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EUROPAS KATASTROPHE 1914–1918 MENSCHEN IM KRIEG

Europas KatastrophE 1914–1918 Menschen iM krieg · Europas KatastrophE 1914–1918 hErausgEgEbEn von Joachim KäppnEr und JaKob WEtzEl mit bildErn aus dEm sz-Fotoarchiv Menschen

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Page 1: Europas KatastrophE 1914–1918 Menschen iM krieg · Europas KatastrophE 1914–1918 hErausgEgEbEn von Joachim KäppnEr und JaKob WEtzEl mit bildErn aus dEm sz-Fotoarchiv Menschen

E u r o p a s K a t a s t r o p h E 1 9 1 4 –1 9 1 8

MenscheniM krieg

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E u r o p a s K a t a s t r o p h E 1 9 1 4 –1 9 1 8

h E r a u s g E g E b E n v o n J o a c h i m K ä p p n E r u n d J a K o b W E t z E lm i t b i l d E r n a u s d E m s z - F o t o a r c h i v

MenscheniM krieg

Impressum

Süddeutsche Zeitung GmbH, München

für die Süddeutsche Zeitung Edition 2014

Projektleitung: Sabine Sternagel

Art Director: Stefan Dimitrov

Lektorat: Daniela Wilhelm-Bernstein

Gestaltung: Sibylle Schug

Herstellung: Thekla Licht, Herbert Schiffers, Hermann Weixler

Druck und Bindearbeiten: Westermann Druck Zwickau GmbH

Printed in Germany

ISBN: 978-3-86497-190-7

Titelbild: Süddeutsche Zeitung Photo, Scherl-Archiv

©

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Menschen iM KriegMenschen iM Krieg

inhaltinhalt

Sarajevo

Ein Museum voller Tod:Fragen der SchuldVon K u rt K i s t e r .......................................... 4 0

„Beim Blut meiner Väter“:Die schwarze HandVon Joac h i m K ä ppn e r ................................. 4 8

Hurra, endlich! Es ist Krieg:Auszug der SoldatenVon ru d ol f n e u m a i e r ................................. 51

Sieger von Tannenberg, Verlierer des Krieges:Hindenburg und LudendorffVon f r a n z i sK a aug s t e i n ............................ 58

„Die wilde Klage ihrer zerbrochenen Münder“:Dichter ziehen in den KriegVon h i l m a r K lu t e ........................................ 60

Schutzhaft für ein Wandgemälde:Ein Künstler erregt den Zorn der PatriotenVon m a rt i n Be r ns t e i n................................ 7 2

Unser barmherziger Gott hat uns den Krieg geschickt:Die Kirche gibt ihren SegenVon m at t h i a s dr oBi nsK i ............................ 75

EditorialVon Joac h i m K ä ppn e r , Ja KoB W e t z e l .... 8

Vorahnungen

In der Echokammer der Vergangenheit:100 Jahre Erster WeltkriegVon s t e fa n Kor n e l i us ............................... 1 1

Militärkult und Maskenball:Wilhelm II. und sein UniformentickVon Ja KoB W e t z e l ........................................ 20

Europas strahlende Lichter:Der letzte Tag vor dem AttentatVon Joac h i m K ä ppn e r , r on e n s t e i n K e .. 22

Cousins und Cousinen: Europas Monarchen sind eine Familiegr a f i K ............................................................ 32

„Der Kaiser war wie der liebe Gott“:Zeitzeuge Fritz Koch erinnert sichVon a n na gü n t h e r ...................................... 35

Der Marsch zum Bankett:Absurdes Theater in KelheimVon m a rt i n Be r ns t e i n ............................... 38

Globaler Krieg

„Peitscht sie, dass die Lappen fliegen“:Eroberungskrieg im OstenVon c or d a s c h e n Br e n n e r ......................... 1 57

Umsturz in Russland:Ein Reich zerbrichtVon f r a n K n i e n h u y se n .............................. 17 2

„Mein letztes Wort wird Heimat sein“:Zwei Brüder werden FeindeVon ol i V e r da s gu p ta ................................. 174

Blut, Eis und Tränen:Die Schlacht im GebirgeVon s t e fa n u l r ic h ...................................... 187

Pazifist, Sozialist, Faschist:Benito MussoliniVon s t e fa n u l r ic h ....................................... 1 98

Mangel und Elend:Die Industrie entscheidet den KriegVon K atJa r i e de l .......................................... 201

Grabenkrieg

„Ich glaube , ich muss sterben“:Das große MordenVon h u Be rt W e t z e l ..................................... 83

Ein apokalyptischer Irrtum:Väter der MassenvernichtungswaffenVon m a r K us c . s c h u lt e Von dr ac h .......... 96

Großvater und der Krieg:Lebenserinnerungen an ein mörderisches JahrhundertVon h u Be rt W e t z e l ..................................... 101

Stille Nacht, Holy Night:Der Weihnachtsfrieden von 1914Von m at t h i a s dr oBi nsK i ............................ 106

Heimatfront

Vom Fliegen und Fallen:Der Fortschrittsglaube mündet in die KatastropheVon l au r a h e rt r e i t e r ............................... 108

Die Herrschaft des Hungers:Kriegskost im SteckrübenwinterVon a n na gü n t h e r ....................................... 1 20

Rezepte aus der Kriegsküche:Kriegsbrot, weiße Rüben und geröstetes SchweinsblutVon a n na gü n t h e r ....................................... 1 26

„In Rixdorf ist Musike, da gibt’s ’ne Pferdebahn“:Zeitzeugin Gertrud Dyck blickt zurückVon a n na gü n t h e r ....................................... 1 29

Der Undank des Vaterlandes:Juden im KriegVon r on e n s t e i n K e ...................................... 1 35

Unter den Waffen schweigen die Gesetze:Das Leid der GefangenenVon r on e n s t e i n K e ...................................... 143

„Eden Theatre“ in Puchheim:Gefangenenlager im Moor:Von pe t e r Bi e r l ............................................ 1 5 4

Ein neuer Krieg mit neuen Schrecken: Ein englischer Offizier schützt sich 1915 mit einer neu entwickelten Maske vor Giftgas.

Der Tod ist Handarbeit: Eine deutsche Arbeiterin füllt Schrapnellkugeln

in eine Artilleriegranate.

Kampf der Kolonialmächte: ein sene- galesischer Soldate der französischen Armee

1916 bei Fréjus an der Côte d’Azur.

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Menschen iM KriegMenschen iM Krieg

inhaltinhalt

Zu Wasser und in der Luft

„Lieb Vaterland magst ruhig sein, die Flotte schläft im Hafen ein“:Das Prestigeprojekt wird zum FiaskoVon Joac h i m K ä ppn e r ................................. 252

Vorboten der Revolution:Meuterei auf der ThüringenVon Joac h i m K ä ppn e r ................................. 266

Als Feuer vom Himmel fiel:Flugzeuge revolutionieren den KriegVon K u rt K i s t e r ........................................... 27 1

Wer Wind sät, wird den Sturmwind ernten:Die ersten Opfer des BombenkriegesVon Joac h i m K ä ppn e r ................................. 282

Die Pickelhaube: Stolz der NationVon K u rt K i s t e r ........................................... 216

Der Krieg der weißen Männer:Asien und AfrikaVon Ja KoB W e t z e l ........................................ 218

Safari mit Leichentuch:Massensterben in Deutsch-OstafrikaVon JaKoB Wetzel ........................................... 238

Dardanellen:Das Debakel der AlliiertenVon Kurt Kister ............................................. 2 41

Gentleman und Guerillero:Lawrence von ArabienVon Kurt Kister ............................................. 250

Folgen

Das Schloss der roten Matrosen:Die SPD verschenkt die RevolutionVon Joac h i m K ä ppn e r ................................. 28 4

Die Rote Armee von Dachau:Revolution als RuhestörungVon ge r h a r d W i l h e l m ............................... 29 4

Vor Angst verrückt geworden:Traumatisierte SoldatenVon a n n e t t e r a m e l s Be r ge r ..................... 296

Trauer und Gespenster:In der Kunst wird das Leid fassbarVon c h r i s t i a n m ay e r .................................. 308

„Hang the Kaiser“:Die Idee eines Weltstrafrechts entwickelt sichVon h e r i Be rt pr a n t l .................................. 31 1

Von wegen Frieden:Vertreibung und Mord statt neuer WeltordnungVon melanie staudinger ............................... 318

Der Weg in die Hölle hat erst begonnen:Eine BilanzVon r oBe rt pr oB s t ...................................... 321

Am Beispiel München

Tod einer Kulturstadt:Vom Zentrum der Boheme zur „Hauptstadt der Bewegung“Von Wolfgang görl ....................................... 330

Literaturverzeichnis

Autorenverzeichnis

Bildnachweis

Frontstadt: Das westflämische Ypern – zu sehen sind Kathedrale und Tuchhalle 1915 – blieb bis 1918 umkämpft und dem deutschen Artilleriefeuer

ausgesetzt. Die Stadt wurde nach dem Krieg neu errichtet.

Nachkriegsmisere: Die Mark verfällt, Kauf- leute flüchten in Gold und Silber (unten) – und die

Reichsbank gibt Rentenmark-Scheine aus.

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Menschen iM Krieg

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Editorial

E ine Kolonne von soldaten marschiert durch eine art mondlandschaft: mehr ist nicht zu erkennen auf dieser fotografie

vom märz 1918. das Bild ist nicht scharf, eine augenblicksaufnahme, schlecht komponiert. und doch erzählt es eine geschichte, fängt dieser moment kommendes leid und nahen tod, die ganze sinnlosigkeit des Krieges ein. millionen sind gefallen, aber es gibt immer noch reserven an menschen. die front im Westen hat sich seit ende 1914 nur wenig bewegt, jeder Kilometer Vormarsch ist mit abertausenden leichen bezahlt worden. noch immer glaubt die deutsche oberste heeres-leitung, der durchbruch und damit der sieg werde irgendwann gelingen. es ist eine töd-liche illusion, und wahrscheinlich bezahlen viele männer auf dem Bild sehr teuer dafür.

das foto stammt aus dem scherl-archiv, und dieses wiederum gehört zum fotoarchiv der süddeutschen zeitung. die Bildsammlung des scherl-Verlags wurde 1883 gegründet, als das medium der fotografie noch relativ neu war. der große Krieg ab 1914 war der erste, der in ansätzen schon züge eines heutigen medien-krieges ahnen ließ. zwar hatte es bereits während des amerikanischen Bürgerkrieges von 1861 bis 1865 fotografien gegeben. doch die verbesserte technik erlaubte es ein halbes Jahrhundert später, den Krieg umfänglich im Bild zu dokumentieren. allein das scherl-Bild-archiv umfasst weit mehr als 6000 erhaltene fotos aus dem ersten Weltkrieg.

einige dieser Bilder fanden sich seither in zeitungen oder auf Buchcovern wieder. in diesem Buch wird erstmals eine auswahl der interessantesten und nachdrücklichsten motive vorgestellt. sie zeigen den Krieg aus vielen perspektiven: aus den augen von solda-ten an der front, von arbeiterinnen in der heimat oder auch von Kolonialsoldaten, die

Gesichter des Krieges

in den Kampf gezwungen wurden. sie erzählen von kriegstreibenden geistlichen, von piloten und matrosen, von Bombenopfern und revolu-tionären. nicht alle Bilder, aber die meisten stammen aus dem scherl-archiv. dazu zeich-nen sz-autoren in essays nach, wie der Krieg europa und die Welt erfasste, sie öffnen den Blick für zusammenhänge, ermessen die große Katastrophe aus vielen verschiedenen Blick-winkeln und erzählen vom leben und sterben der menschen und den erinnerungen der letzten zeitzeugen. so machen sie die vielen gesichter des Krieges wieder erkennbar. und sie helfen dabei, die Bilder des scherl-archivs einzuordnen und zu verstehen.

hierzu muss der Betrachter auch die sehge-wohnheiten ein wenig ändern. manche fotos wirken seltsam steif, andere gestellt – oft liegt das an den langen Belichtungszeiten. nur wenige Bilder zeigen die grausamkeit des Krieges so, wie das spätere fotografien aus russland 1941, aus Vietnam oder afghanistan tun. aber die meisten abbildungen lassen dennoch das grauen erkennen, das der Krieg von 1914 bis 1918 bedeutete. manche sind noch heute nicht leicht zu ertragen.

die herausgeber sind den sehr hilfsbereiten Kollegen von süddeutsche zeitung photo zu dank verpflichtet. chefredakteur Kurt Kister hatte die idee zu diesem Band und trug zu dessen gelingen texte und etliche Werke aus seiner unerschöpflich erscheinenden Biblio-thek bei. ihm und robert probst danken wir für expertise und ihre unterstützung, oliver das gupta für seine ideen. daniela Wilhelm-Bernstein, stefan dimitrov, sibylle schug, laura hertreiter und anna günther ist für vielfältige hilfe bei der herstellung zu danken.

Joac h i m K ä ppn e rJa KoB W e t z e l

Das letzte Aufgebot: Während der Frühjahrsoffensive 1918

marschieren deutsche Reservisten nach Westen an die Front, vorbei am gewaltigen

Sprengtrichter einer Mine.

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Olorehenis et idellatem rem ex es ut fuga. Uagnihicid

quatem sumquat acidsfdsendfdemqui con cus. s dia quian

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In der Echokammer der Vergangenheit Hundert Jahre sind seit 1914 vergangen, doch die Kräfte, die Europa damals ins Verderben reißen, wirken noch heute. Wer behauptet, die Europäische Union lasse sich nicht mehr mit dem Wunsch nach Frieden begründen, der hat die Geschichte nicht verstanden.

vor ahnungEn

mEnschEn im KriEg

m an kann sagen, dass die Jahrhundert- erinnerung an den ersten Weltkrieg ge-rade zur rechten zeit kommt. nicht zu

früh, nicht zu spät, sondern punktgenau eben jene einhundert Jahre später, die wohl vergehen müssen, um geschichte auf sicherem abstand zu halten – und dennoch ihren heißen atem zu spüren.

diese geschichte steckt den europäern in den Knochen, ganz besonders den deutschen. Wenn sie sich nun erinnern, wenn sie über wachsenden nationalismus lesen, über zerfal-lende imperien, über Bündnisse und macht-phantasien, über den sog des Verderbens – dann stellt sich jener schauder ein, den die geschichte für alle nachgeborenen bereithält: ist da wirk-lich schon alles abgelegt in den Büchern? alles verwahrt in sicherer distanz zu den aufgeklär-ten geistern von heute? die ernüchternde ant-wort ist: nein. das Jahrhundertgedenken ent-faltet deshalb seine verstörende Wirkung, weil auch heute noch dieselben Kräfte zu spüren sind wie 1914.

geschichte lebt vom Vergleich, von der ana-logie, den Botschaften, die sie – bis auf die Kno-chen – zu transportieren vermag. menschen spiegeln sich in ihrer geschichte, sie studieren fortschritt und rückfall, wägen Vorteile ab und glauben alte fehler vermeiden zu können. aber das ist nur die theorie. tatsächlich steckt das leben voller irrtümer und fehldeutungen der geschichte, falscher entscheidungen und irrer Wahrnehmungen. politik entsteht nicht im ge-lehrtenkämmerchen. sie folgt stimmungen, der masse, manchmal dem Wahn.

die geschichte des ersten Weltkriegs ist ein ganz besonderes lehrstück, weil sie auch ein-hundert Jahre später nachhallt. europa befin-det sich noch immer in derselben echokammer, in der david lloyd george saß, als er 1936, keine 20 Jahre nach dem großen Krieg, seine erinne-

Trügerische Harmonie 1907 in London (oben): Hinten links der Kaiser, vor ihm sein Onkel, der

britische König Eduard VII., hinten als fünfter von links Kronprinz Georg. Die Zeit vertrieb sich

Wilhelm bevorzugt auf der Jagd.

Er will geliebt werden, und er genießt den Jubel: Bei den Posener Kaisertagen 1913 wird Kaiser Wilhelm II.

stürmisch begrüßt.

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Menschen iM KriegMenschen iM Krieg

vor ahnungEnvor ahnungEn

stammte einer politiker-generation, die den Krieg als möglichkeit immer denken musste. sebastian haffner, der den deutschen ihre ge-schichte quasi am lebendigen leib sezierte, er-innerte in einem seiner Bücher an die selbstver-ständlichkeit, mit der in den Jahren vor 1914 die Kaste der militärs und auch der politiker Krieg als Werkzeug ihrer arbeit ansahen.

noch ein Jahrhundert später klingt der lärm der echokammer von 1914 nach. die motive kehren wieder: der zerfall staatlicher autorität, der aufkeimende nationalismus, der ewige Kampf um die machtbalance. Wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ringen europas gesellschaf-ten auch heute mit einer neuen Welle der indus-trialisierung (diesmal der digitalen), mit wuch-

rungen formulierte. lloyd george war ein gro-ßer staatsmann, schatzkanzler der Briten bei Kriegsbeginn und ihr premierminister an des-sen ende. in der ahnung der heraufziehenden, noch größeren Katastrophe reduzierte er sein zweitausendseitiges Kompendium über den ersten Weltkrieg auf eine schlichte formel: „Krieg ist eine viel zu kostspielige und barba-rische angelegenheit, um damit die streitig-keiten unter den nationen der erde zu lösen.“

hat europa diese lebenserfahrung von lloyd george heute verinnerlicht? ist der Krieg tat-sächlich undenkbar geworden? Krieg ist die traumatische Bindungserfahrung europas, Krieg ist die Konstante im vielhundertjährigen gewissen des Kontinents. lloyd george ent-

Der „Neue Kurs“ in Karikaturen: Kanzler Otto von Bismarck tritt ab („Dropping the pilot“, 1890), Wilhelm II. schärft den Säbel: („Ich bin bereit“, 1905). Unter dem „persönlichen

Regiment“ des Kaisers stieg das Reich spät in den Wettstreit um Kolonien ein.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert beherrschen noch Pferdewägen den Alexanderplatz. Doch der Berliner Verkehrsknotenpunkt entwickelt sich rasch

zum Symbol für die neue, industrialisierte Zeit: mit Haltestellen von Straßen-, Fern- und U-Bahn und für Omnibusse.

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Technisches Wunderwerk: Von den Dächern ihrer Häuser aus beobachten Münchner

Bürger 1909 den Flug des Zeppelins LZ 3 über die Residenz (rechts) und den Englischen Garten.

In den ersten Kriegsjahren werden Luftschiffe wie dieses Angst und Schrecken in Paris

und London verbreiten.

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Menschen iM KriegMenschen iM Krieg

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vor ahnungEn vor ahnungEn

tigen, internationalen finanzströmen, dem unbändigen Wunsch nach frische und auf-bruch. rastlosigkeit treibt die politik, sicher-heiten gehen verloren. Wie vor einhundert Jah-ren sind die politischen führungsfiguren der Verlockung des nationalismus ausgesetzt, su-chen nach identität in selbst gezogenen gren-zen, ob auf der Krim, in schottland oder Katalo-nien. sie hoffen auf Klarheit und überschau- barkeit in einem scheinbar überregulierten Kontinent. Wie vor hundert Jahren klopft der Krieg an die pforten europas. Von nordafrika bis zur ukraine ist europa umgeben von einem ring instabiler bis kriegerischer regionen.

Die alten Geister gehen um

der erste Weltkrieg schuf den Boden für die to-talitarismen, die europa über die längste phase des 20. Jahrhunderts fesseln sollten: den fa-schismus und den Kommunismus. er bildete die ouvertüre zu der noch größeren Katastro-phe, die sich schon nach Kriegsende 1918 ab-zeichnete. aus den trümmern zerstörter herr-scherhäuser und zerfallender imperien, aus überkommenen machtstrukturen und unfer-tigen neuen systemen erwuchs die nationalso-zialistische gewalt, die europa vollständig in schutt und asche legen sollte.

selbst als die totalitarismen verklungen wa-ren, endgültig verzehrt mit der niederlage des Kommunismus im Kalten Krieg, mussten die europäer entsetzt feststellen, dass die geister von vor hundert Jahren nicht gebannt waren. auf dem Balkan zogen die menschen in den 1990er Jahren mit Blut neue grenzen, die schon hundert Jahre zuvor keinen frieden garantieren konnten. in nordafrika und nahost schliffen wachsender Wohlstand, steigende religiosität und terrorismus die strukturen, die der Koloni-alismus quasi als letzten gruß hinterlassen hat-te. und wie eine zynische mahnung an die erin-nerungsindustrie entzündete sich pünktlich zum Jahrhundertgedenken die ukraine-Krise – in ihrem Kern ein klassischer Konflikt um ein-flusszonen und selbstbestimmung; ganz tief aber auch ein europäischer urkonflikt an einer Bruchlinie, die über Jahrhunderte hinweg von religion, sprache und Kultur gezogen worden ist. West gegen ost – ein leitmotiv für den un-frieden in europa.

der politische Kalender hielt 2014 aber auch eine positive Botschaft parat: ausgerechnet in

Träume von deutscher Großmacht: Kaiser Wilhelm II. (vorne rechts) verfolgt 1911 ein Manöver der Hochseeflotte. 15 Jahre zuvor hatte er mit den Worten: „Der Dreizack gehört in

die deutsche Faust!“ eine neue, aggressive Flottenpolitik verkündet.

Die erste moderne Seeschlacht entschied 1905 Japan bei Tsushima für

sich. Auf dieser Postkarte bejubeln Matrosen des Tenno den Untergang eines

russischen Schiffes.

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Menschen iM Krieg

vor ahnungEn

diesem Jahr 2014 waren die meisten europäer aufgerufen, ihre stimme für das wohl wich-tigste friedensprojekt abzugeben, das sie sich je geschaffen haben – die europäische union. die Wahl zum europaparlament erinnerte sie da-ran, wie mühsam es ist, in ihren grenzen für frieden zu sorgen. die gemeinschaft der staa-ten, hervorgegangen aus der deutsch-franzö-sischen montanunion und noch längst nicht vollendet mit der letzten erweiterungsrunde 2013, hat verstanden, dass ihr frieden nur dann sicher ist, wenn sie die lehren von 1914 beher-zigt. und die heißen nun mal: der nationalis-mus und die ungleiche Verteilung von macht und Wohlstand führen europa ins Verderben. deswegen musste die europäische union in ih-rem Wesen eine gemeinschaft zur nivellierung von macht und zur gleichverteilung von chan-cen sein.

der erste Weltkrieg war deshalb auch die ge-burtsstunde der europäischen gemeinschafts-bewegung, die es sich zum ziel setzte, die immer selben Kriegsauslöser zu bannen. das sind geo-grafie und ideologie. geografie: das stets zu starke und ruhelose deutschland in der mitte des Kontinents, dieser viel-analysierte semi-hegemon – zu klein, den Kontinent zu dominie-ren, zu groß, sich in das gefüge der nationen einzureihen. und ideologie: dieser Wettbewerb um die gerechte staatsform, bei dem sich zu-nächst in Westeuropa, dann im süden, später in der mitte die Westminister-demokratie durch-setzte – allerdings nur mit hilfe der usa und den Kräften der freien und sozialen marktwirt-schaft.

gebannt sind die bösen geister damit nicht, wie die debatte um die Verfasstheit europas, die rolle seines parlaments oder etwa die Wäh-rungskrise zeigen. diese Krise zum Beispiel hat erneut den hegemon in der mitte des Kontinents auferstehen lassen.

unvermittelt ist er also wieder zu spüren, die-ser heiße atem der geschichte; da erklingen sie wieder, die unheilvollen motive der europä-ischen Vergangenheit. Wer heute behauptet, die europäische union lasse sich nicht mehr mit dem Wunsch nach Kriegsvermeidung begrün-den, der hat die geschichte nicht verstanden. die nämlich lässt sich nicht ablegen wie ein zer-schlissener mantel. auch hundert Jahre später nicht.

s t e fa n Kor n e l i us

Vorboten: Dem großen Krieg gingen allein zwei Krisen auf dem Balkan voraus. Oben türkische

Infanteristen, unten türkische Flüchtlinge 1912.

Rivalität mit Frankreich: Im Kampf um Einfluss in Afrika besucht

Wilhelm II. (mit Pickelhaube) 1905 die marokkanische Hafenstadt Tanger.