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Z.a ¨ rztl. Fortbild. Qual.Gesundh.wes. (ZaeFQ) 101 (2007) 481–486 Quergedacht Evidenz-basierte Medizin und Religion 1 Heiner Raspe Institut fu ¨ r Sozialmedizin, Universita ¨ tsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lu ¨ beck Prof. Dr.med. Klaus Gahl, Braunschweig zum 70. Geburtstag gewidmet Captatio benevolentiae Der Pra ¨ sident der 15. Jahrestagung der Gesellschaft fu ¨ r Rehabilitation bei Ver- dauungs- und Stoffwechselerkrankun- gen e. V. 2007,Dr. Pollmann (Bad Neu- enahr) gab vier von ihm ausgewa ¨ hlten Referenten in diesem Jahr die Mo ¨ glich- keit, unter der Generalu ¨ berschrift ’’ Quergedachtes zu einem Thema ih- rer Wahl zu sprechen. Ich entschied mich fu ¨ r das Thema ’’ Evidenz-basierte Medizin und Religion – vor dem Hin- tergrund eines langja ¨ hrigen aktiven In- teresses an der Theorie und Ethik der (Evidenz-basierten) Medizin [1]. Viele Grundlagen verdanke ich meinem Leh- rer, dem in diesem Fru ¨ hjahr im 87. Le- bensjahr verstorbenen Fritz Hartmann [2]. An der Medizinischen Hochschule Hannover war er nicht nur Direktor der inzwischen leider aufgehobenen Abtei- lung fu ¨ r Erkrankungen der Bewegungs- organe und des Stoffwechsels, sondern auch des von ihm gegru ¨ ndeten Semi- nars fu ¨ r Theorie, Geschichte und Wert- lehre der Medizin. Dort jedoch, wo theologische Fragen beru ¨ hrt werden, kann ich nur auf Milde und Wohlwollen der Leser hoffen: ich bin kein Philosoph, kein Theologe, kein Laienprediger, sondern nur ein zuru ¨ ckgekehrtes Mitglied der evange- lisch-lutherischen Kirche. Und so liegt es mir nahe, zuerst auf die EbM und einige sich auf sie beziehende Miss- versta ¨ ndnisse einzugehen. Speziell in Deutschland fu ¨ hlt man sich bei ihrer Behandlung regelma ¨ ßig zu tief gru ¨ n- delnden philosophischen Exkursen her- ausgefordert [3]. Evidenz-basierte Medizin (EbM) EbM ist zuerst einmal klinische Medizin. Die EbM kennt keine anderen Patien- ten, Arzneimittel, Operationsverfahren, Praxen oder Krankenha ¨ user als der Rest der so genannten Schulmedizin. Sie ist keine besondere Therapierichtung (wie etwa die anthroposophische Medizin). Ihr jedem Arzt (selbst)versta ¨ ndliches Ziel ist es, den sog. natu ¨ rlichen Verlauf von Krankheiten so effektiv, rasch und effizient wie mo ¨ glich in positiver Rich- tung zu beeinflussen. Ein wesentlicher Unterschied besteht in der Auswahl der von ihr bevorzugten Untersuchungs- und Behandlungsme- thoden und in der Begru ¨ ndung dieser Auswahl. Hier setzt die EbM auf kritisch diskutierte Ergebnisse der klinischen Forschung weltweit. Klinische Forschung untersucht die De- terminanten und Folgen klinischer Ur- teile, Entscheidungen und Handlungen. Mit Noel Weiss [4] ko ¨ nnte man diese Forschung auch definieren als die Un- tersuchung der Variation von Krank- heitsverla ¨ ufen und deren Ursachen. Fu ¨r viele Krankheiten sind die wichtigsten Ursachen dieser Variation im Handeln von A ¨ rzten, Pflegenden, Physio- und Psychotherapeuten etc. pp. zu sehen. Klinische Forschung steht damit ganz im Dienst einer Medizin, die sich als Handlungswissenschaft versteht. Ein Aspekt ihrer Wissenschaftlichkeit ist, dass die Medizin die Folgen ihres Han- delns immer wieder kritisch vergegen- wa ¨ rtigt, mit den Mitteln der klinischen www.elsevier.de/zaefq ARTICLE IN PRESS Korrespondenzadresse: Prof. Dr.med. Dr.phil. Heiner Raspe, Institut fu ¨ r Sozialmedizin, Universita ¨ tsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lu ¨ beck, Beckergrube 43–47, 23552 Lu ¨ beck. Tel. +0451 79925-20; fax: +0451 79925-22. E-Mail: [email protected] 1 Nach einem Plenarvortrag unter der Rubrik ’’ Quer- gedacht’’ auf der 15. Jahrestagung der Gesellschaft fu ¨ r Rehabilitation bei Verdauungs- und Stoffwechsel- erkrankungen e. V. in Bad Neuenahr am 15.6.2007. Z.a ¨ rztl. Fortbild. Qual.Gesundh.wes. (ZaeFQ) doi:10.1016/j.zgesun.2007.09.001 481

Evidenz-basierte Medizin und Religion

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ARTICLE IN PRESS

�Korrespondenzadresse:23552 Lubeck. Tel. +04E-Mail: heiner.raspe@uk

1Nach einem Plenarvortragedacht’’ auf der 15. Jahrefur Rehabilitation bei Verdaerkrankungen e. V. in Bad N

Z.arztl. Fortbild. Qudoi:10.1016/j.zgesu

Z.arztl. Fortbild. Qual.Gesundh.wes. (ZaeFQ) 101 (2007) 481–486

www.elsevier.de/zaefq

Quergedacht

Evidenz-basierte Medizin und Religion1Heiner Raspe�

Institut fur Sozialmedizin, Universitatsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lubeck

Prof. Dr.med. Klaus Gahl, Braunschweig zum 70. Geburtstag gewidmet

Captatio benevolentiae

Der Prasident der 15. Jahrestagung derGesellschaft fur Rehabilitation bei Ver-dauungs- und Stoffwechselerkrankun-gen e. V. 2007, Dr. Pollmann (Bad Neu-enahr) gab vier von ihm ausgewahltenReferenten in diesem Jahr die Moglich-keit, unter der Generaluberschrift

’’Quergedachtes

’’

zu einem Thema ih-rer Wahl zu sprechen. Ich entschiedmich fur das Thema

’’Evidenz-basierte

Medizin und Religion

’’

– vor dem Hin-tergrund eines langjahrigen aktiven In-teresses an der Theorie und Ethik der(Evidenz-basierten) Medizin [1]. VieleGrundlagen verdanke ich meinem Leh-rer, dem in diesem Fruhjahr im 87. Le-bensjahr verstorbenen Fritz Hartmann[2]. An der Medizinischen HochschuleHannover war er nicht nur Direktor derinzwischen leider aufgehobenen Abtei-lung fur Erkrankungen der Bewegungs-organe und des Stoffwechsels, sondernauch des von ihm gegrundeten Semi-

Prof. Dr.med. Dr.phil. Heiner R51 79925-20; fax: +0451 7992-sh.de

g unter der Rubrik’’Quer-

stagung der Gesellschaftuungs- und Stoffwechsel-euenahr am 15.6.2007.

al.Gesundh.wes. (ZaeFQ)n.2007.09.001

nars fur Theorie, Geschichte und Wert-lehre der Medizin.Dort jedoch, wo theologische Fragenberuhrt werden, kann ich nur auf Mildeund Wohlwollen der Leser hoffen: ichbin kein Philosoph, kein Theologe,kein Laienprediger, sondern nur einzuruckgekehrtes Mitglied der evange-lisch-lutherischen Kirche. Und so liegtes mir nahe, zuerst auf die EbM undeinige sich auf sie beziehende Miss-verstandnisse einzugehen. Speziell inDeutschland fuhlt man sich bei ihrerBehandlung regelmaßig zu tief grun-delnden philosophischen Exkursen her-ausgefordert [3].

Evidenz-basierte Medizin(EbM)

EbM ist zuerst einmal klinische Medizin.Die EbM kennt keine anderen Patien-ten, Arzneimittel, Operationsverfahren,Praxen oder Krankenhauser als der Restder so genannten Schulmedizin. Sie istkeine besondere Therapierichtung (wieetwa die anthroposophische Medizin).Ihr jedem Arzt (selbst)verstandliches

aspe, Institut fur Sozialmedizin, Universitatsklinikum Schl5-22.

Ziel ist es, den sog. naturlichen Verlaufvon Krankheiten so effektiv, rasch undeffizient wie moglich in positiver Rich-tung zu beeinflussen.Ein wesentlicher Unterschied besteht inder Auswahl der von ihr bevorzugtenUntersuchungs- und Behandlungsme-thoden und in der Begrundung dieserAuswahl. Hier setzt die EbM auf kritischdiskutierte Ergebnisse der klinischenForschung weltweit.Klinische Forschung untersucht die De-terminanten und Folgen klinischer Ur-teile, Entscheidungen und Handlungen.Mit Noel Weiss [4] konnte man dieseForschung auch definieren als die Un-tersuchung der Variation von Krank-heitsverlaufen und deren Ursachen. Furviele Krankheiten sind die wichtigstenUrsachen dieser Variation im Handelnvon Arzten, Pflegenden, Physio- undPsychotherapeuten etc. pp. zu sehen.Klinische Forschung steht damit ganzim Dienst einer Medizin, die sich alsHandlungswissenschaft versteht. EinAspekt ihrer Wissenschaftlichkeit ist,dass die Medizin die Folgen ihres Han-delns immer wieder kritisch vergegen-wartigt, mit den Mitteln der klinischen

eswig-Holstein, Campus Lubeck, Beckergrube 43–47,

481

’’

ARTICLE IN PRESS

Forschung und ihrer Methodenlehre,der klinischen Epidemiologie. Soll undwill Medizin Handlungswissenschaftsein, dann unterliegt sie einer Verpflich-tung zu handlungsorientierter For-schung. Dagegen gibt es keine Ver-pflichtung, wohl aber die Freiheit zurGrundlagenforschung.Klinische Forschung erzeugt Hand-lungswissen. Dieses Wissen hilft Arztenund Patienten auch, die Chancen undRisiken bevorstehender Interventionenex ante abzuschatzen und abzuwagen.Vergleichbares gilt fur Personen undEinrichtungen, die den Umfang desLeistungskatalogs der Medizin (denEBM) zu verantworten haben; bei unsliegt ein wesentlicher Teil dieser Ver-antwortung bei der GemeinsamenSelbstverwaltung und ihrem Bundes-ausschuss, dem G-BA (cf. y 91 SGB V).Selbstverstandlich muss dieser G-BA furseine Richtlinien wissen, ob eine Me-thode wirksam ist, welches Nutzen-und Schadenspotential sie mit sichbringt und welchen Aufwand sie erfor-dert.Wenn die EbM keine anderen Heilmit-tel kennt als die Medizin sonst auch,unter ihnen aber – im Lichte der Er-gebnisse klinischer Studien – kritischnach Nutzen, Notwendigkeit und Wirt-schaftlichkeit (cf. y 135 Abs. 1 SGB V)auswahlt, dann wird ihr Amentariumweniger umfangreich sein mussen.Mit anderen Worten: nicht alles, was inder Medizin vorgehalten, angebotenund angewandt wird, lasst sich gleichgut verteidigen.Was es mit dieser Verteidigung auf sichhat, deutet der folgende Dialog an:

Ein Hausarzt fragt

’’Wie soll ich meine Patienten mit einer

fruhen rheumatoiden Arthritis behan-deln? Ibuprofen hilft nicht ausreichend,Cortison nur in hoheren Dosen

’’

.

Ein Rheumatologe antwortet

’’Ich wurde jetzt rasch mit niedrig do-

siertem Methotrexat beginnen, einmalwochentlich 25 mg iv.. Kein anderesBasistherapeutikum hilft so rasch,nachhaltig, effektiv, nebenwirkungs-arm und effizient wie dieses.

482

Der Hausarzt fragt zuruck

’’Wieso? Woher weißt Du das, kannst

Du das belegen?

’’

Oder auf Englisch:What’s your evidence?

’’

Darauf wieder der Rheumatologe

’’Ich habe damit personlich gute Erfah-

rungen gemacht; in der Klinik nebenanmachen sie es auch so. Es steht ubri-gens auch in der interdisziplinaren Leit-linie unserer Fachgesellschaft (2. Aufl.2007); die soll ja evidenzbasiert sein. Inihr sind viele Studien und Ubersichtsar-beiten zitiert. Außerdem hort man dasauf jedem Kongress und jeder Fortbil-dungsveranstaltung

’’

.Und damit ist schon klar geworden:

’’Evidenz

’’

im Sinne von’’evidence

’’

heißt nichts anderes als Beweisweismit-tel, Beleg fur Behauptungen – nach demOxford Dictionary of Current English

’’something to furnish proof

’’

,’’infor-

mation tending to prove a fact or pro-position

’’

. Der Begriff wird im engli-schen Sprachraum vor allem in derKriminalistik und Rechtsprechung ge-braucht. Die Enzyklopaedia Britannica(2003, elektronische Version) definiert

’’evidence

’’entsprechend als

’’any of

the material items or assertions of factthat may be submitted to a competenttribunal as a means of ascertaining thetruth of any alleged matter of fact un-der investigation before it

’’

.Es ist auch klar, dass nicht alle Antwor-ten des Rheumatologen die gleicheWertigkeit, d.h. Beweiskraft haben.Hieraus leitet sich in der EbM einesog. Evidenzhierarchie ab. Fur die Be-weisfuhrung zugunsten therapeuti-scher Aussagen stehen kontrollierterandomisierte klinische Studien und ih-re Zusammenschau im Sinne systema-tischer Ubersichten an erster Stelle.Immer wieder ist gefragt worden, obdie EbM nicht die arztliche Erfahrungentwerte. Die Antwort ist eindeutig

’’nein

’’

. EbM legt nur besonderes Ge-wicht auf einen besonderen Typusarztlicher Erfahrung, den der wissen-schaftlich kontrollierten Erfahrung. Da-mit sind kasuistische Eindrucke, Erfah-rungen aus individuellen Heilversuchenoder unkontrollierten Fallserien ausdem Beweisverfahren so wenig ausge-

Z.arztl. Fortb

schlossen wie pathophysiologischeUberlegungen und Modelle. Ihnen wirdnur ein geringerer Beweiswert zuer-kannt als etwa kontrollierten Studien.Gern wird der EbM auch ein naturwis-senschaftliches Paradigma unterstellt.Auch dies fuhrt in die Irre. Mit PaulMartini [5] kann man entgegnen:

’’Wir

(erkennen) keine naturwissenschaftli-che, sondern nur eine wissenschaft-liche Medizin an

’’

. Auf Paul Martiniwerde ich zuruckkommen mussen.Er veroffentlichte bereits 1932 eine

’’Methodenlehre der therapeutischen

Untersuchung

’’

[6]; er kann als der ers-te deutsche klinische Epidemiologegelten.

EbM – eine Religion?

In diesem Abschnitt ist zu erwagen, obEbM als Religion angesprochen werdenkann oder ob sie – vorsichtiger gefragt– Merkmale einer Religion aufweise.Wie kommt es zu dieser Frage? Ichgreife einen an die EbM noch im Jahr2002 gerichteten Vorwurf auf. Aufdem 105. Deutschen Arztetag referier-te F.W. Kolkmann, damals Prasident derLandesarztekammer Baden-Wurttem-berg zum Thema

’’Individualismus und

Standardisierung – Was macht den gu-ten Arzt aus

’’

. In diesem Referat be-schaftigte er sich auch mit der EbM undihren Proponenten. Es stelle sich diedringende Frage, of sie

’’Heilsbringer

’’

seien oder’’falsche Propheten, die, wie

es im Alten Testament heißt, nichtigeVisionen gehabt und falsche Orakelverkundet haben, die das Volk in dieIrre fuhren, Heil verkunden, wo es keinHeil gibt und die sich auf einemschlupfrigen Pfad befinden

’’

[7]. Ichselbst galt dem Referenten als

’’Vorbe-

ter

’’

einer’’neue(n) Heilslehre

’’

.Eleganter formulierte 1995 der GeriaterGrimley Evans [8] am Anfang einesAufsatzes mit dem Titel

’’Evidence-

based and evidence-biased medicine

’’

:

’’EbM comprises an attitude of mind

and a collection of practices. As an at-titude of mind we can recognize it as areformed and new-cast manifestationof that religion of English Empiricism inwhich modern Western Medicine hasbeen born and nurtured. In the serviceof EbM we are enjoined to begin with

ild. Qual.Gesundh.wes. 101 (2007) 481–486www.elsevier.de/zaefq

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the introit of the question, and to pro-ceed to the anthem of the overview,the offertory of the meta-analysis, thecommunion of the clinical trial and thehosanna of the faithful. Usually weconclude with the Agnus Dei of theneed for more research

’’

.Ahnlich sah es eine Gruppe von

’’Clini-

cians for the restoration of autono-mous practice (CRAP) writing group[9]. Sie behauptet, ihr Papier an die Turdes British Medical Journal genagelt zuhaben – eine feinsinnige Anspielungauf Luthers Thesenanschlag 1517 inWittenberg. Diese Kliniker legen ausihrer Sicht unwiderlegbare Beweisedafur vor, dass die EbM tatsachlich einereligiose Bewegung sei, mit einer Pries-terkaste, einem Katechismus, einerLiturgie, und Sakramenten. Unteranderem decken sie die geheimen 10Gebote der EbM auf, zeigen deren reli-giose Symbole und berichten von Mis-sionierung und Exkommunikationen.Erstaunlicherweise ist der Gruppe dasGlaubensbekenntnis der EbM entgan-gen: Ich bin dankbar, es, dem versteck-ten Hinweis Grimley Evans folgend, ineiner versteckten Quelle entdeckt ha-ben zu durfen. Es lautet:Ich glaube an den naturlichen Verlaufund Ausgang (

’’outcomes

’’

) von Krank-heiten und deren Typisierbarkeit unddaran, dass es in der Medizin allein aufKrankheitsverlaufe und Outcomes an-kommt (Konsequentialismus) unddass die Medizin Outcomes mit hinrei-chender Zuverlassigkeit und Gultigkeitmessen kann (Empirismus) unddass die Medizin auf diese Outcomessystematisch und zunehmend besserEinfluss nehmen kann unddass sie uber individuelle wie gruppen-bezogene Diagnosen, Prognosen undBehandlungseffekte nur in Wahrschein-lichkeitsbegriffen reden kann (Pro-babilismus).Wenn es sich bei der EbM tatsachlichum eine religiose Bewegung handelnsollte, ist es dann nicht evident, wel-chem Bekenntnis sie nahe stande?Es kann sich nur um eine protestanti-sche Kirche handeln.Am Anfang stand, wie bei Luther, einProtest gegen die altglaubige, die Emi-nenz-basierte Medizin. Klassisch ge-worden ist ein Interview mit David Sa-

Z.arztl. Fortbild. Qual.Gesundh.wes. 101 (2007)www.elsevier.de/zaefq

ckett, dem Erzvater der EbM, aus demJahr 1995: es stand unter dem Titel

’’The Rise of Evidence-based Medicine.

Goodbye to the Dinosaurs

’’

[10].Und es gibt weitere Hinweise: wahrenddie katholische Kirche auch der mund-lichen Uberlieferung vertraut (die EbMwurde von

’’opinions of respected au-

thorities

’’

sprechen und ihnen den Evi-denz-Level 5 zuerkennen), ist es fur denProtestantismus kennzeichnend, nurauf schriftliche Zeugnisse zu setzen(’’sola scriptura

’’

). So zieht die EbMsog. Originalien jeder mundlichenUberlieferung, jedem Konsens, jedemKonzilsbeschluss und jeder Verlautba-rung ex cathedra vor.Auch Melanchthons und Luthers Deviselautete

’’ad fontes

’’

. Dabei entwickeltensie, als Humanisten, eine historisch-kri-tische Methode der Schriftauslegung,wahrend evangelikale Bewegungen dieSchrift bis heute wortlich, ja buchstab-lich nehmen. In der EbM ist analog vom

’’critical appraisal

’’

die Rede.Protestanten taten sich schwer auchmit dem Ablasshandel und der ganzen

’’Heilsokonomie

’’

[11]. Die EbM kenntund perhorresziert solche Phanomeneunter dem Stichwort

’’conflicts of inte-

rest’’

, zu denen man sich wenigstensbekennen muss; besser ware es natur-lich, diese Sunde zu vermeiden.Uberhaupt ist die menschliche Sund-haftigkeit und Erlosungsbedurftigkeitdas zentrale Thema des Protestantis-mus, und so wundert es nicht, dass dieEbM ihr zentrales Thema in der

’’Ver-

zerrung

’’

(Bias) gefunden hat. Ein cha-rakteristischer Bias ist der sog.

’’op-

timism bias

’’

[12]; EbM ist grundsatzlichskeptisch-pessimistisch, sie weiß um dieAn- und Hinfalligkeit allen menschli-chen Tuns nach der Ur- und Erbsunde.Also hat EbM immer feinere Instrumenteentwickelt, allfallige Verzerrungen zu ent-decken.Aber anders als die katholischeSchwester ist der Protestantismus niedahin gekommen, aufgespurte Sunderzu verbrennen. Protestanten wissen,dass die Rechtfertigung der Menschennicht in ihrer Hand liegt (

’’sola gratia

’’

).Schließlich kennt der Protestantismuskeine Zentralgewalt und nur schwacheHierarchien. Im Grundsatz gilt dasPriestertum aller Getauften, d.h. der

481–486

Verzicht auf dem Herrn angeblich be-sonders nahe stehende Gruppen vonGlaubigen. Alle protestantischen Glau-bigen sind in gleicher Weise zum Dienstberufen – wie alle Anhanger der EbM.Dies macht den Protestantismus anfal-lig fur Abspaltungen bis hin zur Atomi-sierung. Auf diese Schwache bezogsich ein

’’glimmer of hope

’’

der CRAP-Gruppe; sie erwartete, dass die EbM anihrer Fraktionsbildung zugrunde gehenwerde.Und ein letzter Hinweis: Ein Kennzei-chen des Protestantismus war und istes, sich der Volksbildung anzunehmen.In den protestantischen Landern wur-den von den Reformatoren schon um1530 viele Kloster in Lateinschulenumgewandelt. In der EbM wird Ver-gleichbares fur das gemeine Arztvolkangestrebt, es geht ihr um die sog.

’’scientific literacy

’’

bzw. illiteracy [13]:

’’Many clinicians in practice, though,

report that they feel unqualified to readthe medical literature critically. Scienti-fic illiteracy is a major failing of medicaleducation

’’

.Aber kommen wir nach all den teilsaggressiven, teil ironischen, teils ver-deckt ernsten Außerungen wieder aufden Boden der Tatsachen: EbM istnaturlich keine Religion und nicht ein-mal eine religiose Bewegung.Sie war und ist eine soziale Bewegung,genauer gesagt die medizinische Mani-festation einer umfassenderen sozialenBewegung. Denn neben der EbM gibtes inzwischen eine EbN (

’’evidence-

based nursing

’’

), eine EbP, eine Evi-denz-basierte Padagogik (StichwortPISA) und eine Evidenz-basierte Recht-sprechung. Und ich bin schon vor Jah-ren gefragt worden, ob eine Evidenz-basierte Seelsorge denkbar ware. Auchandere Handlungssysteme sind alsodarauf gekommen, sich der Ergebnisseihres Handelns mit wissenschaftlichenMitteln kritisch zu versichern. Mit MaxWeber kann man dahinter eine zuneh-mende

’’Rationalisierung der Weltbe-

herrschung

’’

durch Wissenschaft undTechnik sehen [14].Aber all dies hat so gut wie nichts mitReligion zu tun, wenn wir nicht nur aufaußerliche Gleichformigkeiten sehen,wie sie ebenso an jedem beliebigene.V. (eingetragenen Verein) identifiziert

483

ARTICLE IN PRESS

werden konnten. Eine Religion hatweiterreichende Anspruche undFunktionen.Insbesondere westliche Religionen be-inhalten umfassende und komplexeGlaubenssysteme, in deren Zentrumeine transzendente Realitat und einhochstes Wesen stehen. Sie vermittelneine ganze Weltsicht. Sie antwortenauf die großen und immer wiederkeh-renden Menschheitsfragen: Was ist un-ser Platz in der Welt? Wer ist ihrSchopfer? Wie leben wir richtig? Waskonnen wir in dieser Welt und daruberhinaus hoffen?Von solchen Fragen ist in der EbM nichtdie Rede und nichts zu spuren. Sie istein Konzept und eine Methode zur Ra-tionalisierung klinischen Handelns, injedem Feld der praktischen Medizin,auch in der Rehabilitation. Ihr beschei-denes Ziel ist es, im medizinischen All-tag das Vernunftige, d.h. das in kon-trollierten Studien Bewahrte sparsamzu tun.Evidenz ist sicher auch nicht die einzigeBasis der klinischen Medizin. Die EbMlasst verschiedene Lucken und Grenzenerkennen und scheint selbst eines um-fassenderen Horizonts und eines siche-ren Fundaments zu bedurfen.Darum soll es im letzten großeren Ab-schnitt gehen – immer mit einem Blickauf die uns uberkommene christlicheReligion. Dabei soll der Leser nicht miteiner personlichen Praferenz belastigtwerden. Aber um Lessing aus Nathander Weise (III.7) zu zitieren:

’’wie kann

ich meinen Vatern weniger als du dendeinen glauben?

’’

.

EbM: erganzungs- undfundierungsbedurftig

1.

48

Ein erster Anknupfungspunkt ergibtsich aus der Feststellung, dass EbMim Kern eine Mittelwertmedizin for-dert. Als Orientierungspunkte furarztliches Handeln gelten die inden Studien gefundenen mittlerenEffekte der untersuchten Interven-tionen (bzw. die mittleren Differen-zen zu den Effekten der Kontrollbe-dingungen). Dies ist in der Regelweniger als Kranke erhoffen undArzte erstreben. Die Erwartungen

4

beider gehen nicht immer aber oftuber das Wahrscheinliche hinaus; siezielen, besser hoffen, auf das Un-wahrscheinliche.Nahrung fur daruber hinausgehen-de Hoffnungen gehort nicht zumProgramm der EbM. Will man aufsolche Nahrung nicht verzichten,wird man sich anders orientierenmussen. Nun ist Hoffnung einer un-serer religiosen Kernbegriffe; undvon der Hoffnung zum Glauben istes kein großer Schritt: Paulus schriebim Brief an die Hebraer (11,1):

’’Es

ist aber der Glaube eine feste Zu-versicht auf das, was man hofft, undein Nichtzweifeln an dem, was mannicht sieht.

’’

Die christliche Religionermutigt zu dieser Zuversicht.

2.

In vielen Situationen in der Medizin,fur viele Patienten ist die Wahr-scheinlichkeit eines Erfolges aktuellnahe Null. Im 1. Buch Moses wirdvon Abraham, Sara und ihrer kin-derlosen Ehe erzahlt. Als beide altund hoch betagt waren, ging esSara schon lange

’’nicht mehr nach

der Frauen Weise

’’

; die Menopauselag Jahrzehnte zuruck – reproduk-tionsmedizinisch ein hoffnungsloserFall. Die Zusage Gottes, dass diesesEhepaar ubers Jahr einen Sohn(namlich Isaak) haben sollte, schienbodenlos. Sara

’’lachte bei sich

selbst und sprach: Nun ich alt bin,soll ich noch der Liebe pflegen, undmein Herr ist auch alt!

’’

(1. Mose18,12).

’’Da sprach der Herr zu

Abraham: Warum lacht Sara undspricht: Meinst du, dass es wahr sei,dass ich noch gebaren werde, dieich doch alt bin? Sollte dem Herrnetwas unmoglich sein? Um dieseZeit will ich wieder zu dir kommenubers Jahr; dann soll Sara einenSohn haben

’’

(1. Mose 18, 14–15).Und so kam es. Isaak wurde gebo-ren. Hinweise auf Gottes Macht fin-den sich im Alten Testament an vie-len Stellen, in besonders schonerSprache bei Jesaja 55, 8–9:

’’Meine

Gedanken – sagt der Herr – sindnicht zu messen an euren Gedankenund meine Moglichkeiten nicht aneuren Moglichkeiten. So hoch derHimmel uber der Erde ist, so weitreichen meine Gedanken hinaus

Z.arztl. Fortbild.

uber alles, was ihr euch ausdenkt,und so weit ubertreffen meineMoglichkeiten alles, was ihr furmoglich haltet.

’’

(in der Ubersetzungder

’’Gute Nachricht Bibel

’’

). Wiekonnte es Patient und Arzt gelingen,nicht nur das Unwahrscheinliche,sondern auch das scheinbarUnmogliche fur erreichbar zu halten– und doch enttauschungsfest zubleiben?

3.

Diese Frage stellt sich besondersdrangend, wenn es auf den Tod zugeht. Hieruber wissen Krankenhaus-seelsorger besser Bescheid als Arzte.Aber auch Arzten ist es wichtig undvertraut, am Ende kurative Behand-lungsziele aufzugeben und auf pal-liative uberzugehen. Und

’’die letzte

humane Aufgabe, welche der Arztbei unvermeidlichem Tode zu erful-len hat

’’

, war das, was 1896 (beiEulenburg [15]) – noch unverdachtig– Euthanasie ¼

’’moglichst schoner

Tod

’’

hieß und was heute [16]’’das

Streben nach einem friedvollen Tod

’’

heißt. Es ist menschlich, dass sich indieser Situation Fragen auf das

’’Da-

nach

’’

richten. Die christliche Religi-on halt Antworten und Hoffnungenbereit. Der Tod wird in ihr, so sagtsie, uberwindbar.

4.

Aber auch wahrend ihres Lebens vordem Tod fassen viele Patienten ihreKrankheit, ihr Kranksein und Leidenverdeckt oder offen in religiosenGeschichten, Bildern, Symbole, Ter-mini. Nach alteren eigenen Datenwar damit in den 1980er Jahren beietwa einem Drittel unter chronischKranken zu rechnen.Um Patientengegenuber fur religiose Bezuge ihrerErkrankung offen zu sein, muss manweder Halbgott in Weiß (eher wohlschadlich) noch Seelsorger noch sel-ber glaubig sein. Arzte und Seelsor-ger erfullen in unserer Gesellschaftaus guten Grunden spezifische undsehr unterschiedliche Funktionen.Dennoch: die Arzt-Patient-Bezie-hung durfte sich vertiefen, wennman Patienten auch in dieser Hin-sicht annehmen kann. Im Kranken-haus gibt es die Krankenhausseel-sorge, an die man das Problem dann

’’uberweisen

’’

kann. Im ambulantenBereich konnte eine Pfarrei zum

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therapeutischen Netzwerk einesHausarztes gehoren.

5.

Eine Nebenbemerkung: Die Bibel istvoll von Geschichten. Auch die Me-dizin kennt, pflegt und braucht sie –seit Jahrhunderten, etwa in Formder Kasuistik. Sie ist eine sehr alteund spezielle Form des Gedachtnis-ses und Gewissens der Medizin. Bisheute werden Arzte und Patientennicht auf das Erzahlen und Horenvon Krankheits-, Kranken-, Leidens-und Lebensgeschichten verzichtenwollen und konnen. Und Arzte,wenn sie unter sich sind, traktierensich selten mit Statistiken; oftererzahlen sie sich Geschichten uberbesondere Falle und Patienten.Konnte nicht jeder Arzt aus demStegreif uber den ersten Todesfall,einen ganz unwahrscheinlichen Er-folg oder die letzte Niederlageerzahlen? Wo ist dafur in der EbMPlatz? Nicht zufallig scheint nebenihr eine

’’narrative based medicine

’’

[17] entstanden zu sein.

6. Eine weitere Grenze der EbM: sie

unterstutzt Arzte, wie gesagt, in derAuswahl der jeweils angemessenenUntersuchungs- und Behandlungs-methoden. Sie unterstellt dabei u.a.und hier am wichtigsten: eine furdie Ziele der Begegnung von Patientund Arzt hilfreiche Gestalt ihrer Be-ziehung. Hier verhalt sich EbM wieMedizin uberhaupt. Der technischenQualitat des Handelns wird einehohere Prioritat eingeraumt als sei-ner humanen. Diese werde sichschon einstellen, bei der einenArztin mehr, beim anderen Arzt we-niger.Ich halte es fur nicht akzeptabel,diesen zentralen Bereich der klini-schen Medizin der Lern- und Lehr-barkeit zu entziehen. Arzte lehrenauch als Vorbilder und lernen auchan Vorbildern [18].Viele Geschichten des Neuen Testa-ments handeln von Heilungen chro-nisch Kranker, also von Geschehnis-sen gegen alle Wahrscheinlichkeit.Dies ist einer ihrer Aspekte (s.o.). Einanderer ist, dass die Heilungen ausBeziehungen zwischen Jesus, denKranken und Dritten erwachsen.Eine dieser Geschichten berichtet

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von einem blind Geborenen (Johan-nes 9). An ihm gingen Jesus undsein Junger voruber. Die Jungerwollten Jesus in eine theologischeDiskussion verwickeln: ob der Blindeselbst oder seine Eltern gesundigthatten, dass er blind geboren ware?Jesu Antwort war

’’weder – noch

’’

,es ginge um etwas anderes. Aber ersah den Blinden, ging zu ihm und

’’spuckte er auf die Erde, machte

daraus einen Brei und strich den Breiauf die Augen des Blinden. Und ersprach zu ihm: Geh zum Teich Siloahy und wasche dich. Da ging er hinund wusch sich und kam sehendzuruck.

’’

Ahnlich wurde ein seit 38Jahren Kranker von Jesus liegen ge-sehen (Johannes 5); er fragte ihn:

’’Willst du gesund werden? Der

Kranke antwortete ihm: Herr, ichhabe keinen Menschen, der mich inden Teich bringt, wenn das Wassersich bewegt y Jesus spricht zu ihm:Steh auf, nimm dein Bett und gehhin

’’

.Kranke und ihr Leiden nicht zuubersehen, bei ihnen anzuhaltenund sie anzusprechen, ihre Wunschezu erfragen, sie mit Worten undHanden zu beruhren, all das kannHeilung befordern.

’’Statistik trostet

nicht wirklich

’’

[18]. Die Heilungsge-schichten des Neuen Testamentesmachen auf Tugenden, Verhaltens-weisen und Beziehungsformen auf-merksam, die in die arztliche Profes-sionalitat integriert werden sollten.Sie ermuntern zur Nachfolge.

7.

Mehr als eine Grenze, namlich einerhebliches Defizit scheint mir in derEbM schließlich darin zu liegen, dasssie ein zweckrationales, nicht aberein wertrationales Unternehmen ist.Sage mir Deine Ziele, das, was Dubezweckst, und ich sage Dir, wassich bewahrt hat und – ceteris pari-bus – weiter bewahren wird.Das Problem wird handgreiflich,wenn wir uns nach Holland wen-den. Dort ist arztliche Euthanasie le-galisiert und mit einem Anteil vonknapp 2% an allen Todesursachenim Jahr 2005 nicht eben selten [19].Es gibt erste Berichte uber arztlicheFehlschlage und unnotiges Leidender sterbewilligen Patienten. Ruftdies nicht nach Heilversuchen

’’

,

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–486

nach kontrollierten Studien, eventu-ell sogar nach RCTs? Steht am Endenicht eine Evidenz-basierte Euthana-sie, empfohlen in einer entsprechen-den Leitlinie?Anders gesagt: innerhalb der EbMkann man zwar diskutieren, wie vor-gegebene Ziele wirksam und okono-misch erreicht werden konnen. Mankann in ihr aber nicht daruber dis-kutieren, ob die arztliche Euthanasieuberhaupt ein ethisch akzeptablesZiel darstellt. EbM ist zweck-, nichtwertrational. Die christliche Religionlegt bestimmte Wert- und Zielorien-tierungen nahe und schließt andereaus. Utilitaristische und okonomi-sche Orientierungen finden in ihrkeine Stutze. Sie ist eher auf derSeite individueller Kranker, Schwa-cher, Bedurftiger. Sie erlaubt die Dis-kussion uber die Ziele der Medizinund ihre Menschendienlichkeit.Protestanten billigen sich dabei un-terschiedliche Ergebnisse zu.

Schlussbemerkungen

Um nicht falsch verstanden zu werden:ich selbst halte EbM, bei allen kritischenAnmerkungen, fur ganzlich unverzicht-bar, sowohl in der Klinik wie fur dieGestaltung unseres Gesundheitswe-sens. Im Januar 2007 ist die EbM imBritish Medical Journal sehr zu Recht indie engere Wahl zum

’’Medizinischen

Meilenstein

’’

der letzten anderthalbJahrhunderte gezogen worden [20].Andererseits wird man sich davor hutenmussen, in der Religion eine Panaceafur alle Grenzen und Defizite der EbMzu sehen. Es ist nicht zu ubersehen,dass Religionen auch gesundheits-schadliche Wirkungen gehabt habenund weiter haben. Dies muss nicht im-mer die drastische Form von Kreuzzu-gen und Selbstmordattentaten anneh-men. In der ersten Halfte des 20. Jahr-hunderts hat die ecclesiogene Neuroseeine merkbare Rolle gespielt. Auchheute leiden viele Glaubige noch unterfur sie unerfullbaren Geboten und Ver-boten, z.B. im Bereich Ehe und Sexua-litat. Und aus den USA haufen sich Be-richte uber Arzte, die aus eige-nen religiosen Uberzeugungen heraus

485

ARTICLE IN PRESS

Patienten wichtige Leistungen vorent-halten (z.B. die

’’Pille danach

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; [21]).Schließlich kann in einer pluralen Ge-sellschaft eine Religion fur Agnostikerund Atheisten durch sakulare Aquiva-lente ersetzt werden. Solche sind z.B. inethischen, rechtlichen und professio-nellen Normen zu sehen. Dies ist voll-standig anzuerkennen.Doch es wird nicht leicht sein, unsereReligion zu ersetzen. Nicht nur, dass sieden

’’test of time

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seit 2000 Jahren undtrotz vieler Krisen bis heute bestandenhat – sie vermittelt eine umfassendeund in sich koharente Weltsicht. Sie er-laubt vernunftige Diskurse. Vernunftund Glaube sind in ihr integrierbar.Dies belegt am Ende auch das Beispieldes oben erwahnten Paul Martinis(1889–1964); er war – wie gesagt-nicht nur der erste klinische Epidemio-loge, also ein Empiriker, Konsequentia-list und Probabilist, – er war auch prak-tizierender Katholik – ein Umstand, derihm half, das Dritte Reich mit Anstandzu bestehen.Im Lichte seiner Aufsatze und Reden istdie christliche Religion menschen-freundlich auch darin, dass sie Gren-zen der Vernunft akzeptiert, mit Feh-lern und Schuld gnadig umgeht, vielesim menschlichen Leben fur unverfug-bar halt und es dennoch in guter Handweiß.

486

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