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Beitrag 23 Konfliktrisiko kollektive Allokationsentscheidungen? Wissen als Grundlage im Umgang mit begrenzten Ressourcen Jürgen Hohnl Rn. 1 Einleitung und Problemstellung .......................... 1 10 2 Allokation zwischen Rationierung und Priorisierung ....... 11 25 2.1 Rationierung versus Priorisierung ......................... 16 20 2.2 Allokationsentscheidungen: Von der Kosten- zur Versorgungs- steuerung .............................................. 21 25 3 Wissen als Basis für kollektive Allokationsentscheidungen ... 26 39 3.1 Evidenzbasierte Medizin und Versorgungsforschung.......... 31 39 4 Der Gemeinsame Bundesausschuss als Gremium für kollektive Allokationsentscheidungen ................................ 40 51 4.1 Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen ...................................... 47 49 4.2 Das AQUA-Institut ..................................... 50, 51 5 Die Zukunft: Qualitätssicherung und Innovationsförderung . 52 60 6 Resümee .............................................. 61 63 Literatur Stand: Autor_Nachname: Hohnl Autor_Vorname: Jürgen aus: MED2 23 : 2014-10-01 Extract aus DSGG6 Beitrag 23 Version: 2014 Hohnl 391

Extract aus Stand: Autor Nachname:Hohnl DSGG6 Autor ......Jürgen Hohnl Jahrgang1962,GermanistM.A.,seit2009Geschäftsführer desIKKe.V.,derInteressenvertretungderInnungskran-kenkassenaufBundesebene.2003bis2008LeiterderAbtei-

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Beitrag 23

Konfliktrisiko kollektiveAllokationsentscheidungen?

Wissen als Grundlage im Umgangmit begrenzten Ressourcen

Jürgen Hohnl

Rn.

1 Einleitung und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 – 10

2 Allokation zwischen Rationierung und Priorisierung . . . . . . . 11 – 252.1 Rationierung versus Priorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 – 202.2 Allokationsentscheidungen: Von der Kosten- zur Versorgungs-

steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 – 25

3 Wissen als Basis für kollektive Allokationsentscheidungen . . . 26 – 393.1 Evidenzbasierte Medizin und Versorgungsforschung. . . . . . . . . . 31 – 39

4 Der Gemeinsame Bundesausschuss als Gremium für kollektiveAllokationsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 – 51

4.1 Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit imGesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 – 49

4.2 Das AQUA-Institut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50, 51

5 Die Zukunft: Qualitätssicherung und Innovationsförderung . 52 – 60

6 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 – 63

Literatur

Stand:Autor_Nachname: HohnlAutor_Vorname: Jürgen

aus: MED2

23: 2014-10-01

Extract ausDSGG6Beitrag 23Version: 2014

Hohnl 391

Page 2: Extract aus Stand: Autor Nachname:Hohnl DSGG6 Autor ......Jürgen Hohnl Jahrgang1962,GermanistM.A.,seit2009Geschäftsführer desIKKe.V.,derInteressenvertretungderInnungskran-kenkassenaufBundesebene.2003bis2008LeiterderAbtei-

Jürgen Hohnl

Jahrgang 1962, Germanist M.A., seit 2009 Geschäftsführerdes IKK e. V., der Interessenvertretung der Innungskran-kenkassen auf Bundesebene. 2003 bis 2008 Leiter der Abtei-lung Marketing des IKK-Bundesverbandes, 1996 bis 2003Leiter des Stabs Verwaltungsrat des IKK-Bundesverband,ab 2000 bis 2003 zusätzlich verantwortlich für die Koor-dination der Geschäftsprozesse im Vorstand.

Datei:

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Autor

Page 3: Extract aus Stand: Autor Nachname:Hohnl DSGG6 Autor ......Jürgen Hohnl Jahrgang1962,GermanistM.A.,seit2009Geschäftsführer desIKKe.V.,derInteressenvertretungderInnungskran-kenkassenaufBundesebene.2003bis2008LeiterderAbtei-

Abstract: Das deutsche Gesundheitswesen zählt zu den leistungsfähigsten weltweit. Jedochfordern demografische Entwicklungen und der medizinisch-technische Fortschritt Antwor-ten, um seine Funktionalität aufrecht zu erhalten. Allokation als Prinzip der Mittelverteilungist vor diesem Hintergrund eine der zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen, sowohlunter ökonomischen Aspekten als auch mit Blick auf die Ethik. Dem Faktor Wissen als Basisfür kollektive Allokationsentscheidungen fällt dabei eine Schlüsselrolle zu.Eine evidenzbasierte Ausrichtung des Gesundheitswesens ist ein wegweisender Schritt zurSicherung einer nachhaltigen Finanzierung. Die Ergebnisse medizinischer Forschung liefernwichtige Informationen für Akteure in Allokationsverfahren. Dadurch lässt sich zweifelsohneeine bessere Versorgungsqualität sicherstellen. Jedoch muss die evidenzbasierte Medizin - vorallem in Korrelation mit gezielter Versorgungsforschung – dafür noch stärker etabliert wer-den. In diesem Zusammenhang versucht der vorliegende Artikel Herausforderungen auf-zuzeigen und Wege hin zu einer transparenten Priorisierungsdebatte auszuloten.

1 Einleitung und Problemstellung

1Ist das deutsche Gesundheitswesen in der Krise? Sind die medizinischen undpflegerischen Leistungen langfristig noch bezahlbar? Müssen Behandlungen ratio-niert bzw. priorisiert, Ansprüche heruntergefahren werden? Diese Fragen werdenseit mehr als 20 Jahren öffentlich diskutiert, zum einen von den Leistungserbrin-gern, weil sie von Kostensteuerungsmaßnahmen und Budgetierungen direktbetroffen sind. Aber auch von Seiten der Wirtschaftsverbände, weil sie befürchten,dass steigende Gesundheitsausgaben Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeithaben.

2Die jüngsten Finanzergebnisse der gesetzlichen Krankenversicherung unterstrei-chen den langfristigen Trend, der durch singuläre Effekte der letzten Jahre, derZunahme von versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen auf der einenSeite und einer zurückhaltenden Investitionspolitik der Krankenkassen auf deranderen Seite, verdeckt war. Zehn Jahre nach dem Rekordschuldenstand in Höhevon 8,3 Milliarden Euro im Jahre 2004 befindet sich das Gesundheitssystemderzeit wieder an einem Punkt, an dem die Ausgaben der GKV die Einnahmenübersteigen.1 Das Defizit beträgt im ersten Quartal diesen Jahres 270 MillionenEuro bei Einnahmen in Höhe von rund 50,7 Milliarden Euro.2 Das Problem bleibtakut, weil die Entwicklung der Leistungsausgaben im Schnitt der letzten Jahreimmer über der Entwicklung der beitragspflichten Einnahmen lag. Ein Fakt, dersich auch in Zukunft nicht ändern wird.

Kapitel-Hierachie: 1

1 Bundesministerium für Gesundheit: Pressemitteilung Nr. 30. 2014, S. 4.2 Bundesministerium für Gesundheit: Pressemitteilung Nr. 30. 2014, S. 8.

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Einleitung und Problemstellung

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3 Vor dem Hintergrund eines wachsenden Anteils älterer und multimorbider Men-schen ist es absehbar, dass das Gesundheitssystem auch künftig sowohl mitsteigenden Ausgaben als auch mit tendenziell sinkenden Einnahmen konfrontiertsein wird. Eine Ursache dafür ist der zunehmende Bedarf an Gesundheitsleis-tungen. Hinzu kommt der medizinisch-technische Fortschritt, der ebenfalls stei-gende Ausgaben mit sich bringt.

Abb. 1: Pro-Kopf-Ausgaben 2008 in den drei großen Leistungssektoren

Quelle: Günster u. a. (Hrsg.):Versorgungs-Report 2012. Wissenschaftliches Institut derAOK (WIdO). Berlin 2012, S. 79.

4 Die Verschiebung der Altersstruktur ist nicht nur hinsichtlich steigender Aus-gaben problematisch. Der demografische Wandel wirkt sich auch auf die Ein-nahmen aus. Die mit der Bevölkerungsalterung verbundene Zunahme des Anteilsvon Personen, die nicht mehr im aktiven Erwerbsleben stehen, führt tendenziell zueiner Schwächung der Finanzierungsbasis des Gesundheitssystems, das sich bis-lang überwiegend durch lohn- und gehaltsbezogene Beiträge finanziert.3

Abb. 1

Abb. 1Datei: Abb. 1:

3 Bundesministeriums für Inneres: Demografiebericht. 2011, S. 149.

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Konfliktrisiko kollektive Allokationsentscheidungen

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Abb. 2: Auswirkungen des demografischen Wandels auf das Beitragsaufkommen derGKV in Deutschland (2000–2050)

Quelle: Eigene Darstellung, nach: Deutscher Bundestag: Schlussbericht der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werden-den Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“, Drucksache 14/8800. Berlin 2002,S. 190.

5Die sich daraus ableitende Begrenztheit der finanziellen Mittel führt zu einersteigenden Notwendigkeit von Allokationsprozessen:

„Da auch im Gesundheitswesen die verfügbaren Ressourcen niemals ausreichen, umalle Ansprüche und Bedürfnisse der Bürger zu befriedigen, bedarf es eines Koor-dinations- bzw. Allokationsmechanismus, der im Zuge eine Selektionsprozesses diebegrenzten Mittel den verschiedenen Verwendungen bzw. konkurrierenden Plänenzuordnet.“4

6Die Verteilung der Mittel stellt die Akteure im Gesundheitsbereich vor besondersgroße Herausforderungen. Während in vielen anderen Bereichen der Markt regelt,welche und wie viele Güter produziert und distribuiert werden, gestalten sich dieKonditionen im Falle der Gesundheitsleistungen grundlegend anders. Das SGB Vverweist zwar an verschiedenen Stellen auf Grenzen des Leistungsanspruches undder Vergütung und gibt damit die Möglichkeit, Allokationsentscheidungen vor-zunehmen. Um den konkreten Leistungsanspruch des Einzelnen zu regle-mentieren, müssen aber rechtssichere Verfahren gefunden und angewendet wer-den. Der allgemeine Zugang zu Gesundheitsleistungen bzw. die Sicherstellung derVersorgung dürfen dabei nicht gefährdet werden. Es gilt nicht nur die ökono-mischen Sachverhalte im Blick zu haben, sondern auch ethische Aspekte zuberücksichtigen. Nicht zuletzt geht es darum, die Grenze zwischen Solidaritätund Eigenverantwortung festzulegen, die Ansprüche des Einzelnen mit denMöglichkeiten der Gesellschaft in Einklang zu bringen.

Abb. 2

Abb. 2Datei: Abb. 2:

4 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR): Son-dergutachten. 2012, S. 21.

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Einleitung und Problemstellung

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7 Als Basis für Allokationsentscheidungen finden sich im SGB V mehrfache An-knüpfungspunkte. So ist im § 12, Absatz 1 das Wirtschaftlichkeitsgebot klar ge-regelt:

„Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; siedürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht not-wendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfendie Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.“5

8 Weitere Vorgaben zur Leistungsgewähr beinhaltet der § 2, gemäß dem Qualitätund Leistungen „dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkennt-nisse entsprechen […] und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen [müs-sen]“.6 Gesetzlich geregelt ist im § 70 zudem, dass eine „bedarfsgerechte undgleichmäßige dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisseentsprechende Versorgung […] in der fachlich gebotenen Qualität“7 zu gewähr-leisten ist.

9 Mit Blick auf diese gesetzlichen Anforderungen wird ersichtlich, welche hohenErwartungen und Anforderungen den Prozess der Allokation begleiten. Um denSchwierigkeiten und potenziellen Kritikpunkten angesichts eines so komplexenProzesses zu begegnen, braucht es Wissen in Form von verlässlicher evidenzba-sierter Information zur Legitimierung und Absicherung kollektiver Entscheidun-gen.

10 Allokationsentscheidungen sind nicht wertfrei und bedürfen der Basierung durcheine Priorisierungsdebatte. Priorisierung ist die logische, sachliche und zeitlicheVoraussetzung für Allokationsentscheidungen, wie im Folgenden dargelegt wer-den soll.8

2 Allokation zwischen Rationierung und Priorisierung

11 Das Gesundheitswesen steckt mit seinen begrenzten Mitteln in einem Dilemma:Entweder müssen die Einnahmen erhöht oder die Leistungen begrenzt werden.Solange dies mit Mitteln der Wirtschaftlichkeits- und Effizienzsteigerung gelingt,ist es für die Versicherten mit ihren individuellen Bedürfnissen und Bedarfenunkritisch. Die Behebung von „Unwirtschaftlichkeiten“ verspricht eine Kosten-ersparnis, die jedoch hinsichtlich der Gesundheitsleistungen des Systems nicht perse eine Qualitätsminderung bedeutet. Die Wirtschaftlichkeitsreserven, die durcheine solche strukturelle Veränderung im Versorgungssystem freigesetzt werden,vermögen allerdings nicht annähernd die Kosten, die durch den demografischen

5 SGB V (20.12.1988), § 12, Absatz 1.6 SGB V (20.12.1988), § 2.7 SGB V (20.12.1988, Fassung vom 22.12.1999), § 70, Absatz 18 Vgl. Zentrale Ethikkommission (ZEKO): Prioritäten in der medizinischen Versorgung im

System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). 2000, S. A-1017 ff.

Kapitel-Hierachie: 1

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Konfliktrisiko kollektive Allokationsentscheidungen

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Wandel entstehen, einzudämmen.9 Problematisch wird es aber immer dann, wennes um Leistungsausschluss oder -kürzungen geht.

12Die Bandbreite von Allokationsentscheidungen jenseits von reinen Rationalisie-rungsmaßnahmen ist groß. Sie setzt an unterschiedlichen Punkten an. Dabei kom-men Eingriffe ins Leistungsrecht (Verordnungsausschlüsse) ebenso in Frage wie dieNachfragesteuerung über Zuzahlungen des Versicherten. Im Arzneimittelbereichwerden mithilfe einer Nutzenbewertung innovative Medikamente ermittelt undgesondert vergütet. Daneben gibt es die „klassischen“ Steuerungsmaßnahmen derBudgetierung. Neu hinzugekommen sind Ansätze für eine qualitätsorientierte Ver-gütung.

13Alle diese Instrumente haben zwei Seiten: eine wirtschaftliche und eine ethische.Weiterentwicklungen zum Ziel der Aufrechterhaltung der Funktionalität desGesundheitswesens erfordern stets auch eine Hinterfragung und Miteinbeziehungvon ethischen Werten. Dabei dreht sich alles um die Frage: Was ist ethisch ver-tretbar und wie hoch schätzen wir das Gut Gesundheit in unserer Gesellschaft?Oder wie es die Medizinethikerin Professor Bettina Schöne-Seiffert formuliert:„Müssen die ethischen Grundsätze unserer Gesellschaft modifiziert werden?“10

14Ethische Aspekte rekurrieren in diesem Zusammenhang oft auf die Frage, was eineVersorgung als „Notwendigkeit“ garantieren muss. Veränderte Erfordernisse so-wie gesellschaftlich ausgehandelte ethische Grundsätze spiegeln sich absehbar inden Finanzen des Gesundheitssystems wider. Das Bedarfsdeckungsprinzip alswichtiger Grundsatz des Gesundheitssystems sieht vor, diejenigen Leistungen,die als medizinisch notwendig eingestuft werden, zu gewähren. Stellt sich alsoangesichts des demografischen Wandels eine veränderte Bedarfsstruktur ein, sohat die Deckung dieses Bedarfs Vorrang vor dem Grundsatz der Beitragsstabili-tät.11

15Es handelt sich bei dieser Bedarfs-Kosten-Dynamik um ein sensibles Geflecht. DieDeckung des Bedarfs hat Vorrang vor den Kosten, doch wenn die Kosten zu hochwerden, so führt dies dazu, dass der Bedarf neu definiert werden muss. Die Fragen,die sich im Hinblick auf das Thema der Allokation ergeben, sind also vielfältig undsowohl ethischer wie auch wirtschaftlicher Natur. Angesichts steigender Ausgabenim Gesundheitswesen, die sich wiederum mit begrenzten finanziellen Ressourcenkonfrontiert sehen, wird auf die sich einstellende Mittelknappheit mit Verfahrender Allokation geantwortet. Denn aufgrund der begrenzten Freisetzung von Wirt-schaftlichkeitsreserven durch Effizienzsteigerung und der umstrittenen Mittel-erhöhung „werden Leistungsbegrenzungen unausweichlich.“12

9 Vgl. Marckmann: Kann Rationierung im Gesundheitswesen ethisch vertretbar sein? 2010,S. 10.

10 Schöne-Seifert: Priorisierung, Rationierung – Müssen die ethischen Grundsätze unsererGesellschaft modifiziert werden? 2011, S. 7.

11 Vgl. Simon: Das Gesundheitssystem in Deutschland. 2010, S. 84.12 Markmann: Kann Rationierung im Gesundheitswesen ethisch vertretbar sein? 2010, S. 8.

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Allokation zwischen Rationierung und Priorisierung

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2.1 Rationierung versus Priorisierung

16 Wenn Effizienzsteigerungen nicht den gewünschten Erfolg bringen und die Ge-sundheitsausgaben nicht ins Uferlose steigen dürfen, bleibt nur ein Weg: die Be-grenzung des Leistungsumfanges der gesetzlichen Krankenversicherung. In die-sem Fall reden wir von Priorisierung bzw. Rationierung.

Abb. 3: Bedingungen der Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen und Strategienzum Umgang mit der Mittelknappheit

Quelle: Eigene Darstellung, nach: Marckmann: Kann Rationierung im Gesundheits-wesen ethisch vertretbar sein? In: GGW Jg. 10 (1), WIdO. Berlin 2010, S. 9.

17 Nach Ansicht des Ethikers Professor Georg Marckmann handelt es sich bei derRationierung um eine „problematische“ Strategie, da Rationierungen den Zugangzu medizinisch nützlichen Maßnahmen einschränken, die einen positiven Effektauf die Lebensqualität und/oder Lebenserwartung der Patienten haben.13 Vordiesem Hintergrund wird seit Längerem erbittert darüber gestritten, ob angesichtsvon Budgetierungen (z. B. im ambulanten Bereich) Rationierungen mittlerweilean der Tagesordnung sind.

18 Priorisierung ist nicht identisch mit Rationierung, aber beide Begriffe können sich– wie im Falle der Organspende – überschneiden. Die Zentrale Ethikkommission(ZEKO) der Bundesärztekammer versteht unter Priorisierung

Kapitel-Hierachie: 2

Abb. 3

Abb. 3Datei: Abb. 3:

13 Markmann: Kann Rationierung im Gesundheitswesen ethisch vertretbar sein? 2010, S. 10.

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Konfliktrisiko kollektive Allokationsentscheidungen

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„[…] die ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Untersuchungs-und Behandlungsmethoden vor anderen. Grundsätzlich führt Priorisierung zu einermehrstufigen Rangreihe. An deren oberen Ende steht, was nach Datenlage undfachlichem wie öffentlichem Konsens als unverzichtbar bzw. wichtig erscheint, amEnde das, was wirkungslos ist bzw. mehr schadet als nützt. Nicht nur Methoden,sondern auch Krankheitsfälle, Kranken- und Krankheitsgruppen, Versorgungszieleund vor allem Indikationen (d. h. Verknüpfungen bestimmter gesundheitlicherProblemlagen mit zu ihrer Lösung geeigneten Leistungen) können priorisiert wer-den.“14

19Die ZEKO hat im Jahre 2000 die öffentliche Diskussion über Rationierung undPriorisierung in Deutschland angestoßen. Wie es in einer Stellungnahme mit demTitel „Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der GKV: Müssenund können wir uns entscheiden?“ nachzulesen ist, versprach sich die ZEKO vonder Diskussion unter anderem eine „Klärung der zugrunde gelegten ethischen,rechtlichen und politischen Prinzipien“ bzw. eine Auswertung bezüglich „Alter-nativen, Risiken und unerwünschte[r] Wirkungen“ der Verfahren.15

20Priorisierung setzt nach Ansicht der ZEKO eine Solidargemeinschaft und einenBereich solidarisch finanzierter Leistungen voraus. „Dabei sind die InteressenEinzelner mit denen anderer Versicherten in Einklang zu bringen“.16 Sie kommtzu der Forderung, dass Prioritäten „schrittweise – in einem durchsichtigen Ver-fahren“ erarbeitet werden müssen. Es bedarf der breiten, fachlichen, öffentlichenund politischen Diskussion und Prüfung. Die Versorgungswirklichkeit gilt esdabei zu berücksichtigen. Der Versorgungsbedarf muss die zentrale Kategorie desEntscheidungsprozesses sein. Dies setzt den Nachweis eines Nutzenpotenzialsvoraus. Die Erbringung eines solchen Nachweises ist eine zentrale Anforderungan ein Wissensmanagement für kollektive Allokationsentscheidungen.

14 ZEKO: Beratungsergebnis zur Priorisierung medizinischer Leistungen im System derGesetzlichen Krankenversicherung (GKV). 2007 S. 3.

15 ZEKO: Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der Gesetzlichen Kranken-versicherung (GKV). 2000, S. A-1017 ff.

16 ZEKO: Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der Gesetzlichen Kranken-versicherung (GKV). 2000, S. A-1020.

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Allokation zwischen Rationierung und Priorisierung

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Abb. 4: Bedarf zwischen Anlass, Ziel(en) und Leistung

Quelle: Eigene Darstellung, nach: Deutscher Bundestag: Bericht der Enquete-Kommis-sion „Ethik und Recht der modernen Medizin“, Drucksache 15/5980. Berlin, 2005,S. 18 (Abb. 2).

2.2 Allokationsentscheidungen: Von der Kosten- zurVersorgungssteuerung

21 Die Bundesregierung versucht seit Ende der 1970er Jahre mit entsprechendenGesetzen den ausufernden Ausgaben entgegen zu steuern und Kostendämpfungenzu erwirken.17 Sie reichen vom Kostendämpfungsgesetz im Jahre 1977 bis zum imJuli 2014 verabschiedeten Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur undder Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FQWG). Ziel dessenwar und ist es noch heute, die Ausgaben der Krankenkassen an das Niveau der zuerwartenden Einnahmen anzupassen. Einen geeigneten Weg hierfür sieht derGesetzgeber im Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen. Er solleine effiziente Allokation der Mittel bewirken.

22 Angesichts der Vielzahl von im Einzelnen argumentativ gut nachvollziehbarenAllokationsentscheidungen bleibt die Frage, was sie im Konkreten gebracht haben,und zwar jenseits einer einseitigen Belastung von Versicherten. Und hier stößtman auf ein Problem, denn die Auswirkungen dieser Entscheidungen sind wenigerforscht und werden oftmals von Spekulationen begleitet.18 Auch sind die Dis-kussionen über die Maßnahmen oftmals unnötigerweise ideologisch überfrachtet.

Abb. 4

Abb. 4Datei: Abb. 4:

Kapitel-Hierachie: 2

17 Vgl. Simon: Das Gesundheitssystem in Deutschland. 2010, S. 40.18 Vgl. Welti: Allokation, Rationierung und Priorisierung: Rechtliche Grundlagen. 2010,

S. 380.

400 Hohnl

Konfliktrisiko kollektive Allokationsentscheidungen

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Über die Wirkung der zentralen Steuerungselemente ist nur wenig bekannt. Prof.Dr. Felix Welti formuliert es so:

„Weder die tatsächliche Entwicklung der Verwaltungskosten noch die zahlreichenReformen sprechen dafür, dass dieses Ziel erreicht wurde. Eine Evaluation hat niestattgefunden.“19

23Nach seiner Einschätzung überwiegen die Vermutungen die belastbaren Erkennt-nisse. Sein Fazit: „Die rasche Folge der Reformen lässt Ursache und Wirkungenimmer schwieriger einander zuordnen.“20

24Kritik kommt auch von Seiten der Enquete-Kommission in ihrem Bericht an dieBundesregierung im Jahre 2005:

„Allokationsentscheidungen und Priorisierungen erfolgen in Deutschland überwie-gend nicht ausdrücklich, sondern ergeben sich in einem für die Öffentlichkeitundurchsichtigen Bereich des Interessensausgleichs zwischen unterschiedlichenGruppen.“21

25Es ist der Verdienst der Ethikkommission bei der Bundesärztekammer und derEnquete-Kommission des deutschen Bundestages, klare Bedingungen und Erfor-dernisse für Priorisierungen im Zusammenhang mit (kollektiven) Allokationsent-scheidungen definiert zu haben, die auch heute noch gültig sind. „Wissen“ in Formvon medizinisch-ökonomischen Analysen und „Transparenz“ in Form von freizugänglicher, unabhängiger Information sind dabei von entscheidender Bedeutung.

3 Wissen als Basis für kollektive Allokationsentscheidungen

26Medizinische Grundlagenforschung, klinische Studien und die nachfolgende Ver-sorgungsforschung sind erforderlich, um Innovationen zielgerichtet in der Ge-sundheitsversorgung zu etablieren.

„Gesundheitsforschung dient dem Erwerb neuen Wissens, das unverzichtbar fürBereiche der Gesundheitsversorgung und richtungsweisend für weitere Forschungist.“22

27Sie ist zudem eine lohnende Investition nicht nur in die Weiterentwicklung desGesundheitswesens, sondern vor allem in die Optimierung der Versorgung derVersicherten, resümiert Prof. Gerd Glaeske.23 Georg Marckmann, der verschie-

19 Welti: Allokation, Rationierung und Priorisierung: Rechtliche Grundlagen. 2010, S. 380.20 Welti: Allokation, Rationierung und Priorisierung: Rechtliche Grundlagen. 2010, S. 380.21 Deutscher Bundestag: Bericht der Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen

Medizin. 2005, S. 15.

Kapitel-Hierachie: 1

22 Antes: Wissen ist unverzichtbarer Treiber für zielgerichtete Innovation in der Gesundheits-versorgung. 2014, S. 6.

23 Vgl. Glaeske u. a.: Versorgungsforschung: Auf gesetzlicher Grundlage systematisch aus-bauen. 2010, S. A-1297.

Hohnl 401

Wissen als Basis für kollektive Allokationsentscheidungen

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dene Kriterien einer ethisch vertretbaren Leistungsbegrenzung definiert, kommtebenfalls zu dem Schluss, dass „der Evidenzgrad des erwarteten Nutzens und derKosten“24 ein Metakriterium bildet, das es zu berücksichtigen gilt.

28 Auch die ZEKO hat in ihrer Stellungnahme aus dem Jahr 2000 an erster Stelledarauf verwiesen, dass den Prioritätensetzungen (als Voraussetzung für Allokati-onsentscheidungen) epidemiologische bzw. gesundheitswissenschaftliche Ana-lysen der Morbidität, Mortalität und Versorgungswirklichkeit vorangehen müs-sen. Qualitative und quantitative Merkmale der Krankheitslast, und zwar jeweilsaus subjektiver, medizinischer und ökonomischer Sicht, sind dabei herauszuar-beiten und „in Beziehung zu setzen zu den Möglichkeiten ihrer Prävention,Heilung und Linderung – unter Berücksichtigung aller direkten, indirekten undweiteren Kosten sowie ihrer, für die GKV kostengünstigen oder sogar kostenlosenAlternativen.“25

29 Blickt man auf die hierfür verfügbare Quellenlage und die darin herausgearbeite-ten Ansätze, so stößt man zunächst auf medizinische Grundlagenforschung undklinische Studien. Darüber hinaus haben sich Metaanalysen und System-Reviewsdurchgesetzt. Auf Basis von Routinedaten der Krankenkassen und Daten aus denverschiedenen Registern, dem Mikrozensus oder verschiedenen Surveys vervoll-ständigt die Versorgungsforschung das Bild. Patientenbefragungen sichern densubjektiven Fokus.

30 Soweit zum Idealbild. Aber die Datenlage hat ihre Schwächen. So erhält dasDeutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI)zurzeit Daten der Krankenkassen aus dem morbiditätsorientierten Risikostruktur-ausgleich für die Versorgungsforschung, ohne Gewissheit darüber zu haben, wiebelastbar diese Daten sind. Und nach wie vor gilt, dass nicht alle relevanten Studienauch veröffentlicht werden bzw. frei zugänglich sind.

3.1 Evidenzbasierte Medizin und Versorgungsforschung

31 Es besteht bei allen Akteuren große Einigkeit darüber, dass die evidenzbasierteMedizin den entscheidenden Maßstab für Priorisierungen und Allokationsent-scheidungen liefern kann. Sie spielt gemeinsam mit klinischen Studien und derVersorgungsforschung im Prozess der Allokationsentscheidungen eine heraus-ragende Rolle.

32 David Sackett, einer der Pioniere der evidenzbasierten Medizin, hat folgendeDefinition formuliert:

24 Markmann: Kann Rationierung im Gesundheitswesen ethisch vertretbar sein? 2010, S. 13.25 ZEKO: Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der Gesetzlichen Kranken-

versicherung (GKV). 2000, S. A-1018.

Kapitel-Hierachie: 2

402 Hohnl

Konfliktrisiko kollektive Allokationsentscheidungen

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„Die Praxis der evidenzbasierten Medizin bedeutet die Integration individueller kli-nischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer For-schung.“26

33Mit individueller klinischer Expertise ist in diesem Zusammenhang das Könnenund die Urteilskraft der Ärzte gemeint, Faktoren, die durch Erfahrung undklinische Praxis erworben werden.27 Die Erwartungen an die evidenzbasierteMedizin sind hoch. Das Bundesministerium äußert sich diesbezüglich wie folgt:

„Mittels der evidenzbasierten Medizin lässt sich ein höherer Qualitätsanspruchsicherstellen. Denn die Wirksamkeit eines Arzneimittels oder einer Therapieformmuss durch Belege, das heißt durch eine ausreichende Evidenz in Form vonwissenschaftlichen Untersuchungen nachgewiesen sein. Es sollen also in erster Liniesolche Arzneimittel und Therapien angewendet werden, deren Wirksamkeit undNutzen durch geeignete Studien nachvollziehbar belegt sind.“28

34Doch die Grenzen eines solchen Vorgehens sind sichtbar und die Anforderungenan die Studien- und Datenqualität hoch. So wird unter anderem seitens des Leitersdes deutschen Cochran-Zentrums, Prof. Dr. Gerd Antes, darauf hingewiesen, dassgerade bei den sogenannten Innovationen die Evidenz, auf die sich bezogen wird,einer grundsätzlichen Evaluierung unterzogen werden müsse. Seine Forderungsind Studien mit strikten Regeln, exakter Durchführung und Berichterstattung.Diese seien „unbedingt notwendig und unverzichtbar, um verlässliche Studien-ergebnisse zu erhalten, von denen in der Folge Gesundheit und Leben andererPatienten abhängen.“29 Gerade auch weil neue Behandlungsmethoden „nichtautomatisch besser“ seien, ist „Wissen unverzichtbarer Treiber für zielgerichteteInnovationen in der Gesundheitsversorgung.“30

35Aber neben den Hürden, die in den Anforderungen der evidenzbasierten Medizin– als alleinige Grundlage für Allokationsentscheidungen – liegen, sind auchweitere Grenzen zu berücksichtigen. So merkt eine Gruppe von Autoren um denMedizinsoziologen Prof. Dr. Holger Pfaff an:

26 Sackett: Evidence based medicine. 1996. Zit. nach: Wissenschaftliche Dienste des DeutschenBundestags: Aktueller Begriff – Evidenzbasierte Medizin. Online: https://www.bundestag.de/blob/191246/10bb87f48f6d4ef51c5f307606b3a5e2/evidenzbasierte_medizin-data.pdf/[abgerufen am 21.7.2014].

27 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags: Aktueller Begriff – Evidenzba-sierte Medizin. Online: https://www.bundestag.de/blob/191246/10bb87f48f6d4ef51c5f307606b3a5e2/evidenzbasierte_medizin-data.pdf/ [abgerufen am 21.7.2014].

28 Bundesministerium für Gesundheit: Glossarbegriff: Evidenzbasierte Medizin. Online:http://www.bmg.bund.de/glossarbegriffe/e/evidenzbasierte-medizin.html [abgerufen am21.07.2014].

29 Antes: Geleitwort zur deutschsprachigen Ausgabe. In: Evans u. a.: „Wo ist der Beweis?“.2013, S. 11.

30 Antes: Wissen ist unverzichtbarer Treiber für zielgerichtete Innovation in der Gesundheits-versorgung. 2014, S. 6 ff.

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Wissen als Basis für kollektive Allokationsentscheidungen

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„Klinisch-evaluative Studien werden in einem zu artifiziellen Kontext mit zu ge-ringer externer Validität durchgeführt und decken zu kurze Zeiträume ab, uminsbesondere auch negative Auswirkungen zu erkennen.“31

36 Zudem ist auch die evidenzbasierte Medizin nicht wertfrei und birgt die Gefahreiner paternalistischen Grundhaltung, was zu einer mangelnden Akzeptanz in derBevölkerung führt.32 Für Pfaff ist deshalb die Versorgungsforschung unverzicht-bare Ergänzung bei Allokationsentscheidungen. Sie hat eine entscheidende Be-deutung bei der Nutzenbewertung von Versorgungsinhalten und der Organisationvon Versorgung.33

37 Die Wissenschaftler machen darüber hinaus auf Probleme aufmerksam, die es nochzu bewältigen gilt. Dazu gehört unter anderem, dass Versorgungsforschung undklinisch-evaluierte Forschung nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Esgilt zudem, die Patientenorientierung in besonderem Maße im Blick zu haben.34

38 Auch Antes hat im Rahmen der Sitzung der DSGG am 17./18. Juli 2014 in Baseldarauf hingewiesen, dass es in Deutschland eine künstliche Trennung vonevidenzbasierter Medizin und Versorgungsforschung gibt. Dies sei eine deutscheBesonderheit, die sich in keinem anderen Land findet und die dringend aufgeho-ben werden müsse.

39 Ein weiterer Kritikpunkt bei der Fokussierung auf Evidenzbasierung ist, dass„soziale, public-health- und komplexe Interventionen gegenüber biomedizini-schen Interventionen insbesondere pharmakologischer Art benachteiligt“35 sind.Die Folge ist ein therapeutischer Minimalismus aus missverstandenem metho-dischen Purismus.36

4 Der Gemeinsame Bundesausschuss als Gremium fürkollektive Allokationsentscheidungen

40 Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz, das Ende 2003 verabschiedet wurde, ist derGemeinsame Bundesausschuss (G-BA) gegründet worden. Mit dem § 91 SGB V

31 Pfaff u. a.: Versorgungsforschung: unverzichtbar bei Allokationsentscheidungen – eineStellungnahme. 2011, S. 2497.

32 Vgl.: Pfaff u. a.: Versorgungsforschung: unverzichtbar bei Allokationsentscheidungen – eineStellungnahme. 2011, S. 2498.

33 Vgl.: Pfaff u. a.: Versorgungsforschung: unverzichtbar bei Allokationsentscheidungen – eineStellungnahme. 2011, S. 2496.

34 Vgl.: Pfaff u. a.: Versorgungsforschung: unverzichtbar bei Allokationsentscheidungen – eineStellungnahme. 2011, S. 2499.

35 Vgl.: Pfaff u. a.: Versorgungsforschung: unverzichtbar bei Allokationsentscheidungen – eineStellungnahme. 2011, S. 2498.

36 Vgl. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen: Bedarfsgerech-tigkeit und Wirtschaftlichkeit, Band II: Qualitätsentwicklung in Medizin und Pflege. Baden-Baden 2001. Zit. nach: Pfaff u. a.: Versorgungsforschung: unverzichtbar bei Allokations-entscheidungen – eine Stellungnahme. 2011, S. 2498.

Kapitel-Hierachie: 1

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Konfliktrisiko kollektive Allokationsentscheidungen

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wurden dem neuen Gremium jene Aufgaben und Kompetenzen übergeben, diezuvor Bundesausschüsse Ärzte, Zahnärzte und Krankenkassen, der AusschussKrankenhaus und der Koordinierungsausschuss wahrgenommen hatten. Mitwir-kungsrechte der Patientenvertreter wurden durch dieses Gesetz ebenso ermög-licht.

41Den Ausführungen der Gesetzesbegründung zufolge soll der G-BA den sektoren-übergreifenden Ansatz bei den Versorgungsentscheidungen der gemeinsamenSelbstverwaltung stärken, die Entscheidungsabläufe straffen und vereinfachensowie die personellen und sächlichen Mittel der den bisherigen einzelnen Aus-schüssen der gemeinsamen Selbstverwaltung zuarbeitenden Geschäftsführungeffektiver einsetzen.37

Abb. 5: Entscheidungsstrukturen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) 2004

Quelle: Eigene Darstellung nach G-BA: Geschäftsbericht. Berlin 2004, S. 15.

42Die Kompetenz des Ausschusses zur Bestimmung des Leistungskataloges wurdeerheblich erweitert. Nach § 92 Abs. 1 SGB V konnte der G-BA:

„[…] die Erbringung und Verordnung von Leistungen oder Maßnahmen ein-schränke[n] oder ausschließen, wenn nach dem allgemein anerkannten Stand dermedizinischen Erkenntnisse der diagnostische und therapeutische Nutzen, diemedizinische Notwendigkeit oder die Wirtschaftlichkeit nicht nachgewiesen sind.“38

37 Vgl. Deutscher Bundestag: Drucksache 15/1525. 2003, S. 106.

Abb. 5

Abb. 5Datei: Abb. 5:

38 Vgl. Deutscher Bundestag: Drucksache 15/1525. 2003, S. 107.

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Der Gemeinsame Bundesausschuss als Gremium

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43 Zu seinen Kompetenzen gehören auch die Festsetzung von Arzneimittel-Fest-beträgen, verankert im § 35 SGB V sowie die Bewertung des Nutzens von Arznei-mitteln mit neuen Wirkstoffen im § 35 a SGB V, die Kosten-Nutzenbewertungvon Arzneimitteln mit dem § 35 b SGB V, die Erprobung und Bewertung vonUntersuchungs- und Behandlungsmethoden, festgeschrieben in den §§ 135, 137 c,137 e SGB V, die Nutzenbewertung von neuen Heilmitteln (§ 138 SGB V) und dieErprobung von Leistungen und Maßnahmen zur Krankenbehandlung im § 139 dSGB V.

44 Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz wurde geregelt, dass der G-BA die zurSicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewäh-rung für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung erstellt.Mittlerweile wurde der § 92 SGB V mehrfach modifiziert. Zuletzt im Jahre 2013mit dem Krebsfrüherkennungs- und Registergesetz.39 Das GKV-Modernisie-rungsgesetz hat dem G-BA das Recht eingeräumt, bestimmte Leistungen und Ver-ordnungen einzuschränken oder auszuschließen. Das Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz, im Januar 2006 in Kraft getreten, präzisierte beispiels-weise die Befugnis des Ausschusses, unwirtschaftliche Arzneimittel von der Ver-sorgung auszuschließen und Therapiehinweise auch in Einzelfällen erteilen zukönnen.40 Eine erweiterte Qualitätssicherung regelte das GKV-Wettbewerbsstär-kungsgesetz im Jahre 2007. Das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AM-NOG), 2011 in Kraft getreten, erlaubte den Ausschluss von Arzneimitteln nurnoch, wenn der G-BA den Nachweis der fehlenden Notwendigkeit oder Unwirt-schaftlichkeit erbringt.41Das GKV-Versorgungsstrukturgesetz, seit Januar 2012 inKraft, enthielt unter anderem das Anhörungsrecht bei neuen ambulanten undstationären Behandlungsmethoden und deren Erprobung durch wissenschaftlicheFachgesellschaften und Hersteller von Medizinprodukten.42

45 Die Politik hat damit den G-BA als die wichtigste Instanz für kollektive Allokati-onsentscheidungen und als maßgebliches Beschlusszentrum des Gesundheits-wesens etabliert. Dabei wurde von betroffener Seite in den vergangenen Jahrenmit Kritik nicht gespart. „Neben der Beanstandung konkreter Einzelentscheidun-gen entzündete sie sich an den teilweise langen Beratungsverfahren und an derThemenwahl, die als unsystematische Themenbearbeitung auf Zuruf apostro-phiert wurde“,43 wie der ehemalige unparteiische G-BA-Vorsitzende, Dr. Rainer

39 SGB V (20.12.1988 Fassung vom 22.12.2011), § 92.40 Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA): Glossar AVWG – Arzneimittelversorgungs-Wirt-

schaftlichkeitsgesetz, 2013. Online: https://www.g-ba.de/institution/sys/glossar/176/ [abge-rufen am 21.7.2014].

41 Vgl. G-BA: Die Nutzenbewertung von Arzneimitteln gemäß § 35a SGB V. 2014. Online:https://www.g-ba.de/institution/themenschwerpunkte/arzneimittel/nutzenbewertung35a/[abgerufen am 21.7.2014].

42 Vgl. G-BA: Erprobung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden nach § 137e SGBV, 2014. Online: https://www.g-ba.de/institution/themenschwerpunkte/erprobungsrege-lung/ [abgerufen am 21.7.2014].

43 Hess: Mit Versorgungsorientierung eigene Schwerpunkte setzen. 2010, S. A-2092.

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Konfliktrisiko kollektive Allokationsentscheidungen

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Hess, es im Jahre 2010 beschrieb. Er war es dann auch, der am Thema „Depres-sion“ den Versuch unternommen hat, die Arbeit des G-BA systematischer aufgrundsätzliche Versorgungsfragen auszurichten.

46Die Arbeit des G-BA ist nicht vorstellbar ohne die Flankierung durch das Institutfür Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) sowie dasInstitut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen(AQUA). Beide unabhängigen Institute liefern die Basis für die Allokationsent-scheidungen des G-BA.

4.1 Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit imGesundheitswesen

47Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz vom November 2003 erhielt der G-BA denAuftrag, ein fachlich unabhängiges, wissenschaftliches Institut für Qualität undWirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen zu gründen und zu unterhalten. Trägerist der G-BA.44 Gesetzlich geregelt wurde auch, welche Aufgaben das neue Institutwahrnehmen soll: Recherche, Darstellung und Bewertung des aktuellen medizi-nischen Wissensstandes zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren beiausgewählten Krankheiten, Erstellung von wissenschaftlichen Ausarbeitungen,Gutachten und Stellungnahmen zu Fragen der Qualität und Wirtschaftlichkeit,Bewertungen evidenzbasierter Leitlinien für die epidemiologisch wichtigstenKrankheiten, Abgabe von Empfehlungen zu Disease-Management-Programmen,Bewertung des Nutzens und der Kosten von Arzneimitteln sowie die Bereit-stellung von für alle Bürgerinnen und Bürger verständlichen allgemeinen Infor-mationen zur Qualität und Effizienz in der Gesundheitsversorgung sowie zurDiagnostik und Therapie von Krankheiten mit erheblicher epidemiologischerBedeutung.45

48Professorin Gabriele Meyer, Direktorin des Instituts Gesundheits- und Pflegewis-senschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Vorsitzende desDeutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin, beschreibt es als:

„[…], die Instanz der Evidenzbasierten Medizin im deutschen Gesundheitswesen‘,denn für EbM ist es zweifelsohne ein Referenzzentrum in Deutschland geworden. Esist das ‚Vehikel im internationalen Diskurs für die Methoden der evidenzbasiertenMedizin‘ durch einschlägige Publikationen in angesehenen Publikationsorganen. Esist ‚angekommen‘ und nicht wegdenkbar im deutschen Gesundheitswesen.“46

49Das IQWiG erfüllt eine wichtige Aufgabe bei Allokationsentscheidungen. Mit derunabhängigen wirtschaftlichen Bewertung des medizinischen Nutzens, der Quali-

Kapitel-Hierachie: 2

44 SGB V (20.12.1988 Fassung vom 14.11.2003), § 139a, Absatz 1.45 SGB V (20.12.1988 Fassung vom 26.3.2007), § 139a, Absatz 3.46 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG): 2004–2014 –

Zehn Jahre IQWiG. 2014, S. 49.

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Der Gemeinsame Bundesausschuss als Gremium

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tät und der Wirtschaftlichkeit von Leistungen öffnet das Institut eine bedeutendeEbene der Transparenz zwischen Leistungserbringern, Kostenträgern und Ver-sicherten. Die Kosten-Nutzen-Bewertung der Arzneimittel durch das IQWiG hatzudem eine effektive und nachvollziehbare Kostenbewertung ermöglicht.

4.2 Das AQUA-Institut

50 Die Qualitätssicherung ärztlicher Leistungen im Krankenhaus wurde bereits imZweiten GKV-Neuordnungsgesetz im Jahr 1997 im § 137 a geregelt. Darin heißtes:

„Die Bundesärztekammer, die Spitzenverbände der Krankenkassen gemeinsam unddie Deutsche Krankenhausgesellschaft oder die Bundesverbände der Krankenhaus-träger gemeinsam legen in Empfehlungen die ärztlichen Leistungen fest, für diebesondere Maßnahmen zur Sicherung der Qualität der Behandlung und ihres Er-gebnisses unter Berücksichtigung der ärztlichen Qualifikation vorzusehen sind. Fürdie Leistungen, deren Qualität nach Absatz 1 gesichert werden soll, beschließt dieBundesärztekammer Anforderungen für entsprechende Qualitätssicherungsmaß-nahmen, soweit sie die ärztliche Berufsausübung betreffen. Bei der Entwicklungder Anforderungen ist den Spitzenverbänden der Krankenkassen und der Deut-schen Krankenhausgesellschaft Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; die Stel-lungnahmen sind in die Entscheidung einzubeziehen.“47

51 Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (2007) wurde der Paragraph jedochvollständig neu geregelt. Der G-BA wurde verpflichtet, eine Institution mit derUmsetzung der einrichtungsübergreifenden Qualitätssicherung sowie der Dar-stellung der Ergebnisse der Bemühungen um Qualitätssicherung zu beauftragen.48

Die Unabhängigkeit und Spezialisierung des Institutes sollte einen hohen Stan-dard der Qualitätssicherung gewährleisten. Transparenz der Versorgungsqualitätund Informationspflicht gegenüber der Bürger bestimmten den Anspruch derPolitik an das zu gründende Institut. Auf der Grundlage eines Ausschreibungs-verfahren, das im Jahre 2007 begann, entschied sich der G-BA für das AQUA-Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesenund erteilte ihm im September 2009 den entsprechenden Auftrag. Es ist zuständigfür die Entwicklung möglichst sektorenübergreifend abgestimmter Indikatorenund Instrumente zur Messung und Darstellung der Versorgungsqualität, für dieEntwicklung der notwendigen Dokumentation der einrichtungsübergreifendenQualitätssicherung unter dem Gebot der Datensparsamkeit und für die Veröffent-lichung der Ergebnisse der Qualitätssicherungsmaßnahmen in geeigneter, derAllgemeinheit verständlicher Form. Das öffentliche Interesse an der Arbeit desInstituts ist immens, obschon auch hier die Entscheidungsprozesse langwierigsind und die Datenzusammenführung und -analyse schwierig ist.

Kapitel-Hierachie: 2

47 SGB V (20.12.1988 Fssung vom 23.06.1997), § 137 a.48 SGB V (20.12.1988 Fassung vom 26.03.2007), § 137 a, Absatz 2.

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Konfliktrisiko kollektive Allokationsentscheidungen

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5 Die Zukunft: Qualitätssicherung undInnovationsförderung

52Notwendig für alle Bereiche der Gesundheitsversorgung und richtungsweisend fürweitere Forschung ist Wissen, so bringt es Antes auf den Punkt:

„Entscheidungen und Entwicklungen in Diagnostik, Therapie, Prävention undPublic Health müssen systematisch auf relevantes Wissen gegründet sein, wennAnspruch auf Evidenzbasierung erfüllt werden soll.“49

53Kritisch ist nach Aussage von Antes, dass „die Zahl der in Deutschland geförder-ten und durchgeführten Zusammenfassung von existierender Evidenz weit hinterden internationalen Anstrengungen und Beiträgen zurückbleibt.“50 Deutschlandbeschränke sich weitgehend auf eine Konsumentenhaltung. Antes schlägt vor,„nicht nur nach vorhandener Evidenz zu suchen, sondern in systematischer Formdie Evidenzlöcher und -lücken zu schließen.“51 Ein wissenschaftliches Institut fürMedizin nach norwegischem Vorbild der National Library of Health sei Anteszufolge überfällig.

54Sowohl der G-BA wie auch das IQWiG haben 2014 ihr zehnjähriges Jubiläumgefeiert. Damit ist der politische Diskussions- und Entscheidungsprozess für einestärkere evidenzbasierte Ausrichtung des Gesundheitswesens aber noch nicht amEnde angekommen. Gerade die Arbeit der letzten Jahre hat gezeigt, wo nochLücken bestehen und wo noch weitere Grundlagen geschaffen werden müssen,um in dem zuvor beschriebenen Sinn weiter voranzukommen.

55Die letzte Regierungskoalition hat z. B. mit dem Arzneimittelmarkt-Neuord-nungsgesetz (AMNOG) und dem darin enthaltenen Mechanismus der Preisver-handlungen nach Nutzenbewertung eine wichtige Basis für Allokationsentschei-dungen im Sinne von Innovationsförderung gelegt. Mit dem Krebsregistergesetzund der damit verbundenen Veröffentlichung von Routinedaten der Krankenkas-sen wurde darüber hinaus ein wichtiger Schritt zur Verfestigung der Versorgungs-forschung getan.

56Die aktuelle Regierungskoalition geht diesen Weg konsequent weiter: Mit demGKV-FQWG wird das Thema Qualitätssicherung noch einmal ausgeweitet. DieGründung eines fachlich unabhängigen Qualitätsinstituts stellt auch die Arbeit,für die bislang das AQUA-Institut zuständig war, auf eine neue Grundlage. „DiePatienten haben ein Recht darauf zu erfahren, wo sie gute Leistungen bekommen.

Kapitel-Hierachie: 1

49 Antes: Wissen ist unverzichtbarer Treiber für zielgerichtete Innovationen in der Gesund-heitsversorgung. 2014, S. 6.

50 Antes: Wissen ist unverzichtbarer Treiber für zielgerichtete Innovationen in der Gesund-heitsversorgung. 2014, S. 7.

51 Antes: Wissen ist unverzichtbarer Treiber für zielgerichtete Innovationen in der Gesund-heitsversorgung. 2014, S. 10.

Hohnl 409

Die Zukunft: Qualitätssicherung und Innovationsförderung

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Schließlich geht es um ihre medizinische Versorgung“,52 begründet Bundesge-sundheitsminister Hermann Gröhe die Schaffung des neuen Qualitätsinstitutes.

57 Geändert wurde dafür zunächst der § 137 a SGB V. Zu den zukünftigen Aufgabendieses Instituts gehören Messung und Darstellung der Versorgungsqualität, dieEntwicklung einer notwendigen Dokumentation für die einrichtungsübergreifendeQualitätssicherung unter Berücksichtigung des Gebots der Datensparsamkeit, dieBeteiligung an der Durchführung der einrichtungsübergreifenden Qualitätssiche-rung, die Veröffentlichung der Ergebnisse der Qualitätssicherungsmaßnahmen inverständlicher Form.53

58 Die Erwartungen an das neue Institut sind vor allem seitens der Politik immenshoch. Vorhandene Defizite in der medizinischen und pflegerischen Versorgungsollen erkannt und gezielt verbessert werden. Qualitätsvergleiche zu Kranken-hausleistungen, die nicht nur den Patienten dienen, sondern auch den Behandeln-den selbst, sollen zu diesem Zweck veröffentlicht werden. Die Regelungen sollenAnfang 2015 in Kraft treten. Im Jahr 2016 wird das Qualitätsinstitut seine Arbeitaufnehmen.54

59 Die Gründung eines solchen Institutes ist nachvollziehbar und richtig. Damit sindjedoch die Probleme, mit denen z. B. das AQUA-Institut bereits jetzt zu kämpfenhat, nicht beseitigt. Es bedarf eines gemeinsamen Willens und einer gemeinsamenKraftanstrengung aller Beteiligten, um hier Erfolge im Sinne der Versorgung zugenerieren. Aber auch an einer anderer Stelle besteht noch Optimierungsbedarf:Die Autoren Gerd Glaeske, Herbert Rebscher und Stefan N. Willich kommen zudem Schluss, dass die für die evidenzbasierte Medizin notwendige Versorgungs-forschung systematisch und mithilfe einer gesetzlichen Grundlage ausgebautwerden muss. Dafür müsse eine langfristige Finanzierung gesichert werden, dieunabhängig von Anbieter- und Herstellerinteressen agiert.55

60 Auch dieser Punkt wird durch die neue Regierungskoalition aufgegriffen, undzwar durch die Einrichtung eines Innovationsfonds. Von den insgesamt in Aus-sicht gestellten 300 Mio. Euro sollen 75 Mio. Euro für die Evaluation von innova-tiven Versorgungskonzepten eingesetzt werden. Ein Ansatzpunkt, der eine wich-tige Lücke schließen hilft.

52 Bundesministerium für Gesundheit: Pressemitteilung Nr. 28. 2014, S. 2.53 Vgl. Deutscher Bundestag: Drucksache 18/1657. 2014, S. 13 ff.54 Bundesministerium für Gesundheit: Qualitätsinstitut für ambulante und stationäre Behand-

lung. 2014. Online: http://www.bmg.bund.de/krankenversicherung/finanzierungs-und-qualitaetsgesetz/qualitaetsinstitut.html [abgerufen am 21.7.2014].

55 Vgl. Glaeske u. a.: Versorgungsforschung: auf gesetzlicher Grundlage systematisch ausbau-en. 2010, S. A-1295.

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6 Resümee

61Kollektiven Allokationsentscheidungen kommt eine bedeutende Rolle im Zusam-menhang mit der Sicherung einer nachhaltigen Finanzierung eines solidarischenGesundheitswesens zu. Der Faktor Wissen ist ein wichtiger Schlüssel zur Priori-sierung von Leistungen, die Evidenzbasierung der richtige Weg. Dabei dürfenjedoch die Grenzen der evidenzbasierten Medizin gerade im Hinblick auf kom-plexe Interventionen und soziale sowie Public-Health-Ansätze nicht außer Achtgelassen werden. Ohne gezielte Versorgungsforschung sind die Erkenntnisse vonklinisch-evaluativen Studien nur teilweise belastbar. Außerdem sind die ethischenAspekte von Allokationsentscheidungen zu diskutieren.

62Transparenz und Öffentlichkeit sind weitere wichtige Bausteine. Nur wenn esgelingt, alle Studien zu veröffentlichen und das vorhandene Wissen zugänglich zumachen, wird es möglich sein, die Versorgung zu optimieren und die Vorgabendes SGB V umzusetzen.

63Wichtige Vorhaben hierzu sind in Deutschland in den vergangenen zehn Jahrenrealisiert worden, weitere stehen vor der Umsetzung. Diesen Weg gilt es kon-tinuierlich zu entwickeln, damit das deutsche Gesundheitswesen auch weiterhinzu den leistungsfähigsten weltweit zählt und die solidarische Absicherung einesumfassenden Versorgungsniveaus aufrechterhalten werden kann.

LiteraturAntes, G.: Geleitwort zur deutschsprachigen Ausgabe. In: Evans, I. u. a.: „Wo ist der Beweis?“.Bern 2013.

Antes, G.:Wissen ist unverzichtbarer Treiber für zielgerichtete Innovation in der Gesundheits-versorgung. In: „Forum für Gesundheitspolitik 2-1/14“. Bonn 2014.

Bundesministerium für Gesundheit: Glossarbegriff: Evidenzbasierte Medizin. 2014. Online:http://www.bmg.bund.de/glossarbegriffe/e/evidenzbasierte-medizin.html, Suchbegriff: Evi-denzbasierte Medizin [abgerufen am: 21.7.2014].

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Deutscher Bundestag: Drucksache 18/1657. Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung derFinanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanz-struktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz – GKV-FQWG). Berlin 4.6.2014.

Kapitel-Hierachie: 1

Kapitel-Hierachie: 1

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Literatur

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Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA): Die Nutzenbewertung von Arzneimitteln gemäß § 35aSGB V, 02.07.2014. Online: https://www.g-ba.de/institution/themenschwerpunkte/arzneimit-tel/nutzenbewertung35a/, Suchbegriff: Nutzenbewertung von Arzneimitteln [abgerufen am:21.7.2014].

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Konfliktrisiko kollektive Allokationsentscheidungen