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1791 schrieb der anonyme Rezensent eines Chemie-Experimentierkastens: „Wer chemi- sche Kenntnisse besitzt, der kann sich den ganzen Inhalt Ihres Probircabinets viel wohl- feiler selbst bereiten, als von Ihnen kaufen; […] Wer aber noch gar keine […] Kenntnis- se besitzt, dem werden Ihre Versuche bloss zum Spielwerk dienen, er wird sie nachmachen, und angaffen, ohne den geringsten Nutzen daraus zu schöp- fen.“ [1] Was den Verfasser so in Rage versetzt hatte, war die grundsätz- liche Frage, ob solch ein Set denn sinnvoll sei und ob Laien überhaupt experimentieren sollten. Der Streit ist Geschichte, die Frage scheint allerdings mit Blick auf die große 282 | © 2008 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Chem. Unserer Zeit, 2008, 42, 282 – 289 DOI: 10.1002/ciuz.200800459 Eine Diskussion Ende des 18. Jahrhunderts Experimentier- kästen „ohne den geringsten Nutzen“? F LORIAN K ARL ÖXLER | C HRISTOPH F RIEDRICH Vielfalt solcher Kästen heute aktueller denn je. Reiseapotheke aus dem Jahr 1750. [Bild: Deutsches Apotheken-Museum Heidelberg]

Experimentierkästen “ohne den geringsten Nutzen”? Eine Diskussion Ende des 18. Jahrhunderts

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1791 schrieb der anonyme Rezensent einesChemie-Experimentierkastens: „Wer chemi-sche Kenntnisse besitzt, der kann sich denganzen Inhalt Ihres Probircabinets viel wohl-feiler selbst bereiten, als von Ihnen kaufen;[…] Wer aber noch gar keine […] Kenntnis-se besitzt, dem werden Ihre Versuchebloss zum Spielwerk dienen, er wird sienachmachen, und angaffen, ohne dengeringsten Nutzen daraus zu schöp-fen.“ [1] Was den Verfasser so in Rageversetzt hatte, war die grundsätz-liche Frage, ob solch ein Set dennsinnvoll sei und ob Laien überhaupt experimentieren sollten. Der Streitist Geschichte, die Frage scheintallerdings mit Blick auf die große

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DOI: 10.1002/ciuz.200800459

Eine Diskussion Ende des 18. Jahrhunderts

Experimentier-kästen „ohne den geringstenNutzen“? FLORIAN KARL ÖXLER | CHRISTOPH FRIEDRICH

Vielfalt solcher Kästenheute aktueller denn je.

Reiseapotheke aus dem Jahr 1750. [Bild: DeutschesApotheken-Museum Heidelberg]

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Tragbare LaboreKein Diskurs ohne Vorgeschichte. Experimentierkästen wa-ren nicht die geniale Idee eines einzelnen Erfinders, sondernProdukt einer langen Entwicklung. Aus drei konzeptionel-len Vorläufern entstanden an der Wende vom 18. zum 19.

Jahrhundert die ersten Kästen für Laien, die so ge-nannten Probierkabinette (Infokasten rechts). Heu-

te sind es zumeist Kinder und Jugendliche, diemit Chemie-Experimentierkästen umgehen. DieVorläufer dieses heutigen Spielzeugs waren da-gegen für Erwachsene gedacht.

Ein erstes Experimentierset für Laien stellte1731 der englische Arzt Peter Shaw (1694–1764)gemeinsam mit dem Instrumentenbauer FrancisHauksbee (1687–1763) vor [2]. Die Ausrüstung ba-sierte auf dem tragbaren Labor von Johann JoachimBecher (1635–1682), der bereits 1689 in seinemWerk „Tripus hermeticus fatidicus“ (geheimer weis-

sagender Dreifuß) ein transportables Labor be-schrieben hatte. In Anspielung auf das antike Orakel

von Delphi, wo die Seherin Pythia auf einem Dreifußüber einer Erdspalte saß und die Zukunft weissagte,

war Bechers Dreifuß ein eiserner Ofen, mit dem sich ge-bräuchliche chemische Operationen wie Destillation und

Sublimation durchführen ließen. Nach seinen Angabenbesaß unter anderem Robert Boyle (1627–1691) einen sol-

chen Ofen mit dem entsprechenden Zubehör [3].Im Gegensatz zu Becher, der sein Laboratorium nur be-

schrieben hatte, boten Shaw und Hauksbee ihr „portable la-boratory“ auch zum Verkauf an. Shaw veranstaltete Che-miekurse im Stil einer Vortragsserie, die sehr beliebt und gutbesucht waren, wozu sicher auch seine Versuchsvorfüh-rungen beigetragen haben dürften. Zu seinen Zuhörernzählten anfangs vor allem Gewerbetreibende mit chemi-schem Hintergrund wie Seifensieder oder Färber. Nachdemer seine Kurse von London ins noble Scarborough verlegthatte, nahmen vermehrt auch Angehörige der „upper class“teil, die sonst in der Regel keine Berührungspunkte mit derChemie hatten [4]. Das „portable laboratory“ war dazu ge-dacht, die Experimente der Vorträge zu Hause zu wieder-holen. Daher enthielt es neben Geräten und Chemikalienauch eine englischsprachige Anleitung. Das tragbare Laborvon Shaw und Hauksbee war damit schon ein komplettesChemie-Experimentierset, aber kostspielig, nicht weit ver-breitet und viel zu groß, als dass es in einem Kasten Platzgefunden hätte (Abbildung 3).

Mineralogische TaschenlaboratorienNeben den tragbaren Laboratorien, die de facto eher vonreisenden Forschern als von Laien benutzt wurden, besaßendie Probierkabinette aber noch andere konzeptionelle Vor-läufer. Die Mineralogie gab im 18. Jahrhundert der analyti-schen Chemie wichtige Impulse. [5] Für und durch die Mi-neralogie wurden neue Methoden entwickelt, die im Ge-gensatz zu den traditionellen Verfahren mit äußerst gerin-gen Substanzmengen auskamen. Hierzu zählen die Löt-

Z U M B EG R I F F „ PRO B I E R K A B I N E T T “ |Kabinett, von Französisch Cabinet, bezeichnete ursprünglich ein separates Zimmer, später auch Kleinmöbel wie eine Vitrine oder Truhe. Diese wurden zur Aufbewahrungwertvoller Gegenstände verwendet und enthielten oft ganze Sammlungen, etwa wie dieNaturalienkabinette. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden sie auch zur Aufbewahrungvon Tafelservice und Toilettenartikel benutzt und waren in dieser Form Teil des Reisege-päcks höherer Stände.

Probieren leitet sich von der bergmännischen Probierkunst oder Docimasie ab und bedeutet testen und untersuchen. Die Probierkunde war hauptsächlich auf die Analysevon Erzen und anderen Bodenschätzen ausgerichtet, deren Zusammensetzung es zu ermitteln galt.

Ein Probierkabinett war demnach einKästchen mit einer Ausrüstung für ana-lytische Versuche. In ihrer Konzentrationauf qualitativ-anorganischer Analytikund in der Erscheinung eines üblichenArzneikästchens stellten sie eine Vereini-gung von tragbarem Labor, mineralogi-schem Taschenlabor und Hausapothekedar.

DDeerr IInnhhaalltt vvoonn GGööttttlliinnggss „„PPrroobbiirr--CCaabbiinneett““Das „Probir-Cabinet“ war ein 9 x 9 x 12Zoll (ca. 22 x 22 x 31 cm) großer Kastenaus Holz, der aus zwei aufeinander ste-henden Kästchen bestand, in denen dieFlaschen mit den Reagenzien in vonei-nander abgetrennten Fächern standen.Der untere Kasten besaß zusätzlich eineSchublade, in der sich die Indikatorpa-piere und Kleinteile befanden. Eine Re-konstruktion (Abbildung 7) befindet sich im Besitz des Apotheken-MuseumHeidelberg.

GGeerräättee: Lötrohr aus Messing; Waageund Gewichte; Glasmörser mit Pistill;Glas zur Bleiprobe nach Hahnemann(mit H2S); Zuckerglas (gut verschließ-bar); Glastrichter; statt Reagenzgläsernwurden übliche Wein- und Sektgläserverwendet

IInnddiikkaattoorreenn: Lakmustinktur; blaues Lakmuspapier; rotes Lakmuspapier; Fernambukpa-pier; Gilbwurzpapier

RReeaaggeennzziieenn: destilliertes Wasser; gereinigter Weingeist (Ethanol); Vitriolsäure (Schwefel-säure); Salpetersäure; Salzsäure; Essigsäure; mineralisches Laugensalz [NaOH]; luftleeresflüchtiges Laugensalz [NH3 aq.]; flüchtiges luftvolles Laugensalz [(NH4)2CO3]; feuerbe-ständiges vegetabilisches luftvolles Laugensalz [K2CO3]; luftleeres vegetabilisches feuer-beständiges Laugensalz [KOH]; kalzinierter Borax; schmelzbares Urinsalz [NaNH4HPO4];Zuckersäure [C2O4H2] Oxalsäure; Kalkleber [CaS]; Weinstein [KC4O6H5] Kaliumhydrogen-tartrat; Salmiak [NH4Cl]; vitriolsaures Bittersalz [MgSO4]; Kupfersalmiak [[Cu(NH3)4]2+

Anion vermutlich Sulfat]; Kalkwasser [Ca(OH)2 aq.]; Bleiauflösung in Salpeter- oder Essig-säure [Pb(NO3)2 / Pb(CH3COO)2 aq.]; Arsenikauflösung [H3AsO3 aq.]; Sublimatauflösungin destilliertem Wasser [HgCl2 aq.]; Auflösung des Quecksilbers in Salpetersäure; in derWärme bereitet [Hg(NO3)2 aq.]; Auflösung des Quecksilbers in Salpetersäure; in der Kältebereitet [Hg2(NO3)2 aq.]; in Salzsäure aufgelöste Schwererde [BaCl2 aq.]; Silberauflösungin Salpetersäure [AgNO3]; Kupfervitriolauflösung [CuSO4 aq.]; Geistige Galläpfeltinktur[enth. 3,4,5-Trihydroxybenzoesäure] ethanolischer Extrakt aus Galläpfeln; flüchtigeSchwefelleber [H2S aq.]; Seifenauflösung; Berlinerblaulauge [K4[Fe(CN)6 aq.] gelbes Blut-laugensalz; Quecksilber.

Abb. 1 Titelblatt von Göttlings Experi-mentierleitfaden.

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rohrprobe (Abbildung 4) und die Analyse in wässrigen Lösungen mittels Farb- und Fällungsreaktionen. Dank derEinführung dieser Techniken war es nun erstmals möglich,ein komplettes Set von Untersuchungsgeräten und zuge-hörigen Chemikalien „in der Manteltasche“ zu tragen, wassich wiederum besonders auf Erkundungsreisen als nützlicherwies. Diese vornehmlich für die Bestimmung von Ge-steinsarten konzipierten Taschenlabore konnten relativpreiswert hergestellt werden, und auch Amateurmineralo-gen, die sich kein voll eingerichtetes Labor leisten konnten,führten damit genaue Analysen durch. Die Grundlagen überdie Handhabung eines Taschenlabors konnte man der spe-ziellen Fachliteratur entnehmen. Einige Sets waren sogargenau auf bestimmte Bücher zugeschnitten.

Hausapotheken als VorbildAm engsten verwandt mit den Probierkabinetten und als un-mittelbare Vorläufer können jedoch die Haus- und Reise-apotheken angesehen werden. In einer Zeit, in der die An-zahl der Apotheken gering war, erwies es sich gerade aufdem Land, aber auch auf Reisen als sinnvoll, immer einenVorrat an gängigen Grundsubstanzen vorrätig zu haben. Ausdiesem konnte im Bedarfsfall das benötigte Arzneimittelselbst oder von einem Arzt zubereitet werden. Dazu enthielteine solche Hausapotheke neben Geräten wie Gläsern, Löf-fel und Waage auch die notwendigen Arzneidrogen, Grund-substanzen und galenische Zubereitungen wie Extrakte.Meist war auch ein kleiner medizinischer Leitfaden beige-fügt, mittels dessen eigenständig Krankheiten erkannt unddas passende Mittel gefunden werden konnte. Das erspar-te nicht nur die Kosten für den Arzt, sondern mitunter auch

wertvolle Zeit, denn es vergingen oft Stunden, bis ein ge-rufener Mediziner zur Stelle war [6].

Seit den Seuchenverordnungen des 17. und 18. Jahr-hunderts war zudem die häusliche Bevorratung von Medi-kamenten verbindlich, so dass sich in den meisten Haus-halten ein Apothekenkästchen fand. Bei diesen Sets brauch-ten nur die Substanzen ausgetauscht und eine passende An-leitung beigefügt zu werden, um einen Chemie-Experi-mentierkasten entstehen zu lassen. Es überrascht daher we-nig, dass es ein Apotheker war, der zuerst auf diese Ideekam.

Johann Friedrich August GöttlingDer Jenaer Apotheker und Professor Johann Friedrich Au-gust Göttling (1753–1809) hatte im Alter von 14 Jahren sei-ne Ausbildung zum Apotheker begonnen [7]. Sein Lehrherr,Johann Christian Wiegleb (1732–1800) betrachtete zu die-ser Zeit die Chemie noch als geheime Wissenschaft undließ ihn über die chemischen Hintergründe der pharma-zeutischen Verfahren oft im Unklaren. Der wissbegierigeGöttling begann daher, nachts die Aufzeichnungen seinesPrinzipals abzuschreiben und brachte sich die Chemie au-todidaktisch bei. Nach fünf Jahren Lehrzeit und verschie-denen kurzen Anstellungen trat er 1774 eine Stelle als Ge-hilfe in der Hofapotheke in Weimar an. Unterstützt von sei-nem neuen Arbeitgeber Wilhelm Heinrich Sebastian Buch-holz (1734–1798) und angeregt durch dessen schriftstelle-rische Tätigkeit vertiefte Göttling seine pharmazeutisch-chemischen Studien und publizierte erste Ergebnisse. 1778erschien sein erstes Buch, die „Einleitung in die pharma-

Abb. 2 Gerätschaften eines transportablen Labors nach Becher (1689).

Abb. 3 Tragbarer Ofen des „portable laboratory“ von Shawund Hauksbee (1731).

Abb. 5 Reise-apotheken wiediese (ca. 1750)dürften Vorbil-der für die Ent-wicklung derChemie-Experi-mentierkästen

gewesen sein.[Deutsches Apotheken-

Museum Heidelberg]

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zeutische Chymie für Lernende“, und im Folgejahr begrün-dete er die erste chemisch-pharmazeutische Fachzeitschrift,den „Almanach oder Taschenbuch für Scheidekünstler undApotheker“ [8].

Während seiner Zeit in Weimar kam Göttling mit CarlAugust von Sachsen-Weimar und dessen Berater JohannWolfgang von Goethe in Kontakt, in deren Auftrag er ver-schiedene Gutachten und Analysen anfertigte. Auf Anre-gung Goethes finanzierte der Herzog dem begabten jungenApotheker ein zweijähriges Studium in Göttingen und eineanschließende Studienreise, die diesen nach England undHolland führte. Nach seiner Rückkehr 1788 promovierteGöttling an der Universität Jena und erhielt dort eine Stel-le als außerordentlicher Professor. Schon bald geriet er al-lerdings in Streit mit den Kollegen der Medizinischen Fa-kultät, die es als ihr Privileg ansahen, Vorlesungen zu phar-mazeutischer Chemie abzuhalten. Kernpunkt des Streitsaber war die Frage, ob die Chemie eine Hilfswissenschaftder Medizin oder eine selbstständige Disziplin sei. DurchVermittlung Goethes einigte man sich darauf, dass an bei-den Fakultäten Chemie gelesen werden durfte, Göttling je-doch jedes Semester die Genehmigung der MedizinischenFakultät einholen musste.

„Vollständiges chemisches Probir-Cabinet“Da sein Salär in Jena gering war, suchte Göttling nach einemNebenerwerb und betrieb zeitweise einen kleinen Handelmit Reagenzien und selbst hergestelltem Zucker. Vermutlichnicht ohne finanzielle Erwägungen bot er auch verschie-dene Experimentier-Sets an. Als erstes stellte er 1789 das„Vollständige chemische Probir-Cabinet zum Handgebrau-che für Scheidekünstler, Aerzte, Mineralogen, Metallurgen,Technologen, Fabrikanten, Oekonomen und Naturliebha-ber“ [9] vor.

Das „Probir-Cabinet“ enthielt einige wenige Geräte, vierverschiedene Indikatorpapiere sowie 34 Reagenzien höchs-ter Reinheit. Der Preis betrug regulär 31/2 Louis d’or (frz.Goldmünze). Bei frühzeitiger Bestellungen mit Teilanzah-lung ermäßigte sich der Betrag auf 3 Louis d’or. Die Aus-lieferung erfolgte bis Leipzig kostenfrei. Für weiter entfernteBestellungen nutzte Göttling das gut vernetzte Handelssys-tem der Leipziger Buchhändler. Interessanterweise bein-haltete sein Set ein Lötrohr und verschiedene Flussmittel

wie Borax und Phosphorsalz, wie sie für die Lötrohranaly-se benötigt werden. Das dazugehörige Buch, das ein halbesJahr nach Auslieferung der Kästen erschien und allen Be-stellern nachgesandt wurde, beschäftigte sich aber nur mitAnalysen in wässrigen Lösungen. Die Untersuchungen mitdem Lötrohr, „auf trockenem Weg“, sollten Inhalt eineszweiten Teils werden.

Mit seiner Ausrichtung auf Fachleute, chemisch-techni-sche Gewerbetreibende und Laienchemiker stellte das „Pro-bir-Cabinet“ einen Übergangstypus dar. Da es sowohl trag-bares Labor als auch Experimentierset sein sollte, stieß esmit dieser Konzeption nicht immer auf Zustimmung.

Sigismund Friedrich HermbstaedtEin scharfer Kritiker dieses Konzeptes war der Berliner Apo-theker und Chemiker Sigismund Friedrich Hermbstaedt(1760–1833) (Abbildung 6). Seine Ausbildung als Apothekerhatte er wie Göttling bei Wiegleb begonnen. Anschließendhörte er Vorlesungen am Berliner „Collegium medico-chi-rurgicum“ und war mit bedeutenden Naturwissenschaft-lern wie Johann Friedrich Gmelin (1748–1804), MartinHeinrich Klaproth (1743–1817) und Johann Beckmann(1739–1811) bekannt. Seit 1787 lehrte Hermbstaedt in Ber-lin selbst Chemie und Pharmazie, womit er sich den Arg-wohn des „Collegium medico-chirurgicum“ zuzog, das einMonopol auf solche Vorlesungen besaß. Als sich Hermb-staedt im Frühjahr 1789 um eine Anstellung am Collegiumbewarb, ließ ihn die Prüfungskommission zunächstvöllig unerwartet durchfallen, und erst ein Jahr spä-ter wurde er, nach erneuter Prüfung, aufgenom-men [10].

Hermbstaedt und Göttling hatten also zumBeginn ihres Disputs am Jahreswechsel 1790/91 neue Stellen angetreten und sich an ihrenWirkungsstätten noch nicht etablierenkönnen. Beide standen daher unterdem Druck, ihre Eignung unterBeweis stellen zu müssen, wasvielleicht die Schärfe und Heftig-

Abb. 4 Mit dem Lötrohr wird eine Stichflamme auf die Pro-bensubstanz geblasen, die sich hier in einer Drahtöse befin-det (Stöckhardt: Schule der Chemie. 1908).

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keit des Streits um das „Probir-Cabinet“ er-klärt. Im Fokus stand aber eine aktuelle Frage:

Kann mit einem Experimentierkasten Laien dieChemie näher gebracht werden?

Beanstandungen an Göttlings KonzeptIn einer ersten, 1790 erschienenen, sehr knappen Rezen-sion [11] hatte Hermbstaedt das Begleitbuch des „Probir-Ca-binets“ recht positiv besprochen, beim gründlichen Studi-um dann aber doch Fehler festgestellt, die er in einer zwei-ten Kritik [12] veröffentlichte. So bemängelte er beispiels-weise einen „Fehler im Ausdruck“ wenn Göttling auf S. 25behaupte, dass Kalkwasser mit ätzendem Sublimat [HgCl2]einen gelben Niederschlag ergebe, da nicht nur diese, son-dern „alle Verbindungen des Quecksilbers mit einer Säure“so reagierten. Hermbstaedt monierte damit die isolierte Dar-stellung der Reaktion und Göttlings fehlenden Hinweis, dassandere Reaktionen eine ähnliche Erscheinung verursachen.Gleichzeitig stellte er die Frage, ob Göttlings Buch und Kas-ten überhaupt geeignet seien,

„um sie denjenigen als einen Leitfaden zu empfehlen,die noch nicht mit der Kunst, chemische Versuche anzu-stellen, bekannt sind. Rec. [Recensent, gemeint ist Hermb-staedt] findet diesen Endzweck lobenswerth; nur zweifelter, dass ihn der Vf. [Verfasser, gemeint ist Göttling] ganzerreichen werde, da es in der That nicht so leicht ist, che-mische Versuche anzustellen, als mancher wohl glaubt:und daher für Künstler und Fabrikanten, dergleichen vonihnen gar nicht verstandene Versuche nur zum chemi-schen Spielwerk dienen.“ [12]

Kritik und AntikritikGöttling war verständlicherweise über Hermbstaedts Ein-würfe nicht sehr erfreut und bemerkte in einer Gegendar-stellung:

„Jedem, dem ein Buch zur Beurtheilung übergebenwird, trauet man so viel Einsicht in die Wissenschaft […]zu, dass er den Plan des Vf. übersehen könne. […] Er-

dreistet er sich aber ohne diese vorausgesetzten Eigen-schaften ein Buch zu beurtheilen, so muss man ihn zu-recht weisen, damit er fürs künftige behutsamer werde.“[13]

Seine Zurechtweisung bestand darin, dass er jeden Kri-tikpunkt einzeln zu entkräften suchte, so auch am Beispieldes Quecksilberniederschlags:

„Ich kann hier den Fehler im Ausdruck nicht finden[…] Will aber Rec. ja hierüber eine bestimmtere Antworthaben, so verweise ich ihn an den ersten besten phar-macevtischen Schüler, der wird ihm sagen, dass der ät-zende Sublimat von dem versüssten Quecksilber [Hg2Cl2]darinn verschieden ist, dass ersterer mit dem frischenKalkwasser einen gelben und letzterer einen schwarzenNiederschlag hervorbringe.“ [13]

Süffisanterweise belegte Göttling diese Feststellung miteiner Literaturstelle aus einem Werk Hermbstaedts.

Die Kritik am Konzept seines „Probir-Cabinets“ konnteGöttling aber nicht völlig von der Hand weisen. Er gabHermbstaedt insoweit recht,

„dass die Erscheinungen, welche durch solche Versu-che zum Vorschein kommen, für diejenigen, welche siebloss angaffen, und nichts dabey denken, sich nicht umden Grund derselben bekümmern, bloss als chemischeSpielwerke dienen. Wird aber der Ungeübte in diesen Un-tersuchungen durch solche Spielereyen auf die Ursachenderselben nach und nach hingeleitet, ja gleichsam prak-tisch hingeleitet, so sind sie keine Spielwerke mehr. Ue-berdies fühlte ich die Schwierigkeit nur zu sehr, die ich beider Ausarbeitung dieser Schrift zu bekämpfen hatte, wennich sie […] für jeden, auch ohne vorausgesetzte chemischeKenntnis, brauchbar machen wollte.“ [13]

Vor diesem Dilemma steht auch heute noch jeder Au-tor solcher Literatur: Wie soll man einem Laien nicht nurdie Handgriffe beibringen, sondern auch noch die Theorieder „Chemie dahinter“ vermitteln?

Der Streit eskaliertHermbstaedt, der seine Rezensionen anonym veröffentlichthatte, wollte die Sache indes nicht auf sich beruhen lassen.In einer Erwiderung bezog er, diesmal namentlich, Stellung:

„Konnte ich vermuthen, dass Ihnen, mein Hr. Profes-sor! So wenig Empfänglichkeit für gerechten Tadel zuTheil geworden wäre […] Bey weniger Nachsicht gegen Sieund ihre begangenen Irrthümer […] würde ich doppelt soviel Fehler, und zwar nicht selten gegen die ersten An-fangsgründe der Chemie, haben aufdecken können.“ [1]

Die Auseinandersetzung um chemische Details glittschließlich immer mehr ins Persönliche ab und bestimmtezunehmend den immer aggressiver werdenden Ton der Dis-kussion:

„O! hätten Sie doch meine Behauptung: dass alle Ver-bindungen des Quecksilbers mit Säuren durch das Kalk-wasser gelb gefället werden, nicht geahndet. Was Sie mirdarauf sagen, […] fällt ganz auf Sie zurück. Sie mein Hr.und nicht ich, mögen bey dem ersten besten pharma-

Abb. 6 Sigis-mund Friedrich Hermbstaedt(1760-1833).

D E R E X PE R I M E N T I E R L E I T FA D E N Z U M „ PRO B I R- C A B I N E T “ B E S T E H T AU S Z W E I T E I L E N : |– „Erscheinungen, welche sich bey der Untersuchung der Körper, durch die gegenwir-

kenden Mittel, ereignen; durch Versuche erläutert.“ (117 Seiten)

– „Gebrauch des Probiercabinets für Scheidekünstler, Aerzte, Mineralogen, Metallurgen,Technologen, Fabrikanten, Oekonomen, und Naturliebhaber.“ (97 Seiten)

Im ersten Teil werden die im Set enthaltenen Substanzen anhand typischer Reaktionenvorgestellt. Bei den meisten der 152 qualitativen Versuche handelt es sich um einfacheReaktionen, die auch heute noch jeder Chemiestudent im Anfangspraktikum kennenlernt. In Teil zwei werden Anwendungsbeispiele gegeben und auf weiterführende Litera-tur verwiesen. Die Anweisungen für den Gebrauch durch Ärzte sind am umfangreichstenund enthalten neben Vorschriften zu Untersuchungen von Mineralwässern und Weinenauch Verfahren, um Vergiftungen aufzuklären. Da den Ärzten auch die Apothekenauf-sicht oblag, fehlt auch ein Abschnitt über Qualitätsprüfungen von Arzneimitteln nicht.

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zeutischen Schüler in die Lehre gehen, um sich sagen zulassen, dass das versüsste Quecksilber keine Verbindungvon Quecksilber und Säure genannt werden kann; dassin diesem das laufende Quecksilber [Hg] dem Sublimate,gleichsam nur mechanisch beygemischt ist, und daher alsein schwarzes Pulver, durchs Kalkwasser abgeschiedenwird. […]

Es ist mir um ihren Ruhm […] herzlich Leid, Sie beyso unbedeutenden Kleinigkeiten, die jeder Apotheker-knabe weiss, einer so grossen Unwissenheit überführenzu müssen;“ [1]

Tatsächlich wurde Quecksilber(I)-chlorid hergestellt, in-dem man metallisches Quecksilber mit dem zweiwertigenSalz „innig vermengte“ und anschließend sublimierte. Nachdamaliger Ansicht war Kalomel [Hg2Cl2] demnach eine phy-sikalische Mischung und keine Verbindung.

In seiner Kritik am Konzept des „Probir-Cabinets“ ge-langte Hermbstaedt schließlich zu einem vernichtenden Ur-teil:

„wer chemische Kenntnisse besitzt, der kann sich denganzen Inhalt Ihres Probircabinets viel wohlfeiler selbstbereiten, als von Ihnen kaufen; und einem solchen wirdalso auch Ihre Anleitung nicht viel Vortheil bringen. Weraber noch gar keine, oder doch nur sehr wenige chemi-sche Kenntnisse besitzt, dem werden Ihre Versuche blosszum Spielwerk dienen, er wird sie nachmachen, und an-gaffen, ohne den geringsten Nutzen daraus zu schöpfen.[…] Hätte ich wissen können, dass es Ihre Absicht war, Ih-re Leser nur mit superficiellen und nicht mit gründlichenchemischen Beobachtungen bekannt zu machen […] Ei-ne solche Vermuthung schien mir aber für Sie Beleidi-gung zu seyn.“ [1]

In der Folge ging der Disput noch eine Zeit lang weiter,glitt aber völlig auf die Ebene persönlicher Beleidigungenab. Göttling warf Hermbstaedt schließlich vor, ein „Zwey-züngler“ zu sein, wogegen sich dieser vehement wehrte[14]. Zwischenzeitlich meldeten sich irritierte Leser zuWort, die die Kontrahenten zur Räson riefen und zu einemfairen Umgang mahnten [15].

Heutige BeurteilungDoch war die Kritik an Göttlings „Probir-Cabinet“ berech-tigt? Hermbstaedt zielte vor allem auf die Konzeption desSets. Wenn er Mängel im Ausdruck rügte, tat er dies, weilihm die Formulierung für ein Lehrbuch der chemischenAnalytik nicht präzise genug erschien. So hatte Göttling seinWerk aber nicht konzipiert, es sollte ein kurzer Leitfadensein, der Laien die Durchführung eigener Untersuchungenerleichterte. Gleichzeitig war sein Cabinet aber auch alsAnalytik-Werkzeugkasten für Fachleute gedacht. Darin liegtGöttlings eigentliche konzeptionelle Schwäche. Er hattesich nicht auf eine Zielgruppe festgelegt und damit Erwar-tungen geweckt, die er nicht erfüllen konnte.

Chemiker konnten aber auf das Buch zum Kasten ver-zichten, und für viele Ärzte war das Probir-Cabinet viel zuumfangreich. Für Laien dagegen erwies sich die Anleitung

V E R S U C H E AU S D E M PRO B I R- C A B I N E T |„„UUnntteerrssuucchhuunngg vveerrddääcchhttiiggeerr WWeeiinnee““

Göttling empfahl hierzu „Hahnemanns Bleyprobe“, bei der ein leicht angesäuertesSchwefelwasserstoff-Wasser verwendet wird. 16 Teile Kalkleber [CaS] und 20 Teile Wein-stein wurden dazu in Wasser gelöst und 10 Minuten geschüttelt.

„zu vier oder sechs Loth von dem Weine giesst man einen Löffel voll von jener frisch be-reiteten Bleyprobe; ist der Wein ganz ohne schädliches Metall, so wird auch der Wein klarbleiben und gar nicht getrübt werden, ist aber Bley oder ein anderes schädliches Metallvorhanden, so wird, [je] nachdem mehr oder weniger davon gegenwärtig ist, auch mehroder weniger von einem dunklen Niederschlage erscheinen.“

Um im Wein Eisen nachzuweisen, mussten weitere Untersuchungen folgen, wozu dieüberschüssige Weinsäure zunächst mit „feuerbeständigem Laugensalz“ [K2CO3] neutrali-siert wurde. In diesem Milieu bildet eventuell im Wein enthaltenes Eisen ebenfalls einenschwarzen Niederschlag [FeS], der sich aber nach Zugabe von „Vitriolsäure“ [H2SO4] wie-der auflöst. Bleihaltiger Niederschlag [PbS] bleibt dagegen ungelöst.

„„GGaallllääppffeellttiinnkkttuurr““

Eine alternative Eisenprobe bestand darin, zu einer neuen Probe des Weins etwas Gall-äpfeltinktur zu tröpfeln. Gallussäure bildet mit den Eisenionen blau-schwarze Nieder-schläge, die auch Grundlage der sogenannten Eisengallustinte sind, die heute aber eben-so ungebräuchlich ist wie Galläpfeltinktur.

„„SSeeiiffeennaauuffllöössuunngg““

Ein ebenfalls ungewöhnlich anmutendes Reagenz stellt die Seifenauflösung dar, die imFalle einer alkoholischen Lösung auch als „Seifengeist“ bezeichnet wurde.

Göttling verwendete die Lösung alsTestreagenz für Säuren, Calcium-, Mag-nesium-, Aluminium-, Kupfer-, Blei-, Ei-sen-, Quecksilber(II)- und Silber-Ionen.Obwohl einfach herzustellen und ungif-tig, ist die Seifenlösung heute wohl vorallem gerade aufgrund dieser Vielfaltungebräuchlich. Mit allen aufgeführtenSubstanzen entstehen unspezifische,weiße, teils flockige Trübungen bei de-nen es sich im Falle der Säuren um freieFettsäuren, bei den Metallen um dieschlecht wasserlöslichen Kalk- und Metallseifen handelt.

A B B . 7 Rekonstruktion von Göttlings Probir-Cabinet.[Deutsches Apotheken-Museum Heidelberg]

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nicht als Einführungsbuch in die Chemie geeignet. Ein Lern-effekt war willkommen, aber nicht beabsichtigt, wie Gött-ling selbst hervorhob:

„Wer sich bloss aus Liebhaberey mit chemischen Un-tersuchungen beschäfftiget, der wird bey der Widerho-lung, der in dieser Schrift aufgezeichneten Versuche, hin-länglich Gelegenheit haben, sich nicht allein auf eine lehr-reiche, sondern auch angenehme Art zu unterhalten. […]Durch die mancherley Farbenveränderungen, ungefärb-ter Flüssigkeiten, wenn sie mit andern Stoffen in Verbin-dung kommen, können ebenfalls allerhand belustigendeVersuche angestellt werden, die, wenn man sie nicht ganz,ohne zu denken, unternimmt, nützlich und lehrreich wer-den können.“ [9]

Diese Zielstellung erfüllte das Set zweifellos und machtes damit zu einem der ersten Vertreter des Typus Chemie-Experimentierkasten. Das Buch „Vollständiges chemischesProbir-Cabinet“ war aber kein Lehrbuch, auch wenn dieseEinordnung in der Vergangenheit oft kolportiert wurde[16].

Weitere EntwicklungGöttling war sich offenbar selbst der konzeptionellen Män-gel bewusst, denn er gab keine weitere Ausgabe des „Pro-bir-Cabinets“ heraus. 1792 stellte er stattdessen eine „Samm-lung chemischer Präparate zu unterhaltenden und nützli-chen Versuchen für Liebhaber der physischen Scheide-kunst“ vor. Die beiliegende Gebrauchsanleitung „Versuch ei-ner physischen Chemie für Jugendlehrer beym Unterricht“verdeutlicht die Ausrichtung als Lern- und Lehrmittel.

1800 führte er ein neues, speziell auf Ärzte zugeschnit-tenes Set ein, das nur noch 11/2 Dukaten kostete. Es enthieltnur mehr 16 Reagenzien und war im Wesentlichen eine re-duzierte Variante des „Probier-Cabinets“, mit der Mineral-wässer untersucht und Medikamente auf Echtheit geprüftwerden konnten [17].

1802 erschien schließlich mit der „Praktischen Anlei-tung zur prüfenden und zerlegenden Chemie“ ein echtesLehrbuch der chemischen Analytik aus Göttlings Feder, daser selbst in der Tradition der Anleitung des „Probir-Cabi-nets“ sah, und das nun auch die Untersuchungen auf tro-ckenem Weg beinhaltete, also den zweiten Teil, der nie er-schienen war.

Als Fazit dieser historischen Episode bleiben zwei Denk-anstöße: Der Autor eines Experimentierkastens soll nicht zu-viel in sein Werk hineinzulegen versuchen, und der Benut-zer darf keinen Lehrkurs der Chemie erwarten. Alles stehtund fällt mit der Anleitung. Da Anzahl und Menge der ent-haltenen Chemikalien heute durch eine DIN-Norm begrenztsind, gilt umso mehr, dass eine didaktisch gut aufbereiteteAnleitung den Wert eines Kastens bestimmt.

Ein Experimentierkasten kann aber keinen qualifiziertenChemie-Unterricht ersetzen und ein Anleitungsbuch ist keinLehrbuch der Chemie. Im Idealfall weckt ein solches Set dieWissbegierde oder unterstützt den schulischen Unterricht.Für die Erwachsenenbildung haben Chemie-Experimen-

tiersets heute allerdings ihre Bedeutung verloren. Schade ei-gentlich, denn die Versuche haben seit dem 18. Jahrhundertnichts von ihrer Faszination eingebüßt. Einen Abend zu-hause mit Aha- und Lern-Effekt statt Fernsehen zu verbrin-gen wäre aber auch heute noch für Groß und Klein ein Ge-winn. Vielleicht gäbe es nach der Renaissance der Experi-mentalvorträge [18] auch eine Wiederbelebung der Laien-chemie!

ZusammenfassungChemie-Experimentierkästen haben eine lange Entwick-lungsgeschichte, und ebenso alt ist die Frage, ob sich solcheSets eignen, um Laien die Chemie näher zu bringen. 1790/91trugen Sigismund Friedrich Hermbstaedt und Johann Fried-rich August Göttling einen Streit über ein Experimentier-SetGöttlings aus, der sich genau um diese Frage drehte. Anhanddes historischen Beispiels wird klar, dass besonders die Anlei-tung den Bildungswert eines Chemie-Experimentierkastensausmacht. Seitens der Kritiker dürfen allerdings die Erwar-tungen an solche Sets nicht übertrieben werden. Experimen-tierkästen können qualifizierten Unterricht nicht ersetzen.

Summary Chemistry experimental kits have been developed long agoand the question if a layperson has any profit of such a set isas old as this class of toys itself. In 1790/91 the chemists Si-gismund Friedrich Hermbstaedt and Johann Friedrich AugustGöttling had a publically held quarrel about this topic, whicharose on Göttling’s chemical chest called „Probir-Cabinet“.The historic example clarifies that it’s the instruction bookwhich gives an experimental kit its educational value. On theside of critics, expectations towards these sets should not beexaggerated because they cannot substitute qualified lessons.

SchlagworteExperimentierkasten, Bildungswert, Laienchemie, Geschichte.

Literatur [1] S. F. Hermbstaedt, Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung

12. Januar 11779911, 11–16.[2] B. Gee, Amusement Chests and Portable Laboratories. Practical Al-

ternatives to the Regular Laboratory, In: The developement of the laboratory (Hrsg: F. A. J. L. James), Macmillan, Houndmills, 11998899, S. 37–59.

[3] J. J. Becher, Tripus hermeticus fatidicus, pandens oracula chymica,Schiele, Francofurti ad moenum, 11668899.

[4] J. Golinski, Science as Public Culture. Chemistry and Enlightenment inBritain, 1760–1820. Cambridge University Press, Cambridge, 11999922,S. 60.

[5] U. Räth, Zur Geschichte der Pharmazeutischen Mineralogie, Disserta-tion, Braunschweig, 11997711.

[6] A. Mortimer Young, Antique medicine chests, Vernier, London, 11999944.[7] W. Aigner, Die Beiträge des Apothekers Johann Friedrich August

Göttling (1755[!]–1809) zur Entwicklung der Pharmazie und Sauer-stoffchemie. Dissertation, München, 11998855.

[8] S. Wolf, Das deutsche pharmazeutische Reformschrifttum und Zeit-schriftenwesen im 19. Jahrhundert, Dissertation, Marburg, 11997711.

Chem. Unserer Zeit, 2008, 42, 282 – 289 www.chiuz.de © 2008 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 289

E X P E R I M E N T I E R K Ä S T E N | H I S TO R I E

[9] J. F. A. Göttling, Vollständiges chemisches Probir-Cabinet zumHandgebrauche für Scheidekünstler, Aerzte, Mineralogen, Metallur-gen, Technologen, Fabrikanten, Oekonomen und Naturliebhaber.Erster Theil. Untersuchungen auf dem nassen Wege, Mauke, Jena,11779900.

[10] C. Friedrich und C. Schümann, Pharm. Ztg. Wiss. 11999900, 135, 259–266.

[11] Die Rezension erfolgte anonym, später bekannt sich S. F. Hermb-staedt dazu: Bibliothek der neuesten physikalisch-chemischen,metallurgischen und pharmaceutischen Literatur 11779900, 3, 2. Stück,139f.

[12] Auch diese zweite Rezension Herbstaedts wurde zunächst ohneAngabe des Autor veröffentlicht: Allgemeine Literatur-Zeitung 1. November 11779900, 297–299.

[13] J. F. A. Göttling, Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung24. November 11779900, 1284–1288.

[14] J. F. A. Göttling, Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung15. Januar 11779911, 30f.; S. F. Hermbstaedt, Intelligenzblatt derAllgemeinen Literatur-Zeitung 23. Februar 11779911, 194–200; S. F. Hermbstaedt, Bibliothek der neuesten physischchemischen,metallurgischen, technologischen und pharmaceutischen Literatur11779911, 3, 4. Stück, IIIf.

[15] Mehrere Abonnenten und die Herausgeber der AllgemeinenLiteraturzeitung, Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung12. Februar 11779911, 145–148.

[16] Die Einordnung des „Vollständigen chemischen Probir-Cabinets“ als„erstes Hochschullehrbuch für Analytik“ stammt von F. Szabadváry,Geschichte der analytischen Chemie, Vieweg, Braunschweig, 11996666,und wurde in der Folge des Öfteren unkritisch übernommen; siehebspw. G. Schwedt, Chemische Probierkabinette, HisChymia, Seesen,22000011, zit. Lit.

[17] J. F. A. Göttling, Almanach oder Taschenbuch für Scheidekünstlerund Apotheker 11880000, 21, 205–208.

[18] G. Schwedt, Nachr. aus der Chemie 22000088, 56, 143–145.

Die AutorenFlorian K. Öxler, geboren 1979, studierte Diplom-Chemie an der Philipps-Universität Marburg. Parallelzum Hauptstudium absolvierte er ein Aufbaustudi-um am Institut für Geschichte der Pharmazie. Seit2006 ist er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiterangestellt und beschäftigt sich im Rahmen seinerDissertation mit der Geschichte der Chemie-Experimentierkästen.

Christoph Friedrich, geboren 1954, studierte von1974 bis 1979 Pharmazie in Greifswald. Anschlie-ßend absolvierte er ein Studium der Geschichtswis-senschaft, das er mit dem Diplom abschloss. 1983promovierte er mit einer pharmaziehistorischenArbeit zum Dr. rer. nat., 1987 folgte die Habilitation.1992 wurde er zum Professor für Geschichte derPharmazie an der Universität Greifswald ernannt.Seit 2000 leitet er das Institut für Geschichte derPharmazie in Marburg und war von 2004–2007Dekan. Er ist Verfasser von 23 Büchern und über 200Zeitschriftenaufsätzen.

KKoorrrreessppoonnddeennzzaaddrreessssee:Philipps-Universität MarburgInstitut für Geschichte der PharmazieRoter Graben 10, 35032 Marburg E-Mail: [email protected]@staff.uni-marburg.de