die Gewalten eine staatliche Funktion ausüben, die zu dieser Aufgabenbewältigung am besten in der Lage sind.220 Dies wird bei Verwaltungsentscheidungen grundsätzlich die Exekuti-ve und nicht die Judikative sein, obliegt es der Judikative doch verstärkt, zu kont-rollieren und nicht zu agieren. Dieses Verständnis von der Rolle und Funktion der Gerichte ist in der europäischen Rechtsprechung weitaus stärker ausgeprägt als im nationalen deutschen Recht und führt allein deshalb schon zu Verständnisschwie-rigkeiten.221 Hinzu kommt, dass dem Verwaltungsverfahren im europäischen Recht ein größerer Eigenwert zugebilligt wird als die rein dienende Funktion im deut-schen Recht.222 Das ordnungsgemäß durchgeführte Verfahren in Europa ist ein Ga-rant für das bestmögliche Ergebnis. Das Verfahren ist nicht nur hilfreich, es ist er-forderlich, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Mit anderen Worten: Das Ver-waltungsverfahren kann nicht ersetzt werden, da nur das Verfahren Aufschluss ge-ben kann, welches Ergebnis erzielt worden wäre. Nur wenn feststeht, dass ein unterlassener Verfahrensschritt keinen Einfluss auf das Ergebnis haben konnte, sind Ausnahmen zulässig.223

Diese fundamentalen Unterschiede vom Verständnis von Verwaltungsverfahren und Funktion, Aufgabe und Kompetenz der Gerichtsbarkeit wie auch die Skepsis ge-genüber der Existenz „des einzig richtigen Ergebnisses“ scheinen für eine mög-liche deutsche Argumentation zugunsten der Heilungsvorschriften als unüberwind-bare europäische Hürden. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des europäischen Rechts ist deshalb zukünftig mit einem Paradigmenwechsel im deutschen öffent-

220 BVerfGE 98, 218, 251 f.; BVerfGE 95, 1, 15; BVerfGE 1968, 1, 86; Jarass (Fn. 144), Art.20, Rn. 23; Kment, Rechtsschutz im Hinblick auf Raumordnungspläne, 2002, S. 25 f.

221 Siehe etwa EuGH, Rs. 187/87 (Saarland), Slg. 1988, 5013, Rn. 13 ff.; EuGH, Rs. 158/80 (Rewe/Hauptzollamt), Slg. 1981, 1805, Rn. 26. In diesen Urteilen ging der EuGH auf die materielle Rechtmäßigkeit der Maßnahme nicht mehr ein, nachdem er einen formellen Fehler festgestellt hatte. Es heißt wörtlich in EuGH, Rs. 158/80 (Rewe/Hauptzollamt), Slg. 1981, 1805, Rn. 26: „Aus der Begründung ergibt sich [...] keine Rechtsgrundlage für die angegriffenen Verordnungsbestimmungen, sodass es sich erübrigt, sie materiell darauf zu überprüfen, ob sie mit den Grundsätzen des gemeinsamen Marktes vereinbar sind.“

222 Wahl (Fn. 19), S. 1285, 1290; Kahl (Fn. 19), S. 1, 8 ff.223 Siehe zu den Rückausnahmen innerhalb des europäischen Systems umfassend III. 5. c). Im Fall fehlender Kau-

salität wäre auch eine Unbeachtlichkeitserklärung unter dem Aspekt der vernünftigen Relativierung denkbar. Vgl. dazu die Ausführungen unter II. 1. c).

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lichen Recht zu rechnen.224 Erste Ansätze einer stärkeren Ausrichtung nationaler Heilungs- wie auch Unbeachtlichkeits- und Präklusionsvorschriften an europä-ischen Vorgaben lassen sich bereits jetzt im deutschen Recht nachweisen. Ein Bei-spiel liefert das Baugesetzbuch nach seiner Modifikation durch das Europarechts-anpassungsgesetz Bau (EAG Bau).225

c) Entkräftete europäische Vorbehalte im Einzelfall

Die grundsätzliche Kritik des EuGH und des EuG an Heilungsvorschriften226 bie-tet Anlass, über Ausnahmen nachzudenken, d. h. die Fälle zu ermitteln, in denen die europäische Kritik (ausnahmsweise) wohl auch aus der Sicht des europäischen Betrachters nicht zum Tragen kommt. Dabei sollte zum einen unterschieden wer-den, ob sich ein Fehler vor der Entscheidungsfindung ereignet oder der Entschei-dung nachfolgt, und zum anderen, ob die Heilung im Verwaltungsverfahren oder im gerichtlichen Verfahren stattfinden soll. (1) Fehler, die vor der Entscheidungsfindung auftreten, haben mit der Kritik zu kämpfen, dass sie sich trotz ihrer Heilung, d. h., obwohl der Verfahrensschritt nach-geholt wird, auf das Entscheidungsergebnis ausgewirkt haben. Damit verbunden ist die Gefahr, dass sich der Entscheidungsträger nicht mehr unvoreingenommen der Sache widmet, sondern seine Entscheidung zu rechtfertigen sucht.227 Diesem Vor-behalt kann wohl nur entgegen gehalten werden, dass der Verfahrensfehler ohne Einfluss auf das Ergebnis gewesen ist oder aber unwesentlich war. Unter Beach-tung des europäischen Verständnisses von „Kausalität“ und „Wesentlichkeit“ wäre damit jedoch ein Kreis von Fehlern angesprochen, der ohnehin für unbeachtlich erklärt werden darf.228 Solchen Fehlerbildern auch mit der Heilung zu begegnen, dürfte europarechtlich nicht zu beanstanden sein. (2) Kommt es nach der Entscheidungsfindung zu einem Fehler, kann der Heilung nicht mehr entgegen gehalten werden, der Fehler habe die zuvor getroffene Ent-scheidung negativ beeinflusst. Schließlich entsteht der Fehler erst zu einem Zeit-punkt, in dem die Entscheidung bereits vorlag. Gleichwohl ist die Heilung derar-tiger Fehlerbilder gemeinschaftsrechtlich nicht unbedenklich, denn sie können die Rechtsstellung des Betroffenen aus Sicht der europäischen Gerichte beeinträchti-gen. Ist allerdings gewährleistet, dass mit Rechtseinbußen des Einzelnen nicht zu rechnen ist, dann dürfte der Heilung nichts entgegenstehen. Eine fehlende Begrün-dung dürfte deshalb nachgeholt werden können, wenn sichergestellt ist, dass der

224 Siehe allgemein zum Einfluss des europäischen Rechts auf das nationale Recht Kadelbach, Allgemeines Ver-waltungsrecht unter europäischem Einfluss, 1999, passim; Schoch, Europäisierung der Verwaltungsrechtsord-nung – einschließlich Verwaltungsverfahrensrecht und Rechtsschutz, VBlBW 1999, S. 241 passim.

225 Krautzberger, Europarechtsanpassungsgesetz Bau – EAG Bau 2004: Die Neuregelungen im Überblick, UPR 2004, S. 241 passim; Finkelnburg, Die Änderungen des Baugesetzbuchs durch das Europarechtsanpassungsge-setz Bau, NVwZ 2004, S. 897 passim.

226 Siehe dazu die obigen Ausführungen unter III. 5. a).227 EuGH, Rs. C-315/99 P (Ismeri/Rechnungshof), Slg. 2001, I-5281, Rn. 31.228 Siehe hierzu bereits die Darstellung unter II. 1. c (insb. bb und cc).

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Betroffene noch keinen Prozess begonnen hat und auch nicht durch die fehlende Verfahrenshandlung von einem Prozessbeginn abgehalten wurde, etwa weil er auf-grund der unüberschaubaren Rechtslage das Prozessrisiko scheute. Eine Heilung einer fehlenden Begründung ist somit denkbar, wenn die Begründung nicht mit Er-lass des Rechtsakts gegeben, allerdings unverzüglich nachgeholt wurde. Ist die zeitliche Verzögerung kurz, kann davon ausgegangen werden, dass der Betroffene nicht an der gerichtlichen Durchsetzung seiner Rechte nachhaltig gehindert wur-de.(3) Letztlich ist herauszustellen, dass dem Zeitpunkt der Heilung im gemeinschaft-lichen Recht eine zentrale Bedeutung zukommt. Die Ablehnung des EuGH ist weit-aus stärker, wenn die Heilung im gerichtlichen Verfahren und nicht schon im Ver-waltungsverfahren erfolgt. Ist es erst einmal zum Prozess gekommen, sieht sich der Gerichtshof in der Rolle des Richters, der (ausschließlich) zur Kontrolle des Rechtsakts berufen ist.229 Verfahrenshandlungen, die der Verwaltungstätigkeit zu-zuordnen sind, sollen in diesem Stadium nicht mehr stattfinden können; sie bleiben dem Verwaltungsverfahren vorbehalten. Soweit eine Heilung von Verfahrensmän-geln möglich ist, dürfte diese sich deshalb verstärkt im Vorfeld des Prozesses, also im Verwaltungsverfahren abzuspielen haben. Im gerichtlichen Verfahren stößt die Heilung auf Ablehnung.

IV. Fazit

Verstöße gegen europäische Vorgaben müssen nicht zwangsläufig zur Aufhebung einer nationalen Maßnahme führen. Europarechtlich anerkannt sind nationale Aus-schlussfristen, die eine Rechtsverfolgung nach Ablauf angemessener Fristen ver-wehren. Nur in Ausnahmefällen stoßen sie auf europäischen Widerstand. Dies gilt sowohl für Unbeachtlichkeits- wie auch für Präklusionsvorschriften. Weitaus stär-keren Bedenken unterliegen nationale Regelungen, die ohne jede Ausschlussfrist den Rechtsverstoß sofort für unbeachtlich erklären. Ihre Anwendung soll nach un-terschiedlichen Auffassungen auf Fälle begrenzt sein, in denen dem Verfahren kein „Eigenwert“ zukommt oder der begangene Fehler nicht „kausal“ bzw. „wesentlich“ war. Eine abschließende Klärung der Streitfrage ist jedoch noch nicht erfolgt. Fest steht nur, dass ein Eingriff in subjektive Rechtspositionen nicht per se sanktionslos bleiben darf. Die Heilung von Mängeln unterliegt grundsätzlichen europäischen Vorbehalten. Rechtfertigungsversuche, die auf dem nationalen Verständnis vom Zusammenspiel von Verfahren und Entscheidungsergebnis basieren, versprechen wenig Erfolg. Der Anwendungsbereich nationaler Heilungsvorschriften mit europäischem Bezug fällt deshalb eher klein aus.

229 EuGH, Rs. C-137/92 P (Deutschland/BASF), Slg. 1994, I-2555, Rn. 66; EuG, Rs. T-36/91 (Imperial Chemical Industries/Kommission), Slg. 1995, II-1847, Rn. 108.

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RECHTSPRECHUNG

Europäischer Gerichtshof/Gerichte der Mitgliedstaaten

Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs vom 11.05.2005,Az. K 18/041

[Der VerfGH stellt im umfangreichen Entscheidungstenor fest, dass keine der im Ver-fahren von den Antragstellern gerügten Vorschriften des Vertrages über den Beitritt Polens und neun weiterer Staaten zur Europäischen Union2 gegen die von ihnen beru-fenen Normen der polnischen Verfassung verstößt.]

BEGRÜNDUNG:

III.

Der Verfassungsgerichtshof hat das Folgende erwogen:

1. Gegenstand und Umfang der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit3

1.1. In dieser Rechtssache initiierten die Kontrolle der Übereinstimmung mit der Verfassung drei Anträge [von Gruppen von Abgeordneten aus dem Jahre 2004]. [...]Diese Anträge bezeichnen als Hauptkontrollgegenstand den Vertrag über den Beitritt der Republik Polen zur Europäischen Union (unterzeichnet in Athen am 16. April 2003) zusam-men mit der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik [Polen] und die Anpas-sungen der die Europäische Union begründenden Verträge, wie auch die Schlussakte der Athener Konferenz, welche integrale Teile des Beitragsvertrages darstellen.Die Einwände richten sich gegen den hier angeführten Vertrag und die Akten teils zur Gän-ze, teils gegen einzelne Bestimmungen, die in den Anträgen bezeichnet werden. Dagegen sind sämtliche Bezüge auf das Primärrecht der Europäischen Union als Kontrollgegenstand nur mittelbar formuliert, d.h. über den Beitrittsvertrag und seine einzelnen Normen.

1.2. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht zu einer eigenständigen Beurteilung der Verfas-sungsmäßigkeit des Primärrechts der Europäischen Union ermächtigt. Eine solche Kompe-tenz besitzt er dagegen gegenüber dem Beitrittsvertrag als ratifiziertem völkerrechtlichen Vertrag (Art. 188 Nr. 1 Verf). [...]

1.6. In all diesen drei beim Verfassungsgerichtshof eingereichten Anträgen ist sich wieder-holender – und zugleich: grundlegender – Einwand der Einwand der Unvereinbarkeit des

1 Der Urteilstenor wurde auch im Gesetzblatt der Republik Polen vom 17. Mai 2005 veröffentlicht: Dziennik Ustaw, Nummer 86, Position 744. Quelle der Begründung: http://www.trybunal.gov.pl/OTK/otk.htm. Die deut-sche auszugsweise Übersetzung und die folgenden Anmerkungen stammen von Dr. M. Bainczyk und Dr. U. Ernst, Krakau. S. dazu den Aufsatz in diesem Heft, S. 247 ff.

2 Abl. Nr. L 236 v. 23.9.2003, 17 ff.3 Die Entscheidung ist in Abschnitte gegliedert, von denen jeder eine eigene Überschrift hat. Diese sind hier nur

wiedergegeben, sofern aus dem jeweiligen Abschnitt zitiert wird.

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Beitrittsvertrages und auch der Akte über die Bedingungen des Beitritts und der Schlussakte mit Art. 8 Abs. 1 der Verfassung vom 2. April 1997.Die Vorbehalte der Antragsteller führen zu zwei grundlegenden Behauptungen:a) dass die Verfassung nicht den Beitritt zum Rechtssystem der Europäischen Union er-laube, welches den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem polnischen Recht annehme; dies führe nämlich – wie die Antragsteller behaupten – zur Verletzung des in Art. 8 Abs.1 ausgedrückten Verfassungsgrundsatzes, welcher lautet „Die Verfassung ist das oberste Recht der Republik Polen.“;b) dass eine Reihe Verfassungsbestimmungen, darunter die über das Eigentum, die Familie, die Familienlandwirtschaft, sich nicht mit den Regeln vereinbaren lassen, welche gemäß den Behauptungen der Antragsteller aus dem primären sowie sekundären Gemeinschafts-recht folgen.

In dieser Situation bedürfen zwei Problembereiche einer Beantwortung:– ob das Rechtssystem der Europäischen Union eine Verankerung in der Verfassung der

Republik Polen hat;– ob die Einwände hinsichtlich einzelner Gemeinschaftsnormen ihren Verstoß gegen die

polnische Verfassung begründen und ob insbesondere die Begründung der Anträge auf den richtigen Voraussetzungen beruht und zutreffend argumentiert wurde.

2. Frage des Vorrangs der Verfassung der R[epublik] P[olen] (Art. 8 Abs. 1) und Übertragung von Kompetenzen in „einigen Angelegenheiten“

[...]2.2. Die rechtliche Konsequenz von Art. 9 Verf ist die Verfassungsprämisse, dass auf dem Gebiet der Republik Polen neben den vom nationalen Gesetzgeber erlassenen Normen (Vor-schriften) Regelungen (Vorschriften) gelten, die außerhalb des Systems der nationalen (pol-nischen) Rechtsetzungsorgane geschaffen werden. Der Verfassungsgeber ermöglichte also bewusst, dass das auf dem Gebiet der Republik geltende Rechtssystem einen mehrteiligen Charakter haben werde. Neben Rechtsakten, welche durch die nationalen (polnischen) Rechtssetzungsorgane erlassen werden, gelten in Polen völkerrechtliche Akte und werden auch angewandt (s. A. Wasilkowski, Prawo krajowe – prawo wspólnotowe – prawo międzynarodowe. Zagadnienia wstępne, [in:] Prawo międzynarodowe i wspólnotowe w wewnętrznym porządku prawnym, Warszawa 1997, S. 15).Das Gemeinschaftsrecht ist dabei kein vollständig externes Recht im Verhältnis zum pol-nischen Staat. Im das Recht der Verträge ausmachenden Teil entsteht es durch die Annahme der durch alle Mitgliedstaaten (darunter die Republik Polen) abgeschlossenen Verträge. Im das erlassene Sekundärgemeinschaftsrecht ausmachenden Teil dagegen wird es unter der Beteiligung der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (darunter Polens) – im Rat der Europäischen Union – und von den Vertretern der europäischen Bürger (darunter der polnischen Bürger) – im Europäischen Parlament – geschaffen. In Polen gelten also Unter-systeme von Rechtsregelungen gemeinsam, welche aus verschiedenen Rechtssetzungs-zentren herrühren. Sie sollten gemäß dem Grundsatz der beiderseitig freundlichen Ausle-gung und einer kooperativen gemeinsamen Anwendbarkeit koexistieren. Dieser Umstand lässt in anderer Perspektive eine potenzielle Normenkollision und den Vorrang eines der beschriebenen Subsysteme erkennen.

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Die Prämisse einer mehrteiligen Struktur des Systems des in Polen geltenden Rechts hat einen generellen Charakter. Sie wurde zu einer einige Jahre dem Beitritt zu den Europä-ischen Gemeinschaften und der Union vorhergehenden Zeit angenommen. Es lässt sich also nicht behaupten, dass dies nur eine episodische Regelung sei, die nur im Zusammenhang und zum Zweck des Beitritts der Republik Polen zu den Gemeinschaften und zu der Euro-päischen Union gestaltet worden wäre.Die Verfassung erkennt infolge der Regelungen der Art. 9, Art. 87 Abs. 1 und Art. 90-91 diese mehrteilige Struktur der in der RP geltenden Normen an und sieht ein besonderes Ver-fahren ihrer Einführung vor. Dieses Verfahren weist Verwandtschaft mit dem Verfahren zur Verfassungsänderung auf. [...]

4. Reichweite der Kompetenzübertragung auf eine internationale Organisation oder ein internationales Organ

4.1. Die Übertragung von Kompetenzen „in einigen Angelegenheiten“ muss sowohl als Ver-bot einer Übertragung der Allgemeinheit der Kompetenzen des jeweiligen Organs verstan-den werden, der Übertragung der Kompetenzen in der Gänze der Angelegenheiten auf dem jeweiligen Gebiet, wie auch als Verbot der Kompetenzübertragung hinsichtlich des Wesens der Angelegenheiten, welche die Zuständigkeit des jeweiligen Organs der Staatsgewalt be-zeichnen. Notwendig ist also eine präzise Bestimmung der Gebiete wie auch die Bezeich-nung des von der Übertragung umfassten Kompetenzbereichs. Es besteht kein Grund zur Annahme, dass zur Erfüllung dieses Erfordernisses die Bewahrung – und sei es nur zum Schein – von Kompetenzen in der Zuständigkeit der Verfassungsorgane genügen würde. Demnach sind die Befürchtungen der Antragssteller, die in der Verhandlung ausgedrückt wurden, unbegründet. Handlungen, in deren Ergebnis die Kompetenzübertragung den Sinn des Bestehens oder Funktionieren irgendeines der Organe der Republik in Frage stellen würden, stünden allzu sehr in deutlichem Widerspruch mit Art. 8 Abs. 1 der Verfassung.

4.2. Der in Art. 91 Abs. 2 Verf garantierte Anwendungsvorrang völkerrechtlicher Verträge, welche auf Grund einer gesetzlichen Bevollmächtigung ratifiziert oder im Wege eines be-vollmächtigenden gesamtnationalen Referendums (gemäß Art. 90 Abs. 3) angenommen werden, darunter Verträge über die Kompetenzübertragung „in einigen Angelegenheiten“, – vor Bestimmungen von Gesetzen, die nicht gemeinsam anzuwenden sind – führt nicht unmittelbar (und zwar auf keinem Gebiet) zur Anerkennung eines analogen Vorrangs dieser Verträge vor den Bestimmungen der Verfassung. Die Verfassung bleibt damit – wegen ihrer besonderen Geltungswirkung – „das oberste Recht der Republik Polen“ im Verhältnis zu allen für die Republik Polen verbindlichen völkerrechtlichen Verträgen. Dies betrifft auch ratifizierte völkerrechtliche Verträge über die Kompetenzübertragung „in einigen Angele-genheiten“. Wegen der aus Art. 8 Abs. 1 Verf folgenden Überordnung der Rechtswirkung genießt sie in der Republik Polen Geltungs- und Anwendungsvorrang. [...]

4.5. Der Verfassungsgerichtshof steht auf dem Standpunkt, dass weder Art. 90 Abs. 1 noch Art. 91 Abs. 3 eine Grundlage für die Übertragung einer Vollmacht auf eine internationale Organisation (oder ihr Organ) zum Erlass von Rechtsakten oder zum Treffen von Entschei-dungen sein können, die der Verfassung der Republik Polen widersprechen würden. Insbe-sondere können die hier bezeichneten Normen nicht zur Kompetenzübertragung in einer Reichweite führen, die bewirken würde, dass die Republik Polen nicht als souveräner und

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demokratischer Staat funktionieren könnte. In dieser Frage bleibt die Auffassung des Ver-fassungsgerichts, dem Grundsatz nach, im Einklang mit dem Standpunkt des Bundesverfas-sungsgerichts Deutschlands (vgl. Urteil vom 12. Oktober 1993 in Sachen 2BVR 2134, 2159/92 Maastricht) und des Obersten Gerichts des Königreichs Dänemark (vgl. Urteil vom 6. April 1998 in Sachen I 361/1997 Carlsen gegen den Premierminister Dänemarks). [...]

6. Beitrittsvertrag und Akte über die Bedingungen des Beitritt und die Respektie-rung der in der Präambel der Verfassung der RP bezeichneten Werte

[...]6.2. Die Konsequenz der allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Axiologie der Rechtssysteme ist, dass die in der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ge-währleisteten und aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten folgenden Grundrechte allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts bilden (Art. 6 Abs. 2 EUV). Das Gemeinschaftsrecht entsteht also nicht in einem abstrakten und von dem Ein-fluss der Mitgliedstaaten und ihrer Bevölkerung freien europäischem Raum. Es wird nicht auf willkürliche Weise durch die europäischen Institutionen geschaffen. Es stellt vielmehr den Effekt gemeinsamer Handlungen der Mitgliedstaaten dar.

6.3. Schon die Konzeption und das Modell des europäischen Rechts haben eine neue Situa-tion geschaffen, in der autonome Rechtsordnungen nebeneinander gelten. Ihr gegenseitiges Aufeinandereinwirken kann nicht vollständig mit Hilfe der traditionellen Konzeptionen des Monismus und Dualismus im Verhältnis internes Recht – Völkerrecht beschrieben werden. Das Auftreten einer relativen Autonomie von Rechtsordnungen, welche auf eigenen inter-nen hierarchischen Grundsätzen beruhen, bedeutet nicht das Fehlen eines gegenseitigen Aufeinandereinwirkens. Es eliminiert auch nicht die Möglichkeit der Kollision zwischen den Regelungen des Gemeinschaftsrechts und den Bestimmungen der Verfassung. Die letzt-genannte Situation träte dann auf, wenn es zu einem unauflösbaren Widerspruch zwischen einer Norm der Verfassung und einer Norm des Gemeinschaftsrechts käme und zwar einem Widerspruch, der sich nicht durch die Anwendung einer die relative Autonomie des europä-ischen und des nationalen Rechts respektierende Auslegung beseitigen ließe. Eine solche Situation lässt sich nicht ausschließen, aber sie kann – im Hinblick auf die schon erwähnte Gemeinsamkeit der Annahmen und Werte – ausgesprochen selten auftreten.

6.4. Ein solcher Widerspruch kann im polnischen Rechtssystem in keinem Fall durch die Anerkennung einer Überordnung einer Gemeinschaftsnorm im Verhältnis zu einer Verfas-sungsnorm gelöst werden. Sie könnte auch nicht zum Verlust der Geltungswirkung der Ver-fassungsnorm und ihrem Ersatz durch eine Gemeinschaftsnorm noch zur Beschränkung des Anwendungsbereichs auf den Raum führen, auf welchen sich die Regelung des Gemein-schaftsrechts nicht erstreckt.In einer solchen Situation würde dem polnischen Gesetzgeber entweder das Treffen von Entscheidungen über die Änderung der Verfassung oder über die Bewirkung von Ände-rungen in Gemeinschaftsregelungen obliegen oder – schließlich – die Entscheidung über den Austritt aus der Europäischen Union. Diese Entscheidung sollte der Souverän treffen, der das polnische Volk ist, oder ein Organ der Staatsgewalt, welches in Übereinstimmung mit der Verfassung das Volk repräsentieren kann.Die Normen der Verfassung auf dem Gebiet der Individualrechte und -freiheiten stecken die minimale und nicht überschreitbare Schwelle ab, die keiner Absenkung oder Infragestellung

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in Folge der Einführung von Gemeinschaftsregelungen unterliegen kann. Die Verfassung erfüllt in diesem Bereich ihre Garantierolle, in Hinsicht auf den Schutz der in ihr ausdrück-lich bezeichneten Rechte und Freiheiten und dies im Verhältnis zu allen in ihrem Anwen-dungsbereich tätigen Subjekten. Die „europarechtsfreundliche“ Auslegung hat ihre Gren-zen. In keiner Situation kann sie zu gegen den ausdrücklichen Wortlaut der Verfassungs-normen verstoßenden und unmöglich mit einem Minimum der durch die Verfassung ver-wirklichten Funktionsgarantien zu vereinbarenden Ergebnissen führen, welche durch die Verfassung realisiert werden. Der Verfassungsgerichtshof erkennt also keine Möglichkeit der Infragestellung der Geltungskraft einer Verfassungsnorm durch die bloße Tatsache der Einführung einer gegen sie verstoßenden Gemeinschaftsregulierung in das System des eu-ropäischen Rechts an. [...]

7. Bedeutung der Verfassung der RP in der nach dem Beitritt geltenden Rechtsordnung

Die bisherigen Ausführungen rekapitulierend stellt der Verfassungsgerichtshof fest, dass sich die Überordnung der Verfassung im Verhältnis zur gesamten Rechtsordnung im Be-reich der Souveränität der Republik Polen auf einigen Ebenen äußert.Als erstes hat der mit der Kompetenzübertragung in einigen Angelegenheiten auf die Ge-meinschafts- (Unions-)Organe verbundene Prozess der europäischen Integration seine Stüt-ze in der Verfassung der Republik Polen selbst. Der Mechanismus des Beitritts der Republik zur Europäischen Union findet einen deutlichen Ausdruck in den Regelungen der Verfas-sung. Seine Geltung und Wirksamkeit hängen von der Erfüllung der verfassungsmäßigen Elemente der Integrationsprozedur ab, darunter auch der Prozedur der Kompetenzübertra-gung. Zweitens findet die Überordnung der Verfassung ihre Bestätigung im verfassungsmäßig bezeichneten Mechanismus der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Beitrittsvertrages und der seine integralen Bestandteile bildenden Akte. Dieser Mechanismus wurde auf die-selben Grundlagen gestützt, auf denen der Verfassungsgerichtshof über die Übereinstim-mung ratifizierter völkerrechtlicher Verträge mit der Verfassung entscheiden kann. In einer solchen Situation werden zum Kontrollgegenstand ebenfalls, wenn auch mittelbar, die ande-ren Akte des Primärrechts der Europäischen Gemeinschaften und der Union, welche Anhän-ge zum Beitrittsvertrag darstellen.Drittens können die Vorschriften (Normen) der Verfassung als übergeordneter und den Aus-druck des souveränen Willens der Nation darstellender Akt nicht allein durch die Tatsache des Entstehens eines unauflöslichen Widerspruchs zwischen bestimmten Vorschriften (Ge-meinschaftsakten und andererseits der Verfassung) ihre Geltungswirkung verlieren oder dem Wandel unterliegen. In einer solchen Situation behält der souveräne polnische Verfas-sungsgeber das Recht zur selbstständigen Entscheidung über die Art und Weise der Beseiti-gung dieses Widerspruches, darunter auch über die Zweckdienlichkeit einer eventuellen Änderung der Verfassung selbst.Der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts im Verhältnis zum nationalen Recht wird nachdrücklich durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemein-schaften herausgestellt.Gerechtfertigt wird dies durch die Ziele der Integration und die Bedürfnisse der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Rechtsraums. Dieser Grundsatz stellt zweifellos einen Ausdruck der Bestrebungen zur Gewährleistung einer einheitlichen Anwendung und der

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Vollstreckung des Europarechts dar. Nicht er allein determiniert – im Sinne von Ausschließ-lichkeit – die endgültigen Entscheidungen, die von den souveränen Mitgliedsstaaten im Falle einer hypothetischen Kollision zwischen der Gemeinschaftsrechtsordnung und einer Verfassungsregelung getroffen werden. Im polnischen Rechtssystem sollten Entscheidungen dieser Art immer unter Beachtung von Art. 8 Abs. 1 Verf getroffen werden. Gemäß Art. 8 Abs. 1 bleibt die Verfassung das oberste Recht der Republik.

8. Übertragung von Kompetenzen auf die Europäischen Gemeinschaften und Union und die Souveränität der Republik Polen und die gemeinsamen Verfassungswerte

8.1. Gemäß Art. 90 Abs. 1 Verf „[kann] die Republik Polen ... auf Grund eines völkerrecht-lichen Vertrages einer internationalen Organisation oder einem internationalem Organ Kom-petenzen der Organe der Staatsgewalt in einigen Angelegenheiten übertragen.“ Die zitierte Norm stellt den Ausdruck einer souveränen Öffnung des Verfassungsgebers gegenüber einer – unter den zuvor bezeichneten Bedingungen – möglichen Erweiterung des Kataloges der Rechtsakte dar, die auf dem Gebiet der Republik Polen allgemein gelten sollen. Es sei daran erinnert, dass noch vor der Annahme der Verfassung vom 2. April 1997 die Republik Polen – mit dem Beitritt zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Akzeptierung der Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-rechte – ihr Einverständnis mit der Übertragung bestimmter gerichtlicher Kompetenzen zum Ausdruck brachte, welche bis dahin eine ausschließliche Domäne der nationalen Gerichte dargestellt hatten. [...]

8.5. Der Einwand der Antragsteller, dass sowohl die Europäische Union als auch die Euro-päischen Gemeinschaften supranationale Organisationen seien, eine Kategorie, welche die Verfassung der RP nicht vorsehe, findet keine hinreichende Begründung. Der Beitrittsver-trag vom 16. April 2003 wurde zwischen den bisherigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften und der Union sowie den kandidierenden Staaten, darunter der Republik Polen, abgeschlossen. Dieser Vertrag weist die Eigenschaften eines völkerrechtlichen Ver-trages im Sinne von Art. 90 Abs. 1 der Verfassung auf. Die Mitgliedstaaten bleiben souve-räne Subjekte – Parteien der Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften und der Union. Sie ratifizieren auch selbstständig und gemäß ihren Verfassungen die abgeschlos-senen Verträge und verfügen über das Recht ihrer Kündigung im Wege und zu den Bedin-gungen des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969. Kei-ner der beanstandeten Normativakte bezeichnet die Europäische Union als „supranationale Organisation“. Ihre Zurechnung zum Kreise der internationalen Organisationen fand seine Bestätigung in der bisherigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (Urteil vom 31. Mai 2004, Az. K 15/04, OTK ZU [Rechtsprechungssammlung des VerfGH] Nr. 5/A/2004, Pos. 47). [...]Es ist zu unterstreichen, dass sich die Verträge über die Gründung der Europäischen Ge-meinschaften (wie auch die Akte des erlassenen Sekundärrechts) nicht des Begriffs der „su-pranationalen Organisation“ bedienen. Zwar wurden die Bezeichnungen der Organisati-onen, von denen in Art. 90 Abs. 1 und Art. 91 Abs. 3 Verf die Rede ist, nicht in der Verfas-sung präzisiert, dennoch erfüllen derzeit die verfassungsmäßigen Kriterien – bezüglich der Mitgliedschaft der Republik Polen – nur die Europäische Gemeinschaften und die Union. Angesichts dessen sind die Einwände der Antragsteller gegen die Übertragung von Kompe-

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tenzen auf eine in Art. 90 Abs. 1 nicht vorgesehene Organisation und die Anerkennung des Vorranges des im Rahmen einer in Art. 91 Abs. 3 nicht bezeichneten Organisation erlas-senen Rechtes vor dem nationalen Recht aufgrund der beanstandeten Bestimmungen des Beitrittsvertrages und der Akte über die Bedingungen des Beitritts unbegründet.Deshalb beruht auch die im Antrag vom 19. April 2004 enthaltene These von der „Einbezie-hung des polnischen Staates und Volkes in das System einer supranationalen Organisation wie sie die Europäische Union darstellt“ auf einer hinreichenden rechtlichen Vorausset-zungen entbehrenden Unterscheidung zwischen „supranationalen“ und „internationalen“ Organisationen. Sie findet weder eine Stütze im Völkerrecht noch in den Bestimmungen des Beitrittsvertrages und der Akte über die Bedingungen des Beitritts. Am Rande sei hin-zugefügt, dass man in der Völkerrechtslehre und in der völkerrechtlichen Rechtsprechung den Charakter von Völkerrechtssubjekten den Europäischen Gemeinschaften zuschreibt. Der Subjektscharakter der Europäischen Union ist bislang nicht zur Gänze und in allen As-pekten endgültig ausgestaltet.

9. Die Prüfungsbefugnis des polnischen Verfassungsgerichtshofes und die Recht-sprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften

9.1. Beurteilungsgegenstand bleiben hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit den in den Anträgen genannten Verfassungsvorschriften konkrete Normen des Beitrittsvertrages und der Akte über die Bedingungen des Beitritts sowie der Schlussakte der Konferenz in Athen. Der Verfassungsgerichtshof kann dagegen nicht die judiziellen Äußerungen des Gerichts-hofs der Europäischen Gemeinschaften zum Gegenstand der von ihm vorgenommen unmit-telbaren Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit machen. Dies betrifft sowohl konkrete Ent-scheidungen als auch – die aus konkreten Entscheidungen herausinterpretierte – „ständige Rechtsprechungslinie des Europäischen Gerichtshofes“, auf die sich die Antragsteller bezie-hen (insbesondere im Antrag vom 19. April 2004).Unabhängig nämlich von subjektiven Elementen im „Herauslesen“ und Feststellen dieser „Linie“, was von Natur aus zu äußerst unterschiedlichen Ergebnissen führen kann, bleibt die Beurteilung der Rechtsprechung eines jeglichen Gerichtsorgans der Europäischen Gemein-schaften eindeutig außerhalb der in Art. 188 Verf genau bezeichneten Prüfungsbefugnis des Verfassungsgerichtshofes.

9.2. Der Verfassungsgerichtshof teilt dabei nicht die in der Verhandlung von den Verfassern des Antrags vom 2. September 2004 geäußerte Auffassung, wonach ausreichende Grundla-ge für die Inkorporation der gesamten und zugleich inhaltlich differenzierten Rechtspre-chung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften in das Vertragsrecht der Euro-päischen Gemeinschaften und der Union das Protokoll zum Amsterdamer Vertrag über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (...)4 sei. Dieses Protokoll, welches als den Amsterdamer Vertrag ergänzendes Element angesehen wird, be-zieht sich nämlich – entsprechend seiner Bezeichnung – ausschließlich auf die Anwendung des Subsidiaritäts- und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.

9.3. Aus diesem Grunde kann der Verfassungsgerichtshof unter völliger Würdigung der Be-deutung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften und seiner Rechtsprechung in

4 In den damaligen Amtssprachen veröffentlicht im ABl. Nr. C 340 vom 10. November 1997.

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der Praxis des Funktionierens der Europäischen Gemeinschaften und der Union nicht judi-ziell zu den in den Entscheidungen des EuGH enthaltenen Äußerungen Stellung beziehen, welche (selektiv) von den Autoren des am 19. April eingereichten Antrags ... zitiert werden, wie auch nicht zu den ... Einwänden der fehlenden Kohärenz der judiziellen Äußerungen des EuGH und Art. 8 Abs. 1 sowie Art. 91 Abs. 3 Verf.

10. Frage der Verfassungsmäßigkeit der dem Gerichtshof der Gemeinschaften (EuGH) und dem Gericht Erster Instanz im Vorabentscheidungsverfahren gestellten Vorlagefragen

[...]10.2. Der Verfassungsgerichtshof weist vor allem darauf hin, dass die das Vorabentschei-dungsverfahren betreffende Norm des Art. 234 EGV nur dann Anwendung findet, wenn aus Verfassungsregelungen oder aus von der Republik Polen ratifizierten völkerrechtlichen Ver-trägen die Notwendigkeit der Anwendung von Akten (Vorschriften) des Gemeinschafts-rechts durch die Gerichte und Gerichtshöfe der RP folgt. Die Reichweite der Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die Organe der Republik Polen, darunter die Gerichte und Gerichtshöfe, wurde durch den Umfang der Kompetenzübertragung nach den Verfassungs-bestimmungen der Art. 90 Abs. 1 und Art. 91 Abs. 3 determiniert. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist der hauptsächliche, aber nicht der einzige Depositar der Berechtigungen im Bereich der Anwendung der Verträge im Rechts-system der Europäischen Gemeinschaften und der Union. Er entscheidet in Ausschließlich-keit (gemeinsam mit dem Gericht Erster Instanz – in den in die Prüfungsbefugnis dieses Gerichts fallenden Rechtssachen) über die Gültigkeit und die Auslegung des Gemeinschafts-rechts. Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH sollte innerhalb der durch die Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übertragenen Funktionen und Kompetenzen erfol-gen. Sie sollte auch mit dem Subsidiaritätsgrundsatz korrelieren, der die Handlungen der gemeinschaftlich-unionalen Organe determiniert. Die Auslegung sollte zudem auf der An-nahme gegenseitiger Loyalität zwischen den gemeinschaftlich-unionalen Organen und den Mitgliedstaaten beruhen. Diese Annahme schafft – auf Seiten des EuGH – die Notwendig-keit der Geneigtheit gegenüber den nationalen Rechtssystemen, auf Seiten der Mitgliedstaa-ten die Notwendigkeit des höchsten Standards der Respektierung der Gemeinschaftsnormen (vgl. J. Barcz, Zasada pierwszeństwa prawa wspólnotowego w świetle postanowień Konstytucji z 1997 r., [in:] „Kwartalnik Prawa Publicznego” Nr. 2/2004, 23-24; F. May-er, The European Constitution and the Courts Adjudicating European Constitutional Law in a Multilevel System, [in:] „Jean Monnet Working Paper” Nr. 9/03).

10.3. Die Mitgliedstaaten behalten das Recht zur Beurteilung, ob die Gemeinschafts- (Uni-ons-)Rechtsetzungsorgane bei dem Erlass eines bestimmten Aktes (einer Rechtsvorschrift) im Rahmen der übertragenen Kompetenzen handelten und ob sie ihre Befugnisse gemäß den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit ausübten. Eine Überschreitung dieser Rahmen bewirkt, dass die außerhalb von ihnen erlassenen Akte (Vorschriften) nicht dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechtes unterfallen (vgl. W. Czapliński, Członkostwo w Unii Europejskiej a suwerenność państwowa, [in:] Konstytucja dla rozszerzającej się Europy, red. E. Popławska, Warszawa 2000, 131 ff.; S. Biernat, Prawo Unii Europejskiej a prawo państw członkowskich, [in:] Prawo Unii Europejskiej. Za-gadnienia systemowe, Hrsgb. J. Barcz, Warszawa 2002, 236)...

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11. Fragen im Vorabentscheidungsverfahren und Prüfungsbefugnis des Verfassungsgerichtshofes

[...]11.2. ... Da die Pflicht zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts – auf der Grundlage der Verfassungsermächtigungen – aus in Übereinstimmung mit der Verfassung ratifizierten Ver-trägen folgt, welche für die Republik Polen verbindliches Völkerrecht darstellen (Art. 9 Verf), wäre es schwierig anzunehmen, dass die Bindung der unabhängigen Richter (Art. 178 Abs. 1) und Richter der Verfassungsgerichtshofes (Art. 195 Abs. 1) an die Verfassungs-normen nicht die von der Verfassung vorgesehene Pflicht zur Anwendung des für die Repu-blik verbindlichen Gemeinschaftsrechts umfasst. Diese Pflicht ist eine rechtliche Folge der Ratifizierung der mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften und der Union in Übereinstimmung mit (und auf der Grundlage der) Verfassung abgeschlossenen völker-rechtlichen Verträge. Ein Element dieser Verträge ist der in Frage gestellte Art. 234 des Ver-trages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. [...]

18.5 Akte des Gemeinschaftsrechts und Art. 31 Abs. 3 ... Verf

[...]Art. 31 Abs. 3 Verf bestimmt die Bedingungen, unter denen die Anordnung von Begren-zungen hinsichtlich des Gebrauchs der konstitutionellen Freiheiten und Rechte in der pol-nischen nationalen Rechtsordnung zulässig ist. Diese Vorschrift richtet sich an den pol-nischen Gesetzgeber. Eine unmittelbare Übertragung der Anforderungen, welche aus Art. 31 Abs. 3 folgen, auf die Ebene der Gemeinschaftsrechtssetzung ist nicht gerechtfertigt. Jede dieser Vorschriften betrifft unterschiedliche und untereinander autonome Rechtssyste-me. Dies beseitigt nicht die Möglichkeit einer Beurteilung von Rechtsregelungen, darunter gemeinschaftlichen Verordnungen, bezüglich ihrer Geltung auf dem Gebiet der Republik Polen als Bestandteile der polnischen Rechtsordnung, u.a. hinsichtlich der Respektierung der aus Art. 31 Abs. 3 Verf folgenden Regeln, insbesondere der erforderlichen Verhältnis-mäßigkeit der Begrenzungen. [...]

18.6 Art. 308 EGV und Art. 79 Abs. 1 ... Verf der RP

[...] Art. 79 Abs. 1 Verf statuiert dagegen das Recht eines Individuums, dessen verfassungs-mäßige Freiheiten oder Rechte verletzt wurden, [Verfassungs]Beschwerde beim Verfas-sungsgerichtshof einzulegen. Er bezeichnet darüber hinaus ihre Zulässigkeitsvorausset-zungen. Gegenstand der Verfassungskontrolle im Wege der [Verfassungs]Beschwerde kön-nen – wie bisher – nur Vorschriften des auf dem Gebiet der Republik Polen geltenden Rechts sein (ein Gesetz oder anderer Normativakt). Die Antragsteller begründen nicht im Einzel-nen, aus welchen Gründen Art. 79 Abs. 1 Verf wegen des Gehalts von Art. 308 EGV zu ei-ner Leervorschrift werden sollte.Es scheint, dass die Antragsteller der Ansicht sind, dass im Wege der Verfassungsbeschwer-de nicht direkt Vorschriften des Gemeinschaftsrechts in Frage gestellt und um ihre Rechts-wirkung gebracht werden könnten, falls sie gegen verfassungsmäßige Freiheiten und Indivi-dualrechte verstoßen würden. Nach Meinung der Antragsteller kann man vermuten, dass die aus Art. 308 EGV folgende Möglichkeit zur Erweiterung der Kompetenzen des Rates in der Folge den Reglungsbereich des nationalen Rechtes schmälern und somit zugleich die Gren-

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zen der Nutzung des Rechts zur Einlegung einer Verfassungsbeschwerde, wie sie in Art. 79 Abs. 1 Verf garantiert ist, einengen könnte.Nach der Einschätzung des Generalstaatsanwalts kann die Möglichkeit der Existenz einer solchen Situation nicht das Auftreten einer Kollision zwischen Art. 308 EGV und Art. 79 Abs. 1 Verf beweisen. Art. 308 hat keinen selbstvollziehenden5 Charakter. Als solcher kann er nicht den Anwendungsbereich von Art. 79 Abs. 1 Verf verletzen. Die Bestimmung der Grenzen der Verfassungsbeschwerde steht allein dem polnischen Verfassungsgeber zu. Sie kann nicht zum Regelungsgegenstand des Gemeinschaftsrechts werden. Wenn der polnische Verfassungsgeber im Ergebnis einer weiteren Integration in die Europäische Union den ge-genwärtig ausgestalteten Individualrechtsschutzbehelf in Gestalt der Verfassungsbeschwer-de für nicht hinreichend wirksam erachtet, dann bleibt es in der Zuständigkeit des pol-nischen Verfassungsgebers, ihm in Zukunft eine andere Rechtsgestalt zu verleihen.Aus diesem Grunde also verstößt Art. 308 EGV nicht gegen Art. 79 Abs. 1 Verf. [...]

18.8 Art. 21 Verf und Art. 6 EUV [und Vermögensrechte in Polens West- und Nordgebieten]

Die Antragsteller weisen auf einen Gegensatz des Vertrages über die Europäische Union und der Grundrechtscharta mit der Verfassung hin. Art. 6 Abs. 2 des Vertrages über die Eu-ropäische Union (EUV) und Art. 17 der Grundrechtscharta verstoßen – nach der Beurtei-lung der Antragsteller – gegen Art. 21 Abs. 1 Verf6. Die hier angezeigten Gemeinschaftsre-gelungen schützen – nach Meinung der Antragsteller – das Eigentum, unabhängig vom Da-tum seines Erwerbs, im Gegensatz zum durch die Verfassung der RP garantierten Schutz, der – nach der Formulierung der Antragsteller – das „im Moment des Inkrafttretens des Obersten Gesetzes besessene Eigentum“ betreffe. Der Beitrittsvertrag könnte also – ihrer Auffassung nach – zu Versuchen benutzt werden, Vermögensrechte polnischer Bürger in den West- und Nordgebieten der RP in Frage zu stellen.Diese Einwände sind, nach Meinung des Verfassungsgerichtshofes, unzutreffend.Erstens wurde die Auffassung von einer unterschiedlichen Reichweite des Rechtsschutzes des Eigentums und deren Konsequenzen für die Vermögensrechte in den Nord- und Westge-bieten Polens mit keinerlei Argumenten unterstützt. Es ist also nicht ersichtlich, auf welche Rechtsgrundlage die Antragsteller ihre Beurteilung stützen.Zweitens greift die Europäische Gemeinschaft nicht unmittelbar in die eigentumsrechtlichen Systeme der Mitgliedstaaten ein. Dies bestätigt die Norm des Art. 295 EGV, welche eindeu-tig anordnet, dass das Gemeinschaftsrecht in keinerlei Weise das Eigentumssystem in den Mitgliedstaaten bestimmt, und ihnen also die Entscheidungsfreiheiten in Eigentumsangele-genheiten auf ihrem Gebiet belässt. Das Gemeinschaftsrecht kann nicht die Freiheit eines Mitgliedstaates zur Gestaltung der Grundsätze des Eigentumsrechtes beschränken, solange er nicht die Grundsätze der Nichtdiskriminierung verletzt und nicht in unverhältnismäßiger Weise auf die Ausübung besessener Eigentumsrechte und die Verfügung über sie einwirkt (vgl. A. Cieśliński, Wspólnotowe prawo gospodarcze, Warszawa 2003, S. 194, und auch M. Muszyński, Przejęcie majątków niemieckich przez Polskę po II wojnie światowej. Studium prawnomiędzynarodowe i porównawcze, Bielsko-Biała 2003, S. 307-398).

5 Nach Sprachgebrauch in Deutschland: „self-executing“.6 Art. 21 Abs. 1 Verf: „Die Republik Polen schützt das Eigentum und das Erbrecht.”

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Drittens können Gemeinschaftsregelungen nicht Eigentumsverhältnisse berühren, die eine Folge des Zweiten Weltkriegs sind, so hinsichtlich der Anerkennung der Geltung des Grund-satzes lex retro non agit, wie auch hinsichtlich des Fehlens einer einstimmigen Übertragung dieser Angelegenheiten in die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaften (und der Union) durch die Mitgliedstaaten. Der Beitritt Polens zur Europäischen Union ändert – wie der Generalstaatsanwalt zu Recht anmerkt – in diesem Bereich nichts. Die Vorschrift des Art. 6 Abs. 2 EUV bestätigt nur die aus der dort angeführten Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten folgenden Garantien, indem er sie gleichfalls als all-gemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechtes anerkennt. Unabhängig von ihrem Beitritt zur EU ist die Republik Polen also nach der Ratifikation der hier bezeichneten Konvention als Staat verpflichtet, die angenommenen Normen einzuhalten.Viertens leiten die Antragsteller ihre Schlussfolgerung von der Bedrohung des polnischen Eigentums (was zum Verstoß gegen den dargelegten Verfassungsmaßstab führen soll und was genauer in der Verhandlung dargelegt worden war) aus einer „Kette“ mittelbarer Schlussfolgerungen her. Diese „Kette“ stellt sich folgendermaßen dar: Art. 6 Abs. 2 EUV handelt davon, dass die Union die Grundrechte achtet, welche in der (in Rom am 4. Novem-ber 1950 unterzeichneten) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfrei-heiten gewährleistet werden und sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben und die als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ange-nommen sind. Dies soll eine Achtung der aus der deutschen Verfassung folgenden Grund-sätze bedeuten. Dieser Akt erkennt – in Art. 116 – die Berechtigung von aus den gegenwär-tig die polnischen West- und Nordgebiete bildenden Territorien Personen zur Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft an. Eben diese – gegenwärtigen – Bürger Deutschlands for-mulieren manchmal Erwartungen hinsichtlich in diesen Territorien belegenen Vermögens. Die Achtung der „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen“ gemäß dem Gehalt von Art. 6 Abs. 2 EUV soll – nach Überzeugung der Antragsteller – zum Schutz der erwähnten Erwar-tungen durch diese Vorschrift führen, welche die Rechte der polnischen Bürger in den West- und Nordgebieten in Frage stellen.Von dem Umstand absehend, dass es eine beliebige Annahme ist, der deutschen Verfassung diese Art von aus Art. 116 hergedachten Folgen (diesen Sinn) zuzuschreiben, bleibt die Re-duzierung des Ausdrucks „gemeinsame Verfassungsgrundsätze“ auf sich aus der Verfassung nur eines der Staaten der Europäischen Union ergebende Grundsätze unverständlich. Der Begriff „gemeinsame Grundsätze“ muss nach der Bedeutung seines wörtlichen Gehalts die vielen Verfassungssystemen gemeinsamen Grundsätze berücksichtigen. Es ist daher nicht verständlich, weshalb aus einer Verfassung (unabhängig davon, ob gerechtfertigt) hergelei-tete Grundsätze den in der Verfassung der RP enthaltenen Grundsätzen entgegengestellt werden sollten, welche – in diesem Kontext – einen gleichrangigen Akt darstellt. [...]

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Fragen der EU-Mitgliedschaft vor dem polnischen Verfassungsgerichtshof– Anmerkung zum Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs vom 11.05.2005 –

Von Magdalena Bainczyk und Ulrich Ernst, Krakau*

I. Einleitung: Die bisher entschiedenen Fälle

Mussten bei der Schaffung der polnischen Verfassung von 1997 EU-Beitritt und Mitglied-schaft erst normativ und dogmatisch vorbereitet werden,1 so hatte sich der polnische Verfas-sungsgerichtshof (VerfGH) seitdem bereits in mehreren Verfahren eingehender zu den Vor-gaben für die Integration zu äußern.2 Folgende Entscheidungen sind, auch wegen ihrer poli-tischen Bedeutung, hervorzuheben:1. „Referendumsgesetz“: Urteil vom 27. Mai 2003 – Az. K 11/03. Zwei Gruppen von Sejm-Abgeordneten hatten die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Ge-setzes vom 14. März 2003 über ein landesweites Referendum3 beantragt. Dieses war – ge-mäß einem entsprechenden Verfassungsauftrag – beschlossen worden, um die Durchführung von Volksabstimmungen zu regeln. Unmittelbarer Anlass war die Vorbereitung auf das Re-ferendum über den Beitritt Polens zur EU. Der VerfGH stellte keinen Verfassungsverstoß fest, sodass das Referendum am 7. und 8. Juni 2003 abgehalten werden konnte. Dabei spra-chen sich 77 % der Abstimmenden bei einer Beteiligung von 59 % für den Beitritt am 1. Mai 2004 aus.2. „Biotreibstoffe“: Urteil vom 21.April. 2004 – Az. K 33/03. Auf Antrag des Bürgerrechts-beauftragten (Ombudsmanns) wurden die Vorschriften eines vom Parlament verabschiede-ten Gesetzes kassiert, nach welchen unter Androhung einer Geldbuße die Produzenten (ein-schließlich Importeure) von Treibstoffen zur Beimischung eines bestimmten Anteils von sog. Biokomponenten verpflichtet werden sollten sowie beim Vertrieb vom Flüssigtreibstof-fen auf den in ihnen enthaltenen Anteil dieser Komponenten nicht hingewiesen werden musste.3. „EP-Wahlordnung“: Urteil vom 31. Mai 2004 – Az. K 15/04. Eine Gruppe von Sejm-Ab-geordneten hatte die Verfassungsmäßigkeitskontrolle des Gesetzes vom 23. Januar 2004 – Wahlordnung zum Europäischen Parlament4 beantragt. Sie wandte sich gegen die Vor-schriften, welche das Wahlrecht auch Bürgern anderer Staaten als der Republik Polen zuer-kannten. Der VerfGH folgte den Antragstellern nicht und ließ die Wahlordnung unangetas-tet, so dass die Wahlen auch in Polen planmäßig am 13. Juni 2004 stattfinden konnten.4. „Sejm-Senat“: Urteil vom 12. Januar 2005 – Az. K 24/04. Der VerfGH gab dem Normen-kontrollantrag einer Gruppe von Senatoren, also Angehörigen der zweiten polnischen Parla-mentskammer, statt. Er kam zu dem Schluss, dass das Gesetz vom 11. März 2004 über die Zusammenarbeit des Ministerrates mit dem Sejm und dem Senat in mit der Mitgliedschaft

* Dr. M. Bainczyk und Dr. U. Ernst sind Absolventen des Europäischen Graduiertenkollegs der Universitäten Heidelberg, Krakau und Mainz.

1 S. dazu Jankowska-Gilberg, EuR 2003, 417 ff.; Barcz, Państwo i Prawo [PiP] 3/1993; Banasiński, PiP 11-12/1993; Działocha, PiP 4-5/1996, 5-14; Barcz, in: Kruk, Prawo międzynarodowe i wspólnotowe w we-wnętrznym porządku prawnym, Warszawa 1997, 203 ff.

2 Vgl. jetzt die Aufstellung bei Banaszkiewicz, Europejski Przegląd Sądowy [EPS], Dezember 2005, 49-58.

3 Ustawa o referendum ogólnokrajowym, Gesetzblatt [im Folgenden GBl., polnisch: Dziennik Ustaw] Nr. 57, Pos. 507 u. Nr. 85, Pos. 502.

4 Ustawa – Ordynacja wyborcza do Parlamentu Europejskiego, GBl. Nr. 25 Pos. 219.

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in der Europäischen Union verbundenen Angelegenheiten5 den Senat hinsichtlich der Kon-sultationspflichten der Regierung (des „Ministerrates“) bei der Vorbereitung von EU-Rats-entscheidungen in verfassungswidriger Weise gegenüber dem Sejm diskriminiere.5. „Europäischer Haftbefehl” (EHB): Urteil vom 27. April 2005 – Az. P 1/05.6 Ein Strafge-richt, das eine Polin auf Grund eines Europäischen Haftbefehls an die niederländischen Justizbehörden übergeben sollte, hatte dem VerfGH die Frage nach der Verfassungsmäßig-keit der entsprechenden Vorschriften im Strafverfahrensgesetzbuch7 vorgelegt. Der VerfGH erklärte die gesetzliche Bestimmung über die Übergabe hinsichtlich polnischer Bürger für verfassungswidrig, ordnete aber zugleich ihre Weitergeltung für 18 Monate ab der Urteils-verkündung an.6. „Beitrittsvertrag“: Urteil vom 11. Mai 2005 – Az. K 18/04.8 Auf Antrag von Gruppen von Abgeordneten nahm der VerfGH zur Verfassungsmäßigkeit des Vertrages über den Beitritt Polens (und neun weiterer Staaten) zur EU9 Stellung. Er hatte dabei nicht nur den Beitritts-vertrag selbst, sondern auch die dazugehörigen Akte über die Bedingungen des Beitritts und die Anpassung der Gründungsverträge10 sowie die Schlussakte der Konferenz von Athen11 einer Prüfung zu unterziehen. Die behaupteten Verstöße einzelner primärrechtlicher Nor-men des Unionsrechts gegen die polnische Verfassung waren sehr zahlreich. So war u.a. auch auf Befürchtungen wegen „gelegentlich von Bürgern Deutschlands formulierten Er-wartungen hinsichtlich im Norden und Westen Polens belegenen Vermögens“ einzugehen.12 Im Ergebnis hielt der VerfGH keinen der geltend gemachten Einwände für stichhaltig und wies alle ab.Anschließend sollen wesentliche Aussagen der Entscheidungen vor dem Hintergrund der bis-herigen Ansichten der polnischen Doktrin kurz vorgestellt werden. Dabei stehen zunächst die Gesichtspunkte des Rangverhältnisses zwischen nationalem und EU-Recht im Mittelpunkt (II.). Anschließend wird danach gefragt, wie bei einem Widerspruch zwischen der Verfassung und sekundärem Europarecht vorzugehen ist, wofür insbesondere die Entscheidung zum Eu-ropäischen Haftbefehl als Beispiel dient (III.). Besonders eingegangen wird weiterhin auf die Aussagen zur Unionsbürgerschaft und zur Rolle der Parlamentskammern im Vorfeld von EU-Ratsentscheidungen (IV.) und abschließend wird ein Resümee gezogen (V.).

II. Allgemeines zum Verhältnis zwischen innerstaatlichem und Gemeinschaftsrecht

1. Vorgaben der Verfassung

Die wichtigste der bisher vom VerfGH behandelten Fragen der EU-Integration betrifft das Verhältnis des Grundsatzes des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts zu Art. 8 Abs. 1 Verfas-

5 Ustawa o współpracy Rady Ministrów z Sejmem i Senatem w sprawach związanych z członkostwem Rze-czypospolitej Polskiej w Unii Europejskiej, GBl. Nr. 52, Pos. 515.

6 In auszugsweiser Übersetzung der Autoren dieses Aufsatzes abgedruckt in: EuR 2005, 494-504.7 Ustawa Kodeks postępowania karnego v. 26.6.1997, GBl. Nr 89, Pos. 555 mit. Ändrg. Die Reglungen zum EHB

waren durch Gesetz v. 18. 3. 2004, GBl. Nr. 69, Pos. 626 ins Strafverfahrensgesetzbuch eingefügt worden.8 In auszugsweiser Übersetzung abgedruckt in diesem Heft, S. 236-246. Zu der Entscheidung vgl. jetzt Kwartal-

nik Pranu Publirzneys 4/2005 mit Besprechungen von Barcz (169 ff.), Biernat (185 ff.), Czapliński (207 ff.) u. Wyrozvmska (224 ff.)..

9 Abl. Nr. L 236 v. 23.9.2003, 17 ff.10 Abl. Nr. L 236 v. 23.9.2003, 33 ff.11 Abl. Nr. L 236 v. 23.9.2003, 957 ff.12 VerfGH Urt. v. 11.5.2005, III., Pos. 18.8.

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sung (Verf)13, wonach die Verfassung das oberste Recht der Republik Polen ist. Der Vorrang des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts vor Gesetzen lässt sich aus Art. 91 Verf herleiten:„1. Ein ratifizierter völkerrechtlicher Vertrag stellt nach seiner Verkündung im Gesetzblatt der Republik Polen einen Teil der nationalen Rechtsordnung dar und wird unmittelbar ange-wandt, es sei denn, dass seine Anwendung vom Erlass eines Gesetzes abhängig gemacht worden ist.2. Ein nach vorheriger Zustimmung, welche durch Gesetz erteilt wurde, ratifizierter völker-rechtlicher Vertrag hat Vorrang vor einem Gesetz, wenn sich dieses Gesetz nicht mit dem Vertrag vereinbaren lässt.3. Wenn sich dies aus einem durch die Republik Polen ratifizierten Vertrag ergibt, der eine internationale Organisation konstituiert, wird das von ihr gesetzte Recht unmittelbar ange-wandt, wobei es im Falle einer Kollision mit Gesetzen Vorrang hat.“Diskutiert wird jedoch das Verhältnis zur Verfassung bereits seit der Zeit, als diese sich noch in der Entwurfsphase befand. Zumeist wurde ihre Überordnung über primäres wie se-kundäres Gemeinschaftsrecht angenommen: Primärrechtsakte hätten in der nationalen Rechtsordnung Polens den Charakter von völkerrechtlichen Verträgen und als solche gemäß Art. 91 Abs. 1 u. 2 Verf Vorrang vor Gesetzen, aber nicht vor der Verfassung. Darüber hin-aus wurde auf die Befugnis des VerfGH aus Art. 188 Nr. 1 Verf zur Prüfung der Verfas-sungsmäßigkeit von völkerrechtlichen Verträgen verwiesen.14

Ebenso sollte auch das sekundäre Gemeinschaftsrecht nach auf den Wortlaut von Art. 91 Abs. 3 Verf beschränkter Auslegung im Falle einer Kollision ausschließlich Vorrang vor Ge-setzen haben. Zu Gunsten einer solche Interpretation wurde u.a. daran erinnert, dass wäh-rend der Arbeiten des Verfassungsausschusses eine Formulierung der Vorschrift diskutiert worden war, die den Vorrang des von einer internationalen Organisation gesetzten Rechts bei einer Kollision auch mit Verfassungsvorschriften, angeordnet hätte. Dieser Vorschlag war aber schließlich verworfen worden.15

Andererseits wurde jedoch der spezifische Charakter des Beitrittsvertrages unterstrichen, welcher ein völkerrechtlicher Vertrag im Sinne von Art. 90 Verf sei:„1. Die Republik Polen kann auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages einer in-ternationalen Organisation oder einem internationalem Organ Kompetenzen der Organe der Staatsgewalt in einigen Angelegenheiten übertragen....“Für die Annahme eines solchen Vertrages errichtet die Verfassung höhere Anforderungen als für „gewöhnliche“ völkerrechtliche Verträge. Die dort vorgesehene Prozedur „weist Ver-wandtschaft mit dem Verfahren zur Verfassungsänderung auf.“16 Vertreter der Lehre be-tonten, dass dieser Vertrag die Legitimation für die sich aus der EU-Mitgliedschaft erge-benden Modifikationen von Staatsordnung und Verfassung schaffe. Diese Umstände seien ebenfalls bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Beitrittsvertrages zu berück-

13 Verfassung der Republik Polen v. 2.4.1997, GBl. Nr. 78, Pos. 483.14 Garlicki, in: Czapliński/Lipowicz/Skoczny/Wyrzykowski, Suwerenność i integracja europejska, Warszawa

1999, 113 ff.; Biernat, in: Mik, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej z 1997 roku a członkostwo Polski w Unii Europejskiej, Toruń 1999, 173 und 180. Auf Deutsch: Jankowska-Gilberg, EuR 2003, 417, 428 ff.; Wojtyczek, in: Liebscher/Zoll, Einführung in das Polnische Recht, München 2005, § 1 Rn. 20.

15 Winczorek, PiP 11/2004, 3, 11; Garlicki, in: Czapliński/Lipowicz/Skoczny/Wyrzykowski, a.a.O., 119; Działo-cha, in: Garlicki, Konstytucja Rzeczpospolitej Polskiej. Komentarz, Band I, Warszawa 1997-2003, Art. 91, 8.

16 VerfGH Urt. v. 11. 5. 2005, III., Pos. 2.2.

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sichtigen.17 Im Verhältnis zum sekundären Gemeinschaftsrecht wurde auf die darin enthal-tene „Öffnung“ der innerstaatlichen polnischen Rechtssphäre gegenüber Gemeinschafts-rechtsakten und den Verfassungsgrundsatz der Geneigtheit gegenüber dem Integrationspro-zess verwiesen sowie auf die Tatsache, dass Polen unmittelbar Anteil an der Sekundärrecht-setzung habe.18

Übereinstimmend berufen sich die meisten Vertreter der Lehre darauf, dass die grundsätz-liche axiologische Übereinstimmung zwischen dem Primärrecht und der Verfassung wei-testgehend Kollisionen zwischen beiden Rechtssystemen ausschließen sollte.19

2. Unbeachtlichkeit der gemeinschaftsrechtlichen Sichtweise für den VerfGH?

Zur Stellungnahme zum Konflikt zwischen Verfassungssuprematie einerseits und dem vom Gemeinschaftsrecht geforderten Anwendungsvorrang sowie dem Charakter der Gemein-schaft als supranationaler Organisation war der VerfGH insbesondere im Verfahren zum Beitrittsvertrag aufgerufen. Nach seiner Auffassung ist der Beitrittsvertrag ein ratifizierter völkerrechtlicher Vertrag, was ihn gemäß Art. 188 Nr. 1 Verf zu einem geeigneten Untersu-chungsgegenstand für ihn macht. Gleichzeitig stellte der VerfGH fest, dass er „nicht zu ei-ner eigenständigen Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Primärrechts“ der EU er-mächtigt sei.20 Alle Bezüge auf das primäre Gemeinschaftsrecht haben nach dieser These mittelbaren Charakter; sie führen über den Beitrittsvertrag. In ihrer Rüge eines Verstoßes des Beitrittsvertrages gegen Art. 8 Abs. 1 Verf hatte sich eine Gruppe von Abgeordneten u.a. auf die Feststellung gestützt, dass Art. 2 der Akte über die Bedingungen des Beitritts zu einer Bindung Polens an die Bestimmungen der Gründungs-verträge und Rechtsakte von Gemeinschaftsorganen sowie die Rechtsprechung des EuGH führe. Eine andere Gruppe hatte auf den in der Rechtsprechung des EuGH ausgestalteten Vorrang des primären Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht verwiesen, welches nach ständiger Rechtsprechung des EuGH und der europarechtlichen Doktrin die Gesamtheit der Beziehungen zwischen nationalem und dem Gemeinschaftsrecht umfasse.Der VerfGH bestätigte in der Urteilsbegründung die Überordnung der Verfassung bezüglich der gesamten Rechtsordnung im Souveränitätsbereich des polnischen Staates. Unter Punkt 7 der Begründung wird die „Bedeutung der Verfassung der R[epublik] P[olen] in der nach dem Beitritt geltenden Rechtsordnung“ umrissen. Die Kompetenzübertragung auf die Ge-meinschaftsorgane ginge auf Grundlage der Verfassung vonstatten und ihre Gültigkeit und Wirksamkeit hingen von der Erfüllung der verfassungsmäßigen Elemente der Integrations-prozedur ab. Der Beitrittsvertrag würde nach denselben Grundsätzen der Verfassungsmäßig-keitskontrolle unterliegen, auf welche sich die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit ratifi-zierter völkerrechtlicher Verträge stütze.21 Dementsprechend betrachtete der VerfGH ihn hauptsächlich im Lichte von Art. 91 Abs. 2 Verf als einen den internen Gesetzen, aber nicht der Verfassung, vorgehenden völkerrechtlichen Vertrag: „Die Verfassung bleibt damit – we-gen ihrer besonderen Geltungswirkung – ‚das oberste Recht der Republik Polen’ im Verhält-

17 Barcz, Kwartalnik Prawa Publicznego [KPP] 2/2004, 21, 37; Szafarz, in: Kruk a.a.O., 34; ähnlich Działocha, PiP 11/2003, 13, 20.

18 Barcz, KPP 2/2004, 21, 38.19 Działocha, in: Garlicki, a.a.O, Art. 91, 10; Winczorek, PiP 11/2004, 3, 14; Barcz, KPP 2/2004, 21, 39.20 VerfGH Urt. v. 11.5. 2005, III., Pos. 1.2. und 7.21 VerfGH Urt. v. 11.5. 2005, III., Pos. 7.

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nis zu allen für die Republik Polen verbindlichen völkerrechtlichen Verträgen. Dies betrifft auch ratifizierte völkerrechtliche Verträge über die Kompetenzübertragung ‚in einigen An-gelegenheiten’.“22 Obwohl das Gemeinschaftsrecht eine autonome Rechtsordnung darstelle und ihr gegenseitiges Aufeinandereinwirken „nicht vollständig mit Hilfe der traditionellen Konzeptionen des Monismus und Dualismus im Verhältnis internes Recht – Völkerrecht beschrieben werden“ könne, sei dieser Widerspruch „im polnischen Rechtssystem in kei-nem Fall durch die Anerkennung einer Überordnung einer Gemeinschaftsnorm im Verhält-nis zu einer Verfassungsnorm“ lösbar.23

Nach dem VerfGH genießen nur solche gemeinschaftsrechtlichen Normen Vorrang, welche die Grenzen der übertragenen Kompetenzen sowie den Subsidiaritäts- und den Verhältnis-mäßigkeitsgrundsatz respektieren, wobei den Mitgliedstaaten diesbezüglich ein Beurtei-lungsrecht verbliebe.24 Allerdings wird nicht näher ausgeführt, wie sie dieses ausüben kön-nen. Bezüglich des Einwandes der Verbindlichkeit der EuGH-Rechtsprechung, auf deren Grund-lage u.a. der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht ausgestaltet wor-den sei, stellte der VerfGH fest, dass er weder die Verfassungsmäßigkeit konkreter Entschei-dungen des EuGH noch einer „ständigen Rechtsprechungslinie“ des EuGH beurteilen kön-ne.25 Unproblematisch ist es zwar, wenn der VerfGH seine Kompetenz zur Überprüfung von EuGH-Entscheidungen verneint. Er übergeht jedoch in seiner Stellungnahme, dass die EuGH-Rechtsprechung, auf die sich die Antragsteller beriefen,26 einen allgemeinen Grund-satz des Gemeinschaftsrechts entwickelt hat.27 Es hatten dem VerfGH also nicht bloß ein-zelne Entscheidungen oder eine „ständige Rechtsprechungslinie“ zur Untersuchung vorge-legen. In der polnischen Lehre war zuvor häufig unterstrichen worden, dass die Annahme von Art. 2 der Akte über die Bedingungen des Beitritts zugleich die Anerkennung des Grundsatzes vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht gemäß der Interpretation durch den EuGH bedeute.28

Gegen den Beitrittsvertrag war auch der Einwand erhoben worden, dass sich die Republik Polen durch ihn einer Struktur supranationalen Charakters und damit keiner internationalen Organisation im Sinne von Art. 90 Abs. 1 Verf anschließen würde. Dazu stellte der VerfGH fest, dass eine Einstufung der EU und der Gemeinschaften als supranationale Organisati-onen keine Begründung im Beitrittsvertrag fände. Der Vertrag wiese die Eigenschaften eines völkerrechtlichen Vertrages im Sinne von Art. 90 Abs. 1 Verf auf und keiner der bean-standeten Normativakte würde die EU als supranationale Organisation bezeichnen. Darüber hinaus würde die Unterscheidung zwischen „internationalen“ und „supranationalen“ Orga-nisationen auf unzureichenden rechtlichen Voraussetzungen beruhen und fände keine Stütze im Völkerrecht.29 Dem ist zuzugestehen, dass die Verfassung in ihrem derzeitigen Wortlaut

22 VerfGH Urt. v. 11.5. 2005 r., III., Pos. 4.2.23 VerfGH Urt. v. 11.5. 2005 r., III., Pos. 6.3. und 6.4.24 VerfGH Urt. v. 11.5. 2005 r., III., Pos. 10.2. f.; dazu Kwiecień, EPS Oktober 2005, 40, 43.25 VerfGH Urt. v. 11.5. 2005 r., III., Pos. 9.26 EuGH Urt. v. 17.12.1970, Rs. 11/70 – „Internationale Handelsgesellschaft“, Slg. 1970, S. 1125 ff.; Urt. v.

15.7.1964, Rs. 6/64 – „Costa v ENEL“, Slg. 1964, 1251 ff.27 Wójtowicz, in: Kruk, a.a.O., 148; Czapliński, in: Kruk, a.a.O., 190 ff; Ahlt/Szpunar, Prawo europejskie, War-

szawa 2005, 43 ff.; Biernat, in: Barcz, Prawo Unii Europejskiej. Zagadnienia systemowe, Warszawa 2003, 234 ff.

28 Działocha, PiP 11/2004, 28; Barcz, KPP 2/2004, 21; Winczorek, PiP 11/2004, 3, 10 f.29 VerfGH Urt. v. 11.5. 2005 r., III., Pos. 8.5.

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nur „internationale“ Organisationen als mögliche Empfänger nationaler Hoheitsrechte be-nennt und insoweit nicht zwischen internationalen und supranationalen Organisationen zu unterscheiden ist. In den Arbeiten an der Verfassung war die Verwendung des Begriffs „su-pranationale Organisation“ erfolglos vorgeschlagen worden.30 In Bezug auf das Völkerrecht erscheint der Standpunkt des VerfGH jedoch als nicht ganz präzise. In der polnischen Lehre sowohl des Völker- wie auch des Gemeinschaftsrechtes finden sich zahlreiche Bezugnah-men auf den Begriff.31

3. Erfordernis der „beiderseitig freundlichen“ Auslegung

Als geeignetestes Mittel, Konfliktsituationen zwischen dem Europarecht und dem natio-nalen Recht weitgehend zu vermeiden, benennt der VerfGH die „freundliche Auslegung“.Eine europarechtsfreundliche Auslegung des nationalen Rechts wird schon lange von der polnischen Lehre als ein sich aus der Mitgliedschaft ergebendes Erfordernis anerkannt.32 In der Verfassungsrechtsprechung hat sie sich mittlerweile zu einem Grundsatz des polnischen Rechts ausgestaltet.33 Bereits vor Polens Beitritt zur EU hatte der VerfGH auf Grund von Art. 68 Assoziierungsabkommen34 die Verpflichtung formuliert, die nationalen Vorschriften so zu interpretieren, dass dies die größte Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht gewährleiste.35 Unter Berufung auf seine früheren Entscheidungen hieß es dann im Urteil vom 24. Oktober 2000: „Bei der Suche nach den Richtungen der Interpretation der pol-nischen Gesetzesbestimmungen ist also die Auslegung vorzuziehen, welche es ermöglicht, einer gesetzlichen Vorschrift die den in der EU gewählten Lösungen nächste Bedeutung zu verleihen.“36 Nach dem Urteil vom Mai 2003 über die Übereinstimmung des Referendums-gesetzes u.a. mit Art. 90 Verf solle die Auslegung der geltenden Gesetze „den Verfassungs-grundsatz der Geneigtheit gegenüber dem Integrationsprozess und der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit berücksichtigen“, der sich aus der Präambel und Art. 9 Verf ergebe.37 Diese Formulierung ließ jedoch noch offen, welchen Inhalt und Umfang der Grundsatz ha-ben und ob er auch die Pflicht zur „freundlichen Auslegung“ umfassen sollte.

30 Biernat, in: Łopatka/Wróbel/Kiewlicz, Państwo prawa. Administracja. Sądownictwo, Warszawa 1999, 37.31 Barcz, Prawo Unii Europejskiej, a.a.O., 54; Kenig-Witkowska, in: Kenig-Witkowska/Łazowski/Ostrihansky,

Prawo instytucjonalne Unii Europejskiej, Warszawa 2004, 26 ff.; Czapliński/Wyrozumska, Prawo między-narodowe publiczne, Warszawa 1999, 265.

32 Wójtowicz, Zasady stosowania prawa wspólnotowego w państwach członkowskich Unii Europejskiej, War-szawa 2003, 20; Łazowski, in: Kenig-Witkowska/Łazowski/Ostrihansky, a.a.O., 274 ff.; Biernat, in: Barcz, Prawo Unii Europejskiej, a.a.O., 261; Ahlt/Szpunar, a.a.O., 30 und 38 f. Kowalik-Bańczyk, EPS Dezember 2005, 9-18

33 Działocha, PiP 11/2004, 28, 32 f.34 Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren

Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Polen andererseits v. 16.12.1991, BGBl. 1993 II, 1317 ff.; ABl.EG 1993 L 348, 2 ff.

35 VerfGH Entscheidung v. 29.9.1997, IV., Pos. 4; Danach habe das EU-Recht zwar noch keine Geltungskraft in Polen, aus Art. 68 und 69 Europa-Abkommen sei das Land aber verpflichtet „alle Anstrengungen zu unterneh-men, um die Übereinstimmung seiner künftigen Gesetzgebung mit der der Gemeinschaft zu gewährleisten. Ausfluss dieser (vor allem Parlament und Regierung auferlegten) Pflicht sei es, die geltenden Gesetze so auszu-legen dass dies „der weitest möglichen Gewährleistung ihrer Übereinstimmung” diene; vgl. auch VerfGH Urt. v. 28.3.2000.; Maniewska, EPS Oktober 2005, 49 -57.

36 VerfGH Urt. v. 24. 10. 2000, III., Pos. 1.37 VerfGH Urt. v. 27.5.2003, III., Pos. 16: Die Gesetzesauslegung sollte „den Verfassungsgrundsatz der Geneigt-

heit gegenüber dem Prozess der Europäischen Integration und der Zusammenarbeit zwischen den Staaten (vgl. Präambel und Art. 9 Verf) berücksichtigen. Nach der Verfassung korrekt und von ihr präferiert ist diejenige Rechtsinterpretation, welcher der Realisierung des genannten Verfassungsgrundsatzes dient.”

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Ausführlich zu den Grundsätzen einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nati-onalen Rechts äußerte sich der VerfGH unmittelbar vor dem Beitritt im Biotreibstoffe-Urteil vom 21. April 200438: „Ab dem 1. Mai 2004 wird Polen den Strukturen der EU angehören, aber bereits im dem Beitritt vorgehenden Zeitraum ist Verpflichtung aller Organe (im der Anpassung unterliegenden Bereich) eine Rechtsinterpretation, welche die europäischen Standards berücksichtigt. [...] Wie allgemein angenommen wird, stellt die Interpretation sowohl ein anerkanntes Instrument der Implementierung des Gemeinschaftsrechts im Allge-meinen wie ein Rechtsanpassungsmittel für die sich auf den Beitritt vorbereitenden Staaten dar... Deshalb erwartet man von Recht anwendenden Organen eine europarechtskonforme Auslegung des internen Rechts (was aus Art. 5 des Römischen Vertrages folgt). Dies be-wirkt, dass auch Gemeinschaftsnormen, die sich als solche nicht zur unmittelbaren Anwen-dung eignen, Bezugspunkt und obligatorisches Kriterium der Erreichung einer konformen Interpretation darstellen. [...] Darüber hinaus wird die Obliegenheit der Verwendung des Europarechts als Maßstab bei der Interpretation des internen Rechts anerkannt (EuGH Ur-teil v. 13.11.1991, Rs. C-106/89 “Marleasing”, Slg. I 4135). Ab dem Moment des Beitritts zur Union hat Polen die Pflicht zur Befolgung der sich aus dem gemeinschaftlichen Besitz-stand (acquis communautaire) ergebenden Interpretationsgrundsätze. Dies betrifft auch die in der Rechtssprechung des VerfGH angewandten Methoden. [...] ‚Die unmittelbare Anwen-dung eines internationalen Vertrages’, von der in der Verfassung die Rede ist, umfasst unter anderem die Heranziehung eines solchen Vertrages bei der Konstruktion des Maßstabs der Verfassungskontrolle des Rechts durch den Verfassungsgerichtshof... [Eine europarechts-freundliche] Auslegung kann man unter der Bedingung (und nur in dem Falle) vornehmen, dass das polnische Recht in der dem förmlichen Beitritt vorgehenden Zeit keine deutlich abweichende Fassung des Problems (Strategie seiner Lösung) anzeigt, [...] aber – falls meh-rere Interpretationsmöglichkeiten bestehen – ist die dem gemeinschaftlichen Besitzstand (acquis communautaire) nächste zu wählen.” In der konkreten Rechtssache wurde auf diese Argumentation eine „Gleichschaltung“ von gemeinschaftsprimärrechtlichen Binnenmarkt- und wirtschaftlicher Betätigungsfreiheit nach Art. 20 i.V.m. 22 Verf gestützt: Ausgangs-punkt war die Feststellung, dass die auch ausländischen Treibstoffproduzenten und -impor-teuren gesetzlich auferlegte Pflicht, in Polen vertriebenen Treibstoffen sog. Biokomponen-ten bei-zumischen, gegenüber Angehörigen anderer Mitgliedstaaten eine im Lichte EuGH-Rechtsprechung unzulässige Beschränkung der Warenverkehrfreiheit darstelle. Dies führte den VerfGH zur folgenden Schlussforderung: „[...] eine im Geiste des Gemeinschaftsrechts vorgenommene Interpretation des Begriffs ‚Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung’ schließt aus: 1. die Möglichkeit, solche gesetzlichen Bestimmungen als in die gesetzgebe-rische Ermessenfreiheit gestellt zu sehen, die offensichtlich gegen für Polen verbindliche internationale Verpflichtungen verstoßen, 2. ein solches Verständnis der wirtschaftlichen Freiheit, welches im polnischen Recht die Tolerierung einer Diskriminierung à rebours zur Folge hätte und polnische Wirtschaftssubjekte beeinträchtigen würde.“39

Die Thesen über die Verpflichtungen bezüglich der Auslegung, welche sich aus dem Asso-ziierungsvertrag bzw. über die Auslegung gemäß dem Verfassungsgrundsatz der Geneigt-heit gegenüber dem Integrationsprozess ergeben, wurden auch in der Entscheidung zur EP-

38 VerfGH Urt. v. 21.4.2004 r., III., Pos. 9 ff.39 VerfGH Urt. v. 21.4.2004 r., III., Pos. 13. Zur Bedeutung dieses Urteils Łętowska, EPS Oktober 2005, 3, 9;

Banaszkiewicz, EPS Dezember 2005, 49, 50.

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Wahlordnung wiederholt.40 In der „Sejm-Senat“-Entscheidung spricht der VerfGH vom „Grundsatz der integrationsfreundlichen Verfassungsauslegung“.41 Obwohl der VerfGH in den zitierten Urteilen keinen einheitlichen Begriff der europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts verwendet, kann man aus ihnen doch das Postulat einer solchen Inter-pretation herleiten, welche der Verwirklichung des Intergrationsprozesses dienlich ist.In seinem jüngsten Urteil zum Beitrittsvertrag führt der VerfGH aus, dass Gemeinschafts-recht und nationales Recht „gemäß dem Grundsatz der beiderseitig freundlichen Auslegung und einer kooperativen gemeinsamen Anwendbarkeit koexistieren“ sollten.42 In Folge des-sen äußert er gegenüber dem EuGH die Erwartung, dass dessen Interpretation des Gemein-schaftsrechts auf dem Subsidiaritätsprinzip, der gegenseitigen Loyalität und der „Geneigt-heit für die nationalen Rechtssysteme“ beruhen sollte. Die Mitgliedstaaten sollten ihrerseits „höchste Standards der Respektierung der Gemeinschaftsnormen“ wahren.43

Die Notwendigkeit eines „Dialogs“ zwischen europäischer und nationaler Verfassungsge-richtsbarkeit, um Konflikte zu vermeiden, wird am Anschluss an die polnische Rechtspre-chung auch in der Literatur betont.44 Den Begriff der „beiderseitig freundlichen Auslegung“ präzisierte die Verfassungsrichterin Ewa Łętowska in einem Aufsatz über den Polyzentris-mus des gegenwärtigen Rechtssystems. Danach ermöglicht eine solche Auslegung, unab-hängig davon, welches Organ sie vornehme und welcher Akt Auslegungsgegenstand sei, die Abgrenzung aber auch das „gemeinsame Funktionieren“ beider Rechtsordnungen. Im Falle einer „beiderseitig freundlichen Auslegung“ würden solche Lösungen von Kollisionen zwi-schen dem nationalen und dem Gemeinschaftsrecht bevorzugt, welche ein gemeinsames Aufeinandereinwirken schützen und nicht zur Eliminierung einer der Rechtsordnungen füh-ren würden. Besonders wichtig sei die Anwendung dieser Auslegung bei der Arbeit der in-nerstaatlichen Gerichte; indem sie das Gemeinschaftsrecht hinreichend berücksichtigten, würden sie die Verlegung des Streites auf die Gemeinschaftsebene vermeiden, wo das nati-onale Recht weder Beurteilungs- noch Interpretationsgegenstand sei.45

Der VerfGH umriss in dem Urteil auch die Grenzen dieser „europafreundlichen” Ausle-gung. In Anlehnung an eine These aus dem Urteil zum EHB stellte er nämlich fest, dass eine unionsrechtsfreundliche Auslegung nicht zu Ergebnissen führen dürfe, die mit dem „ausdrücklichen Wortlaut der Verfassungsnormen“ und einem „Minimum an Funktionsga-rantien“ der Verfassung nicht zu vereinbaren seien.46

40 VerfGH Urt. v. 31.5.2004, III., Pos. 4.41 VerfGH Urt. v. 12.1. 2005, III., Pos. 6. 42 VerfGH Urt. v. 31.5.2005, III., Pos. 2.2.43 VerfGH Urt. v. 31.5.2005, III., Pos. 10.2.44 Vgl. Kwiecień, EPS Oktober 2005, 40, 45.45 Łętowska, PiP 4/2005,3, 9 f.; s. auch EPS Oktober 2005, 3-10.46 VerfGH Urt. v. 31.5.2004, III., Pos. 6.4.

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III. Vorgehen bei Normenkollision

1. Verfassungsverstoß von Ausführungsgesetzen: Das polnische Urteil zum Euro-päischen Haftbefehl im Vergleich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Inhaltliche Widersprüche zwischen Verfassungsnormen und sekundärem Unionsrecht kön-nen einerseits diejenigen Instrumente betreffen, welche die Mitgliedsstaaten durch inner-staatliche Vorschriften umsetzen müssen, und zum anderen solche, welche unmittelbar auch gegenüber Angehörigen der Mitgliedstaaten wirken. Für die Überprüfung eines Verstoßes innerstaatlicher Vorschriften zur Umsetzung von Unionsrecht werden keine Besonderheiten im Vergleich zu sonstigem polnischen Recht akzentuiert.47 Dafür stellt die Verfassung fol-gendes Instrumentarium zur Verfügung: Der VerfGH kann noch vor Abschluss des Gesetz-gebungsverfahrens vom Staatspräsidenten angerufen werden (Art. 122 Abs. 3 Verf), danach besteht die Möglichkeit der abstrakten Normenkontrolle auf Antrag von Verfassungsorganen und deren Mitgliedern (Art. 191), der konkreten bei Vorlage eines Gerichts (Art. 193), wei-terhin können Individuen nach Ausschöpfung des Instanzenzuges Verfassungsbeschwerde einlegen (Art. 79).Ein Muster für den Umgang des VerfGH mit einem Konflikt zwischen der Verfassung und gesetzlichen Vorschriften zur Umsetzung sekundären Europarechts liefert die Entscheidung zum EHB. Aus deutscher Sicht bietet sich dabei ein Vergleich mit dem nur wenig später dazu ergangenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts48 an,49 welches auch in der pol-nischen Strafjustiz Aufmerksamkeit erregt hat.50 Da die unionsrechtlichen Vorgaben die gleichen waren, wird in den Begründungen zu beiden Urteilen zu großen Teilen auf ähn-liche Fragen eingegangen. Abweichend waren allerdings die Verfahrenssituationen, da es in Deutschland um eine Verfassungsbeschwerde ging, in Polen dagegen um die Vorlagefrage eines Strafgerichts im Sinne einer konkreten Normenkontrolle. Unterschiedlich waren auch die verfassungsrechtlichen Ausgangslagen: Das deutsche Grundgesetz war anlässlich der gesetzlichen Einführung des EHB geändert und die Auslieferung von Deutschen unter be-stimmten Voraussetzungen erlaubt worden (Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG). In Polen dagegen blieb die Verfassung, obwohl ihr Art. 55 Abs. 1 die Auslieferung eigener Staatsbürger ausnahms-los untersagte, unverändert, als die Regeln zum EHB ins Strafverfahrensgesetzbuch aufge-nommen wurden.51 Da es hier um die Umsetzung nicht einer Richtlinie, sondern eines im Bereich der polizei-lichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. 29 ff. EUV, sog. „Dritte Säule“ oder auch „Pfeiler“) ergangenen Rahmenbeschlusses gegangen war, nahmen beide Gerichte zu deren Rechtscharakter Stellung. Der VerfGH argumentierte sehr ähnlich wie zwei Mo-

47 So schon Jankowska-Gilberg, EuR 2003, 417, 436 f.; Barcz, KPP 2/2004, 21, 40.48 BVerfG, 2 BvR 2236/04, Urteil v. 18.7.2005, www.bverfg.de/entscheidungen/rs20050718_2bvr223604.html.

Befürwortend: Böhm, NJW 2005, 2588-2592. Kritisch: Hufeld, JuS 2005, 865-871; Vogel, JZ 2005, 801-809.49 S. auch den Vergleich bei Barwina, EPS 1/2006, 19 ff.50 S. die ablehnende Besprechung des Beschlusses des Bezirksgerichts Stettin vom 22.7.2005, Az. III Kop 24/05,

welches die Übergabe eines polnischen Staatsbürgers an die deutschen Strafverfolgungsbehörden aufgrund ei-nes EHB wegen mangelnder Gegenseitigkeit ablehnte, von Hudzik/Paprzycki, EPS Oktober 2005, 46-48.

51 Der Gesetzgeber hatte sich auf den Standpunkt gestellt, die EHB-Übergabe sei ein von der herkömmlichen Auslieferung zu trennendes und daher von Art. 55 Abs. 1 Verf nicht umfasstes Rechtsinstitut. Erklärend sei dazu angemerkt, dass Verfassungsänderungen bisher als mit einem so hohen (politischen) Aufwand verbunden galten, dass es seit 1997 noch zu keiner einzigen gekommen ist.

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nate später der EuGH in der Rechtssache Pupino52: Zunächst warf er die Frage auf, ob er auch hinsichtlich des Unionsrechtes grundsätzlich zu einer integrationsfreundlichen Verfas-sungsauslegung verpflichtet sei. Dazu merkte er an, dass der EUV zwar keine Art. 10 EGV entsprechende Vorschrift enthalte. Dafür würde aber Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV dem Art. 249 Abs. 3 EGV entsprechen und sei der EuGH auch im Bereich der Dritten Pfeilers zum Erlass von Urteilen im Vorabentscheidungsverfahren befugt. Diese Tatsachen verwiesen darauf, dass „die Pflicht zur übereinstimmenden Auslegung nicht ausgeschlossen“ sei.53 Eine Ent-scheidung bleibe jedoch im konkreten Fall entbehrlich, da „die Pflicht zur prounionalen Auslegung des innerstaatlichen Rechts ihre Grenzen hat – und zwar, wenn Folge die Ver-schlechterung der Position des Individuums wäre, insbesondere aber die Schaffung oder Verschärfung strafrechtlicher Verantwortlichkeit.“ Zu einer Verschlechterung der Stellung eines Individuums könne es u.a. dann kommen, wenn dieses aufgrund eines EHB wegen der Begehung einer Tat, welche nach polnischem Recht nicht strafbar sei, übergeben würde.Während der VerfGH für seine Entscheidung dem Unterschied zwischen der Umsetzung einer EG-Richtlinie und der eines EU-Rahmenbeschlusses als unerheblich betrachtet, stellt das BVerfG diesen besonders heraus.54 Es sieht bei der Umsetzung von Rahmenbeschlüssen eine „besondere Verantwortung des Gesetzgebers“.55 Offenbar leitet es diese daraus ab, dass Rahmenbeschlüsse gemäß Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV, auch nach erfolglosem Verstreichen der Umsetzungsfrist, keine unmittelbare Wirkung entfalten können. Ohne diese Auffassung hier bewerten zu wollen56, sei für die polnische Verfassung angemerkt: Die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Umsetzung von EU-Rahmenbeschlüssen ist keine andere und nicht weni-ger intensiv als die zur Umsetzung von EG-Richtlinien; beide folgen aus Art. 91 Abs. 1 Verf. Insofern erscheint es konsequent, wenn der VerfGH auch hinsichtlich der Pflicht zu einer Auslegung gemäß Unionsvorgaben nicht danach unterscheiden möchte, ob diese aus dem Bereich der Ersten oder der Dritten Säule stammen.Die Kassierung der EHB-Ausführungsbestimmungen lag wegen des ziemlich eindeutigen Verfassungswortlautes für den VerfGH näher als für das BVerfG. Geschuldet durch die kla-re Verfassungslage, aber auch die Verfahrensart, kamen im Übrigen Bedenken gegen die Qualität der innerstaatlichen Umsetzungsvorschriften nicht auf.57 Auch hatten die Beteilig-ten übereinstimmend auf die großen Vorzüge des EHB verwiesen. Aus der Urteilsbegrün-dung ergibt sich, dass der Auftrag des Gerichts an die politischen Gewalten nicht die Pro-duktion eines anderen Gesetzes, sondern die Änderung der Verfassung im Sinne einer Zu-lassung der Auslieferung von polnischen Staatsangehörigen jedenfalls an andere EU-Mit-gliedstaaten ist, wofür auch Vorbilder in der Verfassungsrechtsprechung anderer Mitgliedstaaten zitiert werden.58 Dem Auslieferungsverbot wird kein übergeordneter, quasi-naturrechtlicher Gehalt zugesprochen.59 Dafür bietet die polnische Verfassung bereits des-

52 EuGH Urt. v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Maria Pupino. Vgl. zu den Folgen des polnischen Urteils im Lichte der EuGH-Entscheidung Barcz, EPS Oktober 2005, 11-22.

53 VerfGH Urt. v. 27.4.2005, III., Pos. 3.4.54 Vgl. aber Minderheitenvotum von Richter Gerhardt, BVerfG, 2 BvR 2236/04, a.a.O, Abs.-Nr. 188 ff. Kritisch

zur Unterscheidung auch Masing, NJW 2006, 264, 265 f.55 BVerfG, 2 BvR 2236/04, a.a.O, Abs.-Nr. 80.56 Vgl. dazu abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff, BVerfG, 2 BvR 2236/04, a.a.O., Abs.-Nr. 157. S.

dazu im deutschen Schrifttum Vogel, JZ 2005, 801, 805.57 Eine teilweise Beachtung der Kritik des BVerfG am deutschen Umsetzungsgesetz befürwortet für eine polni-

sche Neuregelung Barwina, EPS 1/2006, 19, 27 f. 58 VerfGH Urt. v. 27.4.2005, III., Pos. 5 und 5.7.59 Vgl. dazu abweichende Meinung des Richterin Lübbe-Wolff, BVerfG, 2 BvR 2236/04, a.a.O., Abs.-Nr. 177.

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halb keinen Anlass, da sie konstruktiv nicht zwischen höherrangigen und nachrangigen Vor-schriften unterscheidet60, anders als in Deutschland Art. 79 Abs. 3 GG. Sofern weitere Inte-grationsschritte jeweils mit Verfassungsänderungen flankiert werden, sieht der VerfGH of-fenbar für sich keine Handhabe, dagegen einzuschreiten.Im Moment scheint der VerfGH aber auch nicht den Ehrgeiz zu haben, Polens Mitwirkung in der EU zu blockieren. In seiner Urteilsbegründung beruft er sich auf das „hohe gegensei-tige Vertrauensniveau in die Rechtssysteme der Mitgliedstaaten, die in Anlehnung an Ver-fassungsgrundsätze errichtetet sind, welche den Schutz der grundlegenden Menschen-rechte und -freiheiten gewährleisten. Gemeinsame Standards dieses Schutzes rechtfertigen den Verzicht auf einige formale Garantien, welche die klassischen Instrumente internatio-naler Zusammenarbeit zum Inhalt haben.“61

Von Verantwortungsgefühl gegenüber den Zielen der Integration zeugt, dass der VerfGH das am Verfassungswortlaut gefundene Ergebnis mit der Pflicht aller staatlichen Organe zu ge-meinschaftstreuem Verhalten abwägt. Dies führt zwar nicht zu einer Auslegung gegen den Verfassungswortlaut, aber doch dazu, dass die maximale von der Verfassung zugelassene Frist von 18 Monaten ab Urteilsverkündung ausgeschöpft wird, bis die Entscheidung (ex nunc) rechtswirksam werden soll. So bestünde ausreichend Zeit für eine Verfassungsände-rung. Die Nutzung des Instituts der Verlängerung der Anwendungsfrist für verfassungs-widrig erklärte Vorschriften stelle sicher, „dass (bis zu der Zeit, wenn die Widersprüche in der internen Rechtsordnung beseitigt werden) Polen die von ihm eingegangenen Verpflich-tungen erfüllt“.62 Anders als in Deutschland die Senatsmehrheit63 des BVerfG sieht der VerfGH auch keine Notwendigkeit, das Gesetz insoweit für nichtig zu erklären, wo es nicht gegen die Verfassung verstößt, also hinsichtlich der Übergabe von Ausländern. Das Straf-verfolgungsinteresse und die verbindlichen völkerrechtlichen Verpflichtungen64 werden höher geachtet als die „normative Freiheit“, welchen das BVerfG dem Gesetzgeber schaffen zu müssen meint, indem es die Umsetzungsvorschriften zum Europäischen Haftbefehl sämt-lich aufhebt, damit er neue Vorschriften nach den Vorgaben des Gerichts erlassen kann. Der VerfGH merkt an: „Damit ist die in Teil II dieses Urteils enthaltene Entscheidung zugleich Ausdruck der – aus dem Grundsatz der Teilung und des Zusammenwirkens der Gewalten – hergeleiteten richterlichen Zurückhaltung.“65

In Zukunft muss sich zeigen, ob der VerfGH auch eine Prüfungskompetenz für sich bean-sprucht, wenn der Verstoß von Umsetzungsakten gegen den Verfassungswortlaut weniger eindeutig als beim bisherigen Auslieferungsverbot polnischer Staatsbürger ist und sofern zu Grunde liegende Richtlinien oder Rahmenbeschlüsse dem nationalen Gesetzgeber keinen Umsetzungsspielraum ließen.66 Denkbar wäre es stattdessen, die Grundrechtsüberprüfung dem EuGH zu überlassen. Wäre eine solche Zurückhaltung nach dem Muster der Solange

60 Zu Interpretationsansätzen in der polnischen Literatur, bestimmte besonders wichtige Kernvorschriften auszu-machen, vgl. Jankowska-Gilberg, EuR 2003, 417, 425 f.

61 VerfGH Urt. v. 27.4.2005, III., Pos. 5.9.62 VerfGH Urt. v. 27.4.2005, III., Pos. 5.3.63 BVerfG, 2 BvR 2236/04, a.a.O, Abs..-Nr. 116 ff. Dagegen die abweichende Meinung des Richters Gerhardt,

Abs.-Nr. 196 ff. und der Richterin Lübbe-Wolff, Abs.-Nr 181 f.64 VerfGH Urt. v. 27.4.2005, III., Pos. 5.3.65 Ebd.66 Aus deutscher Perspektive gegen eine Prüfung durch die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit spricht sich inso-

weit Masing, NJW 2006, 264, 265 aus – unter Verweis auf die entsprechenden Ausführungen des BVerfG im Kammerbeschluss v. 9.1.2001, 1 BvR 1036/99, NVwZ 2004, 1346.

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II-Entscheidung des BVerfG67 wünschenswert, so bietet auch der in der polnischen EHB-Entscheidung aufgezeigte Weg der befristeten Weitergeltung der für verfassungswidrig be-fundenen Normen die Chance eines ununterbrochenen Vollzugs des europäischen Rechts. Allerdings wird die Mitverantwortung der Politik damit erhöht: So regt der VerfGH im Falle des EHB eine Verfassungsänderung an, daneben benennt er aber auch (so im Urteil zum Beitrittsvertrag68) die anderen Möglichkeiten, um einen dauerhaften Widerspruch des Uni-onsrechts mit der Verfassung zu vermeiden: In souveräner Entscheidung könnten die staat-lichen Institutionen auf eine Änderung des Gemeinschaftsrechts hinwirken oder aus der EU austreten.69 Zugleich betont er, dass ein solcher Widerspruch nur ausnahmsweise entstehen könne, da die Verfassung und das Gemeinschaftsrecht auf den gleichen Grundannahmen und Werten beruhten, wie sie ihren Ausdruck u.a. in der Konvention zum Schutze der Men-schenrechte und Grundfreiheiten fänden.70 Derzeit kann mit Spannung abgewartet werden, wie die Luxemburger Einschätzung71 hinsichtlich der europäischen Grundrechtskonformi-tät des EHB-Rahmenbeschlusses ausfallen wird, der als solcher weder von den polnischen noch von den deutschen Verfassungshütern bemängelt wurde.

2. Unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht vs. polnisches Recht: Keine Prüfung von EG-Verordnungen durch den VerfGH?

Noch ungeklärt bleiben – auch nach den ersten grundlegenden Entscheidungen zur EU-Mit-gliedschaft – Fragen des Umgangs mit unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht. Das jüngste hier besprochene Urteil ist ein Beispiel für die Verfassungsmäßigkeitskontrolle von Primärrecht durch den VerfGH. Hat er in diesem schon „mittelbar über den Beitrittsvertrag“ die Gründungsverträge in ihrer derzeitigen Fassung einer Prüfung unterzogen, so folgt dar-aus auch eine Zuständigkeit in Bezug auf deren zukünftige Änderungen oder Ersatz durch andere Verträge.72 Dagegen ist eine Prognose schwierig, ob der VerfGH sich für befugt hält, Sekundärrecht, insbesondere EG-Verordnungen, an der Verfassung zu messen. In der bishe-rigen Diskussion wurde die Frage an den möglichen Prüfungsgegenständen festgemacht.73 Nach der Verfassung sind dies Gesetze, völkerrechtliche Verträge und andere Normativakte (Art. 79 I, 188, 193). Eine Zulässigkeit wäre nur dann anzunehmen, wenn EG-Verordnungen als „andere Normativakte“ anzusehen wären. Dieser Begriff müsste dann materiell zu ver-stehen sein und nicht formal beschränkt auf die den Organen der polnischen öffentlichen Gewalt nach der Verfassung zur Verfügung stehenden Instrumente.Einerseits heißt es im Urteil zum Beitrittsvertrag: Die Anwendung der Vorschrift des Art. 31 Abs. 3 Verf (über die Bedingungen einer Zulässigkeit der Anordnung von Begrenzungen des Gebrauchs der konstitutionellen Freiheiten und Rechte) „auf die Ebene der Gemein-

67 BVerfGE 73, 339 (2 BvR 197/83, Beschluss v. 22.10.1986).68 VerfGH Urt. v. 11.5.2005, III., Pos. 7.69 VerfGH Urt. v. 11.5.2005, III., Pos. 6.4.70 VerfGH Urt. v. 11.5.2005, III., Pos. 6.2.71 Eine Gelegenheit dazu hat die Vorlageentscheidung des belgischen Schiedshofes an den EuGH (Rechtssache

303/05) vom 13.7.2005 geliefert.72 VerfGH Urt. v. 11.5.2005, III., Pos. 7.73 Jankowska-Gilberg, EuR 2003, 417, 435 f.; Garlicki, Konstytucja. Wybory. Parlament, Warszawa 2000, 70;

Działocha, in: Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej, Komentarz, Band I, a.a.O., Art. 91, 8 f.; Barcz, PiP 4/1998, 3, 16 f.; Mataczyński, in: Mik, Wymiar sprawiedliwości w Unii Europejskiej, Toruń 2001, 138 ff.; Mik, PiP 1/1998, 38 f.; Wójtowicz, in: Barcz, Prawo Unii Europejskiej, a.a.O., 474 f.

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schaftsrechtssetzung ist nicht gerechtfertigt... Dies beseitigt nicht die Möglichkeit einer Be-urteilung von Rechtsregelungen, darunter gemeinschaftlichen Verordnungen, bezüglich ih-rer Geltung auf dem Gebiet der Republik Polen als Bestandteile der polnischen Rechtsord-nung, u.a. hinsichtlich der Respektierung der aus Art. 31 Abs. 3 Verf folgenden Regeln, insbesondere der erforderlichen Verhältnismäßigkeit der Begrenzungen.“74 In die entgegen-gesetzte Richtung scheinen jedoch Ausführungen zur Befürchtung der Antragsteller zu füh-ren, das Institut der Verfassungsbeschwerde drohe durch eine Ausweitung der Rechtset-zungskompetenzen der Gemeinschaft entwertet zu werden: „Gegenstand der Verfassungs-kontrolle im Wege der [Verfassungs]Beschwerde können – wie bisher – nur Vorschriften des auf dem Gebiet der Republik Polen geltenden Rechts sein (ein Gesetz oder anderer Norma-tivakt)... Wenn der polnische Verfassungsgeber im Ergebnis einer weiteren Integration in die Europäische Union den gegenwärtig ausgestalteten Individualrechtsschutzbehelf in Gestalt der Verfassungsbeschwerde für nicht hinreichend wirksam erachtet, dann bleibt es in der Zuständigkeit des polnischen Verfassungsgebers, ihm in Zukunft eine andere Rechtsgestalt zu verleihen.“75

Dies lässt vermuten, dass der VerfGH EG-Verordnungen nicht als Prüfungsgegenstand der Verfassungsbeschwerde ansieht.76 Eine Verneinung der Zulässigkeit von Verfassungsbe-schwerden scheint nur mit einem formellen Verständnis des Prüfungsgegensandes „Norma-tivakt“ im oben beschriebenen Sinne begründbar zu sein. Konsequenterweise müssten dann jedoch auch Normenkontrollanträge von nach der Verfassung dazu befugten Organen mit der gleichen Begründung scheitern. Soll die zuvor zitierte Annahme von der Möglichkeit einer Überprüfung keine Leerformel sein, stellt sich die Frage, auf welchem Wege eine Kontrolle dann möglich sein soll. Unwahrscheinlich scheint, dass der VerfGH eine solche Berechtigung bei den anderen polnischen Gerichten bestehen sieht, spricht er ihnen doch – nicht unangefochten – das Recht auf eine Verfassungskontrolle von Gesetzen ab.77 Damit ist eine zuständige Instanz nicht ersichtlich. Insofern würde hinsichtlich unmittelbar anwend-baren Sekundärrechts eine Grauzone entstehen, in welcher nach dem VerfGH eigentlich nicht hinnehmbare Widersprüche mit der Verfassung nicht festgestellt werden könnten.Abzuwarten bleibt auch noch das Vorgehen der Gerichte bei einer (angenommenen) Kolli-sion von Gemeinschaftsrecht mit polnischen Gesetzen. Den Anwendungsvorrang der Rechtsakte, welche die Gemeinschaft im Rahmen ihrer Ermächtigung erlässt, ordnet Art. 91 Abs. 3 Verf ausdrücklich an. Im Beitrittsvertragsurteil schildert der VerfGH das Vorabent-scheidungsverfahren nach Art. 234 EGV als die für die polnische Richter zur Ausräumung von Zweifeln durch das Gemeinschaftsrecht gebotene Prozedur.78 In diesem Zusammen-hang spricht er auch von der für die polnischen Richter bestehenden Pflicht zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Dazu dürfte gehören, dass polnische Gerichte kollidierende Ge-setze nicht anwenden sollen, auch ohne dass der VerfGH dies im Einzelfall festzustellen hätte. Ob er sich daneben für befugt hält, ein Gesetz wegen Verstoßes gegen Gemeinschafts-

74 VerfGH Urt. v. 11.5.2005, III., Pos. 18.5.75 VerfGH Urt. v. 11.5.2005, III., Pos. 18.6.76 Anders versteht dies Kwiecień, EPS Oktober 2005, 40, 42.77 So auch schon Jankowska-Gilberg, EuR 2003, 417, 437 ff.; VerfGH Urt. v. 4.10.2000, III., Pos. 3; Urt.

v. 31.1.2001, III., Pos. 17; Urt. v. 4.12.2001, IV., Pos. 2; Mączyński, PiP 5/2000, 3 ff.; Wasilewski, PiP 8/1999, 25 ff.

78 VerfGH Urt. v. 11.5.2005, III., Pos. 10 und 11.

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rechts für unwirksam zu erklären, ist ebenfalls noch nicht geklärt.79 Im (wenige Tage vor dem Beitritt ergangenen) Biotreibstoffe-Urteil betonte der VerfGH zunächst nämlich, dass konkreter Prüfungsmaßstab die in der Verfassung gewährleistete Freiheit der wirtschaft-lichen Betätigung und nicht das Gemeinschaftsrecht sei.80 Da der VerfGH aber die EG-Wa-renverkehrsfreiheit als solche, verbunden mit dem Verbot der Inländerdiskriminierung, in den Begriff der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit aufgenommen ansah, genügte ihm dann für die Aufhebung der gesetzlichen Vorschriften zur Beimischungspflicht von Biokompo-nenten zu Treibstoffen die Feststellung ihres Verstoßes gegen die Warenverkehrsfreiheit.81

IV. Weitere Einzelfragen

1. Wahlen und Unionsbürgerschaft

Die Verfassungsrechtsprechung ging auch auf die Unionsbürgerschaft ein, vor allem im Kontext des Wahlrechts von Bürgern anderer Mitgliedsstaaten. In dem Verfahren über die EP-Wahlordnung hatten sich die Antragsteller auf Art. 4 Verf berufen: „1. Die Hoheitsgewalt in der Republik Polen gehört dem Volk.2. Das Volk übt die Gewalt durch seine Vertreter oder unmittelbar aus.“Nach ihrer Ansicht sollte das Wahlrecht daher nur polnischen Staatsbürgern zustehen. Sie sahen sich auch durch Art. 4 S. 1 der Wahlordnung bestätigt, wonach die EP-Abgeordneten Vertreter der Völker der Europäischen Union seien. Dies bedeute, dass die in Polen gewähl-ten Abgeordneten Vertreter des polnischen Volkes seien, die nur von polnischen Bürgern unter ihresgleichen gewählt werden dürften. Der VerfGH antwortete auf diese Einwände, dass die Verfassung sich auf die Ausübung der Hoheitsgewalt in Polen beziehe und dass die Grundsätze dafür nicht einfach auf andere, außerhalb des polnischen Staates funktionieren-de Strukturen übertragen werden könnten. Deshalb seien diese Grundsätze und der Wahl-prozedur zum EP nicht auf den in Art. 4 Verf enthaltenen Maßstab zu beziehen. Außerdem hätten der in Übereinstimmung mit Art. 90 Abs. 3 Verf ausgeübte Volkswille sowie die Un-terzeichnung und Ratifizierung des Beitrittsvertrages durch die Verfassungsorgane darüber entschieden, dass Polen nicht nur materiellrechtliche Normen, sondern auch „die im Rah-men der Europäischen Union geltenden Entscheidungsprozeduren und die ihnen entspre-chende Struktur der Organe der Europäischen Union“ akzeptiert habe. 82

Bezüglich Art. 4 S. 1 Wahlordnung stellte sich der VerfGH auf den Standpunkt, dass danach die Wählerschaft zum EP keine homogene europäische Bevölkerungsgesamtheit sei, son-dern eine, die sich aus den Völkern der Mitgliedstaaten zusammensetze. „Dies bedeutet je-doch nicht, dass die Verwirklichung der Wahlrechte zum Parlament in exklusiver Weise, im Rahmen derjenigen nationalen Gemeinschaft, zulässig ist, mit welcher einen Menschen das Band der Staatsbürgerschaft verbindet.“ 83 Diese Ausführungen des VerfGH stießen auf Kri-tik in der Lehre. Es wurde u.a. darauf hingewiesen, dass der VerfGH auf der einen Seite die

79 Banaszkiewicz, EPS Dezember 2005, 49, 58, zweifelt an der Prüfungskompetenz des VerfGH, da eine Kollision effektiv durch die Gemeinschaftsgerichte festgestellt werden könne. Das ändert aber nichts an der Frage, ob der VerfGH eine Verwerfungskompetenz hat, gerade auch nach einer entsprechenden Feststellung des EuGH.

80 VerfGH Urt. v. 21.4.2004 r., III., Pos. 10.81 Den Unterschied dieses Ansatzes im Vergleich zu einer direkten Überprüfung am Gemeinschaftsrecht

betont die an der Entscheidung beteiligte Richterin Łętowska in EPS Oktober 2005, 3,9.82 VerfGH Urt. v. 31.5. 2004, III., Pos. 2.83 VerfGH Urt. v. 31.5. 2004, III., Pos. 3.

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Existenz einer „Bevölkerungsgesamtheit der europäischen Bürger“ leugne und andererseits Ausländern, die Unionsbürger seien, im Staate ihres Wohnsitzes das aktive und passive Wahlrecht zuerkenne, obwohl doch die Wahlberechtigung zum EP auf den Bindungen der Staatsangehörigkeit beruhen solle. Gleichzeitig wurde allerdings eine Abmilderung des Wi-derspruches in dem Hinweis des VerfGH gesehen, dass der Rechtscharakter des EP-Abge-ordnetenmandates „nach dem Vorbild eines Vertretermandats, also von Instruktionen frei, konstruiert sei“, also kein Weisungsrecht des Heimatstaates des Abgeordneten bestünde.84

Das EP-Wahlrecht von Bürgern anderer Mitgliedstaaten in Polen stellte die Urteilsbegrün-dung in einen Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft. Nach dem VerfGH ist „das Recht der Unionsbürger auf Teilnahme an den europäischen Wahlen, unabhängig von dem Mitgliedstaat, in dem sie wohnen, eines ihrer Grundrechte… Die Ersetzung des Wahlrechts-kriteriums der Staatsbürgerschaft durch das des Wohnsitzes verbindet sich mit der Einrich-tung der europäischen Bürgerschaft und der Gewährleistung des aktiven und passiven Wahl-rechts zum Europäischen Parlament für jeden Unionsbürger, der in einem Mitgliedsstaat wohnt, dessen Bürger er nicht ist (Art. 19 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemein-schaft).“85 Ergänzt wurden diese Ausführungen durch die Bemerkung, dass die Einräumung des Wahlrechts durch den Wohnsitzmitgliedstaat die „Verwirklichung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung zwischen Personen im Besitz und ohne Besitz der Bürgerschaft des jeweiligen Mitgliedstaates darstellten und zugleich eine Ergänzung des Rechts auf freie Be-wegung und Ansiedlung, gemäß dem EGV.“86

Mit der Regelung der EP-Wahlen musste sich der VerfGH erneut im Verfahren zum Bei-trittsvertrag befassen. Dort hatten die Antragsteller u.a. einen Verstoß von Art. 190 EGV gegen Art. 101 Abs. 1 Verf gerügt. Nach der Verfassungsnorm prüfe nämlich das Oberste Gericht die Gültigkeit der Wahlen zum Sejm und Senat; von der Prüfung derjenigen zum EP, wie sie die einfachgesetzliche Wahlordnung vorsieht, sei darin aber nicht die Rede. Der VerfGH beantwortete dies mit einer ähnlichen Feststellung wie im Verfahren zur EP-Wahl-ordnung: „Es ist nicht ... Funktion der polnischen Verfassung, die Wahl der Organe der Eu-ropäischen Gemeinschaften und Union zu normieren. Dies ist eine Materie der die Europä-ischen Gemeinschaften und die Union konstituierenden völkerrechtlichen Verträge, welche die Republik Polen ratifiziert hat. Aus diesem Grunde sind auch Regelungen über die Kon-trolle der Wirksamkeit der Wahlen zum Europäischen Parlament in den ... Verträgen zu su-chen.“ Das fehlende Interesse des polnischen Verfassungsgebers an der Frage der Rechtmä-ßigkeit der Wahlen zum EP mache die Benennung eines konkreten Kontrollmaßstabes un-möglich, Art. 101 Abs. 1 Verf und Art. 190 EGV regelten voneinander getrennte Fragen.87 Diese Feststellung nahm der VerfGH zum Anlass, den Zusammenhang zwischen dem Wahl-recht und der Unionsbürgerschaft zu unterstreichen: Zwar könne der polnische Gesetzgeber durch ein einfaches Gesetz die Durchführung der EP-Wahlen in Polen regeln. Dabei müsse er aber beachten, dass „das aktive und passive Wahlrecht zum Parlament im Gebiet aller Mitgliedstaaten allen europäischen Bürgern zukäme“, und „den Verfassungsgrundsatz der Geneigtheit gegenüber der europäischen Integration und der zwischenstaatlichen Zusam-menarbeit berücksichtigen.“

84 Szwarc, PiP 5/2005, 116, 119 f.85 VerfGH Urt. v. 31.5.2004, III., Pos. 4.86 VerfGH Urt. v. 31.5.2004, III., Pos. 5.87 VerfGH Urt. v. 11.5.2005, III., Pos. 13.1 – nicht in der auszugsweisen Übersetzung berücksichtigt.

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Sowohl die Universalität des Wahlrechts als auch der Verfassungsgrundsatz der Geneigtheit gegenüber der Europäischen Integration wahrte der VerfGH in seinen Ausführungen im Beitrittsvertragsurteil88 über das Recht von ausländischen Unionsbürgern zur Teilnahme an Kommunalwahlen.89 Die Antragsteller hatten sich auf einen Verstoß von Art. 19 Abs. 1 EGV gegen Art. 62 Abs. 1 Verf berufen:„Ein polnischer Bürger hat das Recht zur Teilnahme an einem Referendum und das Recht zur Wahl des Präsidenten der Republik, der Abgeordneten, Senatoren und Vertreter in den Organen der Gebietsselbstverwaltung, wenn er spätestens am Tag der Abstimmung 18 Jahre vollendet.“Durch den EU-Beitritt würden in der Verfassung polnischen Bürgern garantierte Rechte unrechtmäßig auf andere Personen erstreckt und dadurch beschränkt. Der VerfGH antwor-tete darauf, dass die geltend gemachte „Exklusivität“ der Bürgerrechte keine hinreichende Grundlage in der Verfassung hätte und insbesondere nicht jede Erstreckung eines Bürger-rechtes auf andere Personen zur Verletzung der diesem Recht verliehenen „Verfassungsga-rantie“ führe.90 Außerdem seien die in Art. 19 Abs. 1 EGV verankerten Wahlrechte ein Ausfluss der Unionsbürgerschaft und „praktischer Ausdruck der Anwendung des Gleich-heits- und Nichtdiskriminierungsgrundsatzes“ sowie eine „Konsequenz des Rechts auf freie Bewegung und Wohnsitznahme“, die keine volle praktische Bedeutung ohne das Recht auf Teilnahme an den Wahlen zu den Vertretungsorganen am gewählten Wohnsitz hätten.Bei dieser Gelegenheit gab der VerfGH ein Beispiel für eine „dem Integrationsprozess freundliche“ Auslegung nicht nur von Art. 62 Abs. 1 sondern auch von Art. 16 Abs. 1 Verf, wonach die Allgemeinheit die Einwohner der Gebietseinheiten eine Selbstverwaltungsge-meinschaft bilden. Der VerfGH stellte fest, dass die Verfassung die Zugehörigkeit zu einer Selbstverwaltungsgemeinschaft nicht vom Besitz der polnischen Staatsangehörigkeit abhän-gig mache und bei den Wahlen zur lokalen Selbstverwaltung nicht so sehr die souveränen Rechte des Volkes, sondern eher die Rechte der Einwohnergemeinschaft verwirklicht wer-den, zu der auch die ausländischen Unionsbürger gehörten.91

Eine umfangreiche Passage über die Unionsbürgerschaft und insbesondere ihr Verhältnis zur Staatsbürgerschaft findet sich auch im Urteil zum EHB: Nach dem Beitritt zur EU habe der Begriff der polnischen Staatsbürgerschaft u.a. durch die Normen des Zweiten Teils des EGV, der auf dieser Grundlage entwickelten Rechtsprechung, der Regelungen über den frei-en Personenverkehr und die Niederlassungsfreiheit eine andere Bedeutung erhalten. Da-durch sei „ein Angehöriger eines Mitgliedstaates nach dem Verständnis des Gemein-

88 VerfGH Urt. v. 11.5.2005, III., Pos. 18.2 – nicht in der auszugsweisen Übersetzung berücksichtigt89 Im amtlichen polnischen Text des EGV ist in Art. 19 Abs. 1 von „Lokalwahlen“ (wybory lokalne) die Re-

de, in der englischen von „municipal elections“ in der französischen von „élections municipales“. In der polnischen Rechtssprache gelten als „lokale“ Ebenen die Städte und Kreise, nicht jedoch die Woiwod-schaften (regionale Ebene); aber alle drei sind Einheiten der „Gebietsselbstverwaltung“ (samorząd tery-torialny). Die Verwendung des amtlichen deutschen Ausdrucks „Kommunalwahlen“ kann also zu Missver-ständnissen führen. S. zum System der Selbstverwaltung auf Deutsch den Überblick von Szuster, in: Lieb-scher/Zoll, a.a.O., § 2 Rn. 16 ff.

90 Zur Ausdehnung von Bürgerrechten auf Ausländer im Kontext von Art. 62 Abs. 1 Verf: Działocha, PiP 11/2003, 13, 16 ff. In der Lehre war vor dem Erlass des besprochenen Urteils die Notwendigkeit einer Än-derung von Art. 62 Abs. 1 Verf befürwortet worden, die die Wahlberechtigung von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten klarstellen sollte: Wójtowicz, 83 und Barcz, 22 ff., in: Barcz, Czy zmieniać konstytucję? Ustrojowo-konstytucyjne aspekty przystąpienia Polski do Unii Europejskiej, Warszawa 2002.

91 VerfGH Urt. v. 11.5.2005, III., Pos. 18.2.

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schaftsrechts in den anderen Mitgliedstaaten kein ‚fremdes’ Subjekt.“92 Andererseits un-terstrich der VerfGH die Bedeutung von Art. 17 EGV im Zusammenhang mit dieser Vor-schrift den akzessorischen und abhängigen Charakter93 der Unions- im Verhältnis zur Staatsbürgerschaft. In Bezug auf das Verfassungsverbot der Auslieferung eines polnischen Staatsbürgers führte er aus, dass „selbst wenn sich an die Unionsbürgerschaft die Erlan-gung bestimmter Berechtigungen bindet, dies nicht eine Verringerung der Garantiefunkti-on der Verfassungsvorschriften bewirken kann, welche die Rechte und Freiheiten des In-dividuums betreffen.“ Obgleich die Rolle der Staatsbürgerschaft bei der Bestimmung des Rechtsstatus von Individuen allgemein sinke, sei, allein im Weg der Auslegung, keine Än-derung der Verfassungsvorschriften möglich, welche an die polnische Staatsbürgerschaft bestimmte Konsequenzen knüpfen, in diesem Fall das Auslieferungsverbot.94 Darin findet also die „freundliche“ Auslegung ihre Schranke.95

2. Beteiligung des polnischen Parlaments vor EU-Ratsentscheidungen

In der Entscheidung „Sejm-Senat” erkannte der VerfGH in Art. 9 des Gesetzes über die Zu-sammenarbeit des Ministerrates mit dem Sejm und dem Senat in mit der Mitgliedschaft in der Europäischen Union verbundenen Angelegenheiten (im weiteren ZusG) einen Verfas-sungsverstoß. Die Vorschrift verletze Art. 10 Abs. 2 und 95 Abs. 1 Verf, wonach die gesetz-gebende Gewalt durch den Sejm und den Senat ausgeübt werde. Dieses Urteil betrifft vor-dergründig spezifische Fragen der polnischen Staatsorganisation, nämlich die Beziehungen der Parlamentskammern Sejm und Senat mit der Regierung. Es ist aber insofern von allge-meinerem Interesse, weil es in ihm um die innerstaatliche Qualifikation des Regierungshan-delns im EU-Rat als legislative bzw. exekutive Aufgabe geht und damit verbunden um das Problem der demokratischen Legitimierung der Ratsentscheidungen. In der polnischen Li-teratur wurde mehrfach auf die Bedeutung solcher Regelungen hingewiesen, welche dem Parlament einen tatsächlichen Einfluss auf den Regierungsstandpunkt bei der Rechtsetzung im EU-Rat sichern. 96

Auf Grund von Art. 6 ZusG soll die Regierung beiden Kammern Projekte von EU-Rechts-akten und ihre Auffassungen dazu übermitteln. Innerhalb von 21 Tagen können die auf der Grundlage der Geschäftsordnungen von Sejm und Senat zuständigen Organe (Ausschüsse) ihre Auffassung dazu äußern. Der beanstandete Art. 9 ZusG betrifft die Schlussphase der internen polnischen Vorbereitung des Regierungsstandpunktes. Nach seinem Wortlaut hat die Regierung die Auffassung des zuständigen Sejmausschusses einzuholen und dabei mit-zuteilen, welchen Standpunkt sie bei der Behandlung des Projektes im EU-Rat einzuneh-men gedenkt.

92 VerfGH Urt. v. 27.4.2005, III., Pos. 4.3.93 Ein ähnlicher Hinweis findet sich in BVerfG, 2 BvR 2236/04, a.a.O, Abs..-Nr. 77.94 VerfGH Urt. v. 27.4.2005, III., Pos. 4.3.95 Vgl. die noch stärkere Betonung der Schutzfunktion der Staatsangehörigkeit in BVerfG, 2 BvR 2236/04, a.a.O,

Abs.-Nr. 65 ff. (unter Erwähnung der gegenläufigen internationalen Entwicklung, Abs.-Nr. 71 f.), welche das BVerfG trotz Abschaffung des absoluten Auslieferungsverbots durch den deutschen Verfassungsgeber als durch das Umsetzungsgesetz zum EHB verletzt angesehen hat.

96 Barcz, Czy zmieniać konstytucję?..., a.a.O., 30 ff.; Barcz, 117 ff. und Balicki, 125 ff., in: Rola parlamentów narodowych w perspektywie poszerzenia Unii Europejskiej oraz Konferencji Międzyrządowej 2004, War-szawa 2002; Vgl. zur Rolle der nationalen Parlamente in der EU: Kruk/Popławska, Parlamenty a integracja europejska, Warszawa 2002; Popławska, in: Kruk, a.a.O., 182 ff.

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Der Generalstaatsanwalt und der Sejmmarschall hatten in der Verhandlung vor dem VerfGH vertreten, dass Art. 9 ZusG verfassungsgemäß sei, sei doch die Kontrolle der Regierungstä-tigkeit – allein – dem Sejm zugewiesen (vgl. Art. 95 Abs. 2 Verf). Nach Auffassung des Generalstaatsanwaltes hätten Sejm und Senat aufgrund der Entscheidung des Souveräns einen Teil ihrer Kompetenzen verloren. Außerdem ordne „die Verfassung keine ‚Übertra-gung’ der Mechanismen zur Setzung des polnischen Rechts auf die Prozedur der Ausarbei-tung des polnischen Standpunkts im Unionsrechtssetzungsprozess an, da dies doch eine völlig andere Materie“ sei.Zu dieser Argumentation stellte der VerfGH fest, dass die Verfassung zwar keine Vor-schriften enthalte, welche unmittelbar die Rolle von Sejm und Senat im Prozess der Unions-rechtsetzung regeln würden; unverzichtbar sei jedoch der „Versuch einer solchen Interpre-tation der Verfassungsnormen, welche es ermöglicht, den Einfluss der Organe des pol-nischen Staates (darunter des Parlaments) auf die Unionsrechtsetzung in den bestehenden Rahmen der Staatsorganisation der Republik hineinzukomponieren. Ein solcher Ansatz steht im Übrigen auch im Einklang mit dem Grundsatz der der europäischen Integration gegen-über freundlichen Verfassungsauslegung.“ Wesen der Gesetzgebungsgewalt des Parlaments sei die weitestmögliche Einwirkung auf das im Inland geltende Recht. Der Gesetzgebung seien die Berechtigungen des Parlaments zuzurechnen, welche mit der Einflussnahme auf den Inhalt des polnischen Standpunkts vor dem Forum des EU-Rates in Fragen der Unions-rechtsakte verbunden seien. Die Möglichkeit zur Meinungsäußerung durch das Parlament „ist eine wesentliche Beteiligungsform an der Unionsrechtssetzung. Dank jener Konsultati-on erlangt die innerstaatliche gesetzgebende Gewalt einen gewissen Einfluss auf die Ent-wicklung der gesamten Union. Zugleich ist die Partizipation der nationalen Parlamente im Prozess der Unionsrechtssetzung ein Faktor, der die Glaubwürdigkeit und das demokra-tische Mandat der Organe der Europäischen Union stärkt.“ 97 Bei der Stellungnahme zum von der Regierung im EU-Rat einzunehmenden Standpunkt handelt es sich nach dem VerfGH nicht um Kontrolle der Regierung nach Art. 95 Abs. 2 Verf sondern die Wahrnehmung einer Legislativfunktion, da u.a. die geäußerte Auffassung weder für die Regierung verbindlich sei, noch ihr Pflichten auferlege oder eine Grundlage für ihre Beurteilung durch das Parlament darstelle.98 Die Gesetzgebung werde gemäß Art. 10 Abs. 2 und 95 Abs. 1 Verf von beiden Parlamentskammern ausgeübt: „So lange nach dem Willen des Verfassungsgebers zwei Parlamentskammern existieren, so lange sollte bei-den eine einheitliche Beteiligung bei der Schaffung des Unionsrechts gewährleistet sein. [...] Da die Rolle des in allgemeinen Wahlen gewählten Parlaments in der Praxis auf eine nicht verbindliche Konsultation der Ansichten der ausführenden Gewalt zurückgeführt wur-de, ist eine weiter gehende Beschränkung einer jeden Kammer nicht nur ungerechtfertigt, sondern muss auch als Eingriff in den – in der herrschenden Verfassungsordnung – funda-mentalen Grundsatz des Zweikammersystems angesehen werden.“99

97 VerfGH Urt. v. 12.1.2005, III., Pos. 6. 98 VerfGH Urt. v. 12.1.2005, III., Pos. 8.99 VerfGH Urt. v. 12.1.2005, III., Pos. 10.

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V. Würdigung

In wenigen Jahren hat der polnische VerfGH eine beeindruckende Zahl grundlegender Ver-fahren zur Europäischen Integration bewältigt. Zu entscheidenden Fragen hat er bereits eine eindeutige Stellung bezogen, andere blieben dagegen noch offen.Im Verhältnis zwischen Europarecht und nationalem Recht hat er eine Richtung eingeschla-gen, die gleichermaßen das Funktionieren Polens in der Union wie die Achtung der von der Verfassung beanspruchten Überordnung gewährleisten soll. Danach dürfen Verfassung und Unionsrecht nicht auf Dauer miteinander kollidieren. Dem VerfGH obliegt es, Widersprüche festzustellen, den politischen Staatsgewalten dagegen, sie durch Änderung der Verfassung, Herbeiführung einer EU-Rechtsänderung oder den Austritt aus der Union zu beseitigen. Konflikte sollen jedoch durch eine integrationsfreundliche Auslegung vermieden werden, welche die Verfassung einschließt. Im Gegenzug wird vom EuGH eine den Rechtsord-nungen der Mitgliedstaaten gegenüber wohlgesonnene Auslegung des Unionsrechts erwar-tet. Der VerfGH hält Grundrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in gleichem Maße durch die Rechtsschutzorgane der Union wie durch die polnischen gewährleistet und be-trachtet das Unions- als ein mit dem innerstaatlichen Recht wertegleiches und gleichwer-tiges. Entsprechend dem Fehlen einer – jedenfalls ausdrücklichen – Ewigkeitsgarantie in der Verfassung betrachtet er sich nicht als oberste Instanz zur Entscheidung über die mög-liche Reichweite der Integration. Wie viele staatliche Kompetenzen übertragen werden, soll vom Verfassungsgeber beantwortet werden und wird damit nicht zu einer unüberwindlichen Rechtsfrage.Noch nicht eindeutig entschieden sind jedoch die mit dem „polyzentrischen System“ ver-bundenen praktischen Fragen. Sicher ist bereits, dass der VerfGH die Akte des Primärrechts als völkerrechtliche Verträge einer Verfassungskontrolle unterzieht und ebenso innerstaatli-che Umsetzungsvorschriften zu EG-Richtlinien und EU-Rahmenbeschlüssen, wobei er bis-her noch nicht zwischen Vorschriften unterschieden hat, hinsichtlich derer dem innerstaatli-chen Gesetzgeber ein Umsetzungsspielraum verbleiben und solchen, die zwingenden euro-päischen Vorgaben folgen. Offen bleibt noch die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von unmittelbar anwendbarem Sekundärrecht, insbesondere EG-Verordnungen. Hier verweist der VerfGH derzeit nur auf die Möglichkeit einer Erweiterung seiner Prüfungskompetenzen durch den Verfassungsgeber. Erst wenn der VerfGH sich grundsätzlich als zuständig anse-hen würde, müsste er auch diesbezüglich entscheiden, wie weit er sich angesichts des vom EuGH gewährleisteten Grundrechtschutzes inhaltlich zurücknimmt. Nachdem es zunächst um die Organisation des Beitritts gegangen war, zeigt das Urteil zum Europäischen Haftbefehl, dass Polen mit seinen Anwendungsproblemen des EU-Rechts zu den bisherigen Mitgliedstaaten aufgeschlossen hat. In dieser wie in den anderen Entschei-dungen ist das Vertrauen ermutigend, welches der VerfGH der auf den gleichen Werten wie das unabhängige Polen beruhenden Union als Verbund demokratischer Staaten entgegen-bringt, ebenso seine Sensibilität für die Erfordernisse des Zusammenwirkens in der Ge-meinschaft.

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Verhältnis der Grundfreiheiten zu Regelungen der direkten Steuern in den Mitgliedstaaten

1. Die Artikel 43 EG und 48 EG stehen beim derzeitigen Stand des Gemeinschafts-rechts einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegen, die es einer gebietsansäs-sigen Muttergesellschaft allgemein verwehrt, von ihrem steuerpflichtigen Gewinn Verluste abzuziehen, die einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochter-gesellschaft dort entstanden sind, während sie einen solchen Abzug für Verluste einer gebietsansässigen Tochtergesellschaft zulässt.

2. Es verstößt jedoch gegen die Artikel 43 EG und 48 EG, der gebietsansässigen Mut-tergesellschaft eine solche Möglichkeit dann zu verwehren, wenn die gebietsfremde Tochtergesellschaft die im Staat ihres Sitzes für den von dem Abzugsantrag erfass-ten Steuerzeitraum sowie frühere Steuerzeiträume vorgesehenen Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Verlusten ausgeschöpft hat, gegebenenfalls durch Über-tragung dieser Verluste auf einen Dritten oder ihre Verrechnung mit Gewinnen, die die Tochtergesellschaft in früheren Zeiträumen erwirtschaftet hat, und wenn keine Möglichkeit besteht, dass die Verluste der ausländischen Tochtergesellschaft im Staat ihres Sitzes für künftige Zeiträume von ihr selbst oder von einem Dritten, insbesondere im Fall der Übertragung der Tochtergesellschaft auf ihn, berücksich-tigt werden.

Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 13.12.2005, (Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice (Vereinigtes Königreich)), Marks & Spencer plc/David Halsey (Her Majesty’s Inspector of Taxes), Rs. C-446/03.

Urteil

1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Artikel 43 EG und 48 EG.2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Marks & Spencer

plc (im Folgenden: Marks & Spencer) und der britischen Steuerverwaltung über die Ab-lehnung eines Antrags auf Gewährung eines Steuervorteils, mit dem Marks & Spencer den Abzug der Verluste ihrer in Belgien, in Deutschland und in Frankreich ansässigen Tochtergesellschaften von ihrem steuerpflichtigen Gewinn im Vereinigten Königreich geltend macht.

Rechtlicher Rahmen

3. Die für das Ausgangsverfahren maßgeblichen nationalen Rechtsvorschriften sind im In-come and Corporation Tax Act 1988 (im Folgenden: ICTA) enthalten. Sie werden im Folgenden auf der Grundlage der Angaben in der Vorlageentscheidung wiedergegeben.

Körperschaftsteuerpflicht

4. Gemäß Sections 6 (1) und 11 (1) ICTA sind Gewinne von Unternehmen, die ihren Sitz im Vereinigten Königreich haben oder dort durch eine Zweigniederlassung oder Agen-tur gewerblich tätig sind, körperschaftsteuerpflichtig.

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5. Gemäß Section 8 (1) ICTA sind gebietsansässige Gesellschaften mit ihren weltweit er-wirtschafteten Gewinnen körperschaftsteuerpflichtig. Gebietsfremde Gesellschaften sind gemäß Section 11 (1) nur mit den Gewinnen körperschaftsteuerpflichtig, die ihrer Zweigniederlassung oder Agentur im Vereinigten Königreich zuzurechnen sind.

6. Nach den Steuerabkommen, die das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordir-land insbesondere mit dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik geschlossen hat, unterliegen die ausländischen Tochterge-sellschaften von gebietsansässigen Gesellschaften als gebietsfremde Gesellschaften der britischen Körperschaftsteuer mit ihrer gewerblichen Tätigkeit nur, soweit diese im Ver-einigten Königreich durch eine Betriebsstätte im Sinne dieser Abkommen ausgeübt wird.

7. Zur Vermeidung der Doppelbesteuerung besteht im Vereinigten Königreich ein System von Steuergutschriften.

8. Dieses System weist die beiden folgenden Merkmale auf:9. Erstens wird eine im Vereinigten Königreich ansässige Gesellschaft, die in einem ande-

ren Mitgliedstaat durch eine dort ansässige Zweigniederlassung gewerblich tätig ist, ent-weder im Vereinigten Königreich für Gewinne dieser Zweigniederlassung besteuert und zieht von der fälligen Steuer die in einem anderen Mitgliedstaat entrichtete Steuer ab, oder ihr wird gestattet, diese Steuer bei der Berechnung der Gewinne oder Verluste der im Vereinigten Königreich ansässigen Zweigniederlassung abzuziehen. Der Betriebsge-winn der Zweigniederlassung wird nach den steuerrechtlichen Regeln des Vereinigten Königreichs ermittelt. Ein Betriebsverlust kann mit dem Gewinn der im Vereinigten Königreich ansässigen Zweigniederlassung verrechnet werden. Nicht verrechnete Ver-luste können auf spätere Rechnungsjahre übertragen werden. Der Umstand, dass der Verlust in dem anderen Mitgliedstaat auf die künftigen Gewinne der Zweigniederlas-sung übertragbar ist, steht seiner Verrechnung mit den Gewinnen im Vereinigten König-reich nicht entgegen.

10. Zweitens wird eine im Vereinigten Königreich ansässige Gesellschaft, die in einem an-deren Mitgliedstaat durch eine dort ansässige Tochtergesellschaft gewerblich tätig ist, im Vereinigten Königreich für von dieser Tochtergesellschaft ausgeschüttete Dividenden besteuert und erhält eine Steuergutschrift in Höhe der Steuer, die in dem anderen Mit-gliedstaat auf die Gewinne, aus denen die Dividenden ausgeschüttet wurden, entrichtet wurde, sowie der gegebenenfalls entrichteten Quellensteuer. Falls die Rechtsvorschriften über die Besteuerung beherrschter ausländischer Gesellschaften nicht anwendbar sind, wird die Muttergesellschaft nicht für von ihrer gebietsfremden Tochtergesellschaft aus-geschüttete Dividenden besteuert und kann auch deren Verluste nicht mit ihren Gewin-nen verrechnen.

11. Gemäß Section 208 ICTA werden Dividenden, die an eine im Vereinigten Königreich ansässige Muttergesellschaft von einer ebenfalls dort ansässigen Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden, anders als Dividenden, die von einer in einem anderen Mitglied-staat ansässigen Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden, nicht besteuert.

Sonderregelung für Verluste im Rahmen von Konzernen (Konzernabzug)

12. Im Vereinigten Königreich können gebietsansässige Gesellschaften aufgrund einer Re-gelung über den Konzernabzug untereinander ihre Gewinne und Verluste verrechnen.

13. Section 402 ICTA bestimmt:

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EuR – Heft 2 – 2006268 Rechtsprechung

„(1) Gemäß diesem Kapitel und Section 492 (8) kann ein Abzug von der Körper-schaftsteuer für Betriebsverluste und sonstige im Rahmen der Körperschaftsteuer abzugsfähige Beträge gemäß den … in den Subsections (2) und (3) aufgeführten Fällen von einer übertragenden Gesellschaft (übertragende Gesellschaft) übertra-gen werden und von einer anderen Gesellschaft (antragstellende Gesellschaft) auf Antrag in Form des so genannten Konzernabzugs vorgenommen werden.

(2) Der Konzernabzug kann gewährt werden, wenn die übertragende und die antrag-stellende Gesellschaft zum selben Konzern gehören …“

14. Section 403 ICTA bestimmt: „(1) Hat die übertragende Gesellschaft in einem Rechnungsjahr (Übertragungszeit-

raum) a) Betriebsverluste …, so kann dieser Verlust gemäß den Bestimmungen dieses

Kapitels bei der Körperschaftsteuer vom Gesamtgewinn der antragstellenden Gesellschaft im entsprechenden Geschäftsjahr abgesetzt werden.“

15. In Bezug auf die Rechnungsjahre, die vor dem 1. April 2000 endeten, bestimmt Section 413 (5) ICTA:

„Als Gesellschaft im Sinne dieses Kapitels gelten nur Körperschaften mit Sitz im Verei-nigten Königreich …“

16. Seit dem Rechnungsjahr 2000 ist infolge einer auf das Urteil des Gerichtshofes vom 16. Juli 1998 in der Rechtssache C-264/96 (ICI, Slg. 1998, I-4695) zurückgehenden Ge-setzesänderung der Konzernabzug auf Gewinne und Verluste beschränkt, die in den An-wendungsbereich des Steuerrechts des Vereinigten Königreichs fallen.

17. Infolge dieser Gesetzesänderung– können Verluste einer im Vereinigten Königreich ansässigen Zweigniederlassung ei-

ner gebietsfremden Gesellschaft auf eine andere Konzerngesellschaft übertragen wer-den, um von deren steuerpflichtigen Gewinnen im Vereinigten Königreich abgezogen zu werden;

– können Verluste einer im Vereinigten Königreich ansässigen Konzerngesellschaft auf die Zweigniederlassung übertragen werden, um von deren Gewinnen im Vereinigten Königreich abgezogen zu werden.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18. Marks & Spencer ist eine in England und Wales gegründete und im Handelsregister ein-getragene Gesellschaft. Sie hat Tochtergesellschaften im Vereinigten Königreich und in anderen Staaten. Sie ist eines der führenden Einzelhandelsunternehmen im Vereinigten Königreich für Bekleidung, Lebensmittel, Haushaltswaren und Finanzdienstleistungen.

19. 1975 begann sie mit der Eröffnung eines Geschäfts in Paris ihre Expansion in andere Staaten. Ende der neunziger Jahre verfügte sie über Verkaufsstellen in über 36 Ländern mit einem Netz von Tochtergesellschaften und einem System von Franchiseverträgen.

20. Mitte der neunziger Jahre zeichnete sich eine Tendenz zu steigenden Verlusten ab. 21. Im März 2001 kündigte Marks & Spencer an, dass sie sich aus ihrem kontinentaleuropä-

ischen Geschäft zurückziehen wolle. Am 31. Dezember 2001 hatte sie die französische Tochtergesellschaft an Dritte verkauft, und die übrigen Tochtergesellschaften, darunter auch die deutsche und die belgische, hatten ihre gewerbliche Tätigkeit eingestellt.

22. Im Vereinigten Königreich beantragte Marks & Spencer Konzernabzug gemäß Anhang 17a Absatz 6 ICTA für die Verluste ihrer in Belgien, in Deutschland und in Frankreich

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ansässigen Tochtergesellschaften in den vier jeweils am 31. März 1998, 1999, 2000 und 2001 abgelaufenen Rechnungsjahren. Wie aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervorgeht, sind sich die Parteien darüber einig, dass die Verluste nach britischem Steu-errecht zu berechnen sind. Auf Aufforderung der Steuerverwaltung berechnete Marks & Spencer die Verluste auf dieser Basis neu.

23. Die genannten Tochtergesellschaften hatten ihre gewerbliche Tätigkeit im Mitgliedstaat ihres Sitzes ausgeübt. Sie hatten im Vereinigten Königreich, wo sie nicht gewerblich tätig waren, keine Betriebsstätte.

24. Die Anträge auf Konzernabzug wurden mit der Begründung abgelehnt, dass ein Kon-zernabzug nur für Verluste im Vereinigten Königreich zulässig sei.

25. Die von Marks & Spencer gegen diesen ablehnenden Bescheid bei den Special Com-missioners of Income Tax erhobene Klage hatte keinen Erfolg.

26. Marks & Spencer legte gegen diese Entscheidung Rechtsmittel beim High Court of Ju-stice (England & Wales), Chancery Division, ein. Dieser hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen vorgelegt:1. Stellt es eine Beschränkung im Sinne von Artikel 43 EG in Verbindung mit Artikel 48

EG dar, wenn– Vorschriften eines Mitgliedstaats wie die Bestimmung des Vereinigten Königreichs

über den Konzernabzug eine Muttergesellschaft, die in diesem Staat Steuerinlän-der ist, daran hindern, ihre steuerpflichtigen Gewinne in diesem Staat dadurch zu senken, dass sie sie mit Verlusten verrechnet, die Tochtergesellschaften in anderen Mitgliedstaaten, in denen sie Steuerinländer sind, entstanden sind, während eine solche Verrechnung möglich wäre, wenn es sich um Verluste von im Sitzstaat der Muttergesellschaft ansässigen Tochtergesellschaften handelte;

– im Mitgliedstaat der Muttergesellschaft– eine Gesellschaft mit Sitz in diesem Staat für ihren gesamten Gewinn, einschließ-

lich des Gewinns von Zweigniederlassungen in anderen Mitgliedstaaten, körper-schaftsteuerpflichtig ist, wobei für die in einem anderen Mitgliedstaat angefallenen Steuern eine Regelung zur Vermeidung der Doppelbesteuerung besteht, nach der Verluste von Zweigniederlassungen bei diesen steuerpflichtigen Gewinnen berück-sichtigt werden;

– die nicht ausgeschütteten Gewinne von in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften nicht körperschaftsteuerpflichtig sind;

– die Muttergesellschaft für alle Gewinnausschüttungen in Form von Dividenden, die die Tochtergesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat vorgenommen hat, körperschaftsteuerpflichtig ist, während die Muttergesellschaft für Gewinn-ausschüttungen in Form von Dividenden durch im Sitzstaat der Muttergesellschaft ansässige Tochtergesellschaften nicht körperschaftsteuerpflichtig ist;

– die Muttergesellschaft zur Vermeidung der Doppelbelastung für die auf Dividen-den erhobene Quellensteuer und sonstige ausländische Steuern, die für Gewinne entrichtet wurden, aus denen in anderen Mitgliedstaaten ansässige Tochtergesell-schaften Dividenden ausgeschüttet haben, eine Steuergutschrift erhält?

– Wenn ja, ist diese Beschränkung nach Gemeinschaftsrecht gerechtfertigt?2. a). Welchen Unterschied macht es gegebenenfalls für die Antwort auf die erste Frage,

dass es je nach Gesetzeslage im Mitgliedstaat der Tochtergesellschaft unter gewissen Umständen möglich ist oder möglich sein kann, einige oder alle Verluste der Tochter-gesellschaft mit steuerpflichtigen Gewinnen in ihrem Sitzstaat zu verrechnen?

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b) Falls sich ein Unterschied ergibt, welche Bedeutung kommt dann gegebenenfalls dem Umstand zu, dass– eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft ihre gewerbliche

Tätigkeit eingestellt hat und, obwohl in diesem Staat unter bestimmten Vorausset-zungen ein Verlustabzug vorgesehen ist, nicht nachweisen kann, dass ihr dieser tatsächlich gewährt wurde;

– eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft an einen Dritten verkauft wurde und, obwohl in diesem Staat unter bestimmten Voraussetzungen ein Verlustabzug vorgesehen ist, nicht sicher ist, ob dieser im konkreten Fall vorge-nommen wurde;

– die Voraussetzungen, unter denen der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft die Ver-luste von im Vereinigten Königreich ansässigen Gesellschaften berücksichtigt, un-abhängig davon Anwendung finden, ob auch in einem anderen Mitgliedstaat ein Verlustabzug stattfindet?

c) Würde es einen Unterschied machen, wenn nachgewiesen werden könnte, dass in dem Mitgliedstaat, in dem die Tochtergesellschaft ihren Sitz hat, ein Verlustabzug stattge-funden hat, und wenn ja, wäre es von Bedeutung, wenn der Abzug später von einem unverbundenen Konzern vorgenommen wurde, an den die Tochtergesellschaft ver-kauft wurde?

Zur ersten Frage

27. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Artikel 43 EG und 48 EG der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die es ei-ner gebietsansässigen Muttergesellschaft verwehrt, von ihrem steuerpflichtigen Gewinn Verluste abzuziehen, die einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesell-schaft dort entstanden sind, während sie einen solchen Abzug für Verluste einer gebiets-ansässigen Tochtergesellschaft zulässt.

28. Es geht demnach um die Frage, ob eine solche Regelung eine den Artikeln 43 EG und 48 EG zuwiderlaufende Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellt.

29. Hierzu ist festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung die direkten Steuern zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, dass diese ihre Befugnisse aber unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben müssen (vgl. insbesondere Urteil vom 8. März 2001 in den Rechtssachen C-397/98 und C-410/98, Metallgesellschaft u. a., Slg. 2001, I-1727, Randnr. 37 und die angeführte Rechtsprechung).

30. Mit der Niederlassungsfreiheit, die Artikel 43 EG den Staatsangehörigen der Mitglied-staaten zuerkennt und die für sie die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstä-tigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen unter den gleichen Bedin-gungen wie den im Recht des Niederlassungsstaats für dessen eigene Angehörigen fest-gelegten umfasst, ist gemäß Artikel 48 EG für die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Haupt-verwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben, das Recht verbunden, ihre Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat durch eine Tochtergesell-schaft, Zweigniederlassung oder Agentur auszuüben (vgl. Urteil vom 21. September 1999 in der Rechtssache C-307/97, Saint-Gobain ZN, Slg. 1999, I-6161, Randnr. 35).

31. Auch wenn die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit nach ihrem Wortlaut die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sichern sollen, so verbieten sie es doch

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ebenfalls, dass der Herkunftsstaat die Niederlassung seiner Staatsangehörigen oder ei-ner nach seinem Recht gegründeten Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat behin-dert (vgl. u. a. Urteil ICI, Randnr. 21).

32. Ein Konzernabzug wie der im Ausgangsverfahren streitige stellt für die betreffenden Gesellschaften eine Steuervergünstigung dar. Er beschleunigt den Ausgleich der Verlus-te der defizitären Gesellschaften durch ihre unmittelbare Verrechnung mit den Gewin-nen anderer Konzerngesellschaften und verschafft dem Konzern dadurch einen Liquidi-tätsvorteil.

33. Ist eine solche Vergünstigung im Hinblick auf Verluste einer in einem anderen Mitglied-staat ansässigen Tochtergesellschaft, die im Mitgliedstaat der Muttergesellschaft nicht wirtschaftlich tätig ist, ausgeschlossen, so ist dies geeignet, die Muttergesellschaft in der Ausübung ihrer Niederlassungsfreiheit zu behindern, da sie dadurch von der Gründung von Tochtergesellschaften in anderen Mitgliedstaaten abgehalten wird.

34. Ein solcher Ausschluss beschränkt damit die Niederlassungsfreiheit im Sinne der Arti-kel 43 EG und 48 EG, da er zu einer unterschiedlichen steuerlichen Behandlung von Verlusten einer gebietsansässigen und solchen einer gebietsfremden Tochtergesellschaft führt.

35. Eine derartige Beschränkung kann nur zulässig sein, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem EG-Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwin-gende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. In einem solchen Fall muss allerdings ihre Anwendung zur Erreichung des damit verfolgten Zieles geeignet sein und darf nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (Urteile vom 15. Mai 1997 in der Rechtssache C-250/95, Futura Participations und Singer, Slg. 1997, I-2471, Randnr. 26, sowie vom 11. März 2004 in der Rechtssache C-9/02, De Lasteyrie du Sail-lant, Slg. 2004, I-2409, Randnr. 49).

36. Das Vereinigte Königreich und die anderen Mitgliedstaaten, die im vorliegenden Ver-fahren Erklärungen eingereicht haben, machen geltend, dass sich die gebietsansässigen und die gebietsfremden Tochtergesellschaften hinsichtlich einer Konzernabzugsregelung wie der hier streitigen nicht in der gleichen steuerrechtlichen Lage befänden. Nach dem im Völkerrecht wie im Gemeinschaftsrecht geltenden Territorialitätsprinzip fehle dem Mitgliedstaat des Sitzes der Muttergesellschaft die Steuerhoheit gegenüber gebietsfrem-den Tochtergesellschaften. Diese stehe nach der auf diesem Gebiet üblichen Aufteilung grundsätzlich den Staaten zu, in deren Gebiet die Tochtergesellschaften ansässig und wirtschaftlich tätig seien.

37. Hierzu ist festzustellen, dass im Steuerrecht der Sitz des Steuerpflichtigen ein Kriterium sein kann, das nationale Regelungen, die zu einer Ungleichbehandlung von gebietsan-sässigen und gebietsfremden Steuerpflichtigen führen, rechtfertigen kann. Jedoch ist der Sitz nicht immer ein gerechtfertigtes Unterscheidungskriterium. Könnte nämlich der Mitgliedstaat der Niederlassung nach seinem Belieben eine Ungleichbehandlung allein deshalb vornehmen, weil sich der Sitz einer Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat befindet, so würde diese Vorschrift ihres Sinnes entleert (vgl. Urteil vom 28. Januar 1986 in der Rechtssache 270/83, Kommission/Frankreich, Slg. 1986, 273, Randnr. 18).

38. In jedem Einzelfall ist zu prüfen, ob die Beschränkung der Anwendung einer Steuerver-günstigung auf gebietsansässige Steuerpflichtige durch objektive, relevante Kriterien gestützt ist, die geeignet sind, die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.

39. In einer Situation wie der des Ausgangsrechtsstreits steht es zwar mit dem – im interna-tionalen Steuerrecht geltenden und vom Gemeinschaftsrecht anerkannten – Territoriali-

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tätsprinzip im Einklang, wenn der Mitgliedstaat des Sitzes der Muttergesellschaft die gebietsansässigen Gesellschaften für ihren weltweit erwirtschafteten Gewinn und die gebietsfremden Gesellschaften ausschließlich für den Gewinn aus ihrer inländischen Tätigkeit besteuert (vgl. insbesondere das Urteil Futura Participations und Singer, Rand-nr. 22).

40. Der Umstand allein, dass dieser Mitgliedstaat den Gewinn gebietsfremder Tochterge-sellschaften einer in seinem Gebiet ansässigen Muttergesellschaft nicht besteuert, recht-fertigt jedoch noch keine Beschränkung des Konzernabzugs auf Verluste der gebietsan-sässigen Tochtergesellschaften.

41. Zur Beurteilung der Frage, ob eine solche Beschränkung gerechtfertigt ist, ist zu unter-suchen, welche Folgen es hätte, eine Vergünstigung wie die im Ausgangsverfahren strei-tige uneingeschränkt auszudehnen.

42. Hierzu haben das Vereinigte Königreich und die anderen Mitgliedstaaten, die Erklä-rungen eingereicht haben, drei Rechtfertigungsgründe vorgetragen.

43. Erstens handele es sich bei Gewinnen und Verlusten steuerrechtlich gesehen um die zwei Seiten derselben Medaille, die im Rahmen eines Steuersystems spiegelbildlich zu behandeln seien, um eine ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zu wahren. Zweitens bestehe, wenn die Verluste im Mitgliedstaat der Muttergesellschaft berücksichtigt würden, die Gefahr einer doppelten Verlustbe-rücksichtigung. Drittens bestehe, wenn die Verluste nicht im Mitgliedstaat der Nieder-lassung der Tochtergesellschaft berücksichtigt würden, eine Steuerfluchtgefahr.

44. Zum ersten Rechtfertigungsgrund ist daran zu erinnern, dass der Rückgang von Steuer-einnahmen nicht als zwingender Grund des Allgemeininteresses betrachtet werden kann, der zur Rechtfertigung einer grundsätzlich gegen eine Grundfreiheit verstoßenden Maß-nahme angeführt werden kann (vgl. insbesondere Urteil vom 7. September 2004 in der Rechtssache C-319/02, Manninen, Slg. 2004, I-7477, Randnr. 49 und die angeführte Rechtsprechung).

45. Es kann jedoch, wie das Vereinigte Königreich zu Recht ausführt, zur Wahrung der Auf-teilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten erforderlich sein, auf die wirtschaftliche Tätigkeit der in einem dieser Staaten niedergelassenen Gesellschaften sowohl in Bezug auf Gewinne als auch auf Verluste nur dessen Steuerrecht anzuwen-den.

46. Würde nämlich den Gesellschaften die Möglichkeit eingeräumt, für die Berücksichti-gung ihrer Verluste im Mitgliedstaat ihrer Niederlassung oder aber in einem anderen Mitgliedstaat zu optieren, so würde dadurch die Ausgewogenheit der Aufteilung der Be-steuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigt, da die Be-steuerungsgrundlage im ersten Staat um die übertragenen Verluste erweitert und im zweiten Staat entsprechend verringert würde.

47. Zum zweiten Rechtfertigungsgrund – doppelte Verlustberücksichtigung – ist anzuerken-nen, dass die Mitgliedstaaten dies verhindern können müssen.

48. Tatsächlich ist eine Ausdehnung des Konzernabzugs auf gebietsfremde Tochtergesell-schaften mit einer solchen Gefahr verbunden. Sie wird durch eine Regelung vermieden, die einen Abzug dieser Verluste ausschließt.

49. Was schließlich den dritten Rechtfertigungsgrund – Steuerfluchtgefahr – angeht, so ist anzuerkennen, dass die Möglichkeit der Übertragung von Verlusten einer gebietsfrem-den Tochtergesellschaft auf eine gebietsansässige Gesellschaft die Gefahr birgt, dass die Verlustübertragungen innerhalb eines Gesellschaftskonzerns in Richtung der Gesell-

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273EuR – Heft 2 – 2006Rechtsprechung

schaften geleitet werden, die in den Mitgliedstaaten ansässig sind, in denen die höchsten Steuersätze gelten und folglich der steuerliche Wert der Verluste am höchsten ist.

50. Ein Ausschluss des Konzernabzugs für Verluste von gebietsfremden Tochtergesell-schaften verhindert solche Praktiken, die durch das Bestehen deutlicher Unterschiede in den Steuersätzen der verschiedenen Mitgliedstaaten veranlasst sein könnten.

51. Insgesamt ergibt sich aus diesen drei Rechtfertigungsgründen, dass eine beschränkende Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige zum einen ein berechtigtes und mit dem EG-Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt und zwingenden Gründen des Allge-meininteresses entspricht und dass sie zum anderen zur Erreichung dieser Ziele geeignet ist.

52. Dieser Beurteilung stehen die im zweiten Teil der ersten Frage enthaltenen Angaben zu den im Vereinigten Königreich geltenden Regelungen betreffend– die Gewinne und die Verluste einer ausländischen Zweigniederlassung einer in die-

sem Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft,– die Dividenden, die an eine in diesem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft von einer

in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden,nicht entgegen.

53. Es ist jedoch zu prüfen, ob die beschränkende Maßnahme nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die verfolgten Ziele zu erreichen.

54. Marks & Spencer und die Kommission haben nämlich vorgetragen, dass weniger belas-tende Maßnahmen als ein allgemeiner Ausschluss in Frage kämen. Als Beispiele nann-ten sie die Möglichkeit, den Abzug davon abhängig zu machen, dass die ausländische Tochtergesellschaft sämtliche in ihrem Sitzmitgliedstaat bestehenden Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Verlusten ausgeschöpft hat. Außerdem nannten sie die Möglich-keit, den Abzug davon abhängig zu machen, dass spätere Gewinne der gebietsfremden Tochtergesellschaft in Höhe der vorher verrechneten Verluste zu den steuerpflichtigen Gewinnen der Gesellschaft, die von dem Konzernabzug Gebrauch gemacht hat, wieder hinzugerechnet werden.

55. Der Gerichtshof ist insoweit der Auffassung, dass die im Ausgangsverfahren streitige beschränkende Maßnahme dann über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die ver-folgten Ziele im Wesentlichen zu erreichen, wenn – die gebietsfremde Tochtergesellschaft die im Staat ihres Sitzes für den von dem Ab-

zugsantrag erfassten Steuerzeitraum sowie frühere Steuerzeiträume vorgesehenen Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Verlusten ausgeschöpft hat, gegebenenfalls durch Übertragung dieser Verluste auf einen Dritten oder ihre Verrechnung mit Ge-winnen, die die Tochtergesellschaft in früheren Zeiträumen erwirtschaftet hat, und

– keine Möglichkeit besteht, dass die Verluste der ausländischen Tochtergesellschaft im Staat ihres Sitzes für künftige Zeiträume von ihr selbst oder von einem Dritten, insbe-sondere im Fall der Übertragung der Tochtergesellschaft auf ihn, berücksichtigt wer-den.

56. Sofern die gebietsansässige Muttergesellschaft gegenüber den Steuerbehörden nach-weist, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind, verstößt es gegen die Artikel 43 EG und 48 EG, wenn es ihr verwehrt wird, von ihrem steuerpflichtigen Gewinn die Verluste ih-rer gebietsfremden Tochtergesellschaft abzuziehen.

57. In diesem Kontext ist noch hinzuzufügen, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, natio-nale Maßnahmen beizubehalten oder zu erlassen, die speziell bezwecken, nur zur Um-gehung des nationalen Steuerrechts oder zur Steuerflucht geschaffene Sachverhalte von

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EuR – Heft 2 – 2006274 Rechtsprechung

einem Steuervorteil auszuschließen (vgl. in diesem Sinne Urteile ICI, Randnr. 26, und De Lasteyrie du Saillant, Randnr. 50).

58. Im Übrigen bedürfen, soweit es andere, weniger belastende Maßnahmen geben sollte, solche Maßnahmen jedenfalls einer vom Gemeinschaftsgesetzgeber zu erlassenden Har-monisierungsregelung.

59. Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Artikel 43 EG und 48 EG beim der-zeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht ent-gegenstehen, die es einer gebietsansässigen Muttergesellschaft allgemein verwehrt, von ihrem steuerpflichtigen Gewinn Verluste abzuziehen, die einer in einem anderen Mit-gliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft dort entstanden sind, während sie einen sol-chen Abzug für Verluste einer gebietsansässigen Tochtergesellschaft zulässt. Es verstößt jedoch gegen die Artikel 43 EG und 48 EG, der gebietsansässigen Muttergesellschaft eine solche Möglichkeit dann zu verwehren, wenn die gebietsfremde Tochtergesellschaft die im Staat ihres Sitzes für den von dem Abzugsantrag erfassten Steuerzeitraum sowie frühere Steuerzeiträume vorgesehenen Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Verlus-ten ausgeschöpft hat, gegebenenfalls durch Übertragung dieser Verluste auf einen Drit-ten oder ihre Verrechnung mit Gewinnen, die die Tochtergesellschaft in früheren Zeiträu-men erwirtschaftet hat, und wenn keine Möglichkeit besteht, dass die Verluste der aus-ländischen Tochtergesellschaft im Staat ihres Sitzes für künftige Zeiträume von ihr selbst oder von einem Dritten, insbesondere im Fall der Übertragung der Tochtergesell-schaft auf ihn, berücksichtigt werden.

Zur zweiten Frage

60. In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantwor-ten.

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Die Rechtssache Marks & Spencer und ihre Folgen

– Anmerkung zum Urteil des EuGH v. 13.12.2005, Rs. C-446/03

Von Daniel Dürrschmidt und Martin Schiller, Erlangen-Nürnberg*

I. Einleitung

Der EuGH hat am 13.12.2005 sein Urteil in der Rechtssache Marks & Spencer1 gefällt. Sel-ten wurde eine Entscheidung des EuGH auf dem Gebiet der direkten Steuern in der Fach-2, aber auch in der Allgemeinpresse3 mit so großer Spannung erwartet wie in diesem Fall4. Der Grund dafür ist in den weitreichenden Konsequenzen zum einen für die Mitgliedstaaten der EG5, zum anderen aber auch für grenzüberschreitend tätige Unternehmen zu sehen.Die Rechtssache Marks & Spencer wird über den entschiedenen Einzelfall hinaus richtung-weisenden Charakter für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Gemeinschafts-recht und dem nationalen Recht der direkten Steuern haben6. In der Vergangenheit hat der EuGH in vielen Fällen Regelungen des nationalen Steuerrechts für unvereinbar mit den Grundfreiheiten gehalten, wofür er von vielen Seiten als der „Motor der Integration“ gefei-ert wurde, weil das Gebiet der direkten Steuern sekundärrechtlich bislang nur wenig harmo-nisiert („positive Integration“) ist und deshalb auf diese Weise zumindest eine „negative Integration“ (weitgehende Beseitigung von Diskriminierungen und Beschränkungen) er-reicht wird7. Nicht zuletzt wegen der schwerwiegenden Folgen für die Haushalte der Mit-gliedstaaten wurde diese Rechtsprechung zum Teil heftig kritisiert8, da die Mitgliedstaaten die Steuerhoheit für den Bereich der direkten Steuern gerade nicht auf die EG übertragen

* Die Verfasser sind am Lehrstuhl für Deutsches und Internationales Steuerrecht (Prof. Dr. Wolfram Reiß) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg tätig. Sie danken Herrn Prof. Dr. Wolfram Reiß für wert-volle Anregungen.

1 Vgl. EuGH, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), EuR 2006, 266 ff. Vgl. aus der Vielzahl der Veröffentlichungen zu dieser Entscheidung z.B. Herzig/Wagner, EuGH-Urteil „Marks & Spencer“ – Begrenzter Zwang zur Öff-nung nationaler Gruppenbesteuerungssysteme für grenzüberschreitende Sachverhalte, DStR 2006, S. 1 ff.; Hey, Die EuGH-Entscheidung in der Rechtssache Marks & Spencer und die Zukunft der deutschen Organschaft, GmbHR 2006, S. 113 ff.; Lang, Marks & Spencer – Eine erste Analyse des EuGH-Urteils, SWI 2006, S. 3 ff.; Scheunemann, Decision in the Marks & Spencer Case: a Step Forward, but No Victory for Cross-Border Group Taxation in Europe, Intertax 2006, S. 54 ff.

2 Vgl. z.B. Balmes/Brück/Ribbrock, Der EuGH-Fall Marks & Spencer: Rückschlüsse für die deutsche Organ-schaftsbesteuerung, BB 2005, S. 966 ff.; Dörr, Abschaffung oder Erweiterung der Organschaft ?!, IStR 2004, S. 265 ff.; Herzig/Wagner, Zukunft der Organschaft im EG-Binnenmarkt, DB 2005, S. 1 ff.; Kleinert/Nagler/Rehm, Gewinnbesteuerung nach „Art des Hauses“ mittels grenzüberschreitender Organschaft, DB 2005, S. 1869 ff.

3 Vgl. z.B. FTD v. 8.4.2005, S. 1; Handelsblatt v. 8./9./10.4.2005, S. 1; Handelsblatt v. 24.8.2005, S. 32.4 Erinnert sei aber an die Aufsehen erregende Entscheidung in der Rechtssache de Lasteyrie du Saillant (vgl.

EuGH, Rs. C-9/02 (Hughes de Lasteyrie du Saillant), Slg. 2004, I-2409 = EuR 2004, 608), in der es um die sog. Wegzugsbesteuerung ging.

5 Allein für Deutschland wurden vereinzelt Steuerausfälle von bis zu 50 Mrd. Euro befürchtet. Vgl. Handelsblatt v. 24.8.2005, S. 32.

6 Vgl. grundlegend zum Verhältnis der Grundfreiheiten zum Recht der direkten Steuern Cordewener, Europä-ische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, Köln 2002.

7 Vgl. z.B. Rädler, Recent Trends in European and International Taxation, Intertax 2004, S. 365 (366).8 Vgl. z.B. Fischer, Europa macht mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?, FR 2005, S. 457 ff.; Hey,

Perspektiven der Unternehmensbesteuerung in Europa, StuW 2004, S. 193 ff.; Lehner, Das Territorialitätsprin-zip im Licht des Europarechts, FS Wassermeyer, S. 241 ff.; Wieland, Der Europäische Gerichtshof als Steuer-gesetzgeber, in: FS Zuleeg, S. 492 ff.

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EuR – Heft 2 – 2006276 Rechtsprechung

hätten9. Auch wenn die EG nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EG (Art. 3b Abs. 1 EGV a.F.)) auf diesem Gebiet nicht tätig werden darf, betonte der EuGH stets, dass die Mitgliedstaaten die ihnen zustehenden Kompetenzen in Überein-stimmung mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere den Grundfreiheiten auszuüben hät-ten10.In mehreren jüngeren Entscheidungen (einschließlich Marks & Spencer) hat der EuGH nun-mehr aber zu erkennen gegeben, dass er durchaus gewillt ist, das Recht der Mitgliedstaaten zur Schaffung eines in sich stimmigen („kohärenten“) Steuersystems zu respektieren, indem er entweder schon einen Eingriff in den Schutzbereich der Grundfreiheiten verneint oder auf der Rechtfertigungsebene bzw. Rechtsfolgenseite aus der Sicht der Mitgliedstaaten großzügiger verfährt11.

II. Die Rechtssache Marks & Spencer

1. Fakten

In der Rechtssache Marks & Spencer12 hatte der EuGH zu entscheiden, ob die Grundfrei-heiten den Regelungen des britischen Group Relief13 entgegenstehen, mit dessen Hilfe steu-erliche Verluste von einer Kapitalgesellschaft auf eine andere Kapitalgesellschaft übertragen werden können, wenn die beteiligten Kapitalgesellschaften Mitglied desselben Konzerns (Group) sind. Sinn und Zweck des Group Relief ist die weitgehende steuerliche Gleichstel-lung von Gesellschaften mit Tochtergesellschaften und Gesellschaften mit Zweigniederlas-sungen (in der Terminologie des Steuerrechts: Betriebsstätten), deren Verluste steuerlich bei der „Muttergesellschaft“ berücksichtigt werden können. Beim Group Relief ist gemein-schaftsrechtlich problematisch, dass eine Übertragung von Verlusten auf im Inland (Verei-nigtes Königreich) ansässige Gesellschaften nur von im Inland ansässigen Gesellschaften möglich ist, nicht aber von Verlusten von im Ausland ansässigen Gesellschaften. Die bri-tische Marks & Spencer plc14 konnte deshalb die Verluste ihrer belgischen, deutschen und französischen Tochtergesellschaften nicht mit ihren im Vereinigten Königreich erwirtschaf-teten Gewinnen verrechnen. Die Verluste konnten auch im Ansässigkeitsstaat der Tochterge-sellschaften steuerlich nicht berücksichtigt werden, da die betroffenen Tochtergesellschaften letztlich liquidiert bzw. veräußert wurden. Der schließlich mit der Angelegenheit befasste High Court of Justice (England & Wales) legte dem EuGH einen Katalog von Fragen zur Vorabentscheidung (Art. 234 EG (Art. 177 EGV a.F.)) vor15, mit denen er im Wesentlichen wissen wollte, ob es dem Gemeinschaftsrecht widerspricht, wenn Kapitalgesellschaften nur Verluste von Inlands-, nicht aber von Auslandstochtergesellschaften verrechnen dürfen und

9 Anders als für indirekte Steuern in Art. 93 EG (Art. 99 EGV a.F.) enthält der EG gerade keinen ausdrücklichen Harmonisierungsauftrag für den Bereich der direkten Steuern. Vgl. dazu insbesondere Hagen/Reiß; Die Zu-kunft der Umsatzsteuer als EG-Steuer?, UR 2000, S. 106 ff.

10 Vgl. z.B. EuGH, Rs. C-319/02 (Petri Manninen), Slg. 2004, I-7477 = EuR 2005, 95, Rn. 19; nunmehr bestätigt in der Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), EuR 2006, S. 266 ff., Rn. 29.

11 Vgl. EuGH, Rs. C-319/02 (Petri Manninen), Slg. 2004, I-7477 = EuR 2005, 95; Rs. C-376/03 (D), EuZW 2005, 700; Rs. C-403/03 (Egon Schempp), NJW 2005, 2763.

12 Vgl. zum rechtlichen Rahmen EuGH, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), EuR 2006, S. 266 ff., Rn. 3 ff.13 Vgl. die Regelung des Group Relief in den Sections 402 und 403 des Income and Corporation Taxes Act 1988;

ausführlich zum Group Relief Dörr (Fn. 2), S. 265 (266 f.).14 Vgl. zum Verfahren EuGH, Rs. C-446/03, (Marks & Spencer), EuR 2006, S. 266 ff., Rn. 18 ff.15 Vgl. ABl. 2003 Nr. C 304/18.

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welche Rolle dabei ggf. im Ansässigkeitsstaat der Tochtergesellschaft vorhandenen Verlust-verrechnungsmöglichkeiten zukommt.

2. Entscheidung und Kritik

Nach dem Urteil des EuGH ist eine grenzüberschreitende Verlustverrechnung innerhalb eines Konzerns vom Gemeinschaftsrecht nur dann ausnahmsweise möglich, wenn es für die Tochtergesellschaft oder Dritte keine Möglichkeit gab oder künftig geben wird, die Verluste im Ansässigkeitsstaat der Tochtergesellschaft steuerlich zu nutzen16.Die Annahme eines gemeinschaftsrechtswidrigen Ausnahmefalls erfolgt erst auf der Ebene der Rechtfertigung. Dementsprechend wertet der EuGH Verlustausgleichsbeschränkungen grundsätzlich als Eingriff in den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit (Art. 43, 48 EG (Art. 52, 58 EGV a.F.)). Dabei nimmt der EuGH eine Beschränkung der Niederlassungsfrei-heit der Muttergesellschaft an, weil diese davon abgehalten werde, sich im Ausland mittels einer Tochtergesellschaft unternehmerisch zu engagieren17. Diese Sichtweise entspricht ei-ner gefestigten Rechtsprechung, nach der auch Maßnahmen durch den Herkunftsstaat beim Verlassen eines Mitgliedstaats vom Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit in ihrer Di-mension als Beschränkungsverbot umfasst sind, auch wenn der Wortlaut eher von einem Gebot der Inländerbehandlung (Diskriminierungsverbot) ausgeht18. Mit der Frage, ob nicht vielleicht eine Diskriminierung vorliegt, beschäftigt sich der EuGH nicht ausdrücklich, wo-mit er die Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Vergleichspaars vermeidet. Zu denken wäre insoweit zunächst an einen Vergleich von Muttergesellschaften, die einerseits Inlands- und andererseits Auslandstochtergesellschaften haben (sog. vertikale Vergleichspaarbil-dung)19. Die Problematik bestünde hierbei darin, ob der Umstand, dass die Tochtergesell-schaften einer unterschiedlichen Steuerhoheit unterliegen, die Vergleichbarkeit der Sachver-halte ausschließt. Ein Vergleich wäre aber auch zwischen Gesellschaften möglich, die ihr Auslandsengagement einerseits mittels einer Zweigniederlassung und andererseits mittels einer Tochtergesellschaft ausüben (sog. horizontale Vergleichspaarbildung). Mit dem lapida-ren Hinweis darauf, dass die unterschiedliche Behandlung von Zweigniederlassungen (Be-triebsstätten) gegenüber Tochtergesellschaften im britischem Recht20 der Sichtweise des EuGH nicht entgegensteht21, hat keine eingehende Auseinandersetzung mit der Problematik der horizontalen Vergleichspaarbildung stattgefunden22. Damit bestätigt der EuGH seine

16 Die Entscheidung des EuGH entspricht im Ergebnis den Schlussanträgen des Generalanwalts Poiares Maduro vom 7.4.2005, auch wenn dort Regel und Ausnahme umgekehrt bestimmt wurden.

17 Vgl. EuGH, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), EuR 2006, S. 266 ff., Rn. 31 ff.18 Vgl. z.B. EuGH, Rs. 81/87 (Daily Mail), Slg. 1987, 5483, Rn. 16; Rs. C-264/96 (ICI), Slg. 1998, I-4695,

Rn. 21.19 Die Begründung der „Beschränkung“ durch den EuGH im zu besprechenden Fall bedeutet de facto die Annah-

me einer (vertikalen) Diskriminierung. Vgl. Englisch, Marks & Spencer: Grenzüberschreitender Verlustabzug im Mutter-Tochter-Verhältnis, IStR 2006, S. 22; Scheunemann, RIW-Kommentar, RIW 2006, S. 79 (80).

20 Im britischen Recht (nationales Steuerrecht im Zusammenspiel mit vom Vereinigten Königreich abgeschlosse-nen Doppelbesteuerungsabkommen (DBA)) gilt die sog. Anrechnungsmethode, nach der auch Gewinne und Verluste von ausländischen Zweigniederlassungen (Betriebsstätten) zu berücksichtigen sind, wobei eine ggf. im Ausland gezahlte Steuer angerechnet wird.

21 Vgl. EuGH, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), EuR 2006, S. 266 ff., Rn. 52.22 Vgl. Dörr, EWS-Kommentar, EWS 2006, S. 34 (35); Hey (Fn. 1), S. 113 (118). Möglicherweise muss man aber

die Bemerkung in EuGH, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), EuR 2006, S. 266 ff., Rn. 52, nach der die unter-schiedliche Behandlung von Zweigniederlassungen der Entscheidung nicht entgegenstehe, als Ablehnung der horizontalen Vergleichspaarbildung durch den EuGH verstehen. Vgl. Englisch, IStR 2006, S. 22.

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schon zur Tradition gewordene Vorgehensweise, nach der er es im Bereich des Rechts der direkten Steuern regelmäßig an einer dogmatisch sauberen Qualifikation des Eingriffs (Dis-kriminierung oder Beschränkung) fehlen lässt und stattdessen ohne Umschweife eine Be-schränkung annimmt23.Die festgestellte Beschränkung hält der EuGH grundsätzlich für gerechtfertigt. Nach seiner Auffassung stünden den Mitgliedstaaten das sog. Territorialitätsprinzip, das Recht zur Ver-hinderung einer doppelten Verlustnutzung (sog. „double-dip“) und die Bannung der Steuer-fluchtgefahr als zwingende Gründe des Allgemeininteresses zur Seite24.Das Territorialitätsprinzip basiert auf der Idee, dass jeder (Mitglied-)Staat steuerlich nur das berücksichtigen kann und muss, was einen ausreichenden wirtschaftlichen Bezug zu seinem Gebiet hat. Bislang hat der EuGH diesen dem Grunde nach von ihm schon immer aner-kannten Rechtfertigungsgrund nur in einem Fall durchgreifen lassen25. Dass der EuGH im Territorialitätsprinzip neuerdings die Grundlage für die „Wahrung der Aufteilung der Be-steuerungsbefugnis“ sieht, während er die Rechtfertigung aufgrund des Territorialitätsprin-zips in vielen anderen Entscheidungen schnell und kompromisslos zurückgewiesen hat26, lässt sich nur aus der bereits beschriebenen Tendenz des EuGH zur „Selbstbeschränkung“ auf dem Gebiet der direkten Steuern erklären.Der Rechtfertigungsgrund der Verhinderung der doppelten Verlustberücksichtigung ist letzt-lich das, was in den Schlussanträgen des Generalanwalts Poiares Maduro als „Kohärenz“ des nationalen Steuerrechts bezeichnet worden ist27. Sinn und Zweck der Verlustverrech-nungsmöglichkeit ist die weitgehende Gleichstellung eines Konzerns mit einem lediglich Zweigniederlassungen unterhaltenden Steuerpflichtigen durch die „Konsolidierung“ der steuerlichen Ergebnisse der zum Konzern gehörenden Gesellschaften. Um diese Gleichstel-lung zu erreichen ist aber nur eine einmalige Berücksichtigung von Verlusten erforderlich, da Verluste von Zweigniederlassungen auch nur einmal berücksichtigt werden können. Auch hinsichtlich der Kohärenz war der EuGH bislang sehr zurückhaltend28. Im vorliegenden Fall kommt die Anerkennung der Kohärenz – wenn es denn tatsächlich ein Fall der Kohärenz ist29 – aufgrund der sachlichen Berechtigung der Verhinderung einer doppelten Verlustnut-zung allerdings nicht überraschend.Die Notwendigkeit zur Bannung der Steuerfluchtgefahr wird vom EuGH seit jeher dem Grunde nach als Rechtfertigungsgrund anerkannt und greift auch im konkreten Fall der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung durch. Dahinter steckt die nicht unbegründete Befürchtung der Mitgliedstaaten, dass im Wege eines „Handels mit Verlusten“ die Verluste in denjenigen Mitgliedstaat gelenkt werden, der den höchsten Steuersatz aufweist, so dass der Nutzen der Verluste maximiert wird. Neu ist insoweit, dass sich der EuGH offensicht-

23 Vgl. zur gesamten Problematik Cordewener (Fn. 6), S. 200 ff.24 Vgl. EuGH, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), EuR 2006, S. 266 ff., Rn. 38 ff.25 Vgl. EuGH, Rs. C-250/95 (Futura Participations und Singer), Slg. 97, I-2471, Rn. 22.26 Vgl. EuGH, Rs. C-168/01 (Bosal), Slg. 2003, I-9409, Rn. 37 ff.; Rs. C-319/02 (Petri Manninen), Slg. 2004, I-

7477 = EuR 2005, 95, Rn. 38 f.27 Vgl. Schlussantrag v. 7.4.2005, Rn. 65 ff.28 Konkret wurde die Kohärenz nur in zwei Fällen anerkannt. Vgl. EuGH, Rs. C-204/90 (Bachmann), Slg. 1992,

I-249, Rn. 17 ff.; Rs. C-300/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992, I-305, Rn. 10 ff.29 Mit der Stimmigkeit des nationalen Steuerrechts – dies ist mit dem Begriff der Kohärenz gemeint – hat diese

Sichtweise eigentlich nichts zu tun. Man könnte nämlich ebenso gut annehmen, dass in einem in sich geschlos-senem Steuersystem überhaupt keine Auslandsverluste berücksichtigt werden müssen, wenn – wie im Falle von Auslandstochtergesellschaften – Auslandsgewinne nicht besteuert werden dürfen.

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lich Pauschalregelungen zur Verhinderung der Steuerflucht nicht mehr verschließt und nicht mehr den Nachweis eines Missbrauchs im Einzelfall verlangt30.Der EuGH betont jedoch, dass das Vorliegen eines zwingenden Allgemeininteresses allein nicht genüge, um eine Beschränkung zu rechtfertigen. Vielmehr müsse die Maßnahme auch verhältnismäßig, also insbesondere geeignet und erforderlich, sein31. Die Geeignetheit einer Verlustausgleichsbeschränkung zur Wahrung der genannten zwingenden Allgemeininteres-sen dürfte außer Frage stehen. Zweifel bestehen jedoch an der Erforderlichkeit einer Ver-lustausgleichsbeschränkung. Der EuGH verneint die Erforderlichkeit für sämtliche verfolgte Ziele für diejenigen Fälle, in denen die gebietsfremde Tochtergesellschaft die von ihr gene-rierten Verluste selbst oder durch Übertragung auf Dritte nutzen konnte oder in Zukunft nutzen können wird. Eine in sich stimmige Argumentation ist darin jedoch nicht zu erken-nen. Zwar mag es sein, dass eine subsidiäre Anwendung des Verlustausgleichs weniger ein-schneidend ist als ein genereller Ausschluss des Verlustausgleichs. Jedoch passt diese Sicht-weise lediglich für die Verhinderung der doppelten Verlustberücksichtigung und die Ban-nung der Steuerfluchtgefahr. Soweit es um die Achtung des Territorialitätsprinzips geht, muss man der subsidiären Anwendung des grenzüberschreitenden Verlustausgleichs die ver-gleichbare Geeignetheit absprechen, die jedoch – zumindest bislang – Voraussetzung ist, um ein Mittel als milder im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips einzustufen32. Das Territo-rialitätsprinzip wird nämlich gerade nicht gewahrt, wenn eine grenzüberschreitende Verlust-verrechnung – wenn auch nur ausnahmsweise – möglich sein muss. Der EuGH umgeht dieses Problem, indem er sich damit zufrieden gibt, dass die „verfolgten Ziele im Wesent-lichen“ erreicht werden33. Offenbar hat der EuGH hier ein alle Beteiligte einigermaßen zu-frieden stellendes Ergebnis einer dogmatisch sauberen Begründung vorgezogen34.Es verbleibt, auf zwei bemerkenswerte Aspekte der Entscheidung hinzuweisen. Zum einen macht der EuGH mit der Entscheidung in der Rechtssache Marks & Spencer eine Gesamt-schau aller betroffenen Steuerrechtsordnungen erforderlich. Eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur Verlustberücksichtigung im Inland wird nämlich vom Steuerrecht des Ansässig-keitsstaats der Tochtergesellschaft abhängig gemacht. Zum anderen seien mildere Mittel als die pauschale Versagung einer grenzüberschreitenden Verlustberücksichtigung zur Errei-chung der oben genannten Zwecke35 von einer vorherigen Harmonisierung durch die Mit-gliedstaaten abhängig36. Bislang hat der EuGH stets betont, dass die Vorgaben der Grund-freiheiten unabhängig von einer Harmonisierung des entsprechenden Rechtsgebiets sind37.

30 Vgl. z.B. EuGH, Rs. C-9/02 (Hughes de Lasteyrie du Saillant), Slg. 2004, I-2409 = EuR 2004, 608. Der gene-relle Ausschluss des grenzüberschreitenden Verlustausgleichs – wie in der zu besprechenden Entscheidung – ist in jedem Fall eine Pauschalregelung.

31 Vgl. EuGH, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), EuR 2006, S. 266 ff., Rn. 53 ff. Vgl. allgemein zur Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Cordewener (Fn. 6), S. 70 ff.

32 Vgl. Cordewener (Fn. 6), S. 87 f., mit Nachweisen zur Rechtsprechung.33 Vgl. EuGH, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), EuR 2006, S. 266 ff., Rn. 55.34 Gegen die Anwendung des Territorialitätsprinzips wurden in der Literatur sowie in den Schlussanträgen des

Generalanwalts zumindest vertretbare Argumente vorgebracht, denen sich der EuGH hätte anschließen können. Vgl. Schlussantrag v. 7.4.2005, Rn. 58 ff. und aus der Literatur z.B. Scheunemann, Europaweite Verlustberück-sichtigung im Konzern: – Steine statt Brot durch die Schlussanträge des Generalanwalts Maduro vom 7.4.2005 im Fall Marks & Spencer?, IStR 2005, S. 303 (306).

35 Beispielsweise die sofortige Verlustberücksichtigung und eine Nachversteuerung bei der Muttergesellschaft, sobald die Tochtergesellschaft Gewinne erzielt. Vgl. EuGH, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), EuR 2006, S. 266 ff., Rn. 54.

36 Vgl. EuGH, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), EuR 2006, S. 266 ff., Rn. 58.37 Vgl. z.B. den steuerrechtlichen Fall EuGH, Rs. 270/83 (Avoir Fiscal), Slg. 1986, 273, Rn. 24.

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3. Offene Fragen und Probleme

Auf den ersten Blick scheint der EuGH – zumindest im Ergebnis – eine ausgewogene Lö-sung für die Problematik gefunden zu haben, die das Interesse der betroffenen Gesell-schaften an einer möglichst unbeschränkten Ausübung der Niederlassungsfreiheit und die Fiskalinteressen der Mitgliedstaaten zu einem angemessenen Ausgleich bringt. Bei ge-nauerer Betrachtung offenbart die Entscheidung jedoch zahlreiche Fragen und Probleme38.Möglicherweise aber geht die Entscheidung aus der Sicht der betroffenen Gesellschaften nicht weit genug. Auch wenn die Lösung garantiert, dass Verluste in jedem Fall einmal be-rücksichtigt werden können, so können sich im Falle einer erst Jahre nach der Entstehung der Verluste bestehenden Nutzungsmöglichkeit Liquiditätsnachteile ergeben, z.B. gegen-über solchen Muttergesellschaften, die Verluste von (Inlands-) Tochtergesellschaften sofort verrechnen können oder die anstelle von Tochtergesellschaften lediglich Zweigniederlas-sungen unterhalten. Liquiditätsnachteile wurden jedoch vom EuGH bereits als nicht ohne weiteres gerechtfertigter Eingriff in die Grundfreiheiten angesehen39. Ein solcher Liqui-ditätsnachteil wird umso größer, je länger es dauert, bis der Verlust im Ansässigkeitsstaat der Tochtergesellschaft verrechnet werden kann. Im Falle einer dauerdefizitären Tochterge-sellschaft kann ein Verlust zu keiner Zeit verrechnet werden, wenn das Steuerrecht des An-sässigkeitsstaats der Tochtergesellschaft abstrakt eine (zeitlich unbeschränkte) Verlustver-rechnungsmöglichkeit vorsieht.Ferner stellt sich die Frage, nach welchen Regeln der ausnahmsweise bei der Muttergesell-schaft zu berücksichtigende Verlust zu ermitteln ist40. Richtigerweise wird man davon aus-gehen müssen, dass der Verlust der Tochtergesellschaft nach dem nationalen Steuerrecht des Ansässigkeitsstaats der Muttergesellschaft ermittelt wird41. Dann aber müssen die betrof-fenen Tochtergesellschaften ihren Gewinn „doppelt“ nach unterschiedlichen Regeln ermit-teln, worin man wiederum eine – wenn auch möglicherweise nicht die Grundfreiheiten ver-letzende – Diskriminierung/Beschränkung sehen kann42.Daneben kann es für Mitgliedstaaten, in denen Muttergesellschaften ansässig sind, zu einem Problem werden, wenn andere Mitgliedstaaten, in denen vorwiegend Tochtergesellschaften ansässig sind, Verlustverrechnungsmöglichkeiten einschränken. Im Extremfall folgen Mit-gliedstaaten dem Vorbild Estlands, das keine intertemporale Verlustübertragung kennt, oder begrenzen zumindest den Zeitraum eines möglichen Verlustvortrags in einem größeren Aus-maß. In Staaten mit niedrigen nominalen Steuersätzen ist bereits heute eine restriktive Handhabung der Verlustverrechnung erkennbar43.

38 Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH in der anhängigen Rechtssache Oy Esab, C-231/05 seine Rechtsprechung weiter präzisieren wird.

39 Vgl. z.B. EuGH, Rs. C-397/03 und 410/03 (Metallgesellschaft/Hoechst), Slg. 2001, I-1727, Rn. 44 und 54; Rs. C-436/00 (X und Y), Slg. 2002, I-10829, Rn. 36.

40 Vgl. zu diesem Problem Herzig/Wagner (Fn. 2), S. 1 (4); Lang, Marks and Spencer – more questions than an-swers: an analysis of the Opinion delivered by Advocate General Maduro, EC Tax Review 2005, S. 95 (98).

41 Dies scheint auch nach Ansicht des EuGH möglich zu sein (vgl. EuGH, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), EuR 2006, S. 266 ff., Rn. 22).

42 In der Rechtssache Futura Participations und Singer hat der EuGH in der Pflicht zur doppelten Buchführung im Falle von Zweigniederlassungen eine Verletzung der Grundfreiheiten entdeckt. Vgl. EuGH, Rs. C-250/95 (Fu-tura Participations und Singer), Slg. 1997, I-2471, Rn. 23 ff.

43 So sehen viele osteuropäische Mitgliedstaaten eine zeitliche Begrenzung des Verlustvortrags vor. Vgl. die Über-sicht bei Scheunemann (Fn. 34), S. 303 (309).

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Ungeklärt sind auch Fragen im Zusammenhang mit Fällen, in denen mehr als zwei Mit-gliedstaaten betroffen sind, da die Rechtssache Marks & Spencer lediglich einen zweisei-tigen Sachverhalt betraf. So ist fraglich, ob Verlustverrechnungsmöglichkeiten in dritten Mitgliedstaaten oder gar Drittstaaten genutzt werden müssen und eine Verlustübertragung über die Tochtergesellschaft auf die Muttergesellschaft ausschließen, wenn etwa die Toch-tergesellschaft eine Zweigniederlassung in einem solchen Staat hat.Die Nachprüfbarkeit der nichtvorhandenen ausländischen Verlustverrechnungsmöglich-keiten dürfte hingegen keine größeren Probleme verursachen. Zum einen kann der Ansäs-sigkeitsstaat der Muttergesellschaft von dieser einen entsprechenden Nachweis verlangen44; zum anderen bietet die Amtshilferichtlinie45 ein geeignetes Instrumentarium, das bei sach-gerechter Nutzung die mitgliedstaatlichen Interessen zu wahren geeignet ist46.

III. Rückschlüsse auf die deutsche Organschaft

Das deutsche Steuerrecht kennt die Verrechnung von Verlusten zwischen zwei Steuersub-jekten grundsätzlich nicht. Eine Ausnahme davon stellt die körperschaftsteuerliche Organ-schaft dar (§§ 14 bis 19 KStG). Sie ordnet im Grundsatz an, dass das Einkommen der Or-gangesellschaft zwingend dem Organträger zugerechnet wird. Die Organgesellschaft selbst unterliegt nicht der Körperschaftsteuer. Zurechnungssubjekt von Gewinnen und Verlusten der Organgesellschaft ist vielmehr der Organträger. Die Voraussetzungen der deutschen Or-ganschaftsregelungen implizieren, dass ausländische Tochterkapitalgesellschaften nach gel-tendem Recht insbesondere aus zwei Gründen keine Organgesellschaft sein können. Zum einen verwehrt der von den Organgesellschaften geforderte doppelte Inlandsbezug, Ge-schäftsleistung i. S. d. § 10 AO und Sitz i. S. d. § 11 AO im Inland, ausländischen Tochter-kapitalgesellschaften den Weg in die deutsche Organschaft. Zum anderen erfordert ein wirk-sames Organschaftsverhältnis den Abschluss eines Gewinnabführungsvertrages i. S. d. § 291 Abs. 1 AktG, welcher jedoch nach dem Wortlaut des Gesetzes nur von den im AktG genannten Gesellschaften, Aktiengesellschaft und Kommanditgesellschaft auf Aktien47, und damit nicht von ausländischen Tochtergesellschaften abgeschlossen werden kann48. Dieser doppelte Ausschluss ausländischer Tochtergesellschaften als Organgesellschaften verstößt vor dem Hintergrund der Entscheidung Marks & Spencer evident gegen die Niederlassungs-freiheit des Art. 43 EG (Art. 52 EGV a.F.)49.

44 Vgl. EuGH, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), EuR 2006, S. 266 ff., Rn. 56.45 Richtlinie des Rates vom 19. Dezember 1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behör-

den der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern, bestimmter Verbrauchsteuern und der Steuern auf Versicherungsprämien (77/799/EWG), ABl. L vom 27.12.1977, S. 15-20.

46 Die bisweilen vorgebrachte mangelnde Effizienz in der praktischen Umsetzung der Amtshilferichtlinie (vgl. Fischer (Fn. 8), S. 457 (465); Hey (Fn. 8), S. 193 (196 f.)) darf nicht gegen dieses Argument angeführt werden. Insoweit ist es Aufgabe der Mitgliedstaaten, dem über den Rat auch von ihnen selbst geschaffenen Recht zur Wirksamkeit zu verhelfen.

47 Nach § 17 KStG können auch andere Kapitalgesellschaften und damit auch die GmbH einen für steuerliche Zwecke wirksamen Gewinnabführungsvertrag abschließen. Allerdings beschränkt auch § 17 KStG die Organ-schaft auf (andere) Kapitalgesellschaften, die ihren Sitz und ihre Geschäftsleitung im Inland haben.

48 Hinzukommt, dass die wenigsten Mitgliedstaaten überhaupt eine gesellschaftsrechtliche Möglichkeit für den Abschluss eines Gewinnabführungsvertrags vorsehen. Vgl. Scheunemann, Grenzüberschreitende konsolidierte Konzernbesteuerung, Köln 2005, S. 129 ff.

49 Die deutsche Organschaft entspricht in den entscheidenden Punkten dem verfahrensgegenständlichen britischen Group Relief, so dass dieser Schluss gerechtfertigt ist. Vgl. Sedemund/Sterner, Welche Folgen hat das Urteil „Marks & Spencer“ für das deutsche internationale Steuerrecht?, DStZ 2006, S. 29 (33).

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Zwar geht der gesetzgeberische Handlungsbedarf50 in Folge der Entscheidung in der Rechts-sache Marks & Spencer nicht soweit, dass ausländische Tochtergesellschaften eine Behand-lung erfahren müssten, wie sie gegenwärtig für inländische Tochtergesellschaften vorgese-hen ist. Dennoch besteht das Erfordernis der Einführung einer Regelung, welche inlän-dischen Muttergesellschaften die Verrechnung den von ihren ausländischen Tochtergesell-schaften erlittenen Verluste unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Hierzu hat die Mutter den Nachweis zu erbringen, dass es weder der Tochter noch einem Dritten möglich ist, die im Ausland angefallenen Verluste nach dortigem Recht im Rahmen eines Verlustvor- oder -rücktrags zu verwerten51. Dieser Nachweis wird zumindest im Entstehungsjahr der Verluste in den seltensten Fällen zu führen sein, da innerhalb der EG lediglich Estland kei-nen Verlustvortrag kennt. Kann der Nachweis einer definitiven Nichtberücksichtigung im Ausland erbracht werden, ist der Muttergesellschaft die Verrechnung der ausländischen Ver-luste zu ermöglichen. In die Betrachtung sind aber auch Tochtergesellschaften einzubezie-hen, bei denen eine Verlustverrechnung aufgrund zeitlicher Beschränkung des Verlustvor-trags, aufgrund vorzeitiger Liquidation oder aus sonstigen Gründen unterbleibt. Diese Kons-tellationen können im Entstehungsjahr naturgemäß noch nicht nachgewiesen werden, so dass eine Verlustberücksichtigung erst zum (zukünftigen) Zeitpunkt der endgültigen Un-möglichkeit einer Verlustberücksichtigung im Ausland zu erfolgen hat. Eine derartige Mini-mallösung wäre letztendlich eine punktuell erweiterte Organschaft, um diejenigen Fälle zu erfassen, in denen eine Verlustnutzung im Ausland überhaupt nicht möglich ist.Alternativ dazu könnte man eine isolierte grenzüberschreitende Verlustberücksichtigung einführen, bei der die Verluste ausländischer Tochtergesellschaften bei der inländischen Muttergesellschaft im Veranlagungszeitraum ihrer Entstehung in der Höhe Berücksichti-gung finden, wie sie nach inländischen Gewinnermittlungsvorschriften ermittelt werden52. Gleichzeitig müsste eine Nachversteuerung (entsprechend § 2a III EStG a.F.) bei der inlän-dischen Mutter erfolgen, sobald die Auslandstochter in späteren Veranlagungszeiträumen Gewinne erzielt, um eine doppelte Verlustberücksichtigung zu vermeiden. Eine derartige gesetzgeberische Modifikation würde den Anforderungen aus der Rechtsprechung des EuGH zu Marks & Spencer genügen, wonach eine Verlustberücksichtigung im Inland zu-mindest dann zu erfolgen hat, soweit keine gleichwertige Geltendmachung der Verluste im Ansässigkeitsstaat der Tochtergesellschaft möglich ist.Eine andere gesetzgeberische Reaktion könnte in der Abschaffung der Organschaft liegen, womit man – nicht zum ersten Mal53 – die steuerlichen Missstände auf rein inländische Sachverhalte ausdehnen würde. Es gilt jedoch zu hinterfragen, ob eine gedachte Abschaf-

50 Erforderlich ist insoweit, dass der doppelte Inlandsbezug für Tochtergesellschaften (Sitz und Geschäftsleitung im Inland) sowie der Gewinnabführungsvertrag in seiner jetzigen Form beseitigt werden. Dies bedeutet aber nicht, dass Deutschland auf die Voraussetzung der tatsächlichen Verlusttragung durch die Muttergesellschaft verzichten muss, was der Gewinnabführungsvertrag bezweckt. Vielmehr müssen die Voraussetzungen insoweit so ausgestaltet sein, dass Muttergesellschaften mit Auslandstochergesellschaften nicht (verdeckt) diskriminiert werden. Dies kann schwierig sein, wenn das ausländische Gesellschaftsrecht keinen interpersonellen Ergebnis-ausgleich gestattet. Ob dann Deutschland gleichwohl ausländische Verluste anerkennen müsste, ist eine schwie-rige Frage, der hier nicht weiter nachgegangen werden soll.

51 Vgl. EuGH, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), EuR 2006, S. 266 ff., Rn. 55 f.52 Diese Möglichkeit wurde im Vorfeld der Entscheidung Marks & Spencer u.a. von Balmes/Brück/Ribbrock (Fn.

2), S. 966 (970) und Herzig/Wagner (Fn. 2), S. 1 (7) diskutiert.53 Vgl. die entsprechenden Reaktionen des deutschen Gesetzgebers auf die EuGH-Entscheidungen Lankhorst-

Hohorst, Rs. C-324/00, Slg. 2002, I-11779 (betreffend § 8a KStG a.F.) und Bosal, Rs. C-168/01, Slg. 2003, I-9409 (betreffend § 8b Abs. 5 KStG a.F.).

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fung der Organschaft nicht ebenso gegen höherrangiges Europarecht verstößt. So könnte es für bedenklich gehalten werden, dass zwar die Ungleichbehandlung inländischer Tochterge-sellschaften und ausländischer Tochtergesellschaften beseitigt, andererseits aber eine Diver-genz in der steuerlichen Behandlung von Auslandstöchtern und Auslandsbetriebsstätten ent-stehen respektive fortbestehen würde54. Diese oben unter II.2. als horizontales Ver-gleichspaar bezeichnete Konstellation wurde in der Rechtssache Marks & Spencer nicht ausführlich diskutiert. Jedoch hat der EuGH mittlerweile in der Rechtsache CLT-UFA ent-schieden, dass Tochtergesellschaften und Zweigniederlassungen zumindest hinsichtlich des Steuersatzes gleich zu behandeln sind55. Von rechtlichen Überlegungen abgesehen würde durch eine ersatzlose Abschaffung der Organschaft in jedem Fall der Steuerstandort Deutschland weiter an Reputation verlieren.Das genaue Gegenteil hiervon würde mit der Einführung einer umfassenden Gruppenbe-steuerung erreicht werden. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass die wirtschaftliche Einheit einer Unternehmensgruppe trotz rechtlicher Vielheit steuerlich berücksichtigt wird und letztlich eine Zusammenfassung steuerlicher Ergebnisse verschiedener Körperschaften statt-findet. Die weltweit existierenden Systeme unterscheiden sich zum Teil erheblich56. Die weitestgehende Umsetzung einer Konzernbesteuerung findet sich mit einer konsolidierten Konzernsteuerbilanz im niederländischen57 und australischen58 Recht. Dagegen hat der ös-terreichische Gesetzgeber ein Gruppenbesteuerungssystem mit vertikaler steuerlicher Er-gebniszurechnung von einem Tochterunternehmen zur Muttergesellschaft eingeführt (keine Zwischengewinneliminierung)59. Das System wirkt auch grenzüberschreitend, allerdings mit Nachversteuerung beim inländischen Gruppenträger in den Jahren, in denen die Verlus-te (auch) im Ausland geltend gemacht werden können. Denkbar wären auch Konzepte, die eine vertikale Verlustverrechnung in beide Richtungen erlauben und/oder eine horizontale Verrechnung zwischen Schwestergesellschaften ermöglichen.

IV. Schlussfolgerung und Ausblick

Der Ausgang der Rechtssache Marks & Spencer wird das Konzernsteuerrecht der Mitglied-staaten verändern, wenn auch nicht in dem – je nach Perspektive – befürchteten bzw. erhoff-ten Ausmaß. Die Entscheidung hat die nur begrenzte Integrationskraft der Grundfreiheiten auf dem Gebiet der direkten Steuern offenbart. Will man über die Lösung der Entscheidung in der Rechtssache Marks & Spencer hinaus einen weitergehenden Abbau von steuerrecht-

54 Diese Frage ist v.a. im britischen Recht relevant (vgl. Fn. 20). In Deutschland stellt sich die Problematik nach Abschaffung von § 2a Abs. 3 EStG a.F. etwas anders dar, weil Deutschland in Doppelbesteuerungsabkommen regelmäßig die sog. Freistellungsmethode vereinbart hat, die nach deutschem Verständnis nicht nur Gewinne sondern auch Verluste erfasst und damit dem deutschen Steuerrecht entzieht (vgl. z.B. BFH, I R 32/93, BFHE 172, 385 = BStBl. II 1994, 113). Wenn kein DBA existiert oder die sog. Anrechnungsmethode vereinbart ist, sieht § 2a Abs. 1 und 2 EStG Beschränkungen vor.

55 Vgl. EuGH, Rs. C-253/03 (CLT-UFA), DStR 2006, 418 ff..56 Vgl. Endres, in: Herzig, Organschaft, Stuttgart 2003, S. 461 ff.; Lüdicke/Rödel, Generalthema II: Gruppenbe-

steuerung, IStR 2004, S. 549 f.57 Vgl. de Vries, in: International Fiscal Association, Cahiers de droit fiscal, Vol. 89b, Rotterdam 2004, S. 461 ff.58 Vgl. O´Donnell/Spence, in: International Fiscal Association, Cahiers de droit fiscal, Vol. 89b, Rotterdam 2004,

S. 121 ff.59 Vgl. Danelsing, Reform der inländischen Organschaftsbesteuerung – Die österreichische Gruppenbesteuerung

als ein mögliches Modell, DStR 2005, S. 1342 (1344 ff.). Eine Kurzübersicht über Mitgliedstaaten mit grenz-überschreitender Verlustberücksichtigung findet sich auch bei Hirschler/Schindler, Die österreichische Grup-penbesteuerung als Vorbild für Europa?, IStR 2004, S. 505 ff.

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lichen Hindernissen, so kommt man um harmonisierende Regelungen nicht umhin. Die Eu-ropäische Kommission geht mit ihren Vorschlägen zur Schaffung einer einheitlichen konso-lidierten Bemessungsgrundlage in diese Richtung. Demnach sollen grenzüberschreitend tätige verbundene Unternehmen ihren Gewinn zunächst separat nach einheitlichen Gewinn-ermittlungsregeln ermitteln, anschließend zu einem konsolidierten Ergebnis zusammenfas-sen und sodann anhand von Schlüsselgrößen auf die jeweiligen Mitgliedstaaten aufteilen können60. Nicht nur das Problem der grenzüberschreitenden Verlustberücksichtigung würde damit der Vergangenheit angehören. Es bleibt aber abzuwarten, ob es dazu kommen wird, da sich das Gebiet der direkten Steuern als ein sehr sensibles Rechtsgebiet erwiesen hat, auf dem die Mitgliedstaaten nur sehr eingeschränkt zu weitergehender Harmonisierung bereit sind.

60 Vgl. ausführlich Europäische Kommission, Unternehmensbesteuerung im Binnenmarkt, SEK(2001) 1681, S. 398 ff.; Diemer/Neale, in: International Fiscal Association, Cahiers de droit fiscal, Vol. 89b, Rotterdam 2004, S. 69 ff.

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KLEINERE BEITRÄGE, BERICHTE UND DOKUMENTE Die Verfassungswidrigkeit des Europäischen Haftbefehlsgesetzes – gebotener

Grundrechtsschutz oder euroskeptische Überfrachtung?

Von Dr. Tonio Gas, Osnabrück*

Da das BVerfG in seinem Urteil zum EuHbG1 keinen EU-Rechtsakt, sondern ein deutsches Umsetzungsgesetz an den Grundrechten prüft, wird nicht direkt die Höherrangigkeit des EU-Rechts infrage gestellt. Ein obiter dictum zu einem „Umsetzungsverweigerungsrecht“ ist indes bedenklich, auch wenn der umzusetzende Akt ein Rahmenbeschluss der „dritten Säule“ ist. Die gerichtlichen Ausführungen lassen erkennen, dass einseitig die EU als Frei-heitsbedrohung und die nationalen Grundrechte als Freiheitsgewährung betrachtet werden. Eine Pflicht zur grundrechtsschonendsten Umsetzung verkennt das Recht des nationalen Gesetzgebers, über die EU-Mindestanforderungen hinauszugehen. Unglückliche Anklänge an die Maatsricht-Rechtsprechung finden sich im Sondervotum von Broß unter Überdeh-nung des Subsidiaritätsprinzips nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG. Das EuHbG hätte aufrecht- erhalten werden müssen.

Einleitung

Vom deutschen „Jecken“, dessen einer Niederländerin aufgedrängter Zungenkuss in den Niederlanden als Vergewaltigung strafbar ist, war in der Presse viel zu lesen, nachdem Ver-fassungsrichter Di Fabio dies in der mündlichen Verhandlung im Verfahren zum Europä-ischen Haftbefehlsgesetz zur Sprache gebracht hatte2. Musste das BVerfG, um die Ausliefe-rung deutscher Jecken in die Niederlande und ihre Verurteilung als Vergewaltiger zu stop-pen, ebendieses Gesetz für nichtig erklären?Der Europäische Haftbefehl (EuHb) wurde durch einstimmigen Rahmenbeschluss des Ra-tes (RbEuHb)3 geschaffen, gestützt auf Art. 34 Abs. 2 lit. b EU. Deutschland erließ das Eu-ropäische Haftbefehlsgesetz (EuHbG)4 zur Umsetzung, dessen Kernstück Änderungen im Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) waren.Der EuHb ist Grundlage für Festnahme und Auslieferung in einen anderen EU-Mitglied-staat. Ein Staat ersucht um die Auslieferung mittels Ausstellung eines EuHb („Ausstellungs-mitgliedstaat“, im IRG „ersuchender Mitgliedstaat“) und verlangt vom „Vollstreckungsmit-gliedstaat“ die Durchführung des Haftbefehls nach erfolgter Festnahme, mithin die Auslie-ferung.Üblicherweise ist eine Auslieferung an das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit ge-knüpft, d.h. die dem Festgenommenen vorgeworfene Tat muss nach den Rechtsordnungen beider beteiligten Staaten strafbar sein. Nach Art. 2 Abs. 2 RbEuHb und § 81 Nr. 4 IRG

* Der Autor ist Habilitand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Dr. A. Weber, Universität Osnabrück.1 BVerfG, Urteil v. 18.07.2005, 2 BvR 2236/04.2 Statt aller: D. Hipp, Intimer Grenzverkehr, Der Spiegel 29/2005, S. 50.3 Rahmenbeschluss 2002/584/JI, ABlEG 2002 Nr. L 190, S. 1.4 BGBl. 2004 I S. 1748.

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a.F.5 findet eine Auslieferung hingegen unter Verzicht auf die beiderseitige Strafbarkeit statt, wenn der EuHb wegen einer der dort genannten 32 Katalogtaten ausgestellt wurde und die Tat im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Höchststrafe von mindestens drei Jahren belegt ist. Der Katalog umfasst nicht nur Schwerstkriminalität, sondern z.B. auch Betrug ohne nä-here Eingrenzung, sowie schwach konturierte Delikte wie Cyberkriminalität, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Sabotage6. Eine Höchststrafe von mindestens drei Jahren führt zu keiner Beschränkung auf schwerstes kriminelles Unrecht.7 Vergewaltigung, daher das Bei-spiel von Di Fabio, ist ebenfalls eine Katalogtat. Zwischen eigenen und fremden Staatsan-gehörigen differenziert der RbEuHb nicht.Die Auslieferung ist in der Regel obligatorisch, wobei es zwingende (Art. 3 RbEuHb) und fakultative (Art. 4 RbEuHb) Ablehnungsgründe gibt. Letzteres ist z.B. für Inlandstaten der Fall (Art. 4 Nr. 7 lit. a RbEuHb). Das EuHbG hatte diesen Ablehnungsgrund weder für Deutsche noch für Ausländer übernommen; Ersteres was nach dem BVerfG der Hauptgrund für eine Verletzung von Art. 16 Abs. 2 GG.

I. Verletzung von Art. 16 Abs. 2 GG

Der Senat misst dem Grundrecht des Art. 16 Abs. 2 GG einen hohen Rang zu. In ihm kom-me eine besondere Verbindung der Bürger zu der von ihnen getragenen freiheitlichen Rechtsordnung, eine Beziehung zu einem freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen zum Ausdruck. Rechtssicherheit und der Schutz des Vertrauens in die eigene Rechtsordnung for-derten einen besonderen Schutz bei Taten mit maßgeblichem Inlandsbezug.8 Diese „Aufla-dung“ des Art. 16 Abs. 2 GG wäre nicht notwendig gewesen, um zu der Erkenntnis zu ge-langen, dass es sich bei der Auslieferung – auch Nichtdeutscher – schon nach der Lebens-wirklichkeit um einen schwerwiegenden Eingriff handelt9. Nach klassischer Auffassung beruht das Auslieferungsverbot auf dem Recht jedes Staatsbürgers, sich in seinem Heimat-land aufhalten zu dürfen, und auf der Verpflichtung dieses Staates, seine im Staatsgebiet lebenden Bürger zu schützen.10 Davon, dass dies einer besonderen inneren, von Vertrauens-schutz geprägten Verbindung entspricht, war bis vor kurzem nicht die Rede.11 Das BVerfG wurde rechtsfortbildend tätig – und gelangte zu einem höchst problematischen Ergebnis.

5 Gemeint ist das IRG in der vor der Nichtigerklärung des EuHbG geltenden Fassung, auf den Zusatz a.F. wird im Folgenden verzichtet. Die in IV. erwähnten Zuständigkeitsbestimmungen der §§ 12, 13, 74 IRG sind von der Nichtigerklärung nicht berührt.

6 Krit. C. Tomuschat, Ungereimtes / Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2005 über den Eu-ropäischen Haftbefehl, EuGRZ 2005, S. 453, 456 f. m.w.N.

7 So sieht Deutschland z.B. für „einfachen“ Betrug eine Höchstfreiheitsstrafe von fünf Jahren vor, § 263 StGB.8 BVerfG, Urteil v. 18.07.2005 (Fn. 1), Abs. 66 f. Krit. zu der Frage, ob ein Inlandsbezug in concreto gegeben

war: C. Tomuschat (Fn. 6), S. 457.9 BVerfG, Urteil v. 18.07.2005 (Fn. 1), Abs. 155–157, Sondervotum G. Lübbe-Wolff.10 BVerfGE 29, 183, 192 f.11 Vgl. A. Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Losebl. (1985), Art. 16 Abs. 2 S. 1, Rn. 2,

wonach historisch gesehen der Aspekt der vollen Souveränität des Staates über seine Angehörigen Vorrang vor dem Gedanken des Individualschutzes hatte. Überzeugend auch die Interpretation des OLG Stuttgart, NJW 2005, 1522, 1525: Das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit sei nicht in Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG hineinzu-lesen.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

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1. Keine Aussagen zum Rangverhältnis EU-/nationales Recht

Mit dem genannten Ansatz kam das BVerfG zu dem Schluss, der deutsche Gesetzgeber hätte mindestens bei Taten mit maßgeblichem Inlandsbezug ein Auslieferungsverbot für Deutsche einführen müssen. Dies wäre auch ohne Verstoß gegen EU-Recht möglich gewesen, wenn er den fakultativen Ablehnungsgrund des Art. 4 Nr. 7 lit. a RbEuHb als obligatorisches Auslie-ferungshindernis in das IRG übernommen hätte.12 Der Gesetzgeber müsse den durch den RbEuHb gegebenen Spielraum aus Gründen des Grundrechtsschutzes nutzen.Aussagen zum Rang der Rechtsquellen werden damit nicht gemacht. Zu dem Kollisionsfall, in dem der Gesetzgeber entweder gegen den RbEuHb oder das GG verstoßen muss, komme es nicht.13 Es gebe die Möglichkeit der verfassungsmäßigen Ausnutzung europäischer Spielräume. Unter dieser Prämisse wird man in der vom BVerfG postulierten „Pflicht zur grundrechtsschonendsten Umsetzung“14 schwerlich eine Aussage über das Rangverhältnis von Verfassungs- und Unionsrecht sehen können. Denn selbst bei Richtlinien, deren An-wendungsvorrang vor nationalem Recht im Grundsatz unbestritten ist15, ist anerkannt, dass die Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume nutzen dürfen. Dem BVerfG ist darin Recht zu geben, dass jedenfalls bei vorhandenen Umsetzungsspielräumen deutsche Rechtsakte an den Grundrechten zu messen sind16. Hierin ist kein Infragestellen des Anwendungsvor-ranges des EG-/EU-Rechts zu sehen (zumal die Rangfrage für EU-Recht der dritten Säule ohnehin noch nicht auf europäischer Ebene entschieden wurde17).

2. Eingriffsrechtsfertigung: Grundrechtsschonendste Umsetzung versus Zweckset-zungskompetenz

Wenn feststeht, dass Art. 16 Abs. 2 GG uneingeschränkt Prüfungsmaßstab für das EuHbG ist, so fragt sich, wie ein Eingriff gerechtfertigt sein kann. Hier sind verschiedene Maßstäbe denkbar.

a) Grundrechtsschonung: Verhältnismäßigkeitsprüfung anhand europarechtlicher Zielvorgaben

Für ein Gebot der weitestmöglichen Grundrechtsschonung scheint das Verhältnismäßig-keitsprinzip zu sprechen. Im Sinne einer Erforderlichkeit ließe sich sagen, dass der Rah-

12 BVerfG (Fn. 1), Abs. 94.13 AaO.14 AaO., Abs. 80, 83, 94.15 Statt aller: H.-J. Schütz/T. Bruha/D. König, Casebook Europarecht, 2004, S. 79 ff.16 Z.B. J. Dietlein, Examinatorium Staatsrecht, 2. Aufl. 2005, S. 282; K. H. Friauf, Diskussionsbeitrag, EuR, Bei-

heft 1/1991, S. 50, 52; M. Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Losebl. (2005), Art. 1 Abs. 3, Rn. 86; H. H. Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 56, 83; G. Nicolaysen, Tabakrauch, Gemeinschaftsrecht und Grundgesetz. Zum BVerfG-Beschluß vom 12.5.1989 – 2 BvQ 3/89 –, EuR 1989, S. 215, 221 f. I. Pernice, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. 2, Art. 20–82, 1998, Art. 23, Rn. 30; H.-W. Rengeling, Grundrechtsschutz in der EG, 1993, S. 282; C. Tomuschat, Aller guten Dinge sind III? Zur Diskussion um die Solange-Rechtsprechung des BVerfG, EuR 1990, S. 340, 345.

17 M. Adam, Die Wirkung von EU-Rahmenbeschlüssen im mitgliedstaatlichen Recht, EuZW 2005, S. 558, 561; C. Herrmann, Anm. zu EuGH, Rs. C-105/03 (Pupino), EuZW 2005, S. 436, 438; R. Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 473; zwischen den Zeilen aber möglicherweise EuGH, aaO., Rn. 34, 42 = EuZW 2005, 433, 435. Auch M. Adam und C. Herrmann (aaO.) sehen entsprechende Indizien in diesem Urteil.

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menbeschlussgeber dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Umsetzung anheimge-stellt habe. Unter diesen Möglichkeiten sei diejenige zu wählen, die die Grundrechte am wenigsten belastet.Dass diese Möglichkeiten sämtlich als „gleich geeignet“ zur Erreichung des Rahmenbe-schlussziels angesehen werden, zeigt sich dadurch, dass der Rat sie ausdrücklich vorgese-hen hat – er kann kaum Umsetzungsspielräume schaffen, wenn er davon ausgeht, dass ihre Ausnutzung das Regelungsziel gefährden. Wäre man hingegen der Ansicht, das Ziel würde bei restriktiver Übernahme und Anwendung der Ausnahmetatbestände „besser“ erreicht, so richtete man den Blick einseitig auf Erleichterung und Verkürzung der Auslieferung als Ziele des RbEuHb. Es soll aber bereits der Rahmenbeschluss selbst diese Ziele in einen schonenden Ausgleich mit den Grundrechten der Betroffenen bringen.18 Nicht nur der be-reits erwähnte Ablehnungsgrund bei Inlandstaten (Art. 4 Nr. 7 lit. a RbEuHb), sondern auch die anderen Ablehnungsgründe lassen erkennen, dass sie zum (Grund-)Rechtsschutz der Betroffenen geschaffen wurden; eine Lektüre der Art. 3, 4 RbEuHb lässt dies offen zutage-treten.19 Gleiches gilt für die Befugnis der Mitgliedstaaten, bestimmte Verfahrensgarantien einzufordern, wenn eine Auslieferung im Zusammenhang mit ausländischen Abwesenheits-urteilen (Art. 5 Nr. 1 RbEuHb) oder besonders hohen Strafen (Art. 5 Nr. 2 RbEuHb) erfolgt. Weiterhin lässt die Möglichkeit, die Auslieferung von einer Garantie der Rücküberstellung zur Strafverbüßung abhängig zu machen (Art. 5 Nr. 3 RbEuHb), erkennen, dass die Mit-gliedstaaten nicht gezwungen werden, die ihrer Strafgewalt unterworfenen Personen in be-sonders sensiblen Bereichen der Rechtsordnung eines fremden Staates zu überantworten.Auch der Grundrechtsschutz ist demnach Ziel des RbEuHb. Dass das Ziel umso „besser“ erreicht wird, je weniger der fakultativen Ausnahmetatbestände die Mitgliedstaaten über-nehmen, lässt sich somit nicht sagen. Bietet ein Rahmenbeschluss (oder auch eine Richt-linie) Umsetzungsspielräume, so muss jede im Übrigen EG-/EU-rechtskonforme und hin-reichend klare Umsetzung als „gleich geeignet“ im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips angesehen werden. Dem deutschen Gesetzgeber ist eine grundrechtsschonende Umsetzung weder durch ein Gebot des effet utile noch durch einen Vorrang des Europarechts verwehrt, soweit das europarechtlich vorgegebene Ziel erreicht wird.

b) Abwägung gleichberechtigter Belange: Verhältnismäßigkeitsprüfung anhand nationaler Zielvorgaben (weite Zwecksetzungskompetenz)

Der Gesetzgeber ist zur grundrechtsschonendsten Umsetzung berechtigt, aber nicht ver-pflichtet, da seine Zwecksetzungskompetenz nicht auf das europarechtlich Notwendige be-schränkt ist. Bevorzugt er, einige der fakultativen Ablehnungsgründe des RbEuHb nicht in das EuHbG zu übernehmen, so ist ihm das grundsätzlich unbenommen. Die Ziele, die er dadurch verfolgt, sind seine Ziele, nicht die Ziele der EU, auch wenn es weitgehende Über-schneidungen geben mag. Der Spielraum des Europarechts wirkt also nicht nur für den Bürger, sondern auch für den Mitgliedstaat. Innerhalb dieses Spielraums muss er eine Zwecksetzungskompetenz haben, zumindest ergänzend zu den europarechtlich vorgege-benen Zwecken. Diese kann nicht durch die europarechtlich geschaffene Möglichkeit der

18 Vgl. BVerfG (Fn. 1), Abs. 188, Sondervotum M. Gerhardt; s. auch Art. 1 Abs. 3 RbEuHb, § 73 S. 2 IRG.19 Z.B. Straflosigkeit nach innerstaatlichem Recht wegen des Alters (Art. 3 Nr. 3 RbEuHb), Parallelverfahren im

Staat, aus dem ausgeliefert werden soll (Art. 4 Nr. 1 RbEuHb).

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grundrechtsschonenden Umsetzung begrenzt sein. Ansonsten nähme das EG-/EU-Recht dem nationalen Gesetzgeber weitgehend die Befugnis, neben den europäischen nationale Ziele zu verfolgen. Dies ist auch aus Kompetenzgründen bedenklich. Man betrachte z.B. die Diskussion um die Umsetzung von Antidiskriminierungsrichtlinien in einem Antidiskrimi-nierungsgesetz.20 Die z.T. erhobene politische Forderung, Richtlinien nur noch „eins zu eins“ umzusetzen21, würde zu einer Rechtspflicht. Es ist aber nicht erkennbar, warum der Gesetzgeber nicht auch bestimmte Diskriminierungen verbieten darf, die von den EG-Richt-linien nicht erfasst werden. Das Richtlinienziel wird dadurch nicht gefährdet. Bei einer Pflicht zur grundrechtsschonendsten Umsetzung nähme man dem Gesetzgeber diese Ge-staltungsmöglichkeit, da es um drittgerichtete Diskriminierungsverbote geht, die die Privat-autonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) beschränken. Man käme zu einer Harmonisierung durch die Hintertür und einer Beschneidung der mitgliedstaatlichen Kompetenz auf einem Feld, das die EG noch gar nicht geregelt hat.Ebenso hat die EU nicht abschließend geregelt, welche Gründe einem Auslieferungsersu-chen entgegenstehen. Eine Pflicht zur grundrechtsschonendsten Umsetzung nimmt dem na-tionalen Gesetzgeber Spielräume, die er noch hätte, wenn er nicht zur Umsetzung eines EU-/EG-Rechtsaktes handelte. Das BVerfG hat daher die normative Unfreiheit des deut-schen Gesetzgebers verstärkt, obwohl es das Gegenteil beabsichtigte (vgl. dazu c)).Eine weite Zwecksetzungskompetenz lässt nicht etwa die Grundrechtsbindung entfallen, führt aber zu einer Abwägung gleichberechtigter Belange statt zu einer Pflicht der weitest-möglichen Grundrechtsschonung. Darf der Staat einen über die Mindestanforderungen des Europarechts hinausgehenden Zweck seiner Umsetzungsmaßnahme bestimmen, so würde dieser Zweck nicht „gleich wirksam“ erreicht, wenn man ihn zu einer Minimalumsetzung zwänge. Es ist daher richtig, dass sich Lübbe-Wolff ausschließlich auf eine Angemessen-heitsprüfung konzentriert und sich nicht mehr mit der Erforderlichkeit aufhält. Sie kommt damit zu einer vorzugswürdigen Abwägung gleichberechtigter Positionen. Zutreffend spricht sie von einer Abwägung zwischen den mit dem Rahmenbeschluss und seiner Umset-zung verfolgten Belangen effektiver Strafverfolgung und den Belangen etwaiger Zeugen und Opfer auf der einen und den grundrechtlichen Belangen der unmittelbar Auslieferungs-betroffenen auf der anderen Seite22.

c) Zwecksetzungskompetenz und normative Unfreiheit

„Sie sind der Gesetzgeber“, wurde von Seiten des BVerfG Abgeordneten entgegnet, die sich normativ unfrei gefühlt hatten, da sie der Ansicht waren, der RbEuHb hätte „eins zu eins“ umgesetzt werden müssen.23 Die Parlamentarier hätten gerade drei Tage Zeit zur Bearbei-tung der Gesetzesvorlage gehabt, eine Anhörung von Verfassungsrechtlern sei nicht mehr möglich gewesen, das Justizministerium habe mit dem Argument drohender „Bestrafung“ durch die EU gedrängelt und unter dem Druck sei nur über technische Fragen, nicht aber über Rechte der Betroffenen gesprochen worden.24

20 S. Stand der Gesetzgebung des Bundes, 15. Wahlperiode, I012, http://193.159.218.145/gesta/15/I012.pdf.21 CDU/CSU: T. Brand, NJW 32/2005, VI; FDP: T. Brand, NJW 34/2005, VIII, X.22 BVerfG (Fn. 1), Abs. 163, Sondervotum G. Lübbe-Wolff, Hervorhebung d. Verf.23 R. Müller, Wann darf ein Deutscher ausgeliefert werden? Karlsruhe entscheidet über die Umsetzung des euro-

päischen Haftbefehls, F.A.Z. v. 16.7.2005, S. 1.24 H. Kistenfeger, Küsst lieber keine Holländerinnen!, Focus online, 14.4.2005, www.ariva.de/board/217697.

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Dass Gesetzesvorlagen von Ministerien und/oder Ausschüssen erarbeitet und vom Plenum kritiklos angenommen werden, ist kein spezifisch europarechtliches Problem. Es kann der EU nicht vorgeworfen werden, wenn der deutsche Gesetzgeber gegebene Spielräume nicht nutzt, zumal bei anderen europarechtlich veranlassten Gesetzgebungsaktivitäten eine rege und kontroverse Diskussion im Plenum durchaus stattfindet25.Stellt sich hier aber ein verfassungsrechtliches Problem? Man könnte im Sinne eines Abwä-gungsausfalls argumentieren, der Gesetzgeber hätte sich seiner grundrechtsschützenden Funktion besser bewusst werden müssen. Das tut das BVerfG zwar nicht explizit, aber das Gebot der grundrechtsschonendsten Umsetzung i.V.m. dem Verhandlungsablauf26 lassen ei-nen Schluss in diese Richtung zu, genauso wie die Gesamtnichtigerklärung zur Wiederher-stellung der normativen Freiheit27.Eine Parallele hierzu findet sich im (dem Rechtsstaatsprinzip entnommenen) planungsrecht-lichen Abwägungsgebot, welches nicht nur die zweite, sondern auch die erste Gewalt bindet – als Beispiel sei nur § 1 Abs. 7 BauGB genannt, der sich an den Satzungsgeber richtet. Ge-gen eine derartige Abwägungsfehlerlehre als allgemeine verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers spricht jedoch, dass sie die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit zu sehr ein-schränkte. Eine Unterscheidung zwischen dem Gesetzesinhalt und dem Zustandekommen eines Gesetzes würde hinfällig. Gesetze könnten wegen Fehlern im Abwägungsvorgang ver-worfen werden, obwohl sie hiernach inhaltsgleich wieder erlassen werden könnten. Die Dis-kussion um das Normwiederholungsverbot nach verfassungsgerichtlicher Nichtigerklärung eines Gesetzes28 müsste unter völlig anderen Gesichtspunkten geführt werden. Es würde der Abwägungsvorgang losgelöst vom Abwägungsergebnis kontrolliert und dem Gesetzge-bungsverfahren eine über die Einhaltung der formalen Schritte hinausgehende Bedeutung verliehen.Im Schrifttum werden eher die Obergrenzen der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit dis-kutiert, nicht der Abwägungsausfall.29 Bei „Gestaltungsfehlern“ soll allein der Gesetzesin-halt Prüfungsmaßstab sein.30 Angesichts großzügiger Fehlerfolgenregelungen auch im Pla-nungsrecht31 und angesichts der allgemein weit gefassten gesetzgeberischen Gestaltungs-freiheit32 ist dies ein sinnvolles Kriterium. Das förmliche und materielle Gesetz sollte allein an seinem Inhalt und an der Einhaltung zwingenden Verfahrensrechts gemessen werden.In der mündlichern Verhandlung wurde versucht, eine Pflicht zum bewussten Umgang mit gesetzgeberischen Gestaltungsspielräumen dem Demokratieprinzip zu entnehmen mit dem Argument, der Gesetzgeber habe in normativer Unfreiheit einen Rahmenbeschluss umge-setzt, bei dessen Zustandekommen das Europäische Parlament lediglich angehört wurde (Art. 39 EU).33 Dagegen spricht, dass die normative Unfreiheit eine gefühlte war. Ein Ver-gleich zwischen dem RbEuHb und dem EuHbG zeigt die differenzierte Ausnutzung von

25 Bsp.: BT, Plenarprotokoll 15/182 v. 17.6.2005, S. 17201 ff. (Debatte zum ADG).26 Fn. 23.27 BVerfG (Fn. 1), Abs. 116.28 Allg. K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen. Ein Studien-

buch, 6. Aufl. 2004, Rn. 483 f.29 S. aber K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, insb. S. 875 ff.30 P. Badura, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 7: Normativität und Schutz der Verfassung

– Internationale Beziehungen, 1992, § 163, Rn. 28; K. Meßerschmidt (Fn. 29), S. 876.31 Z.B. §§ 214, 215 BauGB.32 Hierzu insg. P. Badura, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 30), Rn. 7 ff.33 M. Böhm, Das Europäische Haftbefehlsgesetz und seine rechtsstaatlichen Mängel, NJW 2005, S. 2588; zu

Recht krit. OLG Stuttgart, NJW 2005, 1522, 1524.

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Spielräumen auf. Einige aus EU-Perspektive fakultative Ablehnungsgründe wurden als fa-kultative, einige als obligatorische, einige gar nicht übernommen.34

Das EuHbG lässt auch dem Verfahren nach eine Auseinandersetzung mit der Materie erken-nen: Am 15.8.2003 wurde eine Regierungsvorlage dem Bundesrat zugeleitet und beschritt einen langen Marsch durch die Gesetzgebungsorgane und Ausschüsse. Es gab Änderungen, und das Vermittlungsverfahren wurde durchgeführt, bevor am 16.6.2004 das Gesetz im Ple-num angenommen wurde.35 Zwar mag ein Großteil der substanziellen Arbeiten am Plenum vorbei geführt worden sein. Indes zeigt der Verfahrensgang, dass eine inhaltliche Gestaltung in zahlreichen verschiedenen Organen und Ausschüssen stattfand, auch wenn die federfüh-rende Arbeit von Abgeordneten auf Mitarbeiter delegiert worden sein sollte. Waren Parla-mentarier in den Ausschüssen und im Plenum unzureichend informiert, so ist dies politisch zu bedauern. Eine Grundlage für verfassungsrechtliche Einschränkungen der gesetzgebe-rischen Gestaltungsfreiheit ist dies jedoch nicht.36

Ähnlich verhält es sich bei der internen Ausgestaltung des Satzungsgebungsverfahrens; die Verlagerung wesentlicher inhaltlicher Arbeiten auf Ausschüsse wird dort akzeptiert37. We-gen der Größe des Bundestagsplenums, des weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspiel-raums, der höheren Komplexität von Gesetzgebungsverfahren und Gesetzesinhalten und der Menge der zu bewältigenden Vorgänge muss dies erst recht für den Erlass von Bundesgeset-zen gelten – zumindest, wenn eine inhaltliche Auseinandersetzung, wie hier, erkennbar ist.Nach alldem existiert eine Pflicht zur grundrechtsschonendsten Umsetzung nicht. Der deut-sche Gesetzgeber hat eine Zwecksetzungskompetenz, und seine Interessen sind gegen Art. 16 Abs. 2 GG abzuwägen.

3. Abwägung im konkreten Fall: Vertrauen in Europa

Die Lösung von Gerhard, wonach das EuHbG verfassungsgemäß ist, verdient den Vorzug, da er die EU nicht als Bedrohung, sondern als Instrument der Verstärkung und Ergänzung des nationalen Grundrechtschutzes sieht. Dieses Vertrauen auf den europäischen Grund-rechtsschutz ist berechtigt. Die Union hat gemäß Art. 6 Abs. 2 EU die Grundrechte zu ach-ten. Schon das Inkrafttreten eines grundrechtswidrigen Rahmenbeschlusses kann verhindert werden, indem die Kommission und/oder die Mitgliedstaaten ihn mit der Nichtigkeitsklage angreifen (Art. 35 Abs. 6 EU). Mangels unmittelbarer Rechtswirkung gibt es zwar keine Individualklage38, aber dies wird durch das Instrument der Vorlagefrage an den EuGH kom-pensiert. Nach Art. 35 Abs. 1–3 EU i.V.m. dem deutschen EuGHG39 sind Vorlagefragen deutscher Gerichte möglich, das EuGHG sieht in § 1 Abs. 2 sogar die Vorlagepflicht ent-sprechend Art. 234 Abs. 3 EG vor. Fragen der Auslegung und Gültigkeit eines Rahmenbe-schlusses können die Einhaltung des Europäischen Grundrechtsstandards und des Verhält-nismäßigkeitsgebotes betreffen. Nur wenige Tage vor Ergehen des Bundesverfassungsge-richtsurteils wurde vom Belgischen Schiedshof tatsächlich eine entsprechende Frage ge-

34 Vgl. Art. 3, 4, RbEuHb und §§ 83, 83 b IRG.35 Stand der Gesetzgebung des Bundes, 15. Wahlperiode, C053, http://dip.bundestag.de/gesta/15/C053.pdf.36 Zur weiten gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit allg. P. Badura, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 30), § 163,

Rn. 7 ff.37 Z.B. Saarl. OVG, BRS 59, Nr. 21.38 Statt aller: W. Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Kommentar des Vertrages über die Europäische Union und des

Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 35 EU, Rn. 6 m.w.N.39 BGBl. 1998 I S. 2035.

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stellt.40 Damit könnte, müsste und würde der EuGH auch in Fällen wie dem „Zungenkuss als Vergewaltigung“ die Grundrechte des Betroffenen angemessen wahren.Bekanntermaßen kann eine Missachtung der Vorlagepflicht als Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG im Verfassungsbeschwerdeverfahren gerügt werden. Zwar hat das BVerfG inso-weit strenge Voraussetzungen aufgestellt.41 Diese dürften aber erfüllt sein, wenn ein Gericht in einem grob unverhältnismäßigen Fall die Auslieferung für zulässig erklärt. Horrorszena-rien wie das vom „Jecken als Vergewaltiger“ taugen nicht als Argument gegen die Verfas-sungsmäßigkeit des EuHbG.Das BVerfG kann ohnehin eine Einzelentscheidung wegen Verstoßes gegen Art. 16 Abs. 2 GG oder bei Ausländern Art. 2 Abs. 1 GG (bzgl. der Festnahme: Art. 2 Abs. 2 GG) kassie-ren, wenn das OLG, welches nach §§ 12, 13 IRG über die Zulässigkeit der Auslieferung zu entscheiden hat, die Grundrechte des Betroffenen in verfassungsspezifischer Weise verletzt. Dies beträfe dann aber nicht das EuHbG als solches. Da vom Gesetz mit einem Ordre-Pu-blic-Vorbehalt (§ 73 S. 2 IRG) und diversen Ablehnungsgründen Möglichkeiten des Indivi-dualschutzes geboten werden, ist dies unter dem Aspekt verfassungskonformer Auslegung die vorzugswürdige Lösung. Überdies lassen die Ablehnungsgründe in § 83 b Nr. 1, 2 IRG (Parallelverfahren/Ablehnung von Parallelverfahren in Deutschland) die Auslieferung eines Deutschen wegen einer Inlandstat ohnehin eher theoretisch erscheinen, denn ein Ermitt-lungsverfahren wird bei einer Katalogtat nach Art. 2 Abs. 2 RbEuHb zumeist eingeleitet werden – auch nach Ausstellung eines EuHb ist dies noch möglich.42

Es stellt sich somit heraus, dass die Grundrechtsgefährdungen durch das EuHbG gering-gehalten werden können. Bei einer Nichtumsetzung des RbEuHb oder der Festschreibung von weiteren einzelfallunabhängigen Ablehnungsgründen wären hingegen Beschleunigung und Vereinheitlichung von Auslieferungen zum Zwecke der Kriminalitätsbekämpfung er-heblich gefährdet. Spanien liefert z.B. keine Straftäter nach Deutschland aus, da dies umge-kehrt ebenfalls nicht mehr geschieht.43 Derartige Nachahmungseffekte sind nicht nur bei der in Deutschland vorliegenden Totalnichtigkeit des Umsetzungsgesetzes denkbar, sondern auch bei einer Umsetzung mit weitgehenden und starren Ablehnungsgründen. Gerade bei einem absoluten Auslieferungsschutz eigener Staatsangehöriger bei Inlandstaten könnten sich andere Mitgliedstaaten zur Nachahmung veranlasst sehen. Daher muss das Pendel zu-gunsten der Kriminalitätsbekämpfung ausschlagen.Diese Lösung impliziert keineswegs ein Zurückweichen des deutschen Grundrechtsschutzes, auch Gerhard nimmt das nationale Grundrecht des Art. 16 Abs. 2 GG zum Maßstab seiner Abwägung. Das „Vertrauen in Europa“ entspringt dem Gebot (national-)verfassungskon-former Auslegung des EuHbG, weil sich hierdurch begründen lässt, dass der Eingriff in Art. 16 Abs. 2 GG verfassungs-, insbesondere verhältnismäßig im engeren Sinne ist.

II. Kollision zwischen zwingendem EG-/EU-Recht und nationalen Grundrechten

Wie verhielte es sich mit dem Rang von nationalem Recht und Unionsrecht, wenn eine zwingende EU-/EG-Vorgabe im Widerspruch zum GG stünde? Bezüglich Richtlinien behält

40 Belgischer Schiedshof, Vorlageurt. v. 13.7.2005, NJW 2005, 3312.41 BVerfGE 82, 159, 195 f.42 C. Tomuschat (Fn. 6), S. 458.43 NJW 40/2005, XIV; EuZW 2005, 645 f.

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sich das BVerfG nach wie vor die volle Grundrechtskontrolle der Umsetzungsakte vor44, aber in der Literatur wird argumentiert, jedenfalls im Falle zwingenden Gemeinschafts-rechts müsse dieses den Grundrechten vorgehen und sei der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung von der Grundrechtsbindung frei45. Alles andere führe zu dem Ergebnis, dass Richtlinien Verordnungen nicht gleichwertig seien, obwohl der EG sie als im Wesentlichen gleichwertig konzipiere.46 Ein Anwendungsvorrang, der lediglich die zweite und dritte Ge-walt binde, nicht aber den Gesetzgeber bei der Richtlinienumsetzung, sei ein stumpfes Schwert.47

Das BVerfG hat im Fall des EuHb gesagt, wie es im Kollisionsfall verführe: Der Gesetzge-ber habe „notfalls“ die Umsetzung zu verweigern. Dies wurde mit dem besonderen Charak-ter des Unionsrechts der dritten Säule begründet.48

Wenn hier angedeutet wird, dass zwischen Richtlinien und Rahmenbeschlüssen zu differen-zieren ist, stößt dies auf Bedenken. Es besteht in jedem Fall eine Umsetzungsverpflichtung. Dass sie bei Rahmenbeschlüssen nicht vom EuGH durchsetzbar ist, ändert nichts an ihrer Existenz.49 Nun ließe sich argumentieren, diese Pflicht träfe die Mitgliedstaaten nur „inter-gouvernemental“ als Völkerrechtssubjekte wie bei jedem anderen völkerrechtlichen Ver-trag.50 Art. 34 EU lässt indes erkennen, dass Rahmenbeschlüsse über die zwischenstaatliche Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten hinausweisen.51 Sie sind Richtlinien weitgehend ange-nähert. Die fehlende unmittelbare Wirksamkeit (Art. 34 Abs. 2 lit. b S. 2 EU) kann dem Rahmenbeschluss eine supranationale Wirkung kaum absprechen, da dies ebenfalls für die Richtlinie zu Lasten Privater gilt.52 Auch die Aufgaben der EU nach Art. 1 Abs. 2, 3 EU gebieten eine Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 10 EG analog.53 Art. 1 Abs. 2, 3 EU lassen als Ziel eine höhere Integrationsdichte erkennen als ein Regelwerk, das Grundlage für die Schließung völkerrechtlicher Verträge ist. Konsequenterweise hat der

44 BVerfG, EuR 1989, 270, 273; BVerfG, NVwZ 1993, 883; Anm. M. Sachs, JuS 1993, S. 596 f.; zust. wegen Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG: R. Scholz, Nationale und europäische Grundrechte – Zum Verhältnis von Grund-gesetz und Europäischer Grundrechtscharta –, in: FS Heldrich, 2005, S. 1311, 1317.

45 I. Pernice, in: Dreier (Fn. 16), vgl. auch P.-C. Müller-Graff, Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte, in: FS Steinberger, 2002, S. 1281, 1300.

46 C. Tomuschat (Fn. 16), S. 345, damals noch in Bezug auf den EWGV.47 Sinngemäß M. Herdegen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und die Bindung deutscher Verfassungsorgane an

das Grundgesetz. Bemerkungen zu neueren Entwicklungen nach dem „Solange II“-Beschluss, EuGRZ 1989, S. 309, 311.

48 BVerfG (Fn. 1), Abs. 81. Dort wird zwar im Sinne einer Ermächtigung und nicht einer Pflicht zur Verweigerung formuliert. Es kann aber nur als Verweigerungspflicht verstanden werden, wenn man berücksichtigt, dass das Gericht die Umsetzung an deutschen Grundrechten misst. Da eine dagegen verstoßende Umsetzung verfas-sungswidrig wäre, gebietet die Verfassung die Verweigerung, wenn anders nicht europa- und verfassungsrecht-liche Vorgaben in Einklang gebracht werden können.

49 W. Brechmann, in: Calliess/Ruffert (Fn. 38), Art. 34 EU, Rn. 7-9; J. Vogel, Europäischer Haftbefehl und deut-sches Verfassungsrecht, JZ 2005, S. 801, 807.

50 M. Pechstein/C. Koenig, Die Europäische Union, 3. Aufl. 2000, Rn. 248 ff.; T. Fetzer/T. Groß, Die Pupino-Ent-scheidung des EuGH – Abkehr vom intergouvernementalen Charakter der EU? – Erwiderung auf Herrmann, EuZW 2005, 436, EuZW 2005, S. 550 f.

51 W. Brechmann, in: Calliess/Ruffert (Fn. 38), Art. 34 EU, Rn. 7.52 EuGH, Rs. C-144/04 (Mangold), ZIP 2005, 2171, Rn. 66 ff., stellt eine bedenkliche Aushöhlung dieses Grund-

satzes dar, wie GA A. Tizzano (insoweit abweichende Schlussanträge im gleichen Fall, Rn. 106 ff.) zutreffend nachweist, vgl. T. Gas, Die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien zu Lasten Privater im Urteil „Man-gold“, EuZW 2005, S. 737. Zur Frage, ob und inwieweit dem Grundsatz der fehlenden unmittelbaren Richtlini-enwirkung zu Lasten Privater eine Aushöhlung per richtlinienkonformer Auslegung droht: W. Frenz, Verpflich-tungen Privater durch Richtlinien und Grundfreiheiten, EWS 2005, S. 104 ff.

53 EuGH, Rs. C-105/03 (Pupino), Rn. 34, 42 = EuZW 2005, 433, 435, diesen Aspekt der Durchgriffswirkung ver-nachlässigen T. Fetzer/T. Groß (Fn. 50).

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EuGH Loyalitätspflichten nicht nur für die Mitgliedstaaten angenommen, sondern ist von einem Durchgriff auf alle Staatsorgane wie Behörden und Gerichte ausgegangen.54

Dies bezog sich zwar auf das Gebot der rahmenbeschlusskonformen Auslegung, ist aber auf die Rangfrage zu übertragen. Die genannten Pflichten würden unterminiert, wenn ein Um-setzungsgesetz an nationalen Grundrechten zu messen wäre und im Kollisionsfall trotz zwingender Umsetzungsvorgaben verworfen würde.Zu berücksichtigen ist ferner, dass aus den in I. 3. genannten Gründen die europäische und die nationale Rechtsordnung nicht als gegeneinander gerichtet zu sehen sind; vielmehr kön-nen die Grundrechtsordnungen einander ergänzen und verstärken.55 Genausowenig wie bei der Umsetzung von Richtlinien besteht bei derjenigen von Rahmenbeschlüssen eine Not-wendigkeit, stets und absolut die deutschen Grundrechte vorzuziehen. Unions- und Gemein-schaftsrecht ist daher gleichermaßen ein Vorrang zuzugestehen, der auch den nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung von Richtlinien und Rahmenbeschlüssen bindet, soweit zwingende Umsetzungsvorgaben existieren.56

Fraglich ist, ob dieser Vorrang unbeschränkt ist. Bei der Richtlinienumsetzung wird nicht selten der Grundrechtsstandard des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG als äußerste Grenze genannt.57 Da nach dem Voranstehenden der EU-Grundrechtsstandard diesem Schutzniveau entspricht, soll dies nicht weiter vertieft werden. Einzugehen ist hingegen auf das Subsidiaritätsprinzip des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG.

III. Zum Bedeutungsgehalt des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG – Sondervotum Broß

Als Einziger hielt Verfassungsrichter Broß es nicht für notwendig, eine Prüfung an Art. 16 Abs. 2 GG und/oder Art. 19 Abs. 4 GG vorzunehmen. Mit der schon im Maastricht-Urteil zweifelhaften58 Begründung, dass die Einhaltung von Subsidiaritäts- und Demokratieprin-zip über die Brücke des Art. 38 GG zu einem verfassungsbeschwerdefähigen Individual-recht werde59, nahm Broß ausschließlich eine Prüfung anhand des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG vor. Dieser Artikel sei verletzt, wobei Broß faktisch mit Kategorien der Darlegungslast ope-riert. Subsidiarität wird als verfassungsrechtliche Integrationsschranke gesehen, zu deren Überwindung ein „Integrationsmehrwert“ der europarechtlichen Regelung nachvollziehbar begründet werden müsse.60 Diese Darlegungspflicht treffe den nationalen Akteur bei jeder

54 EuGH, aaO.55 Vgl. A. Weber, Einheit und Vielfalt der europäischen Grundrechtsordnungen, DVBl. 2003, S. 220 ff., der (S. 227

m.w.N.) schon seit längerem eine Pluralität von Rechtskreisen ausmacht (Grundrechtecharta, EMRK, nationale Grundrechtsverbürgungen), die sich teilweise überschnitten und ergänzten.

56 Neuerdings in diesem Sinne auch J. Masing, Vorrang des Europarechts bei umsetzungsgebundenen Rechtsak-ten, NJW 2006, S. 264 ff.

57 M. Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 16); C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundge-setz. Bd. 1. Präambel, Artikel 1–19, 5. Aufl. 2005, Art. 1, Rn. 225.

58 Z.B. U. M. Gassner, Kreation und Repräsentation. Zum demokratischen Gewährleistungsgehalt von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, Der Staat 34 (1995), S. 429 ff.; U. Häde, Das Bundesverfassungsgericht und der Vertrag von Maastricht. Anmerkungen zum Urteil des Zweiten Senats von 12. 10. 1993 – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92, BB 1993, S. 2457, 2457 f.; S. Hobe/B. Wiegand, Die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, ThürVBl 1994, S. 204 ff.; J. Schwarze, Europapolitik unter deutschem Verfassungsrichtervorbehalt. Anmerkun-gen zum Maastricht-Urteil des BVerfG vom 12.10.1993, NJ 1994, S. 1, 1 f.; C. Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 1993, S. 489 ff.

59 BVerfGE 89, 155, 171 f. = EuR 1993, 294, 303 f.; BVerfG (Fn. 1), Abs. 147 f., Sondervotum S. Broß.60 BVerfG (Fn. 1), Abs. 149, Sondervotum S. Broß.

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Mitwirkung an der Entwicklung der EU. Die folgenden Ausführungen lassen nur den Schluss zu, dass jegliche Anwendung von EU-Recht (und wohl auch EG-Recht) gemeint ist; es geht nicht nur um die Übertragung von Hoheitsrechten, sondern um die „konkrete Rechtsanwendung“61 in jedem Einzelfall. Für die Vollziehung des RbEuHb müsse nicht nur bei der legislativen Transformation, sondern auch bei der Rechtsanwendung, also bei jeder Auslieferung, „hinreichend nachgewiesen“ sein, dass „im Einzelfall“ die nationale Strafver-folgung unzureichend sei.62

Entgegen einer Ansicht63 war es konsequent, dass die anderen Richter Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ignorierten. Eine Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG kommt hier nicht in Betracht.Dies hat nicht entscheidend mit der Frage zu tun, ob Art. 23 Abs. 1 GG sich lediglich auf die Übertragung von Hoheitsrechten und die Mitwirkung am Zustandekommen bzw. an der Änderung von Primär- und Sekundärrecht bezieht.64 Ohne Bedeutung ist auch, ob bei Rechtsakten der zweiten und dritten Säule mangels unmittelbarer Wirkung von „Übertra-gung von Hoheitsrechten“ gesprochen werden kann.65 Dies würde ausschließlich die Frage berühren, ob und inwieweit der deutsche Vertreter im Rat der EU von Verfassungs wegen gehindert gewesen wäre, dem RbEuHb zuzustimmen. Damit nicht zu verwechseln ist ein Recht oder eine Pflicht zur Umsetzungs- und Durchführungsverweigerung.Es ist also zwischen dem Erlass des RbEuHb und dem des EuHbG zu differenzieren; im Verfassungsbeschwerdeverfahren ging es ausschließlich um Letzteres. Die Anwendbarkeit des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG auf Ersteres unterstellt, kann aber auch dort gesagt werden, dass das Subsidiaritätsprinzip gewahrt wurde. Zu beachten ist, dass es bei diesem Prinzip nicht um die materiell beste Lösung, sondern um Fragen der Kompetenzzuordnung und -aus-übung geht.66 Auch bei der Kompetenzausübung kommt es nicht darauf an, wie eine be-stimmte Materie am besten zu regeln ist, sondern ob die höhere Ebene handeln darf. Der Unterschied zur Kompetenzzuordnung besteht lediglich darin, dass bei der Kompetenzaus-übung generell feststeht, dass die höhere Ebene zuständig sein kann, aber diese Zuständig-keit im Sinne einer konkurrierenden Kompetenz von einer Erforderlichkeit im konkreten Fall abhängt. Dies kommt z.B. in Art. 5 S. 2 EG, aber auch in Art. 72 Abs. 2 GG zum Aus-druck.Bezogen auf den RbEuHb bedeutet dies: Bei der grenzüberschreitenden Auslieferung han-delt es sich um eine Materie, die stark von nationalstaatlichen Befindlichkeiten geprägt ist und bei der jenseits eines gemeinsamen Vorgehens nicht der gleiche Grad an Verlässlichkeit im internationalen Rechtsverkehr erreicht werden kann. Ob die Lösung des RbEuHb „bes-ser“ ist, ist nicht von Belang. Entscheidend ist, dass eine europäische Lösung, welchen In-halts auch immer, Vorteile bezüglich Rechtssicherheit, Rechtsklarheit und Verlässlichkeit in

61 AaO., Abs. 136.62 AaO., Abs. 139.63 J. Vogel (Fn. 49), S. 806.64 Dies sind jedenfalls die Hauptanwendungsfelder des Art. 23 Abs. 1 GG: O. Rojahn, in: von Münch/Kunig,

Grundgesetz-Kommentar. Bd. 2 (Art. 20 bis Art. 69), 5. Aufl. 2001, Art. 23, Rn. 17; H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 7. Aufl. 2004, Art. 23, Rn. 14 f.

65 Für eine Bindung der Mitwirkung im Rahmen der zweiten und dritten Säule an Art. 23 Abs. 1 GG: J. Vogel (Fn. 49), S. 805.

66 C. D. Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 2, Artikel 20 bis 78, 5. Aufl. 2005, Art. 23, Rn. 45 f., der zu Recht darauf hinweist, dass das Subsidiaritätsprinzip im Europarecht lediglich in der Dimension als Kompetenzausübungsregel verankert ist.

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der praktischen Handhabung bringt. Das Subsidiaritätsprinzip muss Kompetenzausübungs-regel bleiben und darf nicht dazu missbraucht werden, inhaltliche Vorgaben an europäisches Recht zu stellen.67 Der deutsche Vertreter im Rat durfte dem RbEuHb zustimmen.Das EuHbG ist nicht an Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zu messen, denn bei seinem Erlass handelt es sich nicht um eine „Mitwirkung“ bei der EU-Entwicklung. Generell ausgeschlossen ist dies bei nationalen Gesetzen zwar nicht – so sollen die Schranken des Art. 23 Abs. 1 GG z.B. für das deutsche Vertragsgesetz zur Gründung von Europol gelten. Dort gab es indes die Besonderheit, dass die Mitglieder der Organe und die Bediensteten von Europol Immu-nität von nationaler strafrechtlicher Verfolgung erhielten.68 Beim EuHbG hingegen ent-scheiden nach wie vor nationale Stellen über Auslieferungsverlangen und verzichten dabei lediglich unter bestimmten Bedingungen auf die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit. Auch wenn EU-Rahmenbeschlüssen bereits ein supranationales Element innewohnt (vgl. II.), ist im konkreten Fall nicht zu erkennen, inwieweit der deutsche Umsetzungsgesetzgeber Hoheitsrechte überträgt – er könnte bei jeder Umsetzung eines völkerrechtlichen Vertrages darauf verzichten, in bestimmten Fällen die beiderseitige Strafbarkeit zu prüfen.69 Es ist nicht Sinn des Art. 23 Abs. 1 GG, strengere Voraussetzungen zu schaffen als bei der ver-gleichbaren Umsetzung völkerrechtlicher Verträge. Eine enge Auslegung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, die den Anwendungsbereich der Norm auf Hoheitsrechtsübertragungen beschränkt, ist daher geboten.Hinzu kommt, dass Art. 23 Abs. 1 GG nicht einseitig als schrankensetzend betrachtet wer-den darf, sondern auch einen positiven Auftrag zu europarechtlicher Loyalität enthält. Art. 10 EG wird so in innerstaatliches Recht transportiert.70 Daraus folgt: Ist eine Richtlinie oder ein Rahmenbeschluss im Einklang mit den europa- und verfassungsrechtlichen Vor-gaben zustande gekommen, so muss sie bzw. er umgesetzt und angewendet werden. Wer aus Art. 23 Abs. 1 GG eine Umsetzungs- und Anwendungsverweigerungspflicht konstruiert, verkehrt Sinn und Zweck der Norm in ihr Gegenteil.71

Das Subsidiaritätsprinzip ist daher beim Erlass des RbEuHb, die Einschlägigkeit unterstellt, gewahrt, beim Erlass des EuHbG nicht einschlägig. Da es im Verfassungsbeschwerde-verfahren um Letztetes ging, war eine Erörterung von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht geboten, sondern verfehlt.

IV. Effektiver Rechtsschutz, Art. 19 Abs. 4 GG

Ein weiteres Problem des EuHbG war, dass nach seinem § 74 b IRG die Entscheidung über die Auslieferungsbewilligung nicht anfechtbar war. Gemeint ist die Exekutiventscheidung, die i.d.R. nach § 74 Abs. 1 S. 1 IRG vom Bundesjustizminister im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und mit anderen betroffenen Bundesministern gefällt wird. Davon zu trennen ist die vorgelagerte Prüfung der Zulässigkeit der Auslieferung, die nach §§ 12, 13 IRG von den Oberlandesgerichten vorgenommen wird.

67 BVerfG (Fn. 1) Abs. 161, Sondervotum G. Lübbe-Wolff; für Art. 72 Abs. 2 GG überzeugend BVerfGE 111, 226, 278 f. = NJW 2004, 2803, 2812, Sondervotum L. Osterloh/G. Lübbe-Wolff/M. Gerhardt.

68 O. Rojahn, in: Von Münch/Kunig (Fn. 64), Art. 23, Rn. 25 a.69 Deswegen und wegen der nach wie vor begrenzten Einzelermächtigungen der EU/EG liegt auch keine „Ent-

staatlichung“ vor, zutr. C. Tomuschat (Fn. 6), S. 457, m. krit. Analyse von BVerfG (Fn. 1), Abs. 75.70 C. D. Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 66), Rn. 10.71 Vgl. C. Tomuschat (Fn. 6), S. 454 f.

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Nach herrschender Ansicht greift bei einer nicht auf EuHb gestützten Bewilligungsentschei-dung die Garantie des Art. 19 Abs. 4 GG nicht. Es bestehe keine Möglichkeit, dass durch diese Entscheidung Rechte des Betroffenen berührt werden. Somit liege ein justizfreier Ho-heitsakt vor. Die Bundesregierung habe bei der Bewilligungsentscheidung ein freies Ermes-sen und entscheide ausschließlich nach eigenen außen- und allgemeinpolitischen Interessen. Dem Schutz des Betroffenen diene nur die vorgelagerte gerichtliche Zulässigkeitsentschei-dung.72

Für das Verfahren nach dem EuHbG hat nun die Senatsmehrheit eine Verrechtlichung der Bewilligungsentscheidung ausgemacht. Die Versagungsgründe (z.B. Parallelverfahren in Deutschland nach § 83 b Nr. 1 IRG, Ablehnung von Parallelverfahren nach § 83 b Nr. 2 IRG) ließen erkennen, dass nicht nur das Gericht bei der Zulässigkeitsprüfung, sondern auch die Regierung bei der Bewilligungsentscheidung subjektive Rechte des Betroffenen berücksichtigten. Dies sei auch erstmals durch ein verrechtlichtes Verwaltungsverfahren ab-gesichert, in dem die Bewilligungsentscheidung dem Betroffenen bekanntzugeben und zu begründen ist. Daher sei Art. 19 Abs. 4 GG einschlägig und führe dazu, dass die Nicht-anfechtbarkeit der Bewilligungsentscheidung verfassungswidrig sei.73

Auch hier verdient die gegenteilige Ansicht von Gerhardt den Vorzug. Ob die Regierung Aspekte im Interesse des Betroffenen berücksichtigen darf, oder ob er ein Recht darauf hat, ist zu unterscheiden; Ersteres ist selbstverständlich schon für die Auslieferung ohne EuHb der Fall. Entscheidend kann beim EuHbG nicht sein, dass das Ermessen der Regierung auf bestimmte Versagungsgründe beschränkt ist, sondern ob diese Versagungsgründe dem Be-troffenen ein Recht auf ermessensgerechte Ausübung einräumen. Dies ist zu verneinen. Ansonsten würde dem Sinn und Zweck des zweigeteilten Verfahrens (Zulässigkeitsprüfung durch das Gericht, Bewilligungsentscheidung durch die Exekutive) widersprochen. Die Aufrechterhaltung dieser Zweiteilung für das EuHb-Verfahren lässt vielmehr erkennen, dass die herkömmliche Aufgabenteilung beibehalten werden sollte, wonach das Gericht Indivi-dualbelange, die Regierung hingegen ihre eigenen Interessen berücksichtigt.74

Dem lässt sich auch nicht eine Rechtsschutzverkürzung entgegenhalten, denn durch die ge-richtliche Zulässigkeitsprüfung werden Belange des Betroffenen hinreichend berücksichtigt und müssen dies auch. Die Oberlandesgerichte dürfen sich nicht jeglicher Abwägung ent-halten und sich nicht auf eine Prüfung beschränken, ob die geschriebenen formellen und materiellen Voraussetzungen für die Auslieferung vorliegen. Sie haben, wie bei jeder An-wendung von Normen, eine Prüfung von Grundrechten, speziell vom Verhältnismäßigkeits-prinzip, im Interesse des Betroffenen vorzunehmen, ohne dass dies extra normiert sein müsste.75 Auch dies entspringt dem Gebot verfassungskonformer Auslegung. Verhalten sich

72 T. Vogler, in: Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen. Die für die Rechtsbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit dem Ausland in Strafsachen maßgeblichen Bestimmungen. Bd. 1, 2. Aufl. 1987, I A 2, § 12, Rn. 20 ff.; indirekt, aber unmissverständlich BVerfGE 96, 100, 117 ff.: Zur parallelen Proble-matik der Überstellung von Strafgefangenen hat das Gericht darauf abgestellt, dass nur die Zulässigkeits-entscheidung der Staatsanwaltschaft wegen der Betroffenheit rechtlich geschützter Individualinteressen gericht-lich überprüfbar sein muss. Unausgesprochen bedeutet dies, dass nicht die nachgelagerte ministerielle Bewilli-gungsentscheidung (insoweit mit der Auslieferungsbewilligung vergleichbar) anfechtbar ist. AA OVG Berlin, OVGE Bln 23, 232 ff.

73 BVerfG (Fn. 1), Abs. 111 ff.74 AaO., Abs. 198 f., Sondervotum M. Gerhardt, im Hinblick auf die europarechtlichen Vorgaben krit. C. Tomu-

schat (Fn. 6), S. 459.75 Zutr. BVerfG aaO., vgl. auch Abs. 192 f., de facto nimmt selbst das OLG Stuttgart, NJW 2005, 1522 ff., eine

solche Prüfung vor, obwohl es dies in Abrede stellt (1524).

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Gerichte nicht dementsprechend, so kann das schwerlich dem Gesetz angelastet werden. Eine fehlende Anfechtbarkeit der exekutiven Bewilligungsentscheidung ist daher nicht ver-fassungswidrig.

V. Weitere Problemfelder

Die hier bevorzugte Lösung führt dazu, dass einige der im Urteil diskutierten Probleme sich erledigen. Aus Platzgründen sollen diese nur noch kurz angedeutet werden. Streiten ließe sich darüber, ob ein von der Senatsmehrheit geforderter Auslieferungsschutz speziell für Deutsche dem Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG widerspricht.76 Fraglich ist ferner, ob der Rechtsfolgenausspruch – Gesamtnichtigkeit des EuHbG – mit dem verfassungsrecht-lichen Normerhaltungsgebot und der europarechtlichen Pflicht der Rahmenbeschlussumset-zung vereinbar ist.77 Es spricht einiges gegen diesen Rechtsfolgenausspruch, da zum einen das Gericht den Anspruch der Wiederherstellung der normativen Freiheit durch seine eige-nen Vorgaben konterkariert (I. 2. b)) und zum anderen die normative Freiheit überhaupt nicht gefehlt hatte (I. 2. c)). Daher lässt sich die Gesamtnichtigkeit auch nicht mit dem Ar-gument verteidigen, Karlsruhe hätte sich mit deren Ausspruch erfolgreich dagegen gewehrt, als Ersatzgesetzgeber zu fungieren.78 Auch zur Vermeidung von europarechtlichen Umset-zungsdefiziten wäre ein moderaterer Rechtsfolgenausspruch wünschenswert gewesen; so hat z.B. der polnische Verfassungsgerichtshof verfügt, dass das Außerkrafttreten der dort verworfenen Regelung um 18 Monate ab Urteilsverkündung im Gesetzblatt aufgeschoben wird.79

Schließlich könnte man darüber nachdenken, ab wann eine (reale) normative Unfreiheit des deutschen Gesetzgebers tatsächlich gegen das Demokratieprinzip verstieße, speziell bei der Umsetzung eines nach bloßer Anhörung des Europäischen Parlaments zustande gekom-menen Rahmenbeschlusses. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, wie das BVerfG einen Fall entscheiden wird, in dem der deutsche Gesetzgeber einen grundrechtsschonenden Spiel-raum bei der Umsetzung eines Rahmenbeschlusses nicht hat.

76 S. BVerfG aaO., Abs. 74 f., Senat, Abs. 158 f., Sondervotum G. Lübbe-Wolff; J. Vogel (Fn. 49), S. 805.77 Krit. BVerfG, aaO., Abs. 182, Sondervotum G. Lübbe-Wolff, Abs. 200, Sondervotum M. Gerhardt; A. Egger,

Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte in der III. Säule, EuZW 2005, S. 652, 655; J. Vogel (Fn. 49), S. 809.

78 So aber J. Kretschmer, Das Urteil des BVerfG zum Europäischen Haftbefehlsgesetz, Jura 2005, S. 780, 786.79 Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 27.4.2005, P 1/05, http://www.trybunal.gov.pl/OTK/teksty/otk/2005/

P_01_05.doc, deutsche Zusammenfassung: http://www.trybunal.gov.pl/eng/summaries/documents/P_1_05_DE.pdf, s. auch A. Egger (Fn. 77).

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REZENSIONEN Mathias Traub, Einkommensteuerhoheit für die Europäische Union? Bd. 41 der Schrif-tenreihe Deutsches, Europäisches und Vergleichendes Wirtschaftsrecht, Baden-Baden, No-mos, 2005, 354 S.

In einer Zeit, in der mehr über Filetierung als Ratifizierung der Europäischen Verfassung gesprochen wird, scheint die mit dem Titel dieses Buches gestellte Frage auf den ersten Blick utopisch. Auch unterstellt Traub den Untersuchungen seiner Doktorarbeit den Schritt der EU zur Eigenstaatlichkeit und damit den Weg in einen europäischen Bundesstaat. Den-noch gebührt diesem Werk Beachtung: Anhand der Einkommensteuersysteme Deutsch-lands, der USA und der Schweiz untersucht Traub Möglichkeit und Notwendigkeit einer zentral erhobenen Einkommensteuer und weist auf potenzielle Folgen einer solchen Neue-rung für die Machtbalance innerhalb der EU hin. Die dabei gebrachten Vergleiche und dar-aus gewonnenen Erkenntnisse verlieren durch das derzeitige Abflauen bundesstaatlicher Tendenzen – wenn überhaupt – höchstens an Aktualität, jedoch nicht an grundsätzlichem Wert.Einleitend erörtert der Autor im 1. der 8 Kapitel unterschiedliche Begriffe des „Bundesstaa-tes“ und zeigt dabei die föderalen Elemente der EU auf. Darauf folgen im 2. Kapitel gene-relle Ausführungen über Bedeutung und Funktionen der Einkommensteuer sowie anschau-liche Skizzen aller denkbaren Möglichkeiten Einkommensteuerhoheit zwischen Zentral- und Gliedstaaten aufzuteilen. Traub unterscheidet dabei – wie auch in den folgenden Kapi-teln – zwischen den drei Teilkompetenzen Gesetzgebungs-, Ertrags- und Verwaltungshoheit. Schließlich wendet sich der Autor der europäischen Kompetenzverteilung zu (Kapitel 3) und kommt nach Untersuchung der relevanten primärrechtlichen Bestimmungen – so insbe-sondere Art. 269 Abs. 1 und Art. 308 EGV sowie Art. 6 Abs. 4 EUV – zum Ergebnis, dass die EU im Vergleich zu steuerfinanzierten Gebietskörperschaften mangels eigener Steuer-kompetenzen über nur unzureichende genuine Finanzierungsmöglichkeiten verfügt. Neben einer Einführung in das derzeit praktizierte Finanzierungssystem der Eigenmittel zeigt Traub die bestehenden Demokratiedefizite der EU-Finanzierung auf und macht eine künf-tige Steuerfinanzierung von Erweiterungen der Mitbestimmungsrechte des Europäischen Parlaments abhängig. In den Kapiteln 4 bis 6 widmet sich der Autor den Finanzordnungen der Bundesstaaten Deutschland, USA und Schweiz. Er stellt dabei für jeden der drei Vergleichsstaaten die Ver-teilung der Einkommensteuerhoheit detailliert dar, jeweils gefolgt von einer aufschluss-reichen Analyse der historischen Entwicklung. Im 7. Kapitel werden die beschriebenen Steuersysteme und Entwicklungen einander ver-gleichend gegenüber gestellt, getrennt nach den Bereichen Steuergesetzgebungshoheit, Steuerertragshoheit und Finanzausgleichsfolgen. Die dabei gewonnenen Ergebnisse werden dann auf die EU zu übertragen versucht. Zwar folgert Traub, dass weder aus rechtsverglei-chender Sicht noch zur Implementierung des Leistungsfähigkeitsprinzips – dieses sei ohne-hin bereits in allen Mitgliedstaaten umgesetzt – zwingende Gründe für eine Einkom-mensteuergesetzgebungshoheit der EU sprechen. Doch soll für einen europäischen Bundes-staat zumindest langfristig kein Weg an einer Ertragshoheit an eigenen Steuermitteln (diese müssten aber nicht notwendiger Weise aus Einkommensteuereinnahmen stammen) vorbei führen. Als mögliches Vorbild für ein Finanzausgleichsystem wird das schweizer Reform-projekt „Neuer Finanzausgleich“ hervorgehoben. Danach folgt eine Analyse verschiedener

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Einkommensteuermodelle für die europäische Ebene, wobei Traub das Trennsystem (Dop-pelbesteuerung: EU und Mitgliedsstaaten besitzen Einkommensteuerhoheit) als die wahr-scheinlichste Lösung ansieht. Zum Abschluss untersucht der Autor anhand der Systeme in den USA und der Schweiz, inwiefern eine Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Steuern Voraussetzung für die Einführung einer zentralen Einkommensteuer sein müsse. Er spricht sich dabei für eine Teilharmonisierung – etwa durch Vereinheitlichung von Begriffsdefiniti-onen und Einführung von Mindeststandards – aus, rät aber von einer zu weitgehenden Ver-einheitlichung ab, weil dabei die unterschiedlichen regionalen Gegebenheiten innerhalb der EU nicht ausreichend berücksichtigt werden würden. In einem kurzen 8. Kapitel werden sodann die wichtigsten Schlussfolgerungen prägnant zusammengefasst.Ausgestattet mit einem hervorragenden Fußnotenapparat bietet Traub eine gut lesbare – und je nach Forscherlust auch für weiterführende Untersuchungen geeignete – Vorstellung der Finanzordnungen der EU und der Vergleichsstaaten. Mit seinen darauf aufbauenden Gegen-überstellungen und Rückschlüssen auf eine allfällige (Einkommen-)Steuerhoheit für die EU liefert Traub nicht nur einen wertvollen Diskussionsbeitrag zur künftigen Ausgestaltung ei-ner europäischen Finanzverfassung sondern auch einen gelungenen Denkanstoß zu Fragen der künftigen Organisation der Europäischen Union.

Veit Öhlberger, Wien

Rezensionen

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Morton P. Broberg, The European Commission’s Jurisdiction to Scrutinise Mergers,2. Auflage, 2003, ISBN: 9041118047 (Kluwer Law International, European Monographs)

Die zweite Auflage des Werks von Morton Broberg zur Jurisdiktion der Europäischen Kom-mission hinsichtlich der Beurteilung von Fusionen stellt grundsätzlich mehr als eine Über-arbeitung der ersten Ausgabe dar, zumal sich das europäische Wettbewerbsrecht diesbezüg-lich zwischenzeitlich maßgeblich geändert hat. Überdies ist zu begrüßen, dass die neun Kapitel umfassende Neuauflage auch eine umfassende Aktualisierung des entsprechenden Fallrechtes (z. B. Gencor, Airtours, Schneider Electric) beziehungsweise eine Bezugnahme auf aktuelle Entscheidungen in Fusionsfällen mit einschließt, sodass von einer ausgewo-genen Mischung von theoretischen Überlegungen wie auch praktischen Hinweisen gespro-chen werden kann. In der vorliegenden Auflage beschäftigt sich Morton Broberg insbesondere mit dem Anwen-dungsbereich der Fusionskontrollverordnung: Diesbezüglich wird systematisch dargelegt, dass dieser trotz der Senkung der Umsatzschwellen weiterhin als problematisch zu erachten ist, wobei dies insbesondere durch Brobergs Ausführungen betreffend Organisationen in Form von Gemeinschaftsunternehmen (Joint Ventures) augenfällig wird. Insgesamt wird eine gründliche wie auch systematische Aufarbeitung und Analyse des Artikel 5 der Fusi-onskontrollverordnung vorgenommen, welche eine strukturierte Aufarbeitung von Kommis-sionsentscheidungen ebenso wie praxisnahe Beispiele mit einschließt. Die diesbezüglichen Ausführungen verdeutlichen und erhellen die Komplexität der Umsatzermittlung und kön-nen somit als unverzichtbarer Arbeitsbehelf für Akademiker wie auch Praktiker gesehen werden. Ferner ist positiv hervorzuheben, dass der Berechnung von Umsatzschwellen be-treffend Kredit- und Finanzunternehmen aufgrund diesbezüglicher Besonderheiten ein eige-nes Kapitel (Kapitel 6) gewidmet ist. Nach ausführlicher Charakterisierung des Ansatzes der Kommission hinsichtlich Umsatzer-mittlung umfassen die Kapitel 8 und 9 fundierte wie auch originäre Vorschläge zur Verbes-serung der Fusionskontrollverordnung in den betrachteten Belangen, aus welchen auf einen erfahrenen Experten des Europäischen Wettbewerbsrechts geschlossen werden kann.

Gerd E. Messner

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BIBLIOGRAPHIE

Zusammengestellt von der Schriftleitung der Zeitschrift Europarecht

unter Mitarbeit von Florian Gröblinghoff

Bücher und Zeitschriften

Abkürzungsverzeichnis

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GRUR ...................................... Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht

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ÖZÖR ...................................... Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht

PharmaR .................................. Pharmarecht

RabelsZ ................................... Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht

RdA ......................................... Recht der Arbeit

RdE……………… ................. Recht der Energiewirtschaft

RDIDC .................................... Revue de Droit international et de droit comparé

RdW ........................................ Recht der Wirtschaft

RIW ......................................... Recht der Internationalen Wirtschaft

RL ........................................... Recht der Landwirtschaft

RMCUE .................................. Revue du marché commun et de l’Union Européenne

RTDE ...................................... Revue Trimestrielle Droit Européen

RuP .......................................... Recht und Politik

Bibliographie

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SEW ........................................ Tijdschrift voor Europees en economisch recht

S+F .......................................... Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden

SpuRT ..................................... Zeitschrift für Sport und Recht

SZIER ..................................... Schweizer Zeitschrift für Internationales und Europäisches Recht

ThürVBl .................................. Thüringer Verwaltungsblätter

UPR ......................................... Umwelt und Planungsrecht

VBlBW ................................... Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg

VerwArch ................................ Verwaltungsarchiv

VergabeR ................................. Zeitschrift für Vergaberecht

VN ........................................... Vereinte Nationen

VR ........................................... Verwaltungsrundschau

VuR ......................................... Verbraucher und Recht

Wbl .......................................... Wirtschaftsrechtliche Blätter

WiVerw ................................... Wirtschaftsverwaltung

WRP ........................................ Wettbewerb in Recht und Praxis

WuW ....................................... Wirtschaft und Wettbewerb

ZaöRV ..................................... Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

ZAR ......................................... Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik

ZEUP ....................................... Zeitschrift für Europäisches Privatrecht

ZEUPR .................................... Zeitschrift für Europäisches Umwelt und Planungsrecht

ZEUS ....................................... Zeitschrift für Europarechtliche Studien

ZfU .......................................... Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht

ZfRV ........................................ Zeitschrift für Rechtsvergleichung, Internationales Privatrecht

und Europarecht

ZFW ........................................ Zeitschrift für Wasserrecht

ZLR ......................................... Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht

ZLW ........................................ Zeitschrift für Luft- und Weltraumrecht

ZNER ...................................... Zeitschrift für neues Energierecht

ZRP ......................................... Zeitschrift für Rechtspolitik

ZUM ........................................ Zeitschrift für Urheber und Medienrecht

ZUR ......................................... Zeitschrift für Umweltrecht

ZvglRWis................................. Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft

ZWR ........................................ Zeitschrift für Wasserrecht

ZWeR ...................................... Zeitschrift für Wettbewerbsrecht

Bibliographie

EUR_2_06_innen.indd 304EUR_2_06_innen.indd 304 15.05.2006 10:40:2315.05.2006 10:40:23

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ISSN 0531-2485

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