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S ledvashta stancija: Evropejski sajuz“, tönt es aus den Laut- sprechern im Zug der Sofioter U-Bahn. Kurz danach hält er in der Station mit dem Namen Europäische Union. Ursprüng- lich sollte sie nach dem heili- gen Naum, einem 910 gestorbenen Mönch, be- nannt werden. Doch dann entschieden sich die Stadtväter, jener Institution ein Denkmal zu setzen, deren Finanzhilfen den Bau der Metro entscheidend gefördert haben. Schon vor elf Jahren trat Bulgarien der Euro- päischen Union bei, seit Januar 2018 hat das Land erstmals die EU-Ratspräsidentschaft inne – und sich vorgenommen, noch in diesem Jahr Schritte einzuleiten, um eine weitere Station voranzukommen: Bis zum Sommer will Bulga- rien den Antrag auf Aufnahme in die Euro-Zo- ne stellen. Wer nur auf die Zahlen schaut, gewinnt den Eindruck, dass Bulgarien fit ist für den Euro. Zwar ist es das ärmste EU-Mitglied, finanzpoli- tisch aber geradezu ein Musterschüler. Politiker und Notenbanker bezeichnen sich als glühende Anhänger der deutschen Linie. Doch wer ge- nauer hinsieht, findet Probleme, die gegen eine schnelle Euro-Aufnahme sprechen. Jenseits po- litischer Schaufensterreden geben sogar hoch- rangige Vertreter von Staat und Wirtschaft zu, das ihr Land noch mehr Zeit braucht. ANTRAG FÜRS WARTEZIMMER Anfang Januar war es, als Bulgariens Premier- minister Bojko Borissow seinen Plan erstmals offiziell machte. Es geschah nur eine Haltestelle von der Metrostation Europäische Union ent- fernt im Nationalen Kulturpalast von Sofia, EU- Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Borissow gaben anlässlich der Übernahme der EU-Präsidentschaft eine Pressekonferenz. „Wir haben unsere Hausaufgaben für die Euro- Zone gemacht“, sagte Borissow. „Wir sind be- reit für das sogenannte Wartezimmer des Eu- ro.“ Dieses Wartezimmer heißt offiziell „Wech- selkursmechanismus II“ (WKM II). Jedes Land bleibt darin mindestens zwei Jahre lang, bevor es den Euro einführen darf. Hier findet quasi der letzte Test statt, ob der Euro-Kandidat die Beitrittskriterien dauerhaft einhalten kann. Die harten Vorgaben dürften für das Land kein Problem sein. „Makroökonomisch erfüllt Bulgarien alle Kriterien, sogar besser als die meisten Euroländer“, sagt Teodor Sedlarski, Dekan der Wirtschaftsfakultät der Sofioter Universität, in fließendem Deutsch. Er ging einst auf das deutsche Gymnasium in Burgas, studierte in Wien und machte in der Heimat schnell Karriere. Heute ist er mit 39 Jahren der jüngste Dekan in der Geschichte der Uni, An- fang 2017 war er sogar für einige Monate Wirt- schaftsminister. Sedlarski ist ein erfolgreicher Vertreter der postkommunistischen Generati- on; hinter seinem Schreibtisch steht eine Euro- pa-Flagge. „Die Einstellung der Bulgaren zu Schulden ist ähnlich wie jene der Deutschen“, sagt er. „Sowohl linke als auch rechte Regierun- gen haben in den letzten Jahrzehnten eine sehr konservative Finanzpolitik praktiziert.“ Tatsächlich beträgt die Verschuldung des Landes gerade einmal 25 Prozent der Wirt- schaftsleistung. Die Obergrenze für den Euro- Beitritt liegt bei 60 Prozent – und kaum eines der Euroländer erfüllt sie noch, auch Deutsch- land nicht. Das abgelaufene Haushaltsjahr schloss der Finanzminister mit einem Über- schuss ab, so wie sein Kollege in Berlin. Erlaubt wäre in der Euro-Zone ein Defizit von bis zu drei Prozent der Wirtschaftsleistung – auch diese Grenze durchbrachen viele Euro-Länder zuletzt Jahr um Jahr. Möglich ist diese finanzpolitische Stabilität nicht zuletzt wegen des wirtschaftlichen Auf- schwungs seit dem Beitritt zur EU im Jahr 2007. Davor glich Sofia eher einem verschlafe- nen Balkandorf. Die Straßenzüge wirkten grau, düstere Geschäfte verkauften Billigware, in ver- mufften Restaurants bedienten unfreundliche Kellner, die als Fremdsprache allenfalls Rus- sisch beherrschten. Heute ist das ganz anders. Allein in den ver- gangenen drei Jahren wuchs die Wirtschaft um jeweils deutlich mehr als drei Prozent. Auf Sofi- as Boulevard Vitosha, der vom Kulturpalast bis zur Stadtmitte führt, wechseln sich internatio- nale Marken ab, von H&M über Zara bis Adidas, dazwischen liegen Cafés und schicke Restau- rants, bevölkert von Touristen aus ganz Europa, die mit Billigfliegern ins Land kommen. Überall wird Englisch gesprochen. Sofia ist eine euro- päische Stadt geworden. Auch das Land hat sich verändert. Wer am Bahnhof in den Zug steigt, fühlt sich zunächst wie in einer Zeitkapsel: Waggons aus den 80er- Jahren karren die Passagiere im Schneckentem- po durch die Vororte der Hauptstadt. Dann geht es weiter entlang der Ausläufer des Balkange- birges, der Zug hält an tristen, weitgehend ver- lassenen Stationen, rumpelt die Rhodopen ent- lang. Schließlich wird aus den verbogenen Glei- sen eine neue Schnellbahnstrecke. Der Zug nimmt Fahrt auf, hält nun an modernen oder noch im Bau befindlichen Stationen mit Namen wie Septembri, Pazardzhik oder Stamboliski – bevor er in Plovdiv einfährt, der zweitgrößten Stadt des Landes. Die Stadt wird 2019 europäische Kultur- hauptstadt sein. Und sie gewinnt auch wirt- schaftlich an Bedeutung. Im Industriegebiet Ra- dinovo, im Nordosten der Stadt, sieht es aus wie in einem schwäbischen Gewerbegebiet: glänzende Fabrikhallen, gefegte Vorhöfe, ge- pflegte Fuhrparks. Diverse europäische Firmen haben sich hier angesiedelt. Liebherr produ- ziert Kühlschränke. Schneider Electric stellt Schalter her. Daneben residiert DB Schenker. „Bulgarien bietet einen sehr niedrigen Steuer- satz mit einer Flat-Tax-Rate von zehn Prozent, und die Arbeitskosten sind relativ niedrig“, er- klärt Tim Kurth, Präsident der Deutsch-Bulga- rischen Industrie- und Handelskammer, den Zustrom ausländischer Investoren. „Die Regie- rung betreibt zudem eine grundsätzlich wirt- schaftsfreundliche Politik.“ 90 Prozent der Un- ternehmen würden wieder in dem Land inves- tieren, zeigt eine Umfrage der Kammer. Also alles bestens? Keineswegs. Ein Thema, das bei jedem Gespräch aufkommt, ist die gras- sierende Korruption. „Das ist ganz sicher ein Problem“, sagt Kurth, auch wenn ihr ausländi- sche Firmen nicht hilflos ausgeliefert seien. „Es gehören immer zwei dazu, und man kann hier auch arbeiten, ohne sich an diesem System zu betei- ligen.“ Das allerdings ist nicht so einfach. Will eine Fir- ma eine neue Fabrikhalle bauen, kommt es beispielsweise vor, dass sich eine Bürgerinitiative gründet, die droht, das Projekt vor Gericht zu verschleppen – es sei denn, eine gewisse Summe wird bezahlt. Große Firmen können einen langen Prozess vielleicht noch durchstehen, kleinere dagegen können der Versuchung vielleicht nicht so gut widerstehen, das Problem durch Bezahlen schneller aus der Welt zu schaffen. BEHÖRDE GEGEN KORRUPTION Zumal ausgerechnet die Justiz als besonders korrupt gilt. Ruslan Stefanov ist Direktor des Zentrums zum Studium der Demokratie in So- fia und beschäftigt sich seit Jahren mit Korrup- tion. Es würden immer wieder Skandale aufge- deckt, sagt er, doch dies habe nie Konsequen- zen. „Vielmehr werden Untersuchungen vor al- lem als politisches Druckmittel eingesetzt, um Gegner gefügig zu machen.“ Ist das gelungen, werden die Ermittlungen eingestellt. „Das gan- ze Justizsystem dient nicht dazu, Recht durch- zusetzen, sondern Druck auf die Opposition oder unliebsame Stimmen auszuüben.“ Daran werde wohl auch die neue Antikorrup- tionsbehörde nichts ändern, die derzeit ge- schaffen wird. Sie hat zwar etwas mehr Kompe- tenzen als die Vorgängerbehörden, darf bei- spielsweise Überwachungen durchführen. Aber für Anklagen ist weiterhin die Staatsanwalt- schaft zuständig. Und die ist ja gerade das Pro- blem. „Das ist auch ein wesentlicher Unter- schied zu Rumänien, wo der Kampf gegen die Korruption weit erfolgreicher ist“, sagt Stefa- nov. In Bulgarien müsse die Regierung dafür sorgen, dass hochrangige Personen auch wirk- lich verurteilt werden, sagt er. „Das würde eine klare Botschaft senden.“ Doch wie könnte die Regierung dazu ge- bracht werden? Einen Hebel hat etwa die Euro- päische Zentralbank in der Hand. Sie überprüft, ob die EU-Staaten die Beitrittskriterien für den Euro erfüllen. Zu diesen Kriterien gehört auch die „makroökonomische Stabilität“, gemessen beispielsweise an der Qualität des Justizsys- tems. In diesem Punkt stellt die EZB Bulgarien denn auch kein gutes Zeugnis aus. Die EU könnte sich dennoch über solche Be- denken hinwegsetzen. Immerhin ist Bulgarien keineswegs das korrupteste Land. „Man muss nur mal nach Griechenland oder Italien schau- en, und die sind schließlich in der Euro-Zone“, sagt Stefanov. Und es spricht ein politisches Ar- gument für den Beitritt: Teile der bulgarischen Elite tendieren eher nach Russland als zum Westen. Russland beherrsche direkt und indi- rekt rund ein Viertel der bulgarischen Wirt- schaft, sagt Stefanov. Für ein Euro-Land wäre ein Umschwenken ins Putin-Lager jedoch prak- tisch unmöglich. Die stärksten Gegner eines Euro-Beitritts zählen aber gar nicht zur russophilen Seite der bulgarischen Gesellschaft. Vielmehr sind es Leute wie Stojan Panchev. Mit seinem Vollbart sieht er auf den ersten Blick eher wie ein linker Revolutionär aus, doch er ist Chef des neolibe- ralen Thinktanks EKIP, der marktwirtschaftli- ches Denken in Bulgarien verbreiten will. Panchev plädiert gegen einen Euro-Beitritt, weil er das derzeitige Währungssys- tem für überlegen hält. Der bulgarische Lew wurde 1997 eins zu eins an die D-Mark gebunden, und der Kurs ist bis heute fixiert – in- zwischen bei einem Umtauschverhältnis von 1,95583 Lewa je Euro. Um diese Fixierung zu halten, muss die bulgarische Notenbank für je- den Lew, den sie in Umlauf bringt, die entspre- chende Summe in Euro als Devisenreserven vorhalten. „Dieses System zwang die Politiker in den vergangenen 20 Jahren zu der finanzpo- litischen Zurückhaltung, die sie nun so loben“, sagt Panchev. Denn bei der geringsten Verfeh- lung käme der fixe Wechselkurs unter Druck. Zudem muss ein Land in einem solchen System bestrebt sein, Außenhandelsüberschüsse zu er- zielen. Ein Defizit würde nämlich zu einer Ver- knappung des Geldes und steigenden Zinsen führen. Daher ist Bulgarien eines der wenigen Länder, die im Handel mit Deutschland Über- schüsse erzielen. FINANZPOLITISCHE FESSELN Von diesen Fesseln wäre die Regierung befreit, sobald Bulgarien Teil der Euro-Zone wäre. Die Importe könnten zulegen, die Kreditvergabe ansteigen, ohne dass dies unmittelbare negative Folgen hätte. Im Gegenteil: Das Wachstum wür- de deutlich anziehen. Die Rechnung käme dann aber einige Jahre später, fürchtet Panchev. Er hat einen überraschenden Unterstützer, auch wenn dieser sich mit keinem Wort direkt gegen einen Euro-Beitritt ausspricht. Kalin Hristov sitzt in einem der ältesten Gebäude Sofias, in einem Raum mit holzvertäfelten Wänden, von schummrigen Licht erfüllt. An dem riesigen Tisch tagt regelmäßig der Gouverneursrat der Notenbank. Hristov ist Vizechef der Zentral- bank, ein kleiner etwas rundlicher Mann, der fließend Englisch spricht. „Das gegenwärtige System wirkt disziplinierend, wegen dieses Sys- tems haben wir diese konservative Finanzpoli- tik“, sagt er. In der Euro-Zone gilt stattdessen eine Aufsicht der EU-Kommission und des Rats der Finanzminister über die Einhaltung der Stabilitätskriterien. „Die Erfahrung zeigt, dass das nicht besonders effektiv ist.“ Ein Land, das einem Währungsraum beitrete, müsse einen bestimmten Grad der wirtschaftli- chen Konvergenz erreicht haben, sagt Hristov, das Minimum dafür habe bei den vergangenen Erweiterungen bei rund 65 Prozent der Wirt- schaftsleistung der Währungsunion gelegen. Und wo liegt Bulgarien derzeit? „Den letzten verfügbaren Eurostat-Daten von 2016 zufolge bei 46 Prozent.“ Deutlicher könnte er kaum ausdrücken, dass er einen Euro-Beitritt für ver- früht hält. Und auch der Regierung scheint klar zu sein, dass es erst einmal nichts werden wird. Der Finanzminister erklärt im Interview, dass man auch ein „Nein“ akzeptieren werde. Ent- scheidend sei, dass objektive Gründe genannt würden, damit das Land daran arbeiten könne. Diese Reformarbeit dürfte lang dauern. Viel- leicht ist bis dahin die dritte Linie der Sofioter U-Bahn fertiggestellt, deren Bau gerade begon- nen wurde. Möglicherweise wählen die Stadtvä- ter für einen der neuen U-Bahnhöfe einen ähn- lichen Namen wie nach dem EU-Beitritt: „Sled- vashta stancija: Evrozona.“ Bulgariens Hauptstadt Sofia: zur europäischen Metropole gewachsen EYEEM/GETTY IMAGES VON FRANK STOCKER AUS SOFIA UND PLOVDIV Bulgarien will die Aufnahme in die Euro-Zone beantragen. Auf den ersten Blick erfüllt der Staat die Kriterien, doch eine Reise durch das Land zeigt: Es ist zu früh Nächste Station: Euro WELT AM SONNTAG NR. 10 11. MÄRZ 2018 38 WIRTSCHAFT

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S ledvashta stancija: Evropejskisajuz“, tönt es aus den Laut-sprechern im Zug der SofioterU-Bahn. Kurz danach hält er inder Station mit dem NamenEuropäische Union. Ursprüng-lich sollte sie nach dem heili-

gen Naum, einem 910 gestorbenen Mönch, be-nannt werden. Doch dann entschieden sich dieStadtväter, jener Institution ein Denkmal zusetzen, deren Finanzhilfen den Bau der Metroentscheidend gefördert haben.

Schon vor elf Jahren trat Bulgarien der Euro-päischen Union bei, seit Januar 2018 hat dasLand erstmals die EU-Ratspräsidentschaft inne– und sich vorgenommen, noch in diesem JahrSchritte einzuleiten, um eine weitere Stationvoranzukommen: Bis zum Sommer will Bulga-rien den Antrag auf Aufnahme in die Euro-Zo-ne stellen.

Wer nur auf die Zahlen schaut, gewinnt denEindruck, dass Bulgarien fit ist für den Euro.Zwar ist es das ärmste EU-Mitglied, finanzpoli-tisch aber geradezu ein Musterschüler. Politikerund Notenbanker bezeichnen sich als glühendeAnhänger der deutschen Linie. Doch wer ge-nauer hinsieht, findet Probleme, die gegen eineschnelle Euro-Aufnahme sprechen. Jenseits po-litischer Schaufensterreden geben sogar hoch-rangige Vertreter von Staat und Wirtschaft zu,das ihr Land noch mehr Zeit braucht.

ANTRAG FÜRS WARTEZIMMERAnfang Januar war es, als Bulgariens Premier-minister Bojko Borissow seinen Plan erstmalsoffiziell machte. Es geschah nur eine Haltestellevon der Metrostation Europäische Union ent-fernt im Nationalen Kulturpalast von Sofia, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Junckerund Borissow gaben anlässlich der Übernahmeder EU-Präsidentschaft eine Pressekonferenz.„Wir haben unsere Hausaufgaben für die Euro-Zone gemacht“, sagte Borissow. „Wir sind be-reit für das sogenannte Wartezimmer des Eu-ro.“ Dieses Wartezimmer heißt offiziell „Wech-selkursmechanismus II“ (WKM II). Jedes Landbleibt darin mindestens zwei Jahre lang, bevores den Euro einführen darf. Hier findet quasider letzte Test statt, ob der Euro-Kandidat dieBeitrittskriterien dauerhaft einhalten kann.

Die harten Vorgaben dürften für das Landkein Problem sein. „Makroökonomisch erfülltBulgarien alle Kriterien, sogar besser als diemeisten Euroländer“, sagt Teodor Sedlarski,Dekan der Wirtschaftsfakultät der SofioterUniversität, in fließendem Deutsch. Er gingeinst auf das deutsche Gymnasium in Burgas,studierte in Wien und machte in der Heimatschnell Karriere. Heute ist er mit 39 Jahren derjüngste Dekan in der Geschichte der Uni, An-fang 2017 war er sogar für einige Monate Wirt-schaftsminister. Sedlarski ist ein erfolgreicherVertreter der postkommunistischen Generati-on; hinter seinem Schreibtisch steht eine Euro-pa-Flagge. „Die Einstellung der Bulgaren zuSchulden ist ähnlich wie jene der Deutschen“,sagt er. „Sowohl linke als auch rechte Regierun-gen haben in den letzten Jahrzehnten eine sehrkonservative Finanzpolitik praktiziert.“

Tatsächlich beträgt die Verschuldung desLandes gerade einmal 25 Prozent der Wirt-schaftsleistung. Die Obergrenze für den Euro-Beitritt liegt bei 60 Prozent – und kaum einesder Euroländer erfüllt sie noch, auch Deutsch-land nicht. Das abgelaufene Haushaltsjahrschloss der Finanzminister mit einem Über-schuss ab, so wie sein Kollege in Berlin. Erlaubtwäre in der Euro-Zone ein Defizit von bis zudrei Prozent der Wirtschaftsleistung – auchdiese Grenze durchbrachen viele Euro-Länderzuletzt Jahr um Jahr.

Möglich ist diese finanzpolitische Stabilitätnicht zuletzt wegen des wirtschaftlichen Auf-schwungs seit dem Beitritt zur EU im Jahr2007. Davor glich Sofia eher einem verschlafe-nen Balkandorf. Die Straßenzüge wirkten grau,düstere Geschäfte verkauften Billigware, in ver-mufften Restaurants bedienten unfreundlicheKellner, die als Fremdsprache allenfalls Rus-sisch beherrschten.

Heute ist das ganz anders. Allein in den ver-gangenen drei Jahren wuchs die Wirtschaft umjeweils deutlich mehr als drei Prozent. Auf Sofi-as Boulevard Vitosha, der vom Kulturpalast biszur Stadtmitte führt, wechseln sich internatio-nale Marken ab, von H&M über Zara bis Adidas,dazwischen liegen Cafés und schicke Restau-rants, bevölkert von Touristen aus ganz Europa,die mit Billigfliegern ins Land kommen. Überallwird Englisch gesprochen. Sofia ist eine euro-päische Stadt geworden.

Auch das Land hat sich verändert. Wer amBahnhof in den Zug steigt, fühlt sich zunächstwie in einer Zeitkapsel: Waggons aus den 80er-Jahren karren die Passagiere im Schneckentem-po durch die Vororte der Hauptstadt. Dann gehtes weiter entlang der Ausläufer des Balkange-birges, der Zug hält an tristen, weitgehend ver-lassenen Stationen, rumpelt die Rhodopen ent-lang. Schließlich wird aus den verbogenen Glei-sen eine neue Schnellbahnstrecke. Der Zugnimmt Fahrt auf, hält nun an modernen odernoch im Bau befindlichen Stationen mit Namenwie Septembri, Pazardzhik oder Stamboliski –bevor er in Plovdiv einfährt, der zweitgrößtenStadt des Landes.

Die Stadt wird 2019 europäische Kultur-hauptstadt sein. Und sie gewinnt auch wirt-schaftlich an Bedeutung. Im Industriegebiet Ra-dinovo, im Nordosten der Stadt, sieht es auswie in einem schwäbischen Gewerbegebiet:glänzende Fabrikhallen, gefegte Vorhöfe, ge-pflegte Fuhrparks. Diverse europäische Firmenhaben sich hier angesiedelt. Liebherr produ-ziert Kühlschränke. Schneider Electric stelltSchalter her. Daneben residiert DB Schenker.„Bulgarien bietet einen sehr niedrigen Steuer-satz mit einer Flat-Tax-Rate von zehn Prozent,und die Arbeitskosten sind relativ niedrig“, er-klärt Tim Kurth, Präsident der Deutsch-Bulga-rischen Industrie- und Handelskammer, denZustrom ausländischer Investoren. „Die Regie-rung betreibt zudem eine grundsätzlich wirt-schaftsfreundliche Politik.“ 90 Prozent der Un-ternehmen würden wieder in dem Land inves-tieren, zeigt eine Umfrage der Kammer.

Also alles bestens? Keineswegs. Ein Thema,das bei jedem Gespräch aufkommt, ist die gras-sierende Korruption. „Das ist ganz sicher einProblem“, sagt Kurth, auch wenn ihr ausländi-sche Firmen nicht hilflos ausgeliefert seien. „Esgehören immer zwei dazu, und man kann hier

auch arbeiten, ohne sichan diesem System zu betei-ligen.“ Das allerdings istnicht so einfach. Will eine Fir-ma eine neue Fabrikhalle bauen,kommt es beispielsweise vor, dasssich eine Bürgerinitiative gründet, diedroht, das Projekt vor Gericht zu verschleppen– es sei denn, eine gewisse Summe wird bezahlt.Große Firmen können einen langen Prozessvielleicht noch durchstehen, kleinere dagegenkönnen der Versuchung vielleicht nicht so gutwiderstehen, das Problem durch Bezahlenschneller aus der Welt zu schaffen.

BEHÖRDE GEGEN KORRUPTIONZumal ausgerechnet die Justiz als besonderskorrupt gilt. Ruslan Stefanov ist Direktor desZentrums zum Studium der Demokratie in So-fia und beschäftigt sich seit Jahren mit Korrup-tion. Es würden immer wieder Skandale aufge-deckt, sagt er, doch dies habe nie Konsequen-zen. „Vielmehr werden Untersuchungen vor al-lem als politisches Druckmittel eingesetzt, umGegner gefügig zu machen.“ Ist das gelungen,werden die Ermittlungen eingestellt. „Das gan-ze Justizsystem dient nicht dazu, Recht durch-zusetzen, sondern Druck auf die Oppositionoder unliebsame Stimmen auszuüben.“

Daran werde wohl auch die neue Antikorrup-tionsbehörde nichts ändern, die derzeit ge-schaffen wird. Sie hat zwar etwas mehr Kompe-tenzen als die Vorgängerbehörden, darf bei-spielsweise Überwachungen durchführen. Aberfür Anklagen ist weiterhin die Staatsanwalt-schaft zuständig. Und die ist ja gerade das Pro-blem. „Das ist auch ein wesentlicher Unter-schied zu Rumänien, wo der Kampf gegen dieKorruption weit erfolgreicher ist“, sagt Stefa-nov. In Bulgarien müsse die Regierung dafürsorgen, dass hochrangige Personen auch wirk-lich verurteilt werden, sagt er. „Das würde eineklare Botschaft senden.“

Doch wie könnte die Regierung dazu ge-bracht werden? Einen Hebel hat etwa die Euro-päische Zentralbank in der Hand. Sie überprüft,ob die EU-Staaten die Beitrittskriterien für denEuro erfüllen. Zu diesen Kriterien gehört auchdie „makroökonomische Stabilität“, gemessenbeispielsweise an der Qualität des Justizsys-tems. In diesem Punkt stellt die EZB Bulgariendenn auch kein gutes Zeugnis aus.

Die EU könnte sich dennoch über solche Be-denken hinwegsetzen. Immerhin ist Bulgarienkeineswegs das korrupteste Land. „Man mussnur mal nach Griechenland oder Italien schau-en, und die sind schließlich in der Euro-Zone“,sagt Stefanov. Und es spricht ein politisches Ar-gument für den Beitritt: Teile der bulgarischenElite tendieren eher nach Russland als zumWesten. Russland beherrsche direkt und indi-rekt rund ein Viertel der bulgarischen Wirt-schaft, sagt Stefanov. Für ein Euro-Land wäreein Umschwenken ins Putin-Lager jedoch prak-tisch unmöglich.

Die stärksten Gegner eines Euro-Beitrittszählen aber gar nicht zur russophilen Seite derbulgarischen Gesellschaft. Vielmehr sind esLeute wie Stojan Panchev. Mit seinem Vollbartsieht er auf den ersten Blick eher wie ein linkerRevolutionär aus, doch er ist Chef des neolibe-ralen Thinktanks EKIP, der marktwirtschaftli-ches Denken in Bulgarien verbreiten will.

Panchev plädiert gegeneinen Euro-Beitritt, weil er

das derzeitige Währungssys-tem für überlegen hält. Der

bulgarische Lew wurde 1997 einszu eins an die D-Mark gebunden,

und der Kurs ist bis heute fixiert – in-zwischen bei einem Umtauschverhältnis von1,95583 Lewa je Euro. Um diese Fixierung zuhalten, muss die bulgarische Notenbank für je-den Lew, den sie in Umlauf bringt, die entspre-chende Summe in Euro als Devisenreservenvorhalten. „Dieses System zwang die Politikerin den vergangenen 20 Jahren zu der finanzpo-litischen Zurückhaltung, die sie nun so loben“,sagt Panchev. Denn bei der geringsten Verfeh-lung käme der fixe Wechselkurs unter Druck.Zudem muss ein Land in einem solchen Systembestrebt sein, Außenhandelsüberschüsse zu er-zielen. Ein Defizit würde nämlich zu einer Ver-knappung des Geldes und steigenden Zinsenführen. Daher ist Bulgarien eines der wenigenLänder, die im Handel mit Deutschland Über-schüsse erzielen.

FINANZPOLITISCHE FESSELNVon diesen Fesseln wäre die Regierung befreit,sobald Bulgarien Teil der Euro-Zone wäre. DieImporte könnten zulegen, die Kreditvergabeansteigen, ohne dass dies unmittelbare negativeFolgen hätte. Im Gegenteil: Das Wachstum wür-de deutlich anziehen. Die Rechnung käme dannaber einige Jahre später, fürchtet Panchev. Erhat einen überraschenden Unterstützer, auchwenn dieser sich mit keinem Wort direkt gegeneinen Euro-Beitritt ausspricht. Kalin Hristovsitzt in einem der ältesten Gebäude Sofias, ineinem Raum mit holzvertäfelten Wänden, vonschummrigen Licht erfüllt. An dem riesigenTisch tagt regelmäßig der Gouverneursrat derNotenbank. Hristov ist Vizechef der Zentral-bank, ein kleiner etwas rundlicher Mann, derfließend Englisch spricht. „Das gegenwärtigeSystem wirkt disziplinierend, wegen dieses Sys-tems haben wir diese konservative Finanzpoli-tik“, sagt er. In der Euro-Zone gilt stattdesseneine Aufsicht der EU-Kommission und des Ratsder Finanzminister über die Einhaltung derStabilitätskriterien. „Die Erfahrung zeigt, dassdas nicht besonders effektiv ist.“

Ein Land, das einem Währungsraum beitrete,müsse einen bestimmten Grad der wirtschaftli-chen Konvergenz erreicht haben, sagt Hristov,das Minimum dafür habe bei den vergangenenErweiterungen bei rund 65 Prozent der Wirt-schaftsleistung der Währungsunion gelegen.Und wo liegt Bulgarien derzeit? „Den letztenverfügbaren Eurostat-Daten von 2016 zufolgebei 46 Prozent.“ Deutlicher könnte er kaumausdrücken, dass er einen Euro-Beitritt für ver-früht hält. Und auch der Regierung scheint klarzu sein, dass es erst einmal nichts werden wird.Der Finanzminister erklärt im Interview, dassman auch ein „Nein“ akzeptieren werde. Ent-scheidend sei, dass objektive Gründe genanntwürden, damit das Land daran arbeiten könne.

Diese Reformarbeit dürfte lang dauern. Viel-leicht ist bis dahin die dritte Linie der SofioterU-Bahn fertiggestellt, deren Bau gerade begon-nen wurde. Möglicherweise wählen die Stadtvä-ter für einen der neuen U-Bahnhöfe einen ähn-lichen Namen wie nach dem EU-Beitritt: „Sled-vashta stancija: Evrozona.“

Bulgariens Hauptstadt Sofia: zur europäischen Metropole gewachsen

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VON FRANK STOCKERAUS SOFIA UND PLOVDIV

Bulgarien will dieAufnahme in dieEuro-Zone beantragen.Auf den ersten Blick erfülltder Staat die Kriterien,doch eine Reise durch dasLand zeigt: Es ist zu früh

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