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Faber, michael - hundertneunundneunzig stufen

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Michel Faber

Hundertneunundneunzig Stufen

Roman

Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring

Claassen

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Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel The Hundred and Ninety-Nine Steps

bei Canongate, Edinburgh Claassen ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

ISBN-13: 978-3-546-00391-9 ISBN-10: 3-546-00391-8

Copyright der deutschen Ausgabe © 2005 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten ©2001 by Michel Faber

Satz: LVD GmbH, Berlin Druck und Bindearbeiten: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

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Mehr noch als „Die Unvollendete“ reicht Fabers neuer Titel an Intensität und Dichte von „Das karmesinrote Blütenblatt“. Gedämpft vom manchmal spürbaren Wollen, geheimnissende Stimmung zu entfalten. Doch die Geschichte der beinamputierten, liebesmisstrauischen Siân, als Archäologin mit Ausgrabungen auf einem englischen Klosterfriedhof beschäftigt, lässt nicht los. Wenn sich mit dem sportlichen Medizinstudenten Mack im gemeinsamen Bemühen, eine als Rolle verklebte schaurige Beichte von 1788 zu entziffern, Nähe entwickelt und kleine Liebesfunken irrlichtern. Doch zu schwer Siâns Herz, zu leicht Macks Weg, um die gegenseitige Faszination mitzunehmen… Als Meister der Irritation baut Faber Stimmungen auf, um sie gleich darauf zu torpedieren, skizziert er Charaktere, um sie über sich selbst hinauswachsen zu lassen, spielt er mit Fantasie und Flapsigkeit. 199 steinerne Stufen zur Grabungsstätte bezeugen Siâns Lebenslast und Macks Lebenslust, doch – überraschend – auch vice versa. Vielleicht nicht bestseller-, doch überaus schmökerverdächtig!

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Mit jeder Zeile, jedem Wort Berührte mich des Toten Geist…

Tennyson, »In Memoriam«

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D ie streichelnde Hand an ihrer Wange war sanft, aber beängstigend groß – so groß wie ihr ganzer Kopf, wollte

ihr scheinen. Sie spürte, wenn sie es wagte, die Lippen zum Schrei zu öffnen, würde die Hand aufhören, ihr Gesicht zu liebkosen, und ihr mit starken Fingern den Mund zuhalten.

»Laß es einfach geschehen«, raunte ihr seine Stimme heiß ins Ohr. »Geschehen wird es auf jeden Fall. Sträuben hat keinen Sinn.«

Sie hatte diese Worte schon öfter gehört, hätte wissen müssen, was ihr bevorstand, aber irgendwie war ihr Gedächtnis gelöscht worden, seit er sie das letzte Mal im Arm gehalten hatte. Sie schloß die Augen, wollte ihm so gern vertrauen, wollte so gern den Kopf in seiner kissenweichen Armbeuge ablegen, doch im letzten Moment sah sie mit einem kurzen Seitenblick in seiner anderen Hand das Messer. Ihr Schrei erstickte, als die Klinge tief in die Kehle schnitt, bis zum Knochen der Wirbelsäule alles durchtrennte und ihre entsetzte Seele in pechschwarze Finsternis stieß.

Siân fuhr kerzengerade im Bett auf und hielt sich mit beiden Händen den Kopf, damit er ihr nicht vom Hals kippte, ein grausiger Halloweenkürbis aus blutigem Fleisch. Schrille Kreischtöne gellten durchs Zimmer. Wie immer war sie allein, allein im Anbruch eines Yorkshirer Sommertages, und hielt sich im obersten Gästezimmer des White Horse and Griffin Hotel ihren verschwitzten, ansonsten aber unversehrten Kopf. Draußen vor dem Mansardenzimmer wollte das zänkische Zetern der Whitbyer Möwenhorden kein Ende nehmen. Für die anderen Hotelgäste hörten sich diese Vögel (nach den bitteren Klagen am Frühstückstisch zu urteilen) wie Autoalarmanlagen oder Kreissägen oder Bohrmaschinen in Hartholz an. Anscheinend war es nur Siân, die in ihnen ihre eigenen Todesschreie im Augenblick ihrer Enthauptung hörte.

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Es war nicht zu leugnen, daß die Träume Siân seit dem Unfall damals in Bosnien ziemlich übel mitspielten. Jahrelang hatte sie immer wieder ihren »normalen« Alptraum gehabt, in dem sie von einem Auto, das es auf sie abgesehen hatte, durch dunkle Gassen gejagt wurde. Aber wenigstens war sie in dem Traum immer aufgewacht, kurz bevor sie unter die Räder kam, und mit knapper Not, unter den zerknüllten Laken und Decken ihres Bettes immer noch um ihre Rettung kämpfend, in die Sicherheit der Tagwelt entwischt. Doch seit sie in Whitby war, hatten ihre Träume auch das letzte bißchen guten Geschmack verloren, und jetzt war Siân schon glücklich, wenn sie lebendig aus ihnen hervorging.

Das White Horse and Griffin hatte vorn eine Tafel hängen, die stolz verkündete, die Sunday Times habe das Haus mit dem Goldenen Kissen ausgezeichnet, aber Siâns Kissen mußte gegen den geschichtsträchtigen Schlummerzauber des Hotels immun sein. Unter der antiken Dachschräge des Mary-Ann­Hepworth-Zimmers in die Decken gekuschelt und durch ein Veluxfenster mit frischer Luft direkt vom Meer versorgt, brachte Siân es trotzdem fertig, sich stundenlang schlaflos herumzuwälzen, bis sie schließlich von dem Mann mit den riesengroßen Händen in den Alptraum entführt wurde. Sie wachte nur selten auf, ohne vorher zu fühlen, wie der kalte Stahl seines Messers ihr den Kopf absäbelte.

Dieser Traum, in dem sie erst verlockt und dann ermordet wurde – immer mit einem Schnitt durch die Kehle –, hatte sich so prompt nach ihrer Ankunft in Whitby eingestellt, daß Siân den Hotelbesitzer gefragt hatte, ob… ob er vielleicht zufällig wisse, wie Mary Ann Hepworth ums Leben gekommen sei. Ohnehin schon verlegen, weil sie als Naturwissenschaftlerin sich zu solchen abergläubischen Erkundigungen verstieg, wurde sie knallrot, als er ihr mitteilte, das Zimmer sei nach einem Schiff benannt.

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Durch eine Kehle schluckend, die unfaßbarerweise noch heil war, äugte Siân im kalten Licht eines Freitagmorgens auf ihre Uhr. Zehn vor sechs. Noch gut zwei Stunden herumzukriegen, bis sie anfangen konnte zu arbeiten. Noch gut zwei Stunden, bis sie die hundertneunundneunzig Stufen zum Klosterfriedhof emporsteigen und sich mit den anderen an der Grabungsstätte einfinden konnte.

Ein Bad wäre gut, um sich die Zeit zu vertreiben und diese schwachen Erdflecken von ihren Unterarmen wegzubringen, diese kaum erkennbaren Verfärbungen, die ihr Fleisch in Ringen umschlossen wie alluviale Ablagerungen. Doch sie war müde und gereizt, und in ihrer linken Hüfte saß ein Schmerz – ein bohrender, knochentiefer Schmerz, der in letzter Zeit immer schlimmer geworden war –, und sie war nicht in der Stimmung, sich in die Wanne zu schleppen. Was für eine armselige Nonne sie doch gewesen wäre, wenn sie im Mittelalter gelebt hätte! So wenig bereit, ihren Körper einer strengen Zucht zu unterwerfen, so faul, wenn sie das warme Bett verlassen sollte… So voller Angst vor dem Tod.

Dieser Schmerz in der Hüfte, dazu dicht darunter der harte Höcker im Fleisch ihres Schenkels, das mußte ein schlechtes Zeichen sein, ein sehr schlechtes Zeichen. Sie sollte zum Arzt gehen. Doch das würde sie nicht tun. Sie würde die Sache ignorieren, ertragen, sich mit ihrer Arbeit ablenken, und eines Tages dann, hoffentlich ganz plötzlich, würde alles vorbei sein.

Vierunddreißig. Seit einigen Wochen war sie gerade mehr als halb so alt wie Sankt Hilda seligen Angedenkens, als sie starb. Die Medizin des 7. Jahrhunderts war noch nicht so weit gewesen, die Ursache diagnostizieren zu können, aber Siân vermutete, daß ein Krebsleiden Hildas glanzvolle Laufbahn als Whitbys Gründungsäbtissin beendet hatte. Ihr fotografisches Gedächtnis rief sich die Worte von Beda Venerabilis vor Augen: »Es gefiel dem treusorgenden Wirker unseres Heils,

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ihre heilige Seele durch eine lange Krankheit des Fleisches zu prüfen, auf daß ihre Tugend in der Krankheit vollendet werde.«

In der Krankheit vollendet! Schwang da ein bitterer Sarkasmus in dem Bericht des ehrwürdigen Beda mit? Nein, mit ziemlicher Sicherheit nicht. Die Demut, die Gottergebenheit der mittelalterlichen mönchischen Denkungsart – wie erschreckend sie doch war und zugleich wie wunderbar. Wenn sie doch auch nur so denken, so fühlen könnte, ein paar Minuten nur! Dann würde das reine Wasserdes Glaubens alle Ängste, Nöte und Schwächen aus ihr hinwegschwemmen, und sie würde sich als eine ihrem treulosen Körper enthobene Seele begreifen, eine auf Gottes Atem schwebende leuchtende Feder.

Alles schön und gut, aber in der Badewanne sitze ich immer noch nicht, dachte sie mißmutig.

Durch das Veluxfenster fiel ihr Blick auf ein Trio von Möwen, die von Dachziegel zu Dachziegel Hopsten und hämisch über Siâns gänsehäutigen, flügellosen Körper keckerten, als sie das Bettzeug zurückschlug. Sie zog sich hastig an, machte sich fertig für den Tag. Das Beste an praktischer Archäologie wie der Grabung in Whitby war, daßniemand von einem ein schickes Äußeres erwartete und man tagaus, tagein in denselben alten Sachen herumlaufen konnte. Sie würde sich umstellen müssen, wenn sie im Herbst wieder Kurse gab; ein Hörsaal voll Studenten, ein gut Teil davon junge Männer, die einen prüfend ansahen, als wollten sie sagen: »Wo haben sie die denn ausgegraben?«, war wie nichts anderes dazu angetan, die Beschäftigung mit der Frage zu fördern, welchen Rock und welches Oberteil man anziehen sollte.

Bevor sie zum Frühstück hinunterging, nahm Siân einen Schluck aus der kuriosen kleinen Gratisflasche Mineralwasser

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und schaute über die Dächer der Oststadt von Whitby hinaus. In der aufgehenden Sonne leuchteten die roten Firste gelb und orange. In den Lücken zwischen den Gebäuden und dem Wald von Segeln und Bootsmasten glitzerte das Wasser des Esk indigoblau. Ein schmerzhafter Stich tief im Unterleib ließ Siân zusammenzucken. Verdauungsstörung oder irgend etwas mit dem Höcker in ihrem Oberschenkel? Sie durfte nicht daran denken. Hau ab, ehrwürdiger Beda! »Im siebten Jahr ihrer Krankheit«, schrieb er über Sankt Hilda, »griff der Schmerz auf die inwendigen Organe über.« Woraufhin sie, versteht sich, starb.

Siân begab sich nach unten in den Frühstücksraum und hoffte, daß der Schmerz in ihren inwendigen Organen sich vielleicht beruhigte, wenn sie sich etwas zu essen zuführte. Es war jedoch viel zu früh: der Raum dunkel und menschenleer, die Müslibehälter mit Geschirrtüchern verhängt, die Milchkanne leer. Siân überlegte, ob sie eine Banane essen sollte, doch es war nur noch eine in der Schale, und es kam ihr absurderweise so vor, als würde das die Tat irgendwie sündhaft machen. Statt dessen aß sie ein paar Trauben, schlenderte durch den Raum und streifte jeden der identisch gedeckten, melancholischen Tische mit den Fingerspitzen. Sie setzte sich an einen und mußte an die Benediktinermönche und -nonnen in ihren Refektorien denken, die ihr Schweigen nur brechen durften, um die Heilige Schrift zu verlesen. Sie stellte sich vor, eine von ihnen zu sein, hob träumerisch die Hände in das fahle Licht und malte die stummen Zeichen für Fisch, für Brot, für Wein in die Luft.

»Ist was mit Ihnen?« Vor Schreck stieß Siân beinahe eine Teetasse vom Tisch. »Nein, nein«, versicherte sie dem Küchenmädchen des White

Horse and Griffin, das lebensgroß in der Tür stand. »Alles in Ordnung, danke.« Sie seufzte. »Ich fange nur an zu spinnen.«

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»Würde mich nicht wundern«, sagte das Küchenmädchen. »Bei den ganzen Leichen.«

»Leichen?« »Na, die Skelette, wo Sie am Ausbuddeln sind.« Das

Mädchen schnitt eine Grimasse. »Sechzig Stück, habe ich in der Whitby Gazette gelesen.«

»Sechzig Gräber. Wir haben nicht – « »Müssen Sie die anfassen? Würd mich das ekeln! Sie ham

doch Handschuh an, nicht?« Siân lächelte, schüttelte den Kopf. Der Blick schaudernder

Ehrfurcht, den das Mädchen durch den Frühstücksraum schickte, traf sie wie ein Sonnenstrahl, und sie badete schüchtern darin: die tollkühne Siân. Um der Wahrheit willen sollte sie das Mädchen von der abwegigen Vorstellung befreien, Archäologen wühlten bis zu den Ellbogen inscheußlichen menschlichen Überresten, und ihr erklären, daß eine solche Grabung in Wirklichkeit nicht viel anders als das Graben im Garten war, nur langweiliger. Doch statt dessen hob sie die Hände und wackelte mit den Fingern, wie um zu sagen: Normale Sterbliche können nicht ahnen, was ich schon alles angefaßt habe.

»Den Mut hätt’ ich nie«, sagte das Mädchen und deckte den Müslibehälter auf.

Um sich die Zeit zu vertreiben, überquerte Siân die Brücke von der weniger verunstalteten Oststadt in den eher modern daherkommenden Westen und bummelte die Pier Road hinunter zum Meer. Vom Sonnenschein zart vergoldet wirkten die Fassaden der Spielsalons und Hellseherstuben beinahe vornehm, auch in der Art, wie die Fenster und verrammelten Türen das grelle Licht dämpften. Auf der Marine Parade nahm Siân sich die Zeit, durch das Fenster eines Hauses zu spähen,

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in dem bis 1813 Whitbys öffentliche Lesestube gewesen war. »Die preisgekrönte Dracula-Erfahrung«, stand auf einem Plakat, gefolgt von einer Liste von Attraktionen wie wollüstigen weiblichen Vampiren und Christopher Lees Umhang.

Der Fischkai war zwar im Augenblick menschenleer, dafür aber von herumlungernden Möwen bevölkert. Sie tappten ziellos im Sonnenaufgang umher, ganz ähnlich wie die jungen Männer der Stadt es später nach Sonnenuntergang machten, oder dösten einfach auf Kisten und den Dächern der im Hafen liegenden Boote.

Siân spazierte zum Leuchtturm und trat dann vom festen Aislabyer Sandstein der Mole auf die Holzbrücke an der Spitze. Sorgfältig darauf bedacht, nicht mit den Absätzen in den Lücken zwischen den Brettern hängenzubleiben, gestattete sie sich einen magenkribbelnden Blick auf das Brodeln der rastlosen Wellen tief unter ihr. Sie war sich nicht sicher, ob sie noch schwimmen konnte; es war lange her.

Sie stellte sich an das äußerste Ende der Brücke vor der westlichen Mole und schaute, eine Hand schirmend über die Augen gelegt, zur östlichen hinüber. Die beiden Molen waren wie Arme, die sich ins Meer hinaus streckten, um Schiffe aus den wilden Gewässern der Nordsee in die Sicherheit des Whitbyer Hafens zu holen. Siân stand auf einer riesigen Fingerspitze.

Sie sah auf die Uhr und ging zurück zum festen Land. Ihr Arbeitsplatz lag auf der anderen Seite.

Beim Aufstieg zum East Cliff, ungefähr auf der Hälfte der hundertneunundneunzig Stufen, gönnte Siân sich eine Verschnaufpause. So gern sie zu Fuß ging, hatte sie es vielleicht doch übertrieben, so früh am Tag. Sie durfte nicht

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vergessen, daß kein Schreibtisch sie erwartete, an den sie sich setzen konnte, sondern daß sie den ganzen Tag in der Erde wühlte.

Siân fuhr die Verwetzungen der steinernen Stufe mit dem Schuh nach, umriß die vom Fußgängerverkehr der Jahrhunderte verursachte Erosion. Genau an dieser Stelle, auf dieser breiten, podestartigen Stufe zwischen den vielen schmalen, hatten einst die Bürger von Alt-Whitby die Särge abgestellt, die sie zum Friedhof hinauftragen mußten, und schwarzgekleidet und rotgeschwitzt eine Pause eingelegt, bevor sie den kummervollen Aufstieg fortsetzten. Erst seitdem in neuerer Zeit Touristen und Archäologen endgültig an die Stelle der Trauernden getreten waren, dienten die Stufen nicht mehr den Toten – höchstens hin und wieder einem fettleibigen amerikanischen Urlauber, der vor Erreichen der geheiligten Fotostatt mit einem Herzinfarkt zusammenbrach.

Siân blickte zur Church Street hinunter und sah einen Mann auf die Treppe zujoggen – nein, nicht joggen, laufen. An seiner Seite ein Hund – ein prachtvolles Tier, ungefähr spanielgroß, aber mit einem herrlich dichten Fell, wie ein Wolf. Der Mann selbst, breitschultrig und athletisch gebaut, war auch nicht gerade unansehnlich, wie er da mit seinen teuer aussehenden Laufschuhen das Kopfsteinpflaster trat. Bekleidet war er mit einer kurzen Hose und einem lockeren, dünnen T-Shirt, ein recht dürftiger Schutz gegen die frühmorgendliche Kälte, aber die machte ihm offenbar nicht viel aus. Sein Gesicht war ruhig, während er lief, und seine deutlich unverschwitzten dunkelbraunen Haare fielen ihm locker über die Stirn. Der Hund schaute im Laufen häufig zu ihm auf, so daß die Vanille-und Karameltöne in der Mähne zum Vorschein kamen.

Haben, haben, haben, dachte Siân, dann wurde sie rot und wandte sich ab. Vierunddreißig und immer noch Flausen im Kopf wie ein Kind! Sankt Hilda hätte sich ihrer geschämt. Und

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was genau wollte sie eigentlich haben: den Mann oder den Hund? Sie konnte es gar nicht sicher sagen.

Ein weiterer Blick auf die Uhr bestätigte ihr, daß sie wohl noch ein Weilchen hatte, bevor ihre Kollegen eintrudelten. Vermutlich hatten sie trotz des frühen Möwenkonzerts alle einen gesunden Schlaf.

»Hallo-o!« Sie drehte sich um. Der gutaussehende junge Mann sprintete

die hundertneunundneunzig Stufen so mühelos hinauf, als liefe er auf ebener Erde. Sein vorausspringender Hund verkürzte den Abstand zu Siân mit jedem Satz um zwei Stufen. Einen Moment lang empfand sie beim Näherkommen eines starken Tiers mit spitzen Reißzähnen eine atavistische Furcht, doch dann entspannte sie sich, denn der Hund bremste abrupt ab, setzte sich dezent hechelnd vor ihr hin, den Kopf zur Seite geneigt, und sah dabei genauso aus wie ein Hund auf einer kitschigen Grußkarte.

»Der tut nichts!« rief der dicht dahinter kommende Mann, seinerseits jetzt ein wenig hechelnd.

»Das sehe ich«, erwiderte sie und streckte zögernd die Hand aus, um die Mähne des Hundes zu streicheln.

»Er hat ein gutes Gespür für Frauen«, sagte der Mann. »Es ist also nichts Persönliches.« Der Mann blieb eine Stufe unter ihr stehen, um sie nicht mit

seiner Größe einzuschüchtern: er mußte mindestens ein Meter neunzig sein. Bei jedem Einatmen drückten seine Brustmuskeln zwei schwache Schweißkreise in sein T-Shirt und sanken dann wieder zurück.

»Sie sind gut in Form«, sagte sie im selben Ton, wie sie hoffte, als bemerkte sie beiläufig: »Sie sind aber früh auf.«

»Naja, ohne Fleiß«, er zuckte die Achseln, »kein Preis.« Der Hund steigerte sich derweil in eine stille Ekstase: er

drängte seine flauschige schwarze Stirn in Siâns Hand und

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verfolgte mit den Augen hoffnungsvoll ihre Finger, ob sie ihm nicht auch noch den Nacken kraulen wollte, das rechte Ohr, das linke, den Teil des rechten Ohrs, den sie beim ersten Mal vergessen hatte.

»Was ist er für eine Rasse?« »Finnischer Lapphund«, sagte der Mann und ging dabei in

die Hocke, als würde er seinerseits ganz gern in den Genuß einiger Streicheleinheiten kommen.

»Schönes Tier.« »Verdammt viel Arbeit.« Sie kniete sich hin, ganz vorsichtig, damit ihm nichts an

ihrem linken Bein auffiel. »Macht gar nicht den Eindruck«, sagte sie und streichelte den Rücken des Hundes bis hinunter zu seiner buschig-fransigen Rute. Alle drei waren jetzt auf derselben Augenhöhe.

»Sie bringen offensichtlich seine beschauliche Seite heraus«, bemerkte der Mann grinsend. »Bei mir verhält er sich ganz anders. Wenn er mit mir durch ist, bin ich wahrscheinlich olympiareif.«

Siân streichelte immer weiter, auch wenn die Hingabe, mit der sie das prächtige Fell des Tieres striegelte, sie ein wenig befangen machte. »Sie müssen gewußt haben, auf was Sie sich einlassen, als Sie ihn sich angeschafft haben«, meinte sie.

»Kann man nicht sagen. Er war der Hund meines Vaters. Mein Vater ist vor drei Wochen gestorben.«

Siân hörte zu streicheln auf. »Oh, das tut mir leid.« »Muß es nicht. Wir standen uns nicht besonders nahe.« Der

Hund, dessen Hätschelbedarf keineswegs gedeckt war, stieß bettelnd die Schnauze in die Luft. Der Mann tat ihm den Gefallen, zauste dem Tier die Ohren und zog das haarige Gesicht zu sich hin. »Ich habe für unsern Paps nicht viel übrig gehabt, nicht wahr, du? Ein meckriger alter Knochen war er, stimmt’s?«

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Siân bemerkte, wie groß die Hände des Mannes waren: ungewöhnlich groß. Ein abergläubischer Schauder prickelte ihr das Rückgrat hinunter wie ein dünner Wasserfaden. Sie lenkte sich davon ab, indem sie auf seinen Neulondoner Tonfall einging.

»Sind Sie aus London hochgekommen?« »Jo.« Bestrebt zu beweisen, daß er es dem Hund genauso

recht machen konnte wie irgendein anderes Händepaar, runzelte er ein wenig die Stirn. »Um den alten Herrn zu beerdigen. Und um im Haus Bestandsaufnahme zu machen. Hab mich noch nicht entschieden, was ich damit mache. Es liegt im Loggerhead’s Yard und ist damit ein Vermögen wert. Kann sein, daß ich’s verkaufe, kann sein, daß ich selbst einziehe. Zum Leben ist es unendlich viel schöner als meine Wohnung in West Kilburn.« Er warf einen abschätzigen Blick auf die Stadt, als wollte er hinzufügen: Wenn es bloß nicht in diesem blöden Whitby wäre.

»Haben Sie als Kind hier gewohnt?« »Viele, viele lange, lange Jahre«, bestätigte er in einem

müden, melodramatischen Jammerton. »Konnte gar nicht schnell genug wegkommen.«

Siân begrübelte die zwei Hälften seiner Aussage und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es irgendwo mit der Logik haperte.

»Mir gefällt es hier«, sagte sie. Sie mußte selbst über diese Behauptung staunen – mit den Alpträumen und der Schlaflosigkeit hatte sie eigentlich Grund genug, um mit Whitby Kummer zu assoziieren. Doch es stimmte: die Stadt gefiel ihr.

»Aber Sie sind nicht von hier, nicht wahr?« »Nein. Ich bin Archäologin und arbeite an der Ausgrabung

mit.« »Cool! Die sechzig Skelette, stimmt’s?«

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»Unter anderem, ja.« Sie wandte den Blick von ihm ab, um ihre Mißbilligung seiner Sensationslust deutlich zu machen, doch falls er es überhaupt mitbekam, interessierte es ihn nicht die Bohne.

»Wow, gothic«, sagte er. Sie verstand ihn absichtlich falsch, als hätte er damit nicht

»gruselig« gemeint, sondern in den Skeletten alte Goten vermutet. »Nein, es sind Angeln, soweit wir sagen können.«

Der schnippische Satz, gesagt, um ihm einen Dämpfer aufzusetzen, hing zwischen ihnen in der Luft und hörte sich immer zickiger an, je öfter sie ihn im Kopf wiederholte. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Hund zu, und um die Situation zu retten, begann sie, die Teile zu streicheln, die der Mann gerade nicht streichelte.

»Wie heißt er?« Er zögerte einen Moment. »Hadrian.« Sie schnaubte unwillkürlich. »Das… das ist ein unglaublich

bescheuerter Name. Für jeden Hund, aber für diesen besonders.«

»Nicht wahr?« Er strahlte. »Mein Vater hat’s mit römischer Geschichte gehabt, daher.«

»Und wie heißen Sie?« Wieder zögerte er. »Sie können… Sag mal, können wir

vielleicht Du sagen? Ich heiße Mack.« »Einverstanden. Und wofür ist das die Abkürzung?« »Magnus.« Seine hellblauen Augen wurden schmal.

»Lateinisch für ›groß‹. Gräßlich, nicht?« »Gräßlich?« »Hört sich an, als wäre ich ein Großkotz oder so.« »Das kann ich noch nicht beurteilen. Jedenfalls ist es ein

guter, alter Name.« »Daß eine wie du das sagt, war ja zu erwarten, was?«

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Die Vertraulichkeit seines Tons störte sie ein bißchen. Was war es doch für ein heikles Geschäft, sich mit Fremden des anderen Geschlechts zu unterhalten. Kein Wunder, daß sie es kaum mehr versuchte…

»Wieso das?« fragte sie. »Naja, wo du doch Archäologin bist und so.« »Ich bin noch gar keine richtige Archäologin. Ich studiere

noch.« »Ach? Ich hätte gedacht…« Er besann sich, bevor er »in

deinem Alter« oder etwas in der Art sagen konnte, aber die unterdrückte Absicht traf Siân tief – bis in die inwendigen Organe sozusagen. Ja, verdammt, sie sah nicht mehr wie ein knackiges junges Ding aus. Was sie in Bosnien – und danach – durchgemacht hatte, stand ihr im Gesicht geschrieben, dick unterstrichen. »Es gefiel dem treusorgenden Wirker unseres Heils…« Es gefiel ihm, sie körperlich und seelisch durch die Hölle zu schicken. Auf daß ihre Tugend in der Krankheit vollendet werde. Auf daß Leute, die sie eben erst kennengelernt hatte, dächten, sie sei schrecklich alt für eine Studentin.

»Ich hätte gedacht, Archäologie wäre eher was, wozu man auf praktischem Wege kommt«, sagte er.

»Ist es auch. Ich bin eigentlich eine ausgebildete Restauratorin, spezialisiert auf Papier und Pergament. Ich hatte einfach Lust, mich zu verändern, mehr an die frische Luft zu kommen. Bei dieser Grabung haben wir eine ganz nette Mischung von Leuten beisammen. Einige sind schon seit Jahrmillionen Archäologen. Andere sind noch blutjung und verdienen gerade ihr erstes eigenes Geld.«

»Und dann gibt’s noch dich.« »Ja, dann gibt’s noch mich.« Er starrte sie an; eigentlich starrten beide sie an, er und sein

Hund, und auf ziemlich ähnliche Art: mit großen, treuen

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Augen, in der Erwartung, daß sie ihnen den nächsten Brocken von sich hinwarf.

»Ich heiße Siân«, sagte sie schließlich. »Schöner Name. Und heißt?« »Wie bitte?« »Siân. Auf Walisisch heißt das…?« Sie durchforschte ihr Gedächtnis nach der Herkunft ihres

Namens. »Ich glaube, es heißt nichts Besonderes. Jane, wenn ich mich recht entsinne. Schlicht und langweilig Jane.«

»Du bist nicht langweilig«, ergriff er sofort die Gelegenheit, wieder gut Wetter zu machen.

Um ihre Verlegenheit zu verbergen, stemmte sie sich in die Höhe. »So, langsam wird’s Zeit, daß ich mit der Arbeit anfange.« Und sie stählte sich für die restlichen hundert Stufen.

»Kann ich dich bis zur Kirche begleiten? Da oben gibt’s eine Strecke, die ich mit Hadrian laufen kann, wieder runter in die Stadt…«

»Sicher«, erwiderte sie locker. Er durfte nicht sehen, daß sie hinkte. Sie mußte unbedingt verhindern, daß sein Blick tiefer rutschte als ihre Taille.

»Und…«, sagte sie, als sie gemeinsam losgingen, umtanzt von dem Hund, der immer ein Stück voraussprang und gleich wieder zurückgeschossen kam. »Jetzt wo dein Vater beerdigt ist, brauchst du da noch lange für die Bestandsaufnahme?«

»Eigentlich bin ich fertig. Aber ich muß noch eine Arbeit schreiben – ich studiere im letzten Jahr Medizin. Da benutze ich Vaters Haus als eine Art… Einzelhaft. Damit ich was geschafft kriege, verstehst du? In London gibt es zu viele Ablenkungen. Noch ärgere Ablenkungen als den da…« Er trat langsam und spielerisch nach Hadrian.

»Damit stehst du in bester Whitbyer Tradition«, sagte Siân. »Du brauchst nur an die Mönche und Nonnen zu denken, wie

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sie in ihren kahlen Zellen saßen und den lieben langen Tag lasen und schrieben.«

Er lachte. »Oh, ich bin sicher, die haben noch allerhand andere Sachen getrieben.«

Wollte er mit dieser Anzüglichkeit und dem Augenzwinkern dabei irgend etwas über sie beide andeuten, oder war das bloß der übliche Zynismus, mit dem die meisten Leute das Klosterleben sahen? Wahrscheinlich bloß der übliche Zynismus, denn als sie die Stelle erreichten, wo die Spitzen von Whitby Abbey sichtbar wurden, sagte er: »Ah! Die lukrative Ruine!« Er schwenkte den rechten Arm und öffnete seine mächtige Hand zu einer großartigen Geste. »Whitby Abbey sehen und sterben!«

Siân merkte, wie sich ihr die Stacheln aufstellten, und gleichzeitig reizte sie seine Bombastik. Schüchterne, duckmäuserische Männer hatte sie noch nie ausstehen können.

»Wenn die Abtei über die Jahrhunderte ein bißchen mehr Geld gehabt hätte«, versetzte sie, »wäre sie heute keine Ruine.«

»Ach, komm«, frotzelte er. »Gerade mit Ruinen wird doch das große Geld gemacht. Da sind die Leute ganz versessen drauf.« Er äffte einen amerikanischen Touristen nach, der für seine fotografierende Frau posierte. ›»Mak ein Billd von mir, Wilma, mit diese Ruin von die Antike in Hintergrund.‹«

Als der kurzsichtige Trottel, den er dabei mit blinzelnden Augen spielte, hätte er eigentlich lächerlich wirken müssen, aber seine Clownerie unterstrich nur noch mehr, wie gut er aussah. Sein freches Grinsen und die Grazie, mit der er seinen Körper bewohnte – kaum glaublich bei seiner schlaksigen Gestalt –, waren für Siân eine anziehende Verbindung, eine Verbindung, die sie schon früher angezogen hatte, beinahe mit tödlichen Folgen. Sie mußte bei diesem jungen Mann gut

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aufpassen, so viel war sicher, wenn sie nicht genauso ein Fiasko erleben wollte wie… wie mit Patrick.

»Alte Geschichte ist durchaus spannend«, sagte sie. »Es ist gut, daß Leute weite Wege auf sich nehmen, um etwas davon zu sehen. Sie steigen diese steinernen Stufen zur Abtei hinauf, und sie haben das Gefühl, daß sie buchstäblich in die Fußstapfen mittelalterlicher Mönche und altehrwürdiger Könige treten. Sie sehen diese Türme über der Anhöhe aufragen, und sie fühlen sich achthundert Jahre zurückversetzt…«

»Ja, aber das Ding da oben ist gar nicht die richtige Abtei von Whitby, oder? Es ist eine Rekonstruktion, irgendein touristisches Idealbild davon, wie eine mittelalterliche Abtei aussehen sollte.«

»Das stimmt nicht.« »Ist sie nicht vor Urzeiten eingestürzt und dann völlig falsch

wieder aufgebaut worden? « »Nein, das stimmt nicht«, beharrte sie, drauf und dran, sich

mit einem wildfremden Menschen in die Wolle zu kriegen – was ihr seit Patrick mit niemandem mehr passiert war. Sie hätte seine Unwissenheit mit der verdienten kühlen Herablassung beantworten sollen, doch statt dessen sagte sie: »Komm mit, dann zeig’ ich’s dir.«

»Was?« fragte er, doch sie beschleunigte schon ihre Schritte. »Warte!«

Sie eilte voraus, vorbei am Friedhof von Saint Mary, vorbei an der Abzweigung zum Caedmonsteig – der anderen Strecke hinunter in die Stadt, die er mit Hadrian hatte laufen wollen. Vor Anstrengung die Zähne zusammengebissen, stapfte sie eine weitere Treppe zur Abtei hinauf.

»Schon gut, ich glaub’s!« beteuerte der widerwillig hinter ihr herzockelnde Magnus, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen, doch sie führte ihn geradewegs zum Eingang. Er

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blieb vor der Pforte stehen, mußte aber mit ansehen, wie sein treuloser Hund fröhlich über die Schwelle trottete.

»Verräter«, murrte er und folgte ihm. Innen ließ ein Schild die Besucher wissen, daß Hunde an der

Leine zu führen seien, und wartete der Mann an der Kasse darauf, 1,70 Pfund gezahlt zu bekommen. Gewohnt, auf dem Abteigelände ungehindert ein- und auszugehen, hatte Siân ganz vergessen, daß es für Nichtarchäologen Eintritt kostete. Ein prüfender Blick auf Mack sagte ihr, daß seine Laufhosen, was sie auch sonst enthalten mochten, eindeutig nicht mit einer Tasche fürs Portemonnaie ausgestattet waren.

»Er ist mit mir hier«, erklärte sie und führte den widerstrebenden Magnus an den Snacks und Infobroschüren vorbei durch das Portal ins Mittelalter. Es geschah alles so schnell, daß der über den Rasen jagende Hadrian schon halb im 12. Jahrhundert war, ehe der Eintrittskartenverkäufer ein Wort sagen konnte.

Siân hielt auf dem leeren Rasenfleck an, wo einst das Mittelschiff der Abtei gewesen war. Ihr Rock flatterte im Wind. Sie deutete auf die hohen steinernen Bögen, die sich karg und schroff gegen den Himmel abzeichneten. Die Vorstellung, irgendjemand – nun ja, konkret dieser Mann neben ihr – könnte kein Empfinden für die primitive Erhabenheit und den tragischen Verfall dieses Bauwerks haben, provozierte sie zu einer strengen Belehrung.

»Diese drei Bögen dort«, sagte sie, wobei sie sich vergewisserte, daß er in die Richtung ihres Fingers guckte (das tat er, desgleichen sein Hund), »diese Bögen sind ursprünglich aus der Südmauer, stimmt, und beim Wiederaufbau in den zwanziger Jahren wurden sie zur Stützung an die nördliche Außenmauer gesetzt, stimmt. Ziemlich seltsam, zugegeben. Doch es ist durchweg das ursprüngliche Mauerwerk, das ist gewiß. Und wenigstens stehen die Bögen jetzt sicher. Wir

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würden sie liebend gern wieder an ihren ursprünglichen Ort verpflanzen, aber besser so, als wenn sie nur ein Haufen Schutt sind – oder bist du da anderer Meinung?«

»Verzeihung, Verzeihung!« flehte er scherzhaft. »Ich wußte nicht, daß ich dir damit auf die Zehen trete…«

»Ich habe ein paar Bücher und Broschüren, in denen das alles erklärt ist, die ganze Geschichte«, sagte sie. »Da kannst du es nachlesen – ich schenke sie dir. Ein ganz ordentliches Paket. Loggerhead’s Yard, richtig?«

»Nein, das muß wirklich nicht sein.« Er verzog das Gesicht und errötete richtiggehend. »Ich kann sie mir selbst kaufen.«

»Unsinn. Du kannst sie gern haben.« »Aber… aber sie gehören dir. Du hast dafür Geld

ausgegeben…« »Unsinn. Was ich brauchte, habe ich ihnen entnommen, jetzt

haben sie für mich keinen Wert mehr.« Als sie sah, wie er sich innerlich wand, freute sie sich insgeheim über ihre kleine Sabotage des modernen Kapitalismus, ihre bescheidene Übernahme des edlen benediktinischen Gemeineigentumsprinzips. »Außerdem kann ich an dir den Zynismus riechen, Mr. Magnus. Den würde ich dir wenn möglich gern austreiben.«

Er lachte unsicher und hob einen Ellbogen, um ihr seine schweißnassen Achselhöhlen zu zeigen.

»Bist du sicher, daß es kein Körpergeruch ist?« »Ganz sicher«, erklärte sie und bemerkte dabei, daß sich

endlich zwei ihrer Kollegen blicken ließen. »So, jetzt ist es, glaube ich, wirklich Zeit, daß ich mit der Arbeit anfange. War mir ein Vergnügen, dich kennenzulernen. Und Hadrian natürlich.«

Sie gab ihm die Hand und wuschelte dem Hund noch einmal die Mähne. Etwas perplex machte Magnus sich auf den Weg.

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Einige Sekunden später, als sie bereits weit weg war, rief er hinter ihr her:

»Viel Spaß beim Buddeln!«

In dieser Nacht schlief Siân ungewöhnlich rasch ein. Statt stundenlang zuzuschauen, wie der schmiedeeiserne Kamin und der hölzerne Kleiderständer im Mondschein nach und nach immer deutlicher hervortraten, schlummerte sie in tiefer Dunkelheit.

Ich schlafe, dachte sie im Schlaf. Wie göttlich. »O Fleisch von meinem Fleisch«, flüsterte ihr eine Stimme

ins Ohr. »Vergib mir…« Und die kalte, leicht schartige Klinge eines großen Messers schnitt in ihre Luftröhre. Mit einem Aufschrei schreckte sie hoch und war hellwach, doch vorher hatte schon das Fleisch ihrer Kehle aufgeklafft und einen Schwall Blut ergossen.

Aufrecht im Bett sitzend hielt sie sich den Hals, um das Leben fest darin einzuschließen. Die Haut war unverletzt, ein wenig feucht geschwitzt. Mit einem ärgerlichen Stöhnen ließ sie los.

Es war noch nicht einmal Morgen: es war stockdunkel, und die Möwen schwiegen – schliefen wohl noch, wo Möwen eben so schliefen. Siân äugte auf ihre Uhr, aber es war eine von der altmodischen Art (Digitaluhren konnte sie nicht leiden), und sie konnte nichts erkennen.

Zehn Minuten später war sie angekleidet und ausgehfertig. In einer Umhängetasche waren die Bücher und Hefte für Magnus verstaut: »Sankt Hilda und ihre Abtei in Whitby«, Geschichte von Whitby, der Pitkin Guide über »Leben im Kloster« und mehrere andere. Sie schob sich die Tasche hinter die Hüfte und zuckte versuchsweise die Achseln, um sicher zu sein, daß das Ding so blieb und nicht vorschwang und sie zu Fall brachte. Im

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Traum den Hals aufgeschlitzt zu bekommen war eine Sache, sich den Hals zu brechen, während man mitten in dunkler Nacht eine steile Treppe hinunterstieg, eine ganz andere.

Tatsächlich schaffte sie es ohne Schwierigkeiten und stand schon bald auf dem Kopfsteinpflaster der Gasse neben dem White Horse and Griffin in der kalten Brise. Die Stadt war so still, daß sie ihr eigenes Atmen hören konnte, und die Church Street war ohnehin für Durchgangsverkehr gesperrt, und dennoch trat sie ganz, ganz vorsichtig aus der Gasse heraus – das war ihr von dem Unfall in Bosnien geblieben. Selbst in einer Sackgasse in der Fußgängerzone einer Yorkshirer Kleinstadt um vier Uhr morgens konnte man nie wissen, wer gleich um die Ecke gerast kam. Im Dunkeln machte Whitby auf Siân einen fremdartigen Eindruck, weder modern noch mittelalterlich – die einzigen beiden Formen, in der sie es wahrzunehmen gewohnt war. In den Tagesstunden arbeitete sie entweder im Schatten der Klosterruine daran, dem alten Lehm die Überreste kleinwüchsiger Northumbrier zu entlocken, oder sie schlängelte sich durch die Massen von Einkaufenden und Touristen, dieses gemeine Pilgervolk mit Handys am Ohr und Namen von Popgruppen quer über der Brust. Jetzt, in der unbevölkerten Stille der Nacht, wirkte Whitby auf Siân eindeutig viktorianisch. Sie wußte nicht warum – die Häuser und Straßen waren größtenteils viel älter. Doch es lag nicht an den Bauten, es lag an der Atmosphäre. Das Leuchten der Straßenlaternen hätte beinahe Gaslicht sein können, die nächtlichen Gebäude mit ihren finsteren Eingängen hatten etwas unheimlich Drohendes, wie eine Kulisse für die nächste Verfilmung von Bram Stokers Dracula. Jede Gasse, wollte es Siân scheinen, konnte jeden Moment die verhüllte Gestalt des Grafen ausspeien oder eine schlafwandelnde junge Frau von unnatürlicher Blässe, das weiße Nachthemd blutbefleckt.

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Gothic. Das war die Vorstellung, die die meisten Leute heutzutage mit »gotisch« verbanden. Kein Gedanke an den ursprünglichen germanischen Stamm, auch nicht an die Stilepoche vor der Renaissance. Die Realitäten der Geschichte waren von Hollywoodvampiren und narzißtischen Rocksängern mit zuviel Mascara auf den Wimpern weggefegt worden. Und sie? Sie war selbst nicht weniger banausisch als die anderen, wie sie hier um vier Uhr morgens durch die Church Street ging und sich vorstellte, aus allen Ecken und Winkeln kämen viktorianeske Untote gekrochen. Selbst das Scherzartikelgeschäft Funtasia, das tagsüber Vampirgebisse und Furzkissen verkaufte, schien zu dieser unchristlichen Stunde ein richtig schauriger Ort zu sein, in dem Ratten und Irre ihr Unwesen treiben konnten.

Das Haus im Loggerhead’s Yard war leicht zu finden; bei ihrer Nachfrage im Hotel hatte sich ein halbes Dutzend Leute schier überschlagen vor Eifer, ihr den Weg zu beschreiben. Magnus’ Vater war stadtbekannt gewesen, und alle Einheimischen interessierten sich brennend für jeden Todesfall, mit dem wieder eine Immobilie in erstklassiger Lage frei wurde. Erst als Siân sich der Haustür näherte, kamen ihr Zweifel an dem Vorhaben, das sie hergeführt hatte. Eine Handlung, die bei Tag, wenn überall Menschen herumgingen, wie eine gänzlich unschuldige Besorgung ausgesehen hätte, erschien jetzt alles andere als unschuldig – die gruselige Stille und die schlecht beleuchteten, leeren Straßen gaben ihr den Anschein, nichts Gutes im Schilde zu führen. Sie hätte ein Dieb sein können, ein Fassadenkletterer, ein Vergewaltiger, der auf leisen Sohlen schlich, um die tugendsam schlafende Welt nicht zu wecken, und einen Schlitz in der Tür eines Fremden beäugte, durch den er einen verdächtigen Gegenstand zu schmuggeln gedachte. Und wenn jetzt plötzlich die Tür aufging und Magnus, nackt und warm dem Bett entstiegen, ihr

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Augen reibend entgegentrat? Oder was war mit dem Hund? Bestimmt würde er verrückt spielen, wenn er ihre Fummelgeräusche am Briefschlitz hörte! Siân machte sich auf das jähe, wilde Losbellen gefaßt, während sie die Bücher und Informationshefte eines nach dem anderen durch die dunkle Öffnung schob, doch sie fielen drinnen leise auf den Fußboden, und das war’s. Entweder Hadrian fühlte sich nicht bemüßigt, den Wachhund zu spielen, oder er schlief. Schlief vielleicht auf dem Bett seines Herrn. Zwei aneinandergeschmiegte athletische männliche Wesen, von verschiedener Art, aber beide verteufelt ansehnliche Erscheinungen.

Lieber Himmel, seufzte sie innerlich und wandte sich ab. Wann wirst du endlich erwachsen?

Sie eilte zum Hotel zurück, die Tasche leer und gewichtslos über der Schulter.

Siân hatte noch nie etwas für Wochenenden übrig gehabt. Wochenenden waren etwas für Leute mit Hobbys oder dem unbefriedigten Verlangen, sich bis Mittag in den Federn zu suhlen, aber sie arbeitete lieber. Ihr Wechsel von der Papierrestaurierung zur Archäologie war zur Hälfte dadurch motiviert, daß diese Tätigkeit sie zwang, zu einem festen Termin zu erscheinen und zu graben, komme, was wolle. Das war nicht leicht, vor allem bei schlechtem Wetter, aber es war besser, als den ganzen Tag mit Gedanken an die Vergangenheit zu vertun – an ihre eigene Vergangenheit, hieß das.

Sankt Benedikt hatte richtig gelegen mit seiner Idee einer Gemeinschaft von Klosterbrüdern oder -schwestern, die eine strenge rituelle Siebentagewoche einhalten und sich zum Gottesdienst aufstehen helfen, indem sie (wie er es ausdrückte) »sich gegenseitig behutsam ermuntern, damit die Schläfrigen keine Ausrede haben«. Mit denen war Siân bestens vertraut.

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Um nicht in Trübsal zu verfallen, spazierte sie an den meisten Wochenenden ziellos durch Whitby, über die Klappbrücke und wieder zurück, von Mole zu Mole, von Steilufer zu Steilufer. Sie machte das, bis sie sich müde gelaufen hatte, und dann legte sie sich im Mary-Ann-Hepworth-Zimmer mit einem Buch im Schoß aufs Bett, wobei sie hin und wieder schaute, wie draußen die Dächer die Farbe veränderten, bis es an der Zeit war, schlafen zu gehen und sich in das Unvermeidliche zu schicken.

In dieser Woche verging der Samstag schneller als sonst. Ihr frühmorgendlicher Ausflug zum Haus im Loggerhead’s Yard war in seiner Heimlichkeit ziemlich aufregend gewesen, und danach sank sie in einen langen, gnädigerweise traumlosen Schlummer. Sie wachte ganz ausgeruht auf und hatte nur noch drei Viertel des Wochenendes herumzubringen.

Während sie am Nachmittag in The Whitby Mission and Seafarer’s Centre einen Happen zu Mittag aß, blies ein Windstoß die vergilbenden Zettel auf, die an dem türnahen Anschlagbrett steckten. »Bei uns muß Fido nicht in der Kälte stehen«, war auf einem flatternden Blatt zu lesen. »Wir haben eine eigene Gaststube, wo Hunde immer gern gesehen sind.«Siân ließ die Überreste ihrer Backkartoffel auf dem Teller ausdampfen und stand auf, um einen Blick in die Stube gegenüber zu werfen. Ihre Nase stieß durch einen Schleier von Zigarettenrauch. Fremde Hunde mit fremden Besitzern blickten zu dem neuen Gast auf.

Beim Hinausgehen aus der Mission blieb Siân an dem Regal stehen, wo Bücher für 50 Pence das Stück im Angebot waren, und stöberte durch die Thriller, Liebesromane und Anthologien regionaler Literatenzirkel. Es gab auch ein Neues Testament in einer billigen Sonderausgabe. Was für ein Abstieg seit der Zeit, als eine Bibel noch ein einzigartiges Besitztum von unschätzbarem Wert war, geschrieben auf Pergament von einer

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ganzen Herde Schafe! Siân schloß die Augen und stellte sich ein Skriptorium mit sonnigen Fensterflecken und langen Reihen von Schreibpulten und tonsurierten Köpfen vor, wo in der vollkommenen Stille nur das leise Kratzen der Federkiele zu hören war.

»Und jetzt ein Sprung in die graue Vorzeit!« plärrte der Ansager im Radio. »Alle mal Hände hoch, wer zu diesem Hit die Keulen geschwungen hat, als Culture Club damit in den Charts waren – los, Leute, bekennet!«

Siân ergriff die Flucht. Früh am Sonntagmorgen, nicht lange nachdem sie die Kehle

aufgeschlitzt bekommen hatte, war Siân schon wieder unterwegs. Ob ihre hastig gewaschenen Haare noch dampften oder nicht, sie hatte keine Lust, sie zu fönen, und außerdem mußte sie jetzt los – genau zur selben Zeit, zu der sie am Freitag zur Arbeit gegangen war. Wenn Magnus und Hadrian Gewohnheitstiere waren, mußten sie jeden Moment hinter ihr hergerannt kommen.

Sie ging langsam die Church Street entlang, von der Hotelfront zum Fuß der hundertneunundneunzig Stufen und wieder zurück – zweimal –, aber das zufällige Zusammentreffen blieb aus.

Gepeinigt von dem Gedanken, der Mann und sein Hund könnten hoch oben auf dem East Cliff durch das wilde Gras zu beiden Seiten des Klosterwalls laufen, quälte sie sich den Caedmonsteig hinauf, bis sie das Eselsfeld sehen konnte. Auch hier blieb das zufällige Zusammentreffen aus, wenigstens mit Magnus und Hadrian. Statt dessen begegnete sie einem gelangweilt dreinblickenden Jungen und seinem einigermaßen erledigten Vater, die gerade von einem offensichtlich nicht sehr erhebenden Besuch der Abtei zurückkehrten.

»Eine andere echt interessante Sache an Klöstern ist auch«, sagte der Vater in einem letzten kläglichen Versuch, die

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Neugier des Jungen zu wecken, »daß sie Mördern Asyl gewährten.«

Siân sah einen Funken Interesse in den Augen des Jungen aufflackern, als sie sich auf dem schmalen Mönchspfad an ihm vorbeiquetschte.

»Gibt’s in Whitby ‘n McDonald’s«, fragte er seinen Vater, »oder bloß Fish and Chips?«

Es wurde Montagnachmittag, bis Siân Magnus wiedersah. Am Morgen trödelte sie vor der Arbeit im Stadtzentrum herum, unsicher und gereizt. Ihr Alptraum saß ihr noch in den Knochen, und ihr tat die Kehle weh, weil sie sich in einem unbeholfenen Versuch, das Messer abzuwehren, selbst geschlagen hatte. Der Höcker in ihrem Schenkel pochte mörderisch.

Auf dem verlassenen Marktplatz der Stadt hatte jemand eine aktuelle Ausgabe der Whitby Gazette auf einer Bank liegengelassen. Da sie vor acht noch eine halbe Stunde totzuschlagen hatte, setzte Siân sich hin und las. Aber aus irgendeinem Grund kam ihr jeder einzelne Artikel in der Gazette unendlich deprimierend vor. Nicht nur die traurigen Meldungen im Lokalteil wie die von dem allseits beliebten Hauswart, der an Krebs gestorben war (»Er klagte nie über seine Krankheit und war immer gut gelaunt«, gab ein Kollege an – offenbar einer vom selben Schlag wie Sankt Hilda). Nein, selbst die Berichte über einen Urlauber, der vom Blitz getroffen worden war und überlebt hatte, oder über ein Schneckenwettessen zu wohltätigen Zwecken oder die längst überfällige Erneuerung der Brücke von Egton Bridge brachten Siân nach und nach an den Rand irrationaler Tränen. Sie blätterte schneller durch den Immobilienteil, bis ihr auf der letzten Seite die Anzeige einer Schönheitsklinik auf dem West

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Cliff ins Auge fiel. »Sonnendom mit Gesichts- und Beinbräuner«, stand da, und Siân war es, als hätte sie seit dem Prediger Salomo nicht mehr etwas derart Herzbeklemmendes gelesen.

Reiß dich zusammen! ermahnte sie sich und legte die Zeitung weg. Sie bemerkte, daß sich jemand zu ihr auf die Bank gesetzt hatte: eine dicke, stachelhaarige Punkerin, ein ungewöhnlicher Anblick in Whitby, fast so ungewöhnlich wie ein Mönch. Siân glotzte ein paar Sekunden zu lang auf die Masse silberner Piercings in Augenbraue, Nase und Ohren des Mädchens und fing sich dafür einen finsteren Warnblick ein. Schuldbewußt schlug sie die Augen nieder. Zu Füßen der Punkerin saß ein Hund, vielleicht um dem Mädchen betteln zu helfen. Abgesehen von dem Anarcho-A, mit schwarzem Filzstift auf seine weizengelbe Flanke geschmiert, war es ein ganz normal aussehender Hund, ein Labrador möglicherweise – nicht annähernd so schön wie Hadrian.

Ach was: mit Hadrian konnte sich sowieso kein Hund vergleichen.

Als Siân um zehn vor acht die hundertneunundneunzig Stufen emporzusteigen begann und einen kurzen Blick über den Hafen warf, erblickte sie auf der anderen Seite plötzlich Hadrian und Magnus, zwei winzige Gestalten im Laufschritt auf der Marine Parade. Ihre Trübsal schlug augenblicklich in Empörung um. Warum liefen die beiden dort drüben statt hier auf ihrer Seite? Doch nur, um ihr nicht zu begegnen! Undenkbar, daß jemand dem Gestank nach rohem Fisch und der tristen Zeile von Spielsalons und Pubs am Kai den Vorzug gab vor dem Ortsteil am Fuß der Kirchtreppe…

Ihr jäher, heftiger Impuls, auf und ab zu hüpfen und Mack zu winken, obwohl dieser sie unmöglich bemerken konnte, beunruhigte sie – offensichtlich hatte es sie stärker erwischt als

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gedacht. Sie sollte auf der Stelle anfangen, sich seelisch wieder ins Lot zu bringen, bevor es zu spät war.

Ich bin hier, machte sie sich klar, um zu arbeiten. Ich bin nicht hier, um mich zerreißen zu lassen. Ich bin nicht hier, um mich wie Dreck behandeln zu lassen.

Sie dachte sich ihre Gefühle verkörpert in Gestalt einer hysterischen Novizin und ihre Vernunft als die weise undgütige Äbtissin, die zur Selbstzucht riet. Sie stellte sich eine von Sankt Hildas kahlen Gebetszellen im goldgelben Licht der Sonnenstrahlen vor, das erlösende Verebben der inneren Wirrsal, eine Seele im Frieden mit sich und der Welt.

Als Siân zur Gräberstätte kam, war Pru bereits dabei, die blauen Abdeckplanen abzunehmen und die feuchte Erde freizulegen. Zu den Rändern der Ausgrabung hin war der Lehm etwas matschiger, als für ihren Geschmack nötig gewesen wäre, da er außer der rituellen Abspritzung mit dem Schlauch, die am Freitagnachmittag immer als letztes dran war, am Wochenende noch etwas Regen abbekommen hatte. Siân war froh, daß ihr kleines Rechteck eher in der Mitte der etwa tausend Quadratmeter lag. Gut, Sankt Hilda hätte vielleicht ihren Wunsch nicht gutgeheißen, auf Kosten der anderen Buddler trockene Knie zu behalten, aber die Stützbandage unter ihrer Strumpfhose leierte mit jedem Waschen ein wenig mehr aus, und daher achtete sie lieber darauf, daß das Ding sauber blieb, wenn’s recht war.

»Gut geschlafen?« erkundigte sich Pru, während sie die nächste Plane aufrollte und dabei just das Siân zugeteilte flache Grab aufdeckte.

»Nicht so richtig«, antwortete Siân. »Laß mich raten – du hast noch bis spät in die Nacht diesen

Film mit dem Einbruch geguckt, der schiefgeht. Den mit… na, wie heißt sie noch mal?« Fakten abrufen war nicht Prus Stärke. »Du weißt schon, die in letzter Zeit so zugenommen hat.«

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»Bedaure, ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte Siân. Jeff traf als nächster ein, ein hutzliger alter Hippie, der jede

bedeutende Ausgrabung in Großbritannien seit dem Krieg mitgemacht zu haben schien. Sodann Keira und Trevor, ein Archäologenehepaar, das anderntags die Erdschäufelchen und Hacken weglegen und in die wärmeren und besser bezahlten Gefilde einer National-Geographic-Grabung im Nahen Osten entfliehen würde. Wer sollte sie ersetzen? Sehr nette Leute, wenn man Nina, der Leiterin, glauben durfte. Kamen eigens aus Nordwales angereist.

Um zehn nach waren alle am Platz und bei der Arbeit, über die aufgeteilte Fläche verstreut wie mittelalterliche Kartoffelklauber. Vierzehn lebende Körper scharrten im Bodennach den vagen Überresten toter, spähten nach feinen Farbabstufungen in der Erde, die das einstige Vorhandensein eines Sarges oder eines menschlichen Beckens anzeigen konnten, pulten bleiche Teilchen ans Licht, die möglicherweise, so es Gott gefiel, Zähne waren.

Die bis dahin exhumierten Skelette hatten alle mit dem Gesicht nach Osten gelegen, in der Richtung von Jerusalem, um die zügige Abwicklung des Jüngsten Gerichts zu erleichtern. Wenn in vier Jahren die Arbeit abgeschlossen war und die Gebeine unter Mitwirkung eines Minibaggers und eines segenspendenden Pfarrers wieder beigesetzt waren, mußten sie sich die Richtung selbst austüfteln.

Eines der Mädchen war heute offenbar schlechtgelaunt, denn sie hatte die Mundwinkel clownsartig heruntergezogen und vermied den Blickkontakt mit dem neben ihr arbeitenden jungen Mann. Gestern hatten die beiden sich noch heimlich zugelächelt und zugezwinkert und sich leise miteinander beratschlagt. Heute taten sie angestrengt so, als knieten sie nicht Seite an Seite; zentimeterweit auseinander, sahen sie doch nicht sich, sondern immer wieder Nina mit

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erwartungsvollen Blicken an, als hofften sie, daß diese ihnen andere, weiter entfernte Plätze zuwies. Ein lehrreicher Anblick, dachte Siân. Ein lebendes Gleichnis (wie Sankt Hilda vielleicht gesagt hätte) für die Unbeständigkeit der menschlichen Liebe.

»Ich glaube, ich habe etwas gefunden«, sagte jemand mehrere Stunden später und hielt einen verkrusteten Haken hoch, von dem es sein konnte, daß er sich bei der Röntgenuntersuchung als ein Sargnagel herausstellte.

Als Siân um halb fünf aufbrach und am Friedhof von Saint Mary vorbei auf die Kirchtreppe zuging, sah sie Hadrians Kopf über die oberste der hundertneunundneunzig Stufen lugen.

»Baff!« bellte er zur Begrüßung. »Baff, baff!« Siân zögerte, dann winkte sie. Magnus war nirgends zu

sehen. Hadrian rannte auf sie zu, wobei er noch kurz die Kirchmauer

erklimmen und den Fuß des Caedmonkreuzes beschnüffeln mußte. Dann entschied er sich doch, nicht auf Englands ältesten angelsächsischen Dichter zu pissen, sprang auf den Weg zurück und feierte ausgelassen Wiedersehen mit Siân.

Als Magnus schließlich zu ihnen stieß, hockte sie auf einem Knie, die Hände tief in der Mähne des Hundes vergraben, und Hadrian tollte herum und versuchte, ihr das Gesicht abzuschlecken.

»Der Überschwang der Begeisterung«, entschuldigte sie sich, aber eigentlich freute sie sich zu sehr über die stürmische Zuneigung des Hundes, um sich daran zu stören, was für ein närrisches Bild sie vermutlich bot.

Mack hatte an dem Nachmittag nicht seine Laufsachen an, sein durchtrainierter Körper steckte vielmehr in einem Button-down-Hemd, Chinos und einem teuren Jackett im Velourslook. Er trug einen großen Plastikbeutel, doch abgesehen davon, sah er aus wie ein junger Arzt, der in einer Londoner Brasserie an seinen Pieper gegangen und zu einem Hausbesuch überredet

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worden war. Siân fand sich nur schwer damit ab, daß er so aussehen konnte; in ihrer Vorstellung (ging ihr jetzt auf) hatte er immerzu in kurzen Hosen und T-Shirt seine endlosen Runden durch Whitby gedreht. Einigermaßen enthemmt von den Ausschweifungen, denen sie sich mit Hadrian hingab, lachte sie bei dem Gedanken auf. Als sie die Augen niederschlug, damit Mack nicht meinte, sie lache über ihn, fiel ihr Blick auf seine schwarzen Lederschuhe, riesengroß und unglaublich blank geputzt. Sie kicherte noch mehr. Ihre groben Arbeitsschuhe waren schlammverkrustet, und ihr schludriger langer Rock hatte Schmutzflecken an den Knien.

»Du solltest lieber nicht so freundlich zu Hadrian sein«, bemerkte Mack. »Sonst haut er noch mit einem von deinen kostbaren alten Knochen ab.«

Das war so ein schwacher Witz, daß Siân sich nicht genötigt sah, darauf einzugehen. Sie rappelte sich auf, und da sie seinen Blick auf ihrem schlampigen Äußeren zu fühlen meinte, fing sie sich rasch.

»Hast du mal in die Bücher und Broschüren geschaut?« fragte sie.

Er schnaubte. »Du hörst dich an wie eine Zeugin Jehovas beim zweiten Besuch.«

»Macht nichts. Hast du reingeschaut?« Sei streng mit ihm, dachte sie.

»Na klar«, grinste er. »Und?« »Sehr interessant«, sagte er und beobachtete sie dabei, wie sie

ihr formloses Windhemd glattzupfte. »Jedenfalls interessanter als meine Wissenschaft.«

Während sie sich gemeinsam auf den Weg hinunter in die Stadt machten, durchkämmte Siân ihr Gedächtnis nach dem Thema seiner Arbeit. Es dauerte gute fünfzehn Sekunden, bis

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ihr klar wurde, daß sie ihn überhaupt nicht danach gefragt hatte.

Sie kamen zu der Bank auf dem Rastplatz, kurz bevor es die hundertneunundneunzig Stufen hinunterging, und er gab mit einer Handbewegung zu verstehen, daß sie sich setzen sollten. Als das geschehen war, schmiegte Hadrian sich an Siâns Rock, und Mack stellte den Plastikbeutel vorsichtig zwischen seine blitzblanken Schuhe auf den Boden. Nach den vorstehenden spitzen Ecken zu urteilen, enthielt der Beutel eine große Pappschachtel.

»Da ist nicht deine Arbeit drin, oder?« erkundigte sie sich. »Nein«, antwortete er. »Sondern?« »Eine Überraschung.« Michael, einer von Siâns Kollegen bei der Grabung, kam an

der Bank vorbei, auf der sie saßen. Er nickte zum Gruß, als er die Treppe hinunterstieg, und schaute ein wenig verlegen, weil er nicht wußte, ob er sich mit Siâns neuem Freund bekannt machen sollte oder ob er lieber so tat, als hätte er sie nicht im persönlichen Gespräch unterbrochen. Es war eine krampfige kleine Begegnung, nicht länger als zwei, drei Sekunden, und doch stellte Siân beschämt fest, daß sie dabei eine heimliche Erregung verspürte. Wie angenehm, für eine Frau gehalten zu werden, die mit einem Mann auf vertrautem Fuß stand! Ach, wenn doch die ganze Welt in einem geordneten Zug an dieser Bank vorbeimarschieren und alle den leibhaftigen Beweis dafür erblicken würden, daß sie nicht einsam war!

Liebe Güte, reiß dich zusammen! schalt sie sich. »Meine Arbeit«, sagte Mack mit leichtem Feixen,

»beschäftigt sich mit der Frage, ob Psittakose von Menschen auf Menschen übertragbar ist.« Sein ironisches Feixen wuchs sich zu einem breiten Grinsen aus, als sie ihn verständnislos anstarrte. Siân wußte im ersten Moment nicht, ob er es darauf

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anlegte, daß sie nachfragte, doch dem war löblicherweise nicht so. »Psittakose«, erläuterte er, »wird im Volksmund Papageienkrankheit genannt – falls Volksmund bei einer so seltenen Krankheit das richtige Wort ist. Es ist ein Virus, und man fängt ihn sich ein, indem man den zerstäubten… äh… Kot von Käfigvögeln einatmet. Bei Menschen äußert sie sich als eine spezielle Lungenentzündung mit hoher Resistenz gegen Antibiotika. Sie verlief früher tödlich, aber das ist lange her.«

Siân fragte sich, wie weit etwas zurückliegen mußte, um seiner Ansicht nach »lange her« zu sein. Was sie anbelangte, so hatte sie sich nach der Lektüre der Arbeitsschutzbestimmungen für archäologische Ausgrabungen davon überzeugen müssen, daß sie keine Angst davor hatte, Milzbrand oder die Pest zu bekommen.

»Und wie ist das Ergebnis?« fragte sie. »Ist die Krankheit nun von Menschen auf Menschen übertragbar?«

»Früher lautete die Antwort: ›Vielleicht.‹ Mein Ziel ist es, daraus ein definitives ›Nein‹ zu machen.«

»Hmm«, sagte Siân. Von dem kurzen Sitzen war sie auf einmal ganz erschlagen, und ihr linkes Bein schmerzte und fühlte sich geschwollen an. »Na, ich bin sicher, das wird einige Leute beruhigen.« Es klang herablassend, und sie hatte das ungute Gefühl, gemein zu sein. »Nein, im Ernst. Bei Krankheiten ist es immer besser, man weiß Bescheid, nicht?« Eine dämliche Bemerkung, und dabei fiel ihr der Höcker in ihrem Schenkel ein, den sie so konsequent ignorierte. Gereizt rieb sie sich das Gesicht. »Entschuldige, ich bin müde.«

»Ist wohl anstrengend, den ganzen Tag Leichen auszugraben?«

»Nein, ich habe letzte Nacht einfach nicht gut geschlafen.« Wieder fand er ihre Anerkennung, indem er nicht nachbohrte.

Statt dessen fragte er: »Wo bewahrt ihr die eigentlich alle auf? Die ganzen Skelette, meine ich. Sechzig sollen es sein, habe

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ich irgendwo gelesen.« Er deutete mit dem Kopf auf den East-Cliff-Parkplatz. »Genug, um einen Reisebus vollzukriegen.«

Siân kicherte bei der Vorstellung einer großen Schar von Skeletten, die beim Aufbruch zu ihrer langen Heimreise noch einen letzten Blick durch beschlagene Busfenster auf Whitby warfen.

»Wir haben nur wenige vollständige Skelette gefunden«, sagte sie. »Meistens finden wir halb erhaltene Skelette oder diverse Einzelteile. Die Wirkung von Lehm auf Knochen ist nicht so schonend, wie viele denken; im Gegenteil, sie würden sich so ziemlich überall anders länger halten. In der Erde zerbröckeln sie, werden mürbe, lösen sich auf. Manchmal entdecken wir bloß eine Verfärbung im Lehm. Einen verräterischen Schatten. Deshalb müssen wir so behutsam vorgehen, und so langsam.«

»Und diese Leute, die ihr ausgegraben habt – wer waren sie?«

Ein einzelnes Wort, Angeln, kam Siân in den Sinn, und Schuldbewußtsein durchzuckte sie, bedrückte sie. Wie grausam die Geschichte doch war, daß sie die ganz und gar unabhängigen Leben von sechzig menschlichen Individuen – sechzig Seelen, die im Leben auf ihre Einzigartigkeit gepocht und sich ihrer Meinung nach den Stolz ihrer Eltern, die Dankbarkeit ihrer Kinder und die Treue ihrer Genossen redlich verdient hatten – als Rohstoff nahm, sie alle dem Erdreich untermengte und auf ein einziges archaisches Wort reduzierte.

»Sie waren wahrscheinlich… Angeln«, seufzte sie. »Sicher können wir das erst sagen, wenn wir sie mit der C14-Methode datiert haben. Jedenfalls haben sie nach den Römern und vor der normannischen Eroberung gelebt.«

»Gibt’s Schätze?« »Schätze?«

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»Gold, kostbare Edelsteine… Armbänder und Schwerter, die sich für die English-Heritage-Broschüren auf Hochglanz polieren lassen…«

Siân war entschlossen, sich von seinem Ton nicht provozieren zu lassen. Sei streng mit ihm! redete sie sich zu. Streng, aber würdevoll.

»Diese Leute waren frühe Christen«, erinnerte sie ihn. »Sie hielten nichts davon, etwas mitzunehmen, wenn sie starben. Wie es heißt: ›Nackt bin ich aus meiner Mutter Schoß gekommen, und nackt – ‹«

»Ha!« trumpfte er auf und erhob einen steifen Zeigefinger ineiner theatralischen Geste der Überlegenheit. »Ich hab’ mich mittlerweile in die Materie eingelesen, vergiß das nicht! Was ist mit dem ganzen Glitzerkram, den sie in den zwanziger Jahren ausgebuddelt haben, hm? Broschen, Ringe und was weiß ich? Sankt Hildas Nonnen haben darin geschwommen, nicht wahr? «

Siân vermied demonstrativ, ihn anzublicken, als sie sich bückte und Hadrian zärtlich streichelte. Sie sprach direkt in das haarige, zutrauliche Gesicht des Hundes, als ob sie beschlossen hätte, daß es wesentlich mehr Sinn hatte, mit Hadrian zu reden als mit seinem Herrn. »Die Leute heutzutage möchten zu gern glauben, daß die Nonnen durch und durch verdorben waren«, erklärte sie ihm leise. »Hast du das gewußt, Hadrian?« Sie zauste seine Ohren und nickte mit Nachdruck, als ob ein unschuldiges Hundetier den schamlosen Zynismus der Menschen vermutlich nicht zu fassen vermochte. »Da können die Leute die Nase hoch tragen, weißt du? Es gibt ihnen ein gutes Gefühl, wenn sie sich vorstellen, daß diese religiösen Idealisten ihr Armutsgelübde gebrochen haben und in prächtigen Kleidern und reichgeschmückt herumstolziert sind.«

»Stimmt das etwa nicht?«

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Siân richtete ihre Aufmerksamkeit auf Magnus und sah ihm direkt in die Augen, doch ihre Hände streichelten weiter. »In dubio pro reo, würde ich sagen.

Klöster waren nicht nur für geistliche Orden da, nicht wahr, sie waren Orte des Gebets und der Abgeschiedenheit für… na, im Grunde für jedermann. Alle möglichen reichen Leute gingen irgendwann ins Kloster: unverheiratete Prinzessinnen, verwitwete Königinnen… Sie zogen sich dorthin zurück, mit Dienerschaft und allem, was dazugehörte. Ich stelle mir lieber vor, daß es diese mächtigen Edelfrauen waren, die die Ringe und Broschen und Schnallen und so weiter hinterließen.«

»Das stellst du dir lieber vor«, stichelte er. »Ja, das stelle ich mir lieber vor«, sagte sie und konnte dabei

ein scharfes ärgerliches Zischen kaum unterdrücken. »Wenn man sowieso nichts beweisen kann, warum dann zynisch sein? Warum nicht das Beste von den Menschen annehmen?«

Seine Augen funkelten schelmisch. »Das ist doch genau, was ich will!« versicherte er mit

gespielter Unschuld. »Diese alten Nonnen machen den Eindruck, als hätten sie ein ziemlich trostloses Leben geführt. Ich möchte ihnen auch mal ein bißchen was Gutes gönnen.«

Siân hielt sich die Ruine aus dem 12. Jahrhundert vor, die sie so gut kannte, und versuchte, vor ihrem inneren Auge das Original aus dem 7. Jahrhundert zu rekonstruieren, das die Wikinger zerstört hatten.

»Komisch, was man heute unter dem Guten versteht…«, sagte sie versonnen. »Und was man früher darunter verstand…«

»Damals im Mittelalter, als du eine Nonne warst?« zog er sie auf. Als er spürte, daß er zu weit gegangen war, nahm er den Plastikbeutel hoch und holte vorsichtig die Pappschachtel heraus.

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»Na, egal, ich wollte dir etwas zeigen. Etwas, das du bestimmt besser zu würdigen weißt als sonstjemand, wo du doch eine… was warst du noch mal? Eine Restauriererin?«

»Restauratorin«, sagte sie, wider Willen gefesselt, als Mack jetzt die Schachtel aufmachte und darin, in einem Nest aus zerknülltem Toilettenpapier, eine Flasche ohne Etikett zum Vorschein kam, das Glas verfärbt und trübe, offensichtlich sehr alt. Statt des geistigen Getränks von einst enthielt die Flasche eine Kerze – nein, keine Kerze, irgendwelche fest zusammengerollten Papiere. Ein Wasserschaden, augenscheinlich gefolgt von unkundiger Trocknung, hatte die Schichten der Rolle zu einem runzligen Zylinder verschmolzen. Auf der äußersten Schicht stand ein handgeschriebener Text, und die wenigen Großbuchstaben, die Siân beim flüchtigen Hinschauen erkennen konnte, waren unverkennbar 19. wenn nicht gar 18. Jahrhundert.

Haben, haben, haben, dachte sie. Mack hielt ihr die Flasche dicht vors Gesicht und drehte sie

langsam, so daß der Text auf dem Papierzylinder sich langsam entrollte wie der Anfang einer Webseite im ältesten Datensichtgerät der Welt.

»Schau«, sagte er. »Man kann es noch lesen.« Beichte von Thos. Peirson, im Jahre Unsres Herrn 1788 Im vollen und sichern Wissen daß mein Ende nahe ist, denn

mein Gutes Weib hat so eben Nur soviel war von dem Text zu sehen, bevor die Rolle ihn

verschluckte. »Wo hast du die gefunden?« Zu spät hörte sie das Zittern der

Erregung in ihrer Stimme, und er – verdammt! – hatte es auch gemerkt und grinste.

»Ich nicht, mein Vater hat sie gefunden. Sie kam in den Fundamenten von Tin Ghaut zum Vorschein, als die

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Stadtplaner die Ecke 1959 abreißen ließen. Er nahm sie mit nach Hause, bevor die Bulldozer zurückkamen.«

Siân beobachtete, wie er die Flasche in ihr Nest aus Toilettenpapier zurücklegte. Sie atmete tief durch und gab ihrer Stimme, hoffte sie, einen ruhigen, sachlichen Ton.

»Diese Schriftrolle – die ließe sich sicher entrollen. Wir könnten herausfinden, was dieser Mann zu beichten hatte.«

»Das glaube ich nicht«, widersprach Mack und strich bedauernd über das Glas. »Ich hab schon versucht, die Papiere rauszubekommen. Sogar mit einer Pinzette. Aber das Papier ist hart geworden, und es ist breiter als der Flaschenhals. Natürlich könnte ich sie einfach zerbrechen, andererseits ist das Glas die ganze Zeit nicht zerbrochen, nicht einmal, als sie von diesen mordsmäßig großen Erdräummaschinen ausgegraben wurde. Mein Vater hielt das für ein Wunder, und es ist wirklich cool, das muß ich zugeben. Sie jetzt kaputtzuschlagen wäre… ich weiß nicht… irgendwie nicht richtig.«

So sehr dieser schwache Schimmer eines sittlichen Empfindens, wenn es um die Erhaltung alter Dinge ging, Siân rührte, so wenig Geduld hatte sie mit seiner Unwissenheit.

»Wir haben Werkzeuge, mit denen wir die Flasche aufschneiden können, ohne daß sie in Scherben geht«, sagte sie. »Wir könnten die Flasche öffnen, die Papiere herausholen, sie behutsam trennen, sie lesen…«

»Wer ist ›wir‹?« unterbrach er sie sanft. »Du und ich?« Siân lächelte. Sie durfte keine falschen Töne anschlagen. Der

Gedanke, er könnte den Deckel seines Schatzkästleins zuklappen und diese Schriftrolle wieder aus ihrem Leben entfernen, kam sie hart an. Gib sie mir, gib sie mir, gib sie mir! dachte sie.

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»Ich kenne jemanden an der University of Northumbria, der das mit der Flasche für mich machen könnte«, sagte sie. »Das mit den Papieren könnte ich selbst machen, hier am Ort.«

»Mm.« Es klang unverbindlich. Hadrian war unruhig geworden und hatte sich getrollt, beleidigt, daß die Menschen vom Streicheln wie auch vom Laufen abgekommen waren. Er war jetzt wieder auf dem Friedhof von Saint Mary und betrachtete die im Stall stehenden Basreliefpferde am Fuß des Caedmonkreuzes – Pferde, die wunderlicherweise wie Spielzeughunde in einem Zwinger aussahen.

»Und…?« fragte Siân. »Was meinst du? Darf ich?« Mack griff in die Schachtel und präsentierte den Schatz

abermals. »Bist du sicher, daß du am Schluß alles wieder

zusammenkriegst? So wie es jetzt ist?« Er hielt die Flasche mit fester und doch sehr zärtlicher Hand. Du wirst mal ein guter Arzt, dachte Siân.

»Aber ja«, erwiderte sie. »Eine dünne Naht im Glas, mehr wird nicht zu sehen sein. Und wir machen sie an einer Stelle, wo kaum jemand hinschauen wird.«

Er zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. »So machen wir das, ja?«

Aber, gottlob, er händigte sie ihr aus. Eben noch hatte er sie in der Hand, im nächsten Moment lag sie in ihrer. Fleischstreifte an Fleisch bei der Übergabe.

»Du kannst mir vertrauen«, sagte sie, und ein Schauder durchfuhr sie vom Handgelenk bis zur Sohle wie ein Erdung suchender unschädlicher elektrischer Strom.

Es wurde an dem Abend sehr spät, bevor sie anfangen konnte. Neville, ihr Freund an der University of Northumbria, der die Flasche aufschneiden konnte, war nicht gleich verfügbar, weil

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er erst noch seine letzte Vorlesung beenden mußte, und dann kam er damit an, daß seine Frau ihn zu Hause wegen irgend etwas erwartete. Siân zwang ihn, die Frau auf dem Handy anzurufen und ihr mitzuteilen, er habe noch rasch etwas zu erledigen. Sie schmeichelte ihm, wie gut er mit dem Laser umgehen könne.

»Ehrlich, Siân, kann das nicht bis morgen warten?« klagte Neville, als er mit ihr in sein Allerheiligstes ging und die gerade erst ausgeknipsten Lichter wieder anknipste.

»Dieses Ding wartet seit 1788 auf mich«, erwiderte sie. Stunden später, allein in ihrem Mary-Ann-Hepworth-

Zimmer, zog Siân sich Handschuhe an und wog die Papierrolle liebevoll in der Hand. Sie war leicht, wie Siân es nach dem Feuchtigkeitsverlust erwartet hatte, aber auch weitaus brüchiger als erhofft. Falls sie die Vorstellung gehabt hatte, die Blätter einfach zu entrollen und glattzustreichen, konnte sie sich die abschminken. Sie mußte langsam, methodisch, akribisch vorgehen – wie immer, wenn es galt, etwas vor dem Zahn der Zeit zu retten. Geschenkt bekam man nie etwas.

Das Papier war offensichtlich tüchtig mit Gelatine geleimt worden, und zwar mit einer satten Gelatine, die in hohem Maß tierische Häute, Hufe und Knochen enthielt. Es mußte zu seiner Zeit ein schönes glattes, glänzendes Papier gewesen sein – doch durch Wassereinwirkung war die Gelatine zum Klebstoff geworden. Und beim Trocknen war dann das völligdurchweichte Papier zu etwas Ähnlichem wie Papiermache erstarrt. Sie stupste es sacht mit einer Spezialpinzette an, und es reagierte mit der Geschmeidigkeit eines Stücks Treibholz.

Trotzdem, sie sollte sich glücklich preisen: dieses kostbare Stück hatte überlebt, dabei hätte es durchaus gänzlich zerfallen können. Aber warum gelang es immer nur mit großen Abstrichen, etwas aus der fernen Vergangenheit in die Gegenwart zu holen? Warum konnten die Dinge nicht frisch

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und unversehrt dem Altertum entspringen? Warum mußten alle Urkunden fleckig und brüchig sein, alle Vasen zerbrochen, alle Skelette unvollständig, alle Armbänder verrostet, alle Statuen mutwillig beschädigt? Warum waren nur kleine Fitzel von Sapphos Gedichten erhalten – warum nicht alle, oder gar keine?

Sie kaute auf den Fingernägeln und wußte dabei genau, daß ihre Gereiztheit im Grunde nur Nervosität war: gespannte Erwartung, was sie ans Licht bringen mochte, Furcht, sie könnte die Sache verpatzen. Sie warf sich ihre Jacke über, ging zur Tankstelle in der Nähe des Bahnhofs und kaufte sich vier verschiedene Schokoriegel. Bis sie wieder im Hotelzimmer war, hatte sie bereits drei verzehrt, und in ihren Taschen knisterten die Papierchen. Sie blieb in der Tür ihres Schlafzimmers stehen und nahm einen langen Schluck des kostenlosen Mineralwassers. Hellwach und mit einem leicht verkorksten Magen legte sie sich dann die Werkzeuge und Hilfsmittel für ihre Operation zurecht.

Gegen drei Uhr morgens konnte sie sich endlich daran machen, Thomas Peirsons Beichte in das Licht des 21 Jahrhunderts zu fieseln. Stundenlang hatte sie die Rolle befeuchtet, sie sachte auf einem Metallgitter über einer Entwicklerschale mit warmem Wasser hin- und hergerollt und dann in einer Fruchtblase aus grellblauem Plastik wieder verschlossen. Das Papier hatte schließlich genug Dampf absorbiert, um ein wenig nachzugeben, und die Gelatine verlor allmählich ihre Bindekraft. Jetzt begann Siân mit einem Palettenmesser, das äußerste Blatt von den anderen abzuschälen.

Beichte von Thos. Pearson, im Jahre Unsres Herrn 1788 Im vollen und sichern Wissen daß mein Ende Nähe ist, denn mein

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Gutes Weib hat so eben die Tür hinter Dr. Cubitt geschlossen u. weint unten im Zimmer, schreibe ich diese Worte.

Das Papier war außergewöhnlich mürbe; die Lumpen, aus denen es hergestellt worden war, mußten in der Tat lumpiges Zeug gewesen sein, und schlecht zerstampft. Die braune Tinte, mit der Thomas Peirson geschrieben hatte, hob sich leidlich von einem Untergrund ab, der nicht sehr vergilbt war, doch die Helligkeit des Papiers rührte weniger von einer gründlichen Wäsche der Lumpen her als von einem zweckmäßigen Tauchbad in einer brandneuen Erfindung (jedenfalls 1788 brandneu), der Chlorbleiche. Die Bleiche hatte zwangsläufig einen Säurerückstand hinterlassen, und bei jedem sanften Vordringen von Siâns Messer drohten die geschwächten Fasern der feuchten Oberfläche zu zerreißen. Die Worte selbst zeigten Auflösungstendenzen, da die Gallussäure und das Eisenvitriol in der braunen Tinte kleine Löcher in die e und o gefressen hatten.

Zimmer, schreibe ich diese Worte. In meinen Fünfzig Lebensjahren bin ich

Was bist du? Ein Papierstreifchen hatte sich abgelöst und in der Zeile darunter die obere Schleife eines Wortes beschädigt.Siân hielt inne, tupfte sich mit dem Ärmel die Augen ab. Sie sollte dem Papier mehr Zeit geben loszulassen und währenddessen zusehen, daß sie ein wenig Schlaf fand.

Draußen auf der Straße schrie eine betrunkene Männerstimme ein altes Wort von umstrittener Herkunft, und eine Frauenstimme antwortete mit Gelächter. Der Akt, in dem alle Menschen ihren Ursprung haben, mit einem Wort beschworen, dessen eigener Ursprung längst vergessen war.

Siân legte den Kopf auf das Kissen, ein Bein über der Bettkante, während das andere übermüdet auf der Matratze zuckte. Sie schloß nur für einen Moment die Augen, um sie zu befeuchten, bevor sie mit der Arbeit weitermachte.

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»Ich liebe dich – das mußt du mir glauben«, flüsterte ihr der Mann mit den großen Händen ins Ohr. »Ich setze meine Seele aufs Spiel, um deine zu retten.«

Er klang so aufrichtig, so voll davon, wie sehr er sie liebte, daß sie die Wange an seine Schulter schmiegte und ihn fest umarmte, entschlossen, sich nie wieder von ihm trennen zu lassen.

Natürlich wurde ihr Minuten später (oder Stunden?) der Kopf vom Hals getrennt, und die Möwen kreischten.

Später am Morgen, als die Sonne hoch über der Church Street stand und die hundertneunundneunzig Stufen bis hinauf zum East Cliff im Licht schimmerten, stand Siân tief atmend am Fuß der Treppe und rüstete sich für den Aufstieg. Die Schärfe der Seeluft war irgendwie aufbauend, doch gleichzeitig wurde ihr schwindlig davon, und sie konnte sich nicht recht entscheiden, ob sie weiter tief einatmen oder lieber auf Nummer Sicher gehen und sich in Bewegung setzen sollte. Sie hatte immer noch keinen Schritt getan, als sie, ein halbes Dutzend Atemzüge später, von einem Schrei aus ihrem übernächtigten Dämmerzustand gerissen wurde.

»Faß, Hadrian, faß!« Es war Magnus, der da die Stimme scherzhaft zum Hetzruf

erhob, doch sie konnte nicht sehen, woher der Ruf kam. Sie sah nur, daß ein großes Tier mit lautem Gebell und gefletschten Zähnen auf sie zuschoß und Anstalten machte, sie über den Haufen zu rennen.

»He!« schrie sie halb vor Schreck, halb zur Begrüßung. Hadrian setzte sich zurückspringend auf die Hinterbeine, hechelte vor Freude. Noch immer hatte er die Zähne gefletscht und die sahnefarbene Schnauze verzogen, aber zu einem winseligen, dümmlichen Grinsen.

»Gib ihr kein Pardon junge!« sagte der herantrabende Mack. Er war größer und attraktiver, als sie ihn in Erinnerung hatte –

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abermals auf ein sportliches Minimum entblößt, die nackten Beine in der Sonne glänzend, das T-Shirt von einem langen, nach unten zeigenden Schweißpfeil verdunkelt.

»Du hast mir einen ganz schönen Schreck eingejagt«, beschwerte sie sich, als er bei ihr ankam und weiter auf der Stelle joggte, so daß Beine und Arme in ständiger Bewegung blieben.

»‘tschuldigung. Brutaler Humor meinerseits. Daran ist bloß mein Vater schuld.«

Obwohl er rot im Gesicht war und sie seine stampfenden Füße und pumpenden Fäuste mit geringschätzigem Befremden betrachtete, schien er nicht mit dem Laufen aufhören zu können. Es war eine Sucht, hatte sie irgendwo mal gelesen. Bewegungsjunkies.

»Lieber Himmel, steh doch mal still!« »Es ist ein herrlicher Tag!« gab er zurück, schleuderte die

Arme weit offen der Sonne entgegen und fuhr fort, das steinerne Pflaster zu treten. »Komm, laß uns die Treppe hochlaufen!«

»Tu dir keinen Zwang an«, sagte sie. »Nein, zusammen!« Er sprang auf die erste Stufe, was

Hadrian veranlaßte, in stürmischer Begeisterung vorauszujagen, nahm noch ein paar und kam dann zu ihr zurück.

»Komm schon, zeig mir, wie fit du bist!« Siân versank vor Peinlichkeit fast im Boden, sprachlos über

seine Trampeligkeit. Falls er es merkte, spornte es ihn nur noch mehr an.

»Na, komm schon! Eine schlanke junge Frau wie du«, japste er, »sollte doch ein paar Stufen rennen können.«

»Bitte, Mack…« Seine Schmeichelei war grausamer als jede Beleidigung. »Laß das.«

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»Du mußt bloß in den richtigen Rhythmus kommen«, drängte er weiter. Sein inzwischen knallrotes Gesicht verriet, daß er sich schämte, aber er war zu weit gegangen, um noch zurückzukönnen. »Du atmest… alle drei Stufen… Sechsundsechzig Atemzüge…«

»Mack«, sagte sie. »Ich bin beinamputiert.« Einen Moment lang stampfte er weiter, dann hielt er

schlagartig an. »O je.« Er ließ schlaff die Fäuste hängen. »Entschuldige

bitte.« Hadrian war wieder zu ihnen heruntergesprungen, ohne es

übelzunehmen, daß sie ihn genasführt hatten. Er blickte zu Siâns Gesicht auf, dann zu dem seines Herrn, hin und her, als wollte er sagen: Und jetzt?

Mack wischte sich mit seiner großen Hand übers Gesicht, dann noch einmal gründlicher mit dem Saum seines T-Shirts. Ein kleiner Junge, der sich einen Vorwand verschaffte, das Gesicht vor der wütenden Mutter zu verstecken. Ein schöner junger Mann, der den Muskelbauch einer griechischen Statue entblößte.

Du Mistkerl, dachte Siân. Haben, haben, haben. »Welches Bein?« fragte Mack, als er sich halbwegs gefangen

hatte. Sie hob das linke Bein an und schlenkerte es so lange in der

Luft, wie sie das Gleichgewicht halten konnte. »Eine gute Prothese«, sagte er, um einen möglichst ärztlichen

Ton bemüht. »Nein, absolut nicht«, widersprach sie unwirsch. »Es ist ein

russisches Teil, größtenteils Holz. Es wiegt eine Tonne.« »Hast du mal daran gedacht, es durch ein Kunststoffbein zu

ersetzen? Die sind echt leicht, und heutzutage – «

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»Magnus«, wies sie ihn zurecht, hin- und hergerissen zwischen verwirrtem Lachen und bitterem Zorn, »das geht dich nichts an.«

Zu ihrer Erleichterung ließ er das Thema fallen und schluckte sein zweifellos enzyklopädisches Wissen über künstliche Gliedmaßen herunter – sofern »enzyklopädisch« das richtige Wort für die professionelle Vertrautheit mit den Hochglanzbroschüren war, die Prothesenhersteller zu Werbezwecken an Ärzte verschickten.

»Entschuldige.« Er hörte sich ehrlich zerknirscht an. Hadrian wuselte voll ungeduldigem Tatendrang zwischen ihnen herum, die flauschige schwarze Stirn flehend gerunzelt. Siân streichelte ihn, und das fühlte sich so gut an, daß sie sich hinkniete und weiterstreichelte.

Auch Mack kniete sich hin, und da ihre Hand an Kopf und Mähne zugange war, streichelte er die Flanke und hoffte, daß sie nicht aufhörte.

»Wie hast du dein Bein verloren?« erkundigte er sich sanft, nicht wie ein Arzt, der einen Patienten ausfragt, sondern einfach wie ein Mitmensch, der in aller Bescheidenheit gern die blutigen Einzelheiten erfahren würde.

Siân seufzte. Sie war ihm nicht mehr böse, ihr kam nur das Wort »verloren« in diesem Zusammenhang völlig verfehlt vor, beschönigend und vorwurfsvoll zugleich. Als ob sie das Bein versehentlich im Bus liegengelassen hätte und es jetzt immer noch herrenlos irgendwo in einem Fundbüro läge. Als ob, wenn der Schmerz in ihr so weit war, sie umzubringen, sie ihr Leben »verlieren« würde wie einen Schirm.

»Ich habe es in Bosnien verloren«, sagte sie. Das imponierte ihm sofort. »Im Krieg?« meinte er. Sie wußte, daß er dabei ein Bild von ihr hatte, wie sie irgend

etwas phantastisch Heroisches tat, vielleicht verwundete

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Kinder aus brennenden Trümmern zerren, und neben ihr eine feindliche Granate explodierte.

»Ja, aber es hatte gar nichts mit dem Krieg zu tun«, sagte sie. »Ich war da, weil mein Freund Journalist war. Wir traten gerade in Gorazde aus einer Kneipe, als mich ein Auto über den Haufen fuhr, mitten auf dem Bürgersteig. Am Steuer saß ein betrunkener Jugendlicher.« Sie runzelte ärgerlich die Stirn, als sie Macks ungläubigen Blick sah. »Betrunkene Jugendliche gibt es überall, weißt du, selbst in Bosnien, selbst im Krieg.«

»Und dein Freund?« »Was ist mit meinem Freund?« »Wurde er… verletzt?« »Er starb – « » – wie furchtbar – « » – vier Wochen später, von Heckenschützen erschossen. Zu

dem Zeitpunkt hatte er mich bereits abserviert. Meinte, er könnte sich das nicht vorstellen, er und eine behinderte Frau. Er müßte sein Leben lang für mich sorgen, dachte er.«

Mack verzog das Gesicht, befleckt von der Schuld eines Geschlechtsgenossen, den er nie gesehen hatte.

»Du wirst aber toll damit fertig«, sagte er. »Danke.« »Kein Mensch würde dir etwas anmerken.« »Solange er mich nicht zwingen will,

hundertneunundneunzig Stufen hochzurennen.« »Es tut mir wahnsinnig leid.« Siân tätschelte Hadrian den Kopf. Weiter wollte sie dem

Herrn des Hundes nicht entgegenkommen. Soll er ruhig schwitzen, dachte sie. Im übertragenen Sinne natürlich. Tatsächlich war er dermaßen schweißgebadet, daß sich jeder Muskel seines Oberkörpers deutlich im T-Shirt abzeichnete.

»Apropos leid tun…«, sagte sie. »Deine Flaschenpost… diese Beichte…«

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»Ja?« Er ging dankbar auf den Themenwechsel ein, den Kopf beflissen erhoben.

»Die Sache ist kniffliger, als ich dachte. Du wirst entscheiden müssen, was dir wichtiger ist, Mack: zu erfahren, was in dem Dokument steht, oder es so zu belassen, wie es dir lieb ist. In der Form, meine ich. Wenn ich es schaffe, die Seiten auseinanderzupulen, ist das schon ein Erfolg. Ich kann sie dir nicht in Form einer ordentlichen kompakten Schriftrolle in einer Flasche zurückgeben.«

»Und was schlägst du vor?« »Ich schlage gar nichts vor«, sagte sie, bestrebt, ihn dezent

dorthin zu manövrieren, wo sie ihn haben wollte. »Es ist dein Erbstück, Mack. Ich kann die Flasche wieder zusammenkleben und sie dir morgen zurückgeben.«

Siân wandte sich ab, weil Michael die Treppe hochkam, und sie grüßte das arme Würstchen mit einem fröhlichen Winken. Michael schielte nur kurz herüber, als er nickend den Gruß erwiderte, und wäre vor lauter Eifer, nicht zu stören, beinahe über die eigenen Füße gestolpert. Ihr war klar, daß sie und Mack in seinen kurzsichtigen Augen das Rätsel der Liebe verkörperten, mit dem er, nachdem er es zufällig gefunden und ausgegraben hatte, nichts anderes anfangen konnte, als es zur Analyse an die zuständigen Experten weiterzureichen. Ein lieber, schüchterner kleiner Mann – wie sie ihn verachtete…

»Ich weiß nicht«, sagte Mack gerade. »Sie hat irgendwie was Magisches, so wie sie ist…«

»Naja, eine Möglichkeit gäbe es«, sagte sie, denn sie fand, das er jetzt weich genug geklopft war. »Ich könnte dir eine neue Rolle aus Papiermache machen und ein Faksimile der äußersten Seite darumkleben. Ich weiß, wie man es anstellt, daß solche Sachen alt und authentisch aussehen. Die Originalpapiere könnte man aufziehen, ordentlich

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konservieren, und du könntest eine Kopie bekommen, die ganz ähnlich aussieht wie das, was dein Vater gefunden hat.«

Er lachte. »Die nächste Geschichtsfälschung, hm?« Sie sah ihm direkt in die Augen. »Willst du wissen, was in der Beichte steht, oder nicht?« Er überlegte nicht länger als drei Sekunden. »Doch, will ich«,

gab er zu. An dem Nachmittag nahmen Siân und ihre Kollegen

Abschied von Keira und Trevor, die ihre Zelte im Nahen Osten aufschlagen gingen. Ihre Stellvertreter, die »sehr netten Leute« aus Nordwales, waren bereits eingetroffen – ebenfalls ein Ehepaar, das schon ewig zusammen war. Sie trugen ähnliche Overalls und die gleichen Schuhe. Sie tuschelten bei der Arbeit miteinander und küßten sich auf die Schulter oder seitlich auf den Kopf. Siân wußte durchaus, daß sie ganz entzückend waren, aber verabscheute sie mit irrationaler Inbrunst. Sie rochen so stark nach Glück, daß die Ausdünstung einem selbst auf der windigen Höhe des Whitbyer East Cliff den Atem raubte.

Haben, haben, haben. Um halb vier machte der Himmel die Schleusen auf, und die

Grabungsleiterin erklärte den Arbeitstag für beendet. Dreizehn der vierzehn Archäologen, unter Nylonkapuzen und Kunststoffkutten geduckt, verliefen sich hurtig in den strömenden Regen wie eine Herde Mönche auf der Flucht vor einer neuen Aufhebung der Klöster. Die jüngeren sprinteten zur Stadt hinunter, um sich befreit den unvorstellbaren Lockungen der modernen Welt zu ergeben.

Siân, nicht von Mantel oder Schirm vor dem Regen geschützt, der im Nu zur Kopfhaut durchdrang und ihr den Nacken hinunterlief, mußte genau aufpassen, wo sie auf dem rutschigen und tückischen Gelände die Füße hinsetzte.

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Alle paar Sekunden warf sie einen Blick voraus zu den hundertneunundneunzig Stufen und hoffte wider besseres Wissen, daß Mack und Hadrian ihr von dort entgegenkamen. Das taten sie natürlich nicht. Dennoch erging sie sich in eitlen Phantasien davon, wie Mack im Laufschritt die Treppe hocheilte, einen aufgespannten Schirm in der Hand. Erbärmlich. Sankt Hilda hätte resignierend den Kopf geschüttelt, wenn sie das gewußt hätte.

Der Parkplatz zwischen der Abteiruine und der Saint Mary’s Church, der Siân normalerweise überhaupt nicht zu Bewußtsein kam, ärgerte sie heute maßlos, als sie ihn überquerte. Was war das für eine Art, eine heilige Stätte mit Blechkisten zu vermüllen? Unter dieser traurigen Betondecke, diesem benzinstinkenden Schandfleck lagen irgendwo Kapellen und andere Gebäude vergraben, erbaut von einfachen Christen vor über tausend Jahren. Wie konnte man diesen ganzen Plunder beseitigen, wie anders als mit einer Bombe?

Ein Stich durchfuhr Siân bei der Erinnerung an den Lärm des Granatenbeschusses, den sie in Bosnien erlebt hatte, das Krachen und Rumoren, das sie tiefer in Patricks Armbeuge getrieben hatte, als sie zusammen im Bett lagen, wenige Meilen vom Kriegsgeschehen entfernt.

»Tu so, als wär’s ein Gewitter«, hatte er ihr geraten. »Es kann dir nichts tun.«

»Es sei denn, du wirst getroffen«, hatte sie gesagt. »Das spürst du dann nicht«, hatte er entgegnet, fast schon im

Schlaf. Das war natürlich gelogen. Sterben ist niemals schmerzlos.

Selbst ein vor langem wegoperiertes Glied tut weiter weh.Über eine Stunde lang zottelte Siân auf der Suche nach etwas

zu essen durch die Straßen von Whitby. Sie war in einer von diesen verdrehten Stimmungen, wo man auf nichts Appetit hat außer auf Sachen, die offensichtlich nicht zu haben sind. Ein

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munteres griechisches oder türkisches Restaurant mit vielen verschiedenen Vorspeisen und Leckereien und bäurischen Kellnern, die sich durch den ganzen Raum brüllend verständigten – das wär’s gewesen. Oder ein chinesischer Imbiß mit scharf gewürzten Nudeln und kleinen Frühlingsrollen und heißer Suppe. Sie hatte ganz gewiß keine Lust auf Fish and Chips – eine denkbar ungünstige Voraussetzung, um in Whitby zu bestehen.

Fenster um Fenster, Straße um Straße lugte sie durch trübe Glasscheiben und las Speisekarten, die ihr Kabeljau und Kartoffeln in den verschiedensten Zubereitungen offerierten, dazu je nachdem Erbsenmus, Solei, Currysauce, Tunke. Ein Schild an der Tür des Plough Inn verkündete: »Heute leider keine warme Küche.« Ein vielversprechend aussehendes Bistro machte erst am Abend auf. Das Tandoori-Lokal in der Nähe des Bahnhofs war gut, aber sie hatte erst gestern dort gegessen, und außerdem wollte sie sofort etwas.

Zu guter – oder schlechter – Letzt aß sie in einem Cafe auf der anderen Seite des Flusses eine Crepe mit Banane und Eis. Leider war das Eis in den Eierkuchen eingeschlagen statt obendrauf, so daß das Ganze schon ein lauwarmes Geschlabber war, als sie mit dem stumpfen Messer zum ersten Schnitt ansetzte. Um wenigstens noch ein bißchen etwas von der entschwindenden Wärme zu haben, aß sie zu schnell, und dann war ihr schlecht.

Wenn sie eine von Sankt Hildas Nonnen gewesen wäre, sinnierte sie, hätte sie in der Gesellschaft befreundeter Seelen Brot und Wein verzehrt. Sie hätte einen Kreis in die Luft gemalt, und jemand hätte ihr schweigend irgend etwas Gesundes gereicht, und sie hätte sich nicht mit diesem Top-Forty-Radau die Ohren volldröhnen lassen müssen.

Träumerin.

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Sie bezahlte die Crepe und überquerte die Brücke zu ihrem Hotel, zu allem Überfluß noch immer verfolgt von der Wunschvorstellung, daß Magnus gleich mit aufgespanntem Schirm am Horizont auftauchte.

Siâns Alptraum am nächsten Morgen war eine originelleAbwandlung des Üblichen. In dieser Version hatte sie nur wenige kostbare Sekunden, um ihren weggerollten Kopf zu finden und ihn auf den Hals zurückzusetzen, bevor die zitternden Nerven und Arterien die Fähigkeit verloren, sich wieder zu vereinigen. Ihr Bewußtsein schien irgendwo dazwischen zu schweben, außerstande, den am Boden herumpatschenden und -tastenden kopflosen Körper zu leiten, dessen blutiger Halsstumpf gerammelt voll war von Röhren, die wie zuckende, saugende Makkaroni aussahen. Ihr Kopf lag dicht vor der offenen Tür, Zentimeter von der steilen Treppe entfernt, die Lider flatternd, die Lippen trocken, von einer panischen Zunge beleckt. Mit einem dumpfen Schlag wachte Siân neben ihrem Bett auf dem Boden auf.

Langsam verliere ich wirklich den Verstand, dachte sie. Andererseits hatte sie, positiv betrachtet, recht gut

geschlafen, und zudem ungewöhnlich viele Stunden am Stück. Buttergelbes Sonnenlicht strahlte zum Veluxfenster herein, leicht flackernd von den Möwen, die über dem Dach kreisten. Die Kreischzeit war vorbei, und unten gab es bestimmt schon Frühstück. Am erfreulichsten war, daß sie letzte Nacht mit Thomas Peirsons Beichte gut vorangekommen war.

Vor dem Zubettgehen war es ihr gelungen, die komplette äußerste Seite zu befreien. Außer den o und e, die bereits dem Tintenfraß zum Opfer gefallen waren, hatte es keine weiteren Pannen gegeben; sie war mit größter Behutsamkeit zu Werke gegangen, ohne die Magenbeschwerden zu beachten und…

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und diesen Höcker im linken Schenkel, was er auch sein mochte. Der Höcker wurde immer augenfälliger und schmerzhafter, aber sie wollte sich unter keinen Umständen davon terrorisieren lassen. Als sie damals endlich aus dem Krankenhaus in Belgrad gehen konnte und sie jeden tapsigen Schritt durch die gepolsterte Schale ihrer Prothese fühlte, hatte sie sich feierlich geschworen, daß sie nie wieder in einem Krankenhausbett liegen würde; nie wieder. Diesen Schwur wollte sie halten. Und wenn es ihr bestimmt war, bald zu sterben, dann starb sie wenigstens in dem Wissen, daß sie an dieser Beichte gute Arbeit geleistet hatte.

Eine hastig hingekritzelte Abschrift des Textes, so weit sie ihn bisher abgelöst hatte, lag auf dem freien Kissen ihres Doppelbettes. Schade, daß sie ihn auf einen billigen kleinen Notizblock mit einer Star-Wars-Schauspielerin auf dem Umschlag hatte schreiben müssen, aber das war gestern nacht das einzige verfügbare Schreibpapier gewesen, und sie war so erpicht darauf, Thomas Peirsons Geheimnisse mit Mack zu teilen, daß sie einfach nicht warten konnte. Er war bestimmt im siebten Himmel, wenn er das sah. Er war genau der Typ, der sich nach rätselhaften Morden die Finger leckte, das sah sie ihm an.

Sie raffte den Rock von gestern vom Boden auf und hielt ihn in die Sonne. Er war weiß Gott reif für den Waschsalon; sie wollte heute etwas Frisches anziehen. Zur Feier der ersten Seite.

Den ganzen Weg zur Arbeit brannte der billige kleine Star­Wars-Notizblock förmlich ein Loch in Siâns Jackentasche und waren ihre Ohren auf den Klang von Macks Stimme oder Hadrians schweres Schnaufen gespitzt. Zu hören bekam sie jedoch weder noch, und so gesellte sie sich zu ihren Kollegen

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und wühlte mit ihnen die Erde nach menschlichen Überresten durch.

In der Mittagspause bummelte sie zum Kiosk und lugte kurz in die Welt jenseits des Klostergeländes hinaus. Nichts. Sie überlegte, ob sie hinunter zum Loggerhead’s Yard gehen und Mack einen Besuch abstatten sollte, aber das kam ihr nicht richtig vor.

Er könnte mich schließlich umbringen, dachte sie – und kniff dann verwundert die Brauen zusammen. Was für ein absurder Gedanke! Trotzdem erschien es ihr besser zu warten, bis er zu ihr kam.

Sie spazierte zu den Überresten der Abtei zurück. Das gute Mittagswetter lockte Besucher an – nicht nur Touristen, sondern auch die Kinder von English-Heritage-Mitarbeitern. Bobby und Jemima, der Sohn und die Tochter einer der Kioskverkäuferinnen, rannten kreischend vor Lachen in den Trümmern herum.

Mit sieben beziehungsweise sechs Jahren war es ihnen egal, ob ihre kraxelnden Füße die Steinmetzarbeiten an den Säulenstümpfen im grasbewachsenen Hauptschiff abtraten. Sie waren ja noch so jung, daß sie sich sogar küssen konnten, ohne sich etwas dabei zu denken.

»Hi, Bobby! Hi, Jemima!« rief Siân und winkte. Die Kinder tollten in der Nähe der einstigen Sakristei herum.

Sie legten sich lang hin, dann sprangen sie auf und drehten unbeholfene Pirouetten, immer wieder.

»Was macht ihr da?« fragte Siân. Jemima schwankte ein wenig, weil ihr vom letzten Drehen

noch schwindlig war; Bobby lag auf einem rechteckigen Stein in einer eigentümlichen Vertiefung und starrte zum Himmel empor.

»Wir wollen das Frollen springen sehn«, erklärte er. »Was für ein Fräulein?«

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»Das Geisterfrollen, wo von da oben runterspringt.« Bobby deutete mit einem schmutzigen Finger auf das dachlose Strebewerk der Abtei. »Du drehst dich dreimal, dann legste dich ins Grab, dann siehste se.«

»Habt ihr sie gesehen?« wollte Siân wissen. »Nö«, sagte Jemima. »Wir ham nich doll genug gedreht.« Und lachend liefen die beiden davon. Siân besah sich die Mulde im Stein und fragte sich, wozu die

wohl gut gewesen war, bevor sie abergläubischen Kindern zum Sargspielen diente. Dann schaute sie zum Strebewerk auf und stellte sich vor, wie eine Frau darauf entlangging, eine junge Frau in einem wehenden weißen Gewand, die mit der Sicherheit einer Schlafwandlerin barfuß über das steinerne Hochseil spazierte.

»BAFF!« Siân blieb vor Schreck fast das Herz stehen, als der Hund

unmittelbar neben ihr seinen Gruß bellte. Sie geriet ins Wanken und machte ein paar Trippelschritte, um sich wieder zu fangen, was Hadrian ungemein lustig fand.

»Also wirklich, Hadrian«, schimpfte sie. »Wer hat dir denn das beigebracht?«

»Mein Vater, nehme ich an«, sagte Mack, der hinterhergeschlendert kam. Er hatte eine schwarze Jeans undein graues Nike-Sweatshirt mit hochgekrempelten Ärmeln an; er sah besser denn je aus.

»So ist’s recht, gib nur den Toten die Schuld«, sagte Siân. »Aber es ist die Wahrheit«, beteuerte er. »Ich bin bloß ein

Ziehvater, dem man ein kriminelles Waisenkind angehängt hat. Stimmt’s, Hadrian, hm?« Und er klopfte dem Hund kräftig auf den Rücken, schlug ihn beinahe.

»Du hättest nicht eins siebzig zahlen müssen, um mich zu sehen«, sagte Siân. »Irgendwann wäre ich schon herausgekommen.«

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Er lachte. »Scheiß drauf. Ich will wissen, was in der Beichte steht.«

»Eine Seite pro Tag ist das Äußerste, was ich schaffe«, stellte sie vorsorglich klar.

»Ich nehme, was ich kriegen kann.« Sie zog das Notizbuch aus der Jackentasche, blätterte

Prinzessin Dingsbums um und las ohne weitere Umschweife vor:

Beichte von Thos. Peirson, im Jahre Unsres Herrn 1788 Im vollen und sichern Wissen daß mein Ende Nahe ist, denn mein Gutes Weib hat so eben die Tür hinter Dr. Cubitt geschloßen u. weint unten im Zimmer, schreibe ich diese Worte. In meinen Fünfzig Lebensjahren bin ich erst Walfänger und letzthinÖlhändler gewesen. Meiner Familie habe ich an Annämlichkeiten geleistet so viel in meiner macht stund, und Gott habe ich an Dank geleistet, was ich vermocht. Alle diemich kennen, kennen mich als einen Mann der Niemand Übel will.

Nunmehr aber, da ich mich rüste vor meinen Schöpffer zu treten, giebt es nur eine Erinnerung, die Er mir vorsetzet, eine greßliche Scene die ich nach Seinem Willen widerumb durchleben muß. Sind meine Hände itzt auch Kalt vom Fieber, so werden sie, scheint’s, doch warm vom Fleisch ihres Halses. So schlank war er, der Hals meiner geliebten Mary, so ohne Makel, und hat gepaßt in meine großen Hände wie ein Stük Ankertau.

Anfangs gedacht ich nicht mehr als sie zu erwürcken, daß ich Spuren an ihrer Kehle hätt hinterlaßen als nicht zu verkennen gewesen warn. Geschändet wie sie war, schaute ich mich doch, sie noch mehr zu schänden; ich wollte nicht mehr tun als nöthig, um den Zorn der Bürger von ihr abzuwenden, und ihr einen Ruheplatz unter den Gerechten zu sichern. Also beschloß ich, sie nur zu erwürcken. Aber

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Sie schaute zu ihm auf. »Aber?« wiederholte er fragend. »Das ist es bis jetzt. Eine Seite und ein paar Zeilen.« Mack legte den Kopf zurück und verengte nachdenklich die

Augen. »Vielleicht hat er gedacht, sie wäre ein Vampir«, meinte er

nach einer Weile. »Vielleicht hat er sie erwürgt, als sie schlief, weil er dachte, ihr würden Reißzähne wachsen, wenn die Sonne aufging.«

»Das glaube ich nicht«, seufzte Siân. »Wieso? Whitby ist doch die Stadt Draculas, oder nicht?« »1788 noch nicht«, sagte sie, wobei sie sich beherrschen

mußte, um ihn nicht schärfer anzufahren. »Ich weiß sehr wohl, wann der verdammte Roman

geschrieben wurde«, knurrte er. »Aber vielleicht hat es Bram Stoker – wie sagt man noch? – inspiriert, daß in Whitby alle Leute im Vampirfieber waren.«

»Das glaube ich nicht. Ich glaube, was den Leuten in Whitby Kummer machte, war, daß ihre Männer in der Nordsee ertranken, und nicht, daß transsylvanische Blutsauger in schwarzen Capes herumliefen.«

»Aber sie waren ziemlich abergläubisch, nicht wahr, die Yorkshirer Bürger des achtzehnten Jahrhunderts?«

»Ich habe damals noch nicht gelebt, stell dir vor! Aber ich glaube, wir können mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß unser Thomas Peirson, wenn er jemanden erwürgte, das nicht wegen einer Geschichte tat, die noch gar nicht geschrieben war, zumal von einem Schriftsteller, der gar nicht von hier stammte.«

Mack kam eine Erinnerung, und seine Augen wurden ein wenig glasig. »Mein Vater hat mir mal Graf Draculas Grab gezeigt, auf dem Friedhof von Saint Mary. Da muß ich sechs gewesen sein.«

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»Nicht sehr väterlich von ihm. Hattest du Angst?« »Ganz furchtbar. Ich hatte tagelang Alpträume. Trotzdem

fand ich es toll. Es gibt nichts Aufregenderes als Angst, nicht wahr? «

Sie schlug beklommen die Augen nieder. »Das finde ich weniger.«

»Okay, mit einer Ausnahme«, räumte er ein. Seine Stimme war sanft, tief, gutgelaunt; der leicht anzügliche Ton war nicht zu überhören.

»Weißt du was?« sagte Siân errötend. »Wie wär’s, wenn du mir das Grab zeigst?«

Der Friedhof auf dem East Cliff mochte für Hunderte von Menschen die letzte irdische Ruhestatt sein, aber für Hadrian war diese weitläufige grüne Uferanhöhe der Himmel. Er jagte über den Rasen, sprang über Grabsteine, als wären sie eigens für ihn aufgestellte Hürden, ungefähr wie diese hübschen schwarzen Behälter am Meeresstrand mit der Einprägung HUNDE-KOT. Bei so einem riesengroßen Tummelplatz, wo er frei herumstöbern konnte, durften sein Herr und seine Herrin von ihm aus gern den Dingen nachgehen, die sie hergeführt hatten.

»Ich weiß nicht, ob ich es nach so vielen Jahren noch finde«, sagte Mack und hielt dabei unter dem Augenschirm seiner mächtigen Rechten Ausschau.

»Stell dir vor, du steckst wieder in den Schuhen des kleinen Jungen von damals«, empfahl sie.

Er lachte und hob einen Fuß Schuhgröße 47 an. »Das meinst du nicht im Ernst.«

Da fiel ihnen beiden genau gleichzeitig der Moment ein, als sie für ihn auf den hundertneunundneunzig Stufen ihr künstliches Bein angehoben hatte. Der Moment, als ihm die

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Schuppen von den Augen gefallen waren – und sie wußte mit absoluter Sicherheit, daß er sich ihren Körper vorstellte und überlegte, wie er es fände, wenn dieser Körper nackt neben ihm läge.

Er umschloß mit der Hand ihre Schulter. »Komm, sei nicht so«, sagte er. Sie ging ihm voraus, das Gesicht abgewandt. »Ganz viele von diesen Gräbern sind leer, wußtest du das?«

informierte sie ihn in forschem, sachlichem Ton. »Wenn Seeleute nicht mehr zurückkamen, hielten die Familien eine Trauerfeier ab, stellten einen Grabstein auf…«

»Aha, schon wieder eine Geschichtsfälschung…« »Gar nicht. Es drückt eine andere geschichtliche Wahrheit

aus – die reale Trauer der Hinterbliebenen.« Er brummte skeptisch. »Ich bin nicht so der Trauertyp, Siân.

Die Toten sind tot, das Leben geht weiter, das ist eher meine Devise.«

Sie zitterte, ohne zu wissen, warum. Sie konnte sich nicht erinnern, ob er ihren Namen vor diesem Tag schon einmal ausgesprochen hatte. So wie er ihn sagte, ihn gemächlich auf der Zunge zergehen ließ, klang »Siân« wie ein Laut der Zufriedenheit.

Sie streiften noch etwa fünf Minuten umher, konnten aber das anonyme Grab nicht finden, in dem laut Macks Vater Dracula liegen sollte. Dafür fanden sie etwas, das Siân einmal in einem Buch gelesen hatte: zwei nebeneinander stehende Grabsteine – einer oval und flach am Boden liegend, der andere aufrecht stehend und winzig. Zahllosen Kindergenerationen war eingeredet worden, daß diese die Gräber von Humpty Dumpty und Daumesdick bezeichneten!

»Davon hat mir mein Vater nie was erzählt«, sagte Mack. »Und schon haben wir wieder einen Minuspunkt auf seinem

Konto.«

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Sie gingen Hadrian holen, der auf dem ganzen Gelände mit großer Begeisterung Erdklumpen aufscharrte. Siân schaute im Vorbeigehen auf die verwitterten Grabsteine und las hier und da einen Namen, sofern er noch zu erkennen war. Die salzige Meeresluft und der Wind der Jahrhunderte hatten manches abgeschliffen und unkenntlich gemacht, und sie war nicht in der Stimmung, die Steine eingehend zu betrachten, da sie langsam Hunger bekam. Doch plötzlich riß sie den Kopf zurück und geriet ins Stolpern.

»Da ist unser Mann!« rief sie. »Mack! Da ist unser Mann!« Mit einem Satz war er an ihrer Seite – er und Hadrian mit.

Vor ihnen stand leicht windschief ein hoher Grabstein mit der deutlichen Inschrift THOMAS PEIRSON, WALFÄNGER UND ÖLHÄNDLER. Den weiteren Angaben zufolge war er der Gatte von Catherine und der Vater von Anne und Unleserlich gewesen. Er war, wie in seiner Beichte vorausgeahnt, 1788 gestorben, aber es fand sich kein Hinweis darauf, daß er irgend etwas getan hatte, was besondere Reue verdiente. Nicht einmal ein »Gott sei seiner Seele gnädig«.

Durch die Entdeckung von Peirsons Grabstein wie elektrisiert, machte Mack sich daran, die anderen Gräber zu erforschen und die Inschriften zu beäugen. Es war, als ginge ihm jetzt erst auf, daß sein Kleinod in der Flasche mehr war als nur ein bizarres Relikt – daß es noch ganz real mit der Welt verbunden war.

»Ich frage mich, ob sein Opfer auch hier liegt«, murmelte er, während er von Grab zu Grab ging. »Mary… Mary… Wenn sie doch bloß einen ausgefalleneren Vornamen gehabt hätte…«Er beugte sich zu einer Grabinschrift hinunter und las vor, was ihm interessant erschien. »›… im vierunddreißigsten Lebensjahr…‹ Aber keine Todesursache angegeben… Schade…«

Etwas an seiner Art stieß Siân auf.

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»Tja, Doktor Magnus, dies hier ist ein Friedhof, keine Leichenhalle im Krankenhaus. Diese Steine sind Gedenksteine, sie sind nicht dazu da, deine Neugier zu befriedigen.«

»Was soll das heißen, meine Neugier?« gab er beleidigt zurück. »Wer von uns beiden ist es denn, der Leichen ausgräbt und mit anderer Leute Knochen herummurkelt?«

Siân machte auf dem Absatz kehrt und ging weg. Wie instinktiv, wie unweigerlich sie miteinander stritten! Dem letzten Menschen, mit dem sie soviel gestritten hatte, hatte sie schließlich ihre unsterbliche Liebe erklärt – ganz zu schweigen davon, daß sie ihm in ein Kriegsgebiet gefolgt war und ihn vor einem heranrasenden Auto abgeschirmt hatte. Es gab für sie keine Hoffnung; sie war verloren.

»Komm, laß uns kein Ding daraus machen«, sagte er hinter ihr her eilend. »Kann ich dich zum Essen einladen?«

Sie wollte nein sagen, aber jetzt war Hadrian an ihrer Seite und rieb im Gehen seine haarige Schnauze an ihrem Rock, schnüffelte in der Erwartung ihrer Berührung. Sie ließ ihre Hand in seine Mähne sinken, spürte, wie sein Schädel sich gegen ihre Hand spannte. Ihr Magen grummelte.

»Wir könnten in der Mission einen Tee trinken«, sagte sie. »Da dürfen Hunde mit rein.«

»Mission?« »The Whitby Mission and Seafarer’s Centre. Da kriegt man

auch was zu essen.« »Das ist doch Quatsch. Ich liefere Hadrian zu Hause ab, und

wir gehen richtig essen.« Entschlossen, nicht zu streiten, sagte sie: »Na schön, dann

indisch.« Doch er runzelte kritisch die Stirn. »Laß mich

nachdenken…« »Was spricht gegen indisch?« »Mir wäre was… ähm… Ausgefalleneres lieber.«

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Sie atmete tief durch, als sie die hundertneunundneunzig Stufen hinunterzugehen begannen.

»Historisch gesehen«, sagte sie, wobei sie sich einzureden versuchte, daß sie nicht stritt, sondern nur eine informative Bemerkung machte, »gibt es schwerlich etwas Ausgefalleneres als pandschabisches Essen in einem northumbrischen Fischerstädtchen.«

»Du weißt genau, was ich meine«, sagte er. »Der Kleinstadtinder… das ist so… provinziell.«

»Lieber Himmel, wird sind in der Provinz!« ereiferte sie sich. »Wir sind hier nicht in London.«

»Wow«, sagte er. »Du bist die einzige, die ich kenne, die ›lieber Himmel‹ sagt, wenn sie mir am liebsten eine scheuern würde.«

»Und das findest du jetzt niedlich oder was?« »Ja, das finde ich niedlich. Außerdem bist du heute sehr

schick gekleidet. Du siehst phantastisch aus.« Siân fühlte, wie sie vom Haaransatz abwärts rot wurde. Mit

dem Kompliment sank auch die Erkenntnis ein, daß sie sich an diesem Morgen, Gott steh ihr bei, tatsächlich mit ungewöhnlicher Sorgfalt angezogen und zurechtgemacht hatte. Rock, Strumpfhose und Stiefel waren modisch aufeinander abgestimmt, und als die Röte weiter nach unten floß, wurde ihr bewußt, daß aus dem Kragen des Oberteils, das sie sich ausgesucht hatte, zum erstenmal seit Jahren ihre Schlüsselbeine herausschauten.

»Äh… warte«, sagte sie, nur noch wenige Stufen von der Church Street entfernt. »Gerade fällt mir ein, daß ich gar nicht die Zeit habe, essen zu gehen. Ich muß in fünf Minuten wieder bei der Arbeit sein.«

Er starrte sie offenen Mundes an, sichtlich und ehrlich enttäuscht.

»Dann eben heute abend.«

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Sie überlegte schnell; sie fühlte eine Enge in der Kehle, wie Hände, die ihr den Hals zudrückten. »Ich werde heute abend an der nächsten Seite deiner Beichte arbeiten«, sagte sie leicht außer Atem.

Ein paar Herzschläge lang standen sie sich Auge in Auge gegenüber. Dann lächelte er, schlug kapitulierend den Blick auf seine Schuhe nieder und ließ sie gehen.

»Ein andermal«, meinte er, während er auf das Straßenpflaster trat und Hadrian winkte, ihn in die Stadt zu begleiten. Hadrian blickte sich einmal nach Siân um, dann reihte er sich mit seinem Ziehvater in den rasch dahinfließenden Strom von Touristen, einheimischen Northumbriern und weniger anbetungswürdigen Hunden ein.

In Siâns Traum am nächsten Morgen kam zur Abwechslung einmal kein Messer vor. Der Mann hielt sie zärtlich in den Armen, so daß beide Hände beschäftigt waren, die eine damit, ihren Rücken zu stützen, die andere damit, ihr die Haare zu streicheln. Dennoch war es alles andere als ein schöner Traum: ihre Haare waren naß und glitschig von einem shampooartigen Zeug, das sie nach einer Weile als ihr eigenes Blut erkannte. Sie war davon förmlich überströmt, und er genauso.

»Ich werde dich die hundertneunundneunzig Stufen hinauftragen«, schmachtete er sie mit gebrochener Stimme an. Seine Augen leuchteten geradezu vor Liebe und Kummer, und an seinen Brauen glitzerten Bluttröpfchen. Er sah aus wie Magnus, nur daß er nicht Magnus war. »Ich werde dich die hundertneunundneunzig Stufen hinauftragen«, versprach er immer wieder.

Sie versuchte zu sprechen, ihm zu versichern, daß sie verstand, warum er seine Tat begangen hatte, aber aus ihrer

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Luftröhre kamen Blutblasen, und ihre Zunge war schon ganz steif.

Was sie weckte, war kein besonderes kulminierendes Ereignis, nur Durst und das dringende Bedürfnis, zum Klo zu gehen. Sie hatte am Abend davor eine halbe Flasche Wein getrunken, um den Schmerz in ihren »inwendigen Organen« zu bekämpfen, und es hatte offenbar gewirkt: ihr Kopfweh war so schlimm, daß sie den Höcker in ihrem Schenkel überhaupt nicht mehr spürte.

Ihre Haare klebten und rochen nach Alkohol; als sie sich im Bad über das Waschbecken beugte und sie wusch, rechnete sie halb damit, daß das Wasser sich rot färbte. Der Puls in ihren Schläfen machte wumpa wumpa wumpa, während sie das Shampoo ausspülte und nach einem Handtuch tastete. Erst da kam ihr der Gedanke, daß sie bei der Arbeit an der Beichte vielleicht angetütert gewesen war.

Die zweite Seite lag noch auf dem Tisch, flach gepreßt unter einem rechteckigen Stück durchsichtiger Plastikfolie. Sie betrachtete das knittrige Blatt Papier und die Tintenschnörkel eingehend, mit ängstlicher Sorge. Soweit sie sehen konnte, gab es keinen Schaden, der nicht vor ihrer Aktion schon dagewesen war.

Als nächstes konsultierte sie das kleine Star-Wars-Merkheft, in dem sie sich die Abschrift notiert hatte. Ihre Handschrift war tadellos lesbar, eher noch besser als sonst meistens, wenn sie stocknüchtern war.

Sie tappte ins Bad zurück, um sich die Haare zu trocknen und zu frisieren.

Zur Mittagszeit saß Siân mit Mack in demselben Cafe in der Weststadt, in dem sie sich mit Crepe den Magen verdorben hatte, und las ihm aus ihrem kleinen Notizbuch vor. Gespannt lauschend beugte er sich ganz nahe an sie heran, so daß seine Backe beinahe ihre Schulter berührte, aber andererseits war es

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ziemlich laut in dem Cafe, denn das Personal und andere Gäste guckten amerikanische Seifenopern in einem hoch an der Wand hängenden Fernseher.

»Also beschloß ich, sie nur zu erwürcken«, las sie, während sich über ihnen drittklassige Schauspieler unglaubwürdig angifteten.

Aber, Gott sey mein Zeuge, meine Daumen wurden schwach u. machten keinen Abdruk in ihrem Fleisch, jeden Falls keinen der nicht gleich danach wider verblaßte. Diese selben Hände, die so manchem Wal tiefe Wunden beigebracht haben, die Fässer gesternt haben die schwerer waren als ein Mann; diese Hände, die, noch in meinen spätem Jahren der Schwächlichkeit, einen Holtzklotz mit einem einzigen Axthieb spalten konnten – diese Hände waren nicht fähig, an ihrem bloßen, zarten Hals die Fleken zu hinterlaßen, die sie gerettet hätten. Ich bildete mir ein ihre Stimme zu hören, das Unheil, in die tiefsten Abgründe der Hölle gestoßen zu werden, schon über dem Haupte; wie sie mich anrief, mich zu handeln beschwor, bevor der Aufruhr losbräche und sie gefunden werde, nackt und der Verdamnis ausgeliefert. Nichts, außer mir, stand zwischen ihrer hilflosen Seele und dem schlimmsten aller Schiksale. Ich verhielt nur kurz, um eine Decke über sie zu ziehen, dann ging ich eilig mein Messer holen.

Siân legte den Notizblock hin, führte die Kaffeetasse an die Lippen.

»Wow«, sagte Mack mit breitem Grinsen. »Ein Coitus interruptus ist nichts dagegen.«

Sie nippte an dem heißen Getränk und ärgerte sich über ihre Unfähigkeit zu entscheiden, ob sie die Bemerkung treffend oder anstößig finden sollte. In einer Hinsicht war sie ein witziges Apergu, über das sich nur Spießer entrüsten würden (und schließlich war er ja Mediziner), doch in anderer Hinsicht war sie ganz widerwärtig, himmelschreiend geschmacklos.

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Siân schwankte zwischen den Urteilen hin und her, und sie blieb stumm, bis es zu spät war. Auch bei Patrick hatte sie nicht verhindern können, daß ihr Moralbegriff in seinem verschwamm.

»Weißt du, was wir tun sollten?« sagte er und stach dabei mit der Gabel in einen Brocken Schokoladenkuchen. »Wir sollten diese Geschichte an die Presse verkaufen.«

Wir? dachte sie, bevor sie erwiderte: »Die Presse? Welche Presse? Die Whitby Gazette?« Minuten vorher erst hatte er beim Blättern in den ausliegenden Zeitungen auf seine blasierte Londoner Art über regionale Ortsnamen wie Fryup gegickelt und sich absurde Reportagen für die Gazette ausgedacht wie zum Beispiel einen Ausbruch von Psittakose unter Brieftauben. »Chefinspektor Beaver untersucht Vorwürfe gegen einen skrupellosen Arzt«, hatte er mit todernster Miene getönt, »der das tödliche Bakterium von Mister Moneypenny vom Whitbyer Taubenzüchterverein käuflich erworben haben soll, und zwar in der heimtückischen Absicht, sich mit biologischer Kriegsführung seiner Rivalen zu entledigen.« Sie hatte wider Willen lachen müssen.

»Du bist wirklich ein kleiner Geist, was?« kanzelte er sie jetzt jovial ab. »Ich denke an ein Feature mit Farbfotos in einer der großen Wochenendbeilagen – in der Sunday Times vielleicht oder im Telegraph.«

Seine Herablassung erboste sie; nach allem, was sie an Patricks Seite gesehen hatte, wollte ihr scheinen, daß sie in der großen bösen Welt des Nachrichtenwesens keineswegs ahnungslos war.

»Meinst du, das interessiert die? Sieh dir doch an, wie sie unsere Ausgrabung in der Abtei ignorieren! Um heutzutage von einer großen Zeitung wahrgenommen zu werden, mußt du praktisch König Artus’ Tafelrunde ausgraben oder ein unbekanntes Stück von Shakespeare.«

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»Überhaupt nicht. Das hier ist Mord. Mord verkauft sich immer.«

Sie wußte, daß er recht hatte, und doch mußte sie widersprechen. Der Gedanke, daß ihr schönes Manuskript aus dem 18. Jahrhundert, das sie so liebevoll in einzelne Blätter zerlegte, auf den Seiten einer kurzlebigen Sonntagsbeilage breitgetreten wurde, ging ihr gegen den Strich.

»Es ist ein sehr, sehr überalterter Mord«, sagte sie in der Hoffnung, mit einem zynischen, witzelnden Tonfall bei ihm anzukommen. »Längst über das Verfallsdatum hinaus.«

Lachend beugte er sich über den Tisch und sah ihr direkt in die Augen.

»Mord verdirbt nie«, sagte er, wobei er sich noch weiter vorbeugte und sie auf die Wange küßte, ganz dicht an den Rand ihrer Lippen.

Siân schloß die Augen und betete um Anleitung, wie sie darauf reagieren sollte. Ihn zu ohrfeigen wäre schrecklich altmodisch gewesen, und außerdem hatte sie Angst vor ihm, abgesehen davon, daß sie sich damit womöglich ihre einzige Aussicht auf Glück ruinierte, bevor der Krebs beschloß, daß ihre Zeit um war.

»Hadrian grault sich bestimmt allein«, sagte sie. »Du solltest ihn retten gehen.«

Am Nachmittag verließ Siân die Ausgrabung vorzeitig. Sie meldete sich bei Nina mit der Begründung ab, sie habe das Gefühl, die Grippe zu bekommen.

Nina sah ihr prüfend ins Gesicht und meinte: »Ja, du siehst gar nicht gut aus«, was sie ziemlich deprimierte, weil die Grippegeschichte gelogen war. In Wirklichkeit tat der Höcker in Siâns Knie so weh, daß sie kaum arbeiten konnte, und sie hoffte, daß der Schmerz vielleicht nachließ, wenn sie nicht

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mehr auf dem ihr zugewiesenen Feld kniete und Stunde um Stunde soviel Druck auf ihren Stummel ausübte.

»Ich hab selber schon einen ganz rauhen Hals«, sagte Nina. »Wollen hoffen, daß es nicht die Pest ist, was?«

Siân ging steifbeinig in die Stadt zurück. Ihr ganzer Beckenbereich schmerzte: ein feines Netz der Qual, das von dem Höcker nach innen zu strahlen schien. Ein bösartiger Kern, umgeben von Wurzeln und Trieben wie eine zu lange gelagerte Kartoffel, im Dunkeln still vor sich hin mutierend. Fibrose. Metastase. Dissemination. Worte, mit denen nur ein Arzt vertraut sein sollte.

Auf dem Weg zum White Horse and Griffin kaufte sie sich eine Flasche Brandy, ein Schächtelchen Schmerztabletten und,bei nochmaligem Überlegen, eine Riesentafel Schokolade. In der Abgeschiedenheit ihres Hotelzimmers nahm sie in regelmäßigen Abständen immer ein bißchen von jedem zu sich, während sie an der nächsten Seite von Thomas Peirsons geheimem Bekenntnis arbeitete.

»Okay«, sagte Mack am Tag darauf und beugte sich erwartungsvoll vor. »Da weiter, wo wir stehengeblieben sind, ja?«

»Ja.« In einem langen, tiefen Atemzug füllte sie ihre Lungen mit Seeluft.

Sie hatte sich mit ihm auf der Hälfte der hundertneunundneunzig Stufen verabredet, an derselben Bank, wo sie das erste Mal zusammengesessen hatten. Das war bequemer als ein Cafe oder Restaurant; sie hatte es hinterher nicht so weit, wenn sie zur Grabung zurückmußte, und es reichte ihr völlig, den Apfel zu verzehren, den sie am Morgen im Frühstücksraum des Hotels eingesteckt hatte. Obst war vermutlich genau das Richtige zu Mittag, wenn man verkatert

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war, und sie hatte sich bereits hoch und heilig gelobt, daß ihr nie wieder Schokolade über die Lippen kommen würde – weder in der einen noch in der anderen Richtung.

Außerdem war es ein strahlender Sonnentag, und wenn sie draußen an der frischen Luft saßen, konnte Hadrian bei ihnen sein, und Hadrian hatte ihr gestern richtig gefehlt.

Auch, wollte ihr scheinen, war die Wahrscheinlichkeit geringer, daß Mack sie an einem öffentlichen Aufgang küßte. Womit das Unvermeidliche noch etwas aufgeschoben war.

»Ich verhielt nur kurz, um eine Decke über sie zu ziehen, dann ging ich eilig mein Messer holen«, las Siân aus ihrem kleinen Notizbuch vor. Hadrian legte ihr prompt eine bettelnde Pfote aufs Knie – auf das rechte Knie, das aus Fleisch und Blut –, um sie darauf hinzuweisen, daß sie aufgehört hatte, ihn zu streicheln. »Ach, Hadrian, entschuldige«, flötete sie und zauste seine Mähne. »Was bin ich doch für eine schlechte Mutter…«

»Mach schon, mach schon«, knurrte Mack ungeduldig. »Er wird’s überleben. Lies.«

Sie nahm das Notizbuch hoch und genoß dabei das Quentchen Macht, das sie über ihn besaß – die einzige Macht, die ihr noch blieb, bevor sie bedingungslos kapitulierte.

Ich verhielt nur kurz, um eine Decke über sie zu ziehen, dann ging ich eilig mein Messer holen, das selbe Messer, das ich sonst zu Tausend harmlosen zwecken benutzt habe: Seile kappen, Fische ausnehmen, Äpfel schälen, Wale abspecken. Da ich mich allein im Haus wähnte, kam ich ohne jede Vorsicht die Treppe herunter, und erschrak, als ich im Wohnzimmer auf unsere Anne stoße, und sie ruft, Vater, was ist los? Lauf und paß deine Mutter auf dem Markt ab, sage ich. Wir brauchen doch keinen Schinken, denn grad fällt mir ein daß Fleischer Finch gesagt hat, daß er uns einen stattBezalung für sein Öl geben will. Gleich läuft sie los, Gott Lob.

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Ich fand mein Messer und kehrte ins Zimmer oben zurück, das nähmliche Zimmer wo ich itzt diese Worte schreibe. Es schien mir, als wäre Mary von der Stelle weggerutscht wo ich sie hingelegt hatte, näher zur Tür gekrabelt, aber als ich ihren Namen sagte, rürte sie sich nicht. Wider nahm ich sie dicht an die Brust, hielt sie wie ein kleines Kind. Ach wie gern hätte ich ihr das Messer erspart! Hatte ich die innre Stärke, sie statt deßen grün und blau zu prügeln, ihren weichen Schädel mit meinen Fäusten einzuschlagen, und ihr die Rippen wie Reiser zu brechen? Ich mußte zugeben, die hatte ich nicht. Also zögerte ich nicht länger sondern hielt sie über den Waschkessel und hieb ihr die Klinge tief in den Hals, daß das Fleisch bis zum Knochen klafte. Das Blut strömte aus wie eine Welle, wie eine leuchtend rote Welle, und bekleidete ihre Naktheit.

Siân schaute auf. Macks Augen leuchteten vor Erregung, und die großen Fäuste drückten gegen das Kinn, daß die Knöchel ganz weiß waren. So wie sie darauf gebrannt hatte, ihm die neueste Fortsetzung zu bringen, mußte sie gewußt haben, daß er so reagieren würde, doch wo sie jetzt diesen Blick in seinen Augen sah, schämte sie sich.

»Das ist alles«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. »Mehr habe ich nicht geschafft. Wenn du wüßtest, was das für eine Mühe war…«

Er lehnte sich zurück, ließ sich das Ganze eingehen. »Wow«, hauchte er. »Der Typ war ein richtiger, waschechter Psycho des achtzehnten Jahrhunderts. Hannibal Lecter im Rüschenhemd.«

»Wer ist Hannibal Lecter?« »Ach, komm! Der beliebteste Serienmörder der Welt! Willst

du behaupten, du hättest Das Schweigen der Lämmer nicht gesehen?«

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»Netter Titel«, sagte sie, wobei sie Hadrians inständigem Flehen, ihn zu streicheln, endlich nachgab. »Hört sich an wie ein präraffaelitisches Gemälde von William Holman Hunt oder so jemand.«

»Wer ist William Holman Hunt?« Sie schwiegen ein paar Sekunden lang, in denen Siân Hadrian

knuddelte und Mack zusah, wie der Hund unter ihren Händen langsam überschnappte.

»Jedenfalls, was unseren Freund Thomas Peirson betrifft«, erklärte er, als Siâns Gesicht schließlich zu seiner Verwirrung in Hadrians Flanke verschwand: »Er ist ein Star, siehst du das nicht? Er könnte Whitby richtig zu einer Attraktion machen – einer modernen Attraktion.«

Mit strengem Blick tauchte Siân wieder auf. »Kriegst du das eigentlich niemals satt«, fuhr sie ihn an,

»diese ach so moderne Begeisterung für Psychopathen und kranke Taten? Das kann doch nicht gut für uns sein – für uns als Kultur, meine ich. Uns ständig mit Wahnsinn und Brutalität vollzustopfen.«

»Mach dir nichts vor, Siân, das war schon immer so. Wahnsinn und Brutalität sind und bleiben das täglich Brot der Geschichte.« Und er lächelte in dem sicheren Wissen, daß er, neben vielen anderen Argumenten, Hitler und de Sade auf seiner Seite hatte.

Siân wandte sich von ihm ab und blickte, auf eine Eingebung hoffend, zur Uferanhöhe auf. »Denk mal daran, wie Sankt Hilda seinerzeit hier das erste Kloster gegründet hat«, sagte sie, »lange bevor Whitby überhaupt Whitby hieß. Denk an die Hingabe, die geistige Energie, die in diesen Ort hineingesteckt wurde. Ein kleines Gebetskraftwerk auf einem Steilufer direkt an der wilden See. Ich finde das aufregend – viel aufregender als irgendwelche Serienmörder.«

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»Trefflich, trefflich«, machte er den affektierten Ton eines senilen Lords nach. »Aber im Ernst, Siân, ich bin sicher, deine Sankt Hilda war genauso verkorkst wie alle andern.«

Sie fuhr so heftig zu ihm herum, daß Hadrian über die jähe Bewegung erschrak.

»Woher willst du denn das wissen?« fauchte sie, während der arme Hund sich zwischen ihnen duckte.

»Oh, ich habe ausgiebig darüber gelesen«, schoß Magnus zurück. »Hast du gewußt, daß freundliche Elfen mitten in der Nacht Geschichtsbücher durch meinen Briefschlitz werfen? Es ist wie in der Fernuniversität – erstaunlich, was man alles lernt. Ein kompletter Grundkurs über religiöse Fanatiker in England, mit Farbillustrationen. Eine schrittweise Einführung in die Techniken der Selbstgeißelung.«

»Du gibst dir überhaupt keine Mühe, diese Leute zu verstehen! Bloß weil sie nicht in Autos herumfuhren und nicht mit Handys telefonierten…«

Er warf die Hände in die Luft, genau wie Patrick es immer gemacht hatte, und rief: »Heiliger Strohsack, so was von Arroganz! Du meinst, wenn ich nur ein klein bißchen gebildeter wäre, würde ich einsehen, was für herzallerliebste Goldstücke diese Bekloppten in Wirklichkeit waren. Aber ich habe meine Geschichtsbücher und meine Hochglanzbroschüren gelesen, herzlichen Dank. Und dieseBettelmönche und Klosterbrüder und Äbtissinnen, einige von denen mögen ja an das geglaubt haben, was sie taten, aber ihre Philosophie stinkt zum Himmel. Haß auf den menschlichen Körper, darauf läuft es letztendlich hinaus. Haß auf alle natürlichen Triebe, Haß auf alles Lustvolle. Denk nur an ihren Tagesablauf, Siân: um Mitternacht raus aus dem Bett, in einen gräßlichen düsteren Saal tappen, auf harten Steinfliesen niederknien, in eisiger Kälte beten, die ganze Nacht und den ganzen Tag beten und singen. Grobe Kleidung am Leib, deren

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erklärter Zweck es ist zu verhindern, daß du dich zu wohlfühlst. Schmackhaftes Essen verboten, damit du nur ja nicht der Völlerei erliegst. Gespräche verboten, damit du durch nichts von deinem Zombiedasein abgelenkt wirst. Und wenn du es wagst, gegen die Vorschriften zu verstoßen, wirst du öffentlich ausgepeitscht. Das ist doch krank!«

Er deutete zur Abtei hinauf, Daumen und Zeigefinger starr wie ein Revolver.

»Deswegen ist das eine Ruine da oben, begreifst du das nicht? Die Ursache sind keine Orkane oder Heinrich VIII. oder ein Beschuß durch deutsche Kriegsschiffe 1914. Die Ursache ist, daß die Gesellschaft sich weiterentwickelt – sich weiterentwickelt bis zu einem Punkt, wo wir erkennen, daß wir es nicht nötig haben, uns von einem Haufen trauriger alter Perverslinge sagen zu lassen, daß wir in die Hölle kommen, wenn wir das Leben zu sehr genießen. Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, Siân. Wach auf.«

»Du schreist mich an«, seufzte sie, ganz elend vor lauter Déjà-vu. Lautstarke Streitereien mit Patrick in der Öffentlichkeit, wo alle Köpfe sich nach ihnen umdrehten, wütende Gefechte, die zuletzt unter zerknüllten Bettlaken gewonnen und verloren wurden.

Magnus verschränkte die Arme über der Brust und machte ein finsteres Gesicht.

»Herrgott noch mal.« Es kostete ihn sichtlich Anstrengung, nicht gleich wieder laut zu werden. »Das Mittelalter ist vorbei, schon gemerkt? Die Leute gucken sich gern die Ruine an, sie kaufen sich am Kiosk eine Postkarte von Sankt Hilda, aber weiter geht das nicht. Früher oder später werden die letzten paar Mauern einstürzen, und dann heißt es Adios, ta-ta, gut Nacht.«

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»Diese Mauern«, erklärte Siân eisig, »werden noch stehen, wenn Leute wie du längst dahin sind. Daran kann auch dein ganzes… Geblubber nichts ändern.«

Er funkelte sie böse an und schob seine breiten Schultern vor, als wollte er ihr gleich einen Fausthieb verpassen. Statt dessen warf er plötzlich mit einem gequälten Aufstöhnen die Arme um sie und zog sie so fest an seine Brust, daß er sie fast zerquetschte.

»Du machst mich wahnsinnig«, murmelte er. Sie fühlte seinen heißen Atem im Ohr, seinen hämmernden Herzschlag in ihrer Brust. »Ich will dich haben.« Und er küßte sie voll auf den Mund.

Siân wand sich in seinen Armen, schämte sich für ihn, doch sie wollte ihm keine öffentliche Abfuhr erteilen, vor allen Leuten, die vielleicht gerade vorbeikamen – und außerdem war sie erregt, hochgradig erregt. Sie drehte den Mund weg, aber schlang die Arme um seine Taille und klammerte sich an, die Wange an seinen Unterkiefer gepreßt. Wenn sie sich bloß für den Rest ihres Lebens so halten könnten, dachte sie, so Brust an Brust, das wäre genug. Sonst müßte nichts geschehen.

Er fing an, ihren Hinterkopf zu liebkosen, ihr Haar glattzustreichen; seine Hand fühlte sich groß genug an, um ihren ganzen Schädel zu umfassen, und sie vibrierte vor Angst und Begehren.

»Gib mir Zeit«, flüsterte sie – und er ließ sie los. »Alle Zeit… der Welt«, versicherte er ihr. Er atmete

schwerer, als wenn er gerade die Treppe hinauf- und hinuntergerannt wäre. »Du mußt mir nur versprechen, daß wir uns Wiedersehen.«

Sie lachte zittrig, ebenso entzückt von der Dramatik der Situation wie angewidert. Hadrian machte es nur noch schlimmer, indem er mit seinem absurden stirnrunzelnden

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Und-jetzt?-Ausdruck von ihr zu Mack und wieder zurück blickte.

»Natürlich«, sagte sie. »Morgen mittag. Da werde ich den Rest der Beichte für dich haben.«

»Natürlich«, sagte er, vor Erleichterung schwitzend. Ein Schein von Normalität legte sich um sie; die Welt dehnte sich wieder auf Passanten auf der Kirchtreppe, Möwen, den Hafen aus. Die ganze Stadt hatte während ihres Kusses den Atem angehalten; jetzt ließ sie ihn entweichen.

»Wo sollen wir uns treffen?« fragte Mack. Siân überlegte kurz. »In der Whitby Mission. Da dürfen Hunde mit rein.« Er öffnete den Mund, um zu widersprechen, dann grinste er. »In der Whitby Mission.« Seine rechte Hand, deren warmer

Abdruck immer noch auf ihrem Rücken prickelte, faßte nach Hadrian und packte den Hund am Genick. »Da darfst du mit rein, hast du das gehört?« verkündete er und zerrte die Hand voll Haare spielerisch hin und her. »Und wir werden erfahren, was dieser böse Mann mit der Leiche gemacht hat, hm? Das wird spannend, nicht wahr?«

Hadrian, der mit gefletschten Zähnen vergebens den Kopf nach der drangsalierenden Hand drehte, war nicht überzeugt.

»Muff!« beschwerte er sich. Entgegen Siâns Erwartungen waren die inneren Schichten der

Rolle am ärgsten beschädigt. Irgendwann im Lauf ihrer zweihundertjährigen Gefangenschaft war etwas darin eingesickert, das zersetzender wirkte als schlichte Feuchtigkeit oder Gelatine und Tinte unter normalen Bedingungen. So sehr sie sich auch bemühte, die Seiten auseinanderzuschälen, ohne daß die Fasern oder das Schriftbild darunter litten, kam es doch immer wieder zu kleinen Malheuren: einer Abschabung der obersten Papierschicht hier, dem Verlust eines Kommas oder eines Schnörkels aus Ungeduld dort. Sie nahm einen Schluck

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Brandy direkt aus der Flasche und arbeitete weiter, obwohl ihr der Schweiß in die Augen lief.

»Los, komm, du!« knurrte sie, während sie sich damit abplagte, die Seite, die sie schon kannte, Millimeter für Millimeter von der Seite zu lösen, die sie noch nicht gelesen hatte. »Gib eine Erklärung.« Thomas Peirsons Handeln mußte doch einen Grund gehabt haben, einen tieferen Grund als schlichte Bosheit. Anständige, gottesfürchtige Männer des 18. Jahrhunderts waren keine Psychopathen, die zum künftigen Ergötzen Hollywoods unmotivierte Morde ausheckten.

Doch mit jedem Wort, das ans Licht kam, formte sich Thomas Peirsons Seele dunkler und erschreckender aus. Satz für Satz stellte er sich als genau das unbarmherzige Monster dar, das sie in Macks erregten Augen gespiegelt gesehen hatte.

Als die That geschehn war, überstürtzte ich mich vor Hast. Ich wikelte Marys Leiche in gewaxtes Segeltuch und verbarg sie in einer Kiste; dann säuberte ich mich, den Kessel, das Messer und den Fußboden vom Blute; woraufhin ich meinen Platz unten am Tisch einnam und mich stellte, als wäre ich mit den Abrechnungen beschäfftigt.

Der restliche Tag, und der Tag danach, waren eine Größere Marter, als ich sie im Jenseits zu leiden hoffe, selbst wenn es Gott gefallen sollte mich aus Seiner Gnade zu verstoßen und mich dem Teufel anheimzugeben. Während Marys Leichnam in meiner Seemannskiste steif wurde, machte ich mich mit meiner besorgten Frau und Tochter auf, in den Straßen von ganz Whitby nach unserm verlorenen Lämmlein zu suchen. Wir fragen Leute in der Ost-Stadt und in der West-Stadt; wir suchten bis zur Erschöpffung.

Sie ist mit diesem William Agar weggelaufen, sagt meine Frau. Er hat sie entfürt, der Halunke.

Also suchten wir Williams Mutter auf u. frugen sie was sie wiße, und sie hub darob ein solches Gezetter an, daß uns die

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Ohren klangen. Mein Jung ist nach London gefahrn, sagt sie, und ihr täuscht euch wenn ihr meint, er würde im träum dran denken eure nerrische Tochter mitzunemen. Mein Jung hat richtig die Flucht ergreifen müßen, daß er Ruh hat von ihren ganzen überspannten Geschichten u. ihren Lügen – die Stirn hat er sich geschlagen, der arme Kerl, und gesagt, Mutter, sind alle Mädchen so wirr im Kopf, daß sie sich Liebe einbilden, wo nie von die Rede war? Itzt ist er ihre Nachstellungen endlich los, und wenn sie vorhat ihm nach London zu folgen, dann bete ich, daß sie mit ihren Ränken nicht weiter kommt, als bis in ein Hurenhaus in York!

Nach diesem Wortwexel, brachte ich die schreklich erzürnte Catherine nach Hause, und eine zeitlang schöpffte sie daraus sogar einen gewißen Muth, dann aber verfiel sie wider darauf zu warten daß Mary heimkehrte. Stunde um Stunde lauschten wir alle drei auf Schritte, die, wie ich wußte, nicht kommen würden. Ein Leid ist ihr geschehn! weinte meine liebe Frau und rang die Hände. Ein Leid ist ihr geschehn, ich weiß es! Unsinn, Frau, sagte ich und erfand ein Duzend tröstlicher Geschichten mit glüklichem Ausgang.

In der dritten Nacht begaben sich meine Lieben endlich zu Bett und schliefen tief, und ich trug meine geliebte Mary in dieNacht hinaus. Da ich damals erst Frisch im Ölhandel war, hatte ich noch die Stärke eines Walfängers, u. trug sie so leicht in meinen Armen wie ein Dieb einen Sak Leuchter trägt. Im Schutze der Dunkelheit lief ich die Tin Ghaut hinunter zum Fluß, und dort übergab ich ihren armen Körper dem ruhelosen Wasser.

Am nächsten Morgen ward sie gefunden und am Fish Pier herausgeholt. Der Schrei MORD! geht von Mund zu Mund durch die ganze Stadt, bis er zu meiner Tür dringt. Ich aber heuchelte weiter: Ihr müßt euch irren, Das kann nicht seyn, pp. Dann aber brachten sie mir ihren Leichnam, und die Straßen

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von Whitby hallten wider von meinem Weinen und Wehgeschrei.

Um Mitternacht stolperte Siân sturzbetrunken zwischen den Grabsteinen auf dem East Cliff umher. Ein riesiger Vollmond, Draculas dämonischer Liebschaften würdig, erleuchtete ihren Weg – dazu eine mickrige Plastiktaschenlampe mit versagenden Batterien.

»Wo bist du, du krankes Arschloch…«, murmelte sie, während sie mit dem schwachen Lichtstrahl über die Grabsteine strich.

Ihre Mission, soweit erklärbar, falls jemand sie beim Verlassen des White Horse and Griffin zur Rede gestellt hätte, war Rache. Rache an einem Mann, der seine eigene Tochter ermordete, nur weil sie nicht irgendeinem abscheulichen religiösen Ideal genügte. Rache an Mack, weil er mit allem so ekelhaft recht hatte, weil er den wunden Punkt an ihrem Glauben an die Menschheit erspürt und eine tödliche Dosis Zynismus hineingespritzt hatte. Rache an Sankt Hilda und allen ihres Schlages, weil sie so erbärmlich unfähig waren, auch nur irgend jemanden irgendwo vor einem tragischen Schicksal zu bewahren. Rache an der ewigen, unergründlichen Bosheit der Menschen. Rache an dem ganzen verdammten gottlosen Universum, weil es entschieden hatte, daß sie sterben mußte, wo sie doch, wenn es dem für solche Fragen offenbar zuständigen verdammten zellularen Roulette im Grunde ganz egal war, lieber weiterleben würde.

Rache an THOMAS PEIRSON, WALFÄNGER- UND ÖLHÄNDLER, dessen Grabstein jetzt schief vor ihr stand. Gatte von Catherine, Vater von Anne und Unleserlich. Arme unleserliche Mary: bei ihrem Geliebten abgeblitzt, von ihrem Vater gemetzelt, von zwei Jahrhunderten Nordseewind von

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ihren jämmerlichen paar Zentimetern Gedenkstein getilgt. Siân kniete sich auf den Boden und attackierte das Grab mit einem Erdschäufelchen.

GRABSCHÄNDUNG! MYSTERIÖSER VANDALISMUS AUF DEM FRIEDHOF, würde es in der Whitby Gazette heißen.

Auch wenn sie betrunken war, wurde ihr schon nach den ersten Stichen klar, daß aus ihrem großartigen Plan, Peirson auszugraben und seine Gebeine ins Meer zu schmeißen, nichts werden konnte. Ihr Zorn und ein kleines Schäufelchen ergaben ein zu schwaches Gemisch, um große Erdmassen schwungvoll himmelwärts zu befördern; sie kam nur mit Mühe durch die Grasnarbe.

Mit einem verärgerten Ausruf gab sie den Versuch auf, ja sie warf sogar das belastende Schäufelchen weg – sollte die Polizei sie doch aufspüren und verhaften, wenn die nichts Besseres zu tun hatte! Dämliche Provinzler! Sie torkelte zu den hundertneunundneunzig Stufen zurück und schlug prompt lang hin, so daß sie sich die Hände bis zu den Unterarmen aufschürfte.

EINBEINIGE BRICHT SICH AUF KIRCHTREPPE DEN HALS. Nein, bloß nicht, alles, nur das nicht.

Sie zwang sich, auf einer Bank Platz zu nehmen und gleichmäßig zu atmen. Die ausnüchternde Wirkung von zehn Zügen Seeluft entsprach wahrscheinlich der von einem Schluck Kaffee; sie beschloß, sich die Lungen mit salzigem Sauerstoff vollzupumpen, bis sie wieder imstande war, sicheren Schrittes zum Hotel zurückzugehen.

Sie blieb mehrere Minuten lang auf der Bank sitzen, atmete ein und aus und versuchte, sich die spitzen Kieskörnchen von ihren blutigen Händen zu reiben. Dabei starrte sie auf den Treppenabsatz hinunter, auf dem Generationen von Sargträgern ihre Last noch einmal abgesetzt hatten, ehe sie das letzte Stück bis zum Friedhof von Saint Mary in Angriff

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nahmen. Siâns Füße… Fuß – Füße, Schuhe, egal, verdammt noch mal – bedeckten dieselbe Fläche wie vor ihr Hunderte, wenn nicht Tausende längst dahingegangener Whitbyer Toter.

»Ich habe es dir versprochen«, flüsterte eine Männerstimme an ihrer Schulter. »Ich habe dir versprochen, dich hier hinaufzutragen, nicht wahr? Und so ist es geschehen.«

Alle Haare an Siâns Körper stellten sich auf, und sie drehte das Gesicht in eine unheimliche Helligkeit, die die hundertneunundneunzig Stufen heraufgeglitten war wie der auf Fernlicht gestellte Scheinwerfer eines Autos. Neben ihr stand vorgebeugt ein Mann, ein Mann mit durchscheinendem weißen Kopf und Rumpf. Durch seine schimmernde Haut hindurch sah sie schwach, aber unverkennbar die dunklen Fenster und Ziegeldächer der Häuser unten.

Instinktiv schlug sie mit der Faust nach ihm, und er verschwand.

Es dauerte bis zum nächsten Mittag, bevor Siân auch nur daran dachte, etwas Hochfliegenderes zu unternehmen, als sich den Mund mit Wasser auszuspülen. Die meiste Zeit lag sie bloß im Bett und verfolgte den langsamen Fortgang eines durch das Veluxfenster fallenden Sonnenstrahls; er begann blaß und diffus auf den Fußleisten am hinteren Ende des Raumes und rückte dann, immer kräftiger werdend, Zentimeterweise über die Bodendielen vor, bis er nach und nach den Tisch und den blauen Plastikbeutel überzog. Hätte Siân aufrecht gesessen und gebetet, statt schlapp dazuliegen und zu stöhnen, hätte man sie für eine Benediktinernonne in einer Gebetszelle halten können, die für nichts außerhalb ihres Klosters einen Sinn hatte als für den gemessenen Fortgang der Sonne über den ihrem Blick verborgenen Himmel.

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Mack und Hadrian würden bald in der Mission sein und auf sie warten, aber diese Verabredung konnte sie unmöglich einhalten. Die beiden würden es wohl morgen noch einmal versuchen müssen, wenn sie wieder unter den Lebenden weilte.

Sie überlegte, ob sie die Grabungsleiterin anrufen sollte, um sich für ihr Ausbleiben zu entschuldigen. Aber außer Höflichkeit konnte sie keinen Sinn darin sehen, da ihre Abwesenheit gewiß allen aufgefallen war, und überhaupt, was sollte sie sagen? Ich habe die Grippe. Oder wie wäre es mit: Ich habe einen tierischen Kater. Oder wenn ihr so richtig nach Beichten war, konnte sie sagen: Ihr solltet euch einen Ersatz für mich suchen. Ich habe vor, mich umzubringen, solange ich gesundheitlich noch dazu imstande bin. Siân lag ganz still und stellte sich vor, wie sie zur Telefonzelle am Fuß des Caedmonsteigs ging und diese Worte in den Apparat sprach. Da fiel ihr ein, daß Samstag war. Niemand erwartete sie irgendwo.

Nur Mack und Hadrian. Sie sah auf den Wecker. Halb eins. Mack hatte sicher

Besseres zu tun, als auf sie zu warten: sie spürte in ihm diese typisch männliche Mischung von Hunger nach weiblicher Gesellschaft und keiner Geduld mit der Art der Frauen, den Männern immer ihre wertvolle Zeit zu stehlen. Vielleicht würde er sich die Mühe machen, die Kirchtreppe hinaufzusteigen in der Hoffnung, ihr zu begegnen. Vielleicht würde er sogar 1,70 Pfund bezahlen, um auf dem Abteigelände nach ihr zu schauen. Oder vielleicht war er, ihren Instinkten zum Trotz, bis über beide Ohren in sie verliebt und wartete in der Gaststube der Mission, bis diese zumachte und die christlichen Mamsellen ihn auf die Haggersgate hinausscheuchten, einen traurigen jungen Mann mit einem Hund als einzigem Gefährten.

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Auf jeden Fall aber war sie froh, daß sie ihm nie gesagt hatte, wo sie wohnte. Sie brauchte ein Refugium, und sei es ein Hotelzimmer, das nach Alkohol stank.

Obwohl sie das Gefühl hatte, daß von ihrem Körper giftige Dämpfe aufstiegen und daß sie ganz flach atmen mußte, um dem Schmerz in ihrem Kopf allen Ausdehnungsraum zu geben, den er brauchte, ging es ihr heute seltsamerweise weitaus weniger schlecht als erwartet. Zum einen hatte sie keinen Alptraum gehabt, sofern man die Halluzination oben am Rand der hundertneunundneunzig Stufen nicht als solchen werten wollte. Zum erstenmal seit ihrem Unfall hatte sie eine Nacht durchgeschlafen, ohne verfolgt oder verhackstückt zu werden. Die Erfahrung von einigen Stunden gnädiger Bewußtlosigkeit, für andere Menschen eine Selbstverständlichkeit, wenn sie den Kopf auf ein Kissen legten, war für Siân etwas Neues, und sie hoffte, das irgendwann noch einmal erleben zu dürfen.

Die Verzweiflung der letzten Nacht, die maßlos angewiderte und desillusionierte Sicht der Menschheit, schien ebenfalls verflogen zu sein. Sie fühlte sich innerlich gereinigt, hohl und durchlüftet, als ob von alledem, was sie je gewußt hatte, nichts mehr in ihr gespeichert wäre. Wie ein kleines Kind hatte sie von so gut wie nichts eine Ahnung und mußte auf Aufschlüsse von außen warten, bevor sie ein Urteil darüber abgeben konnte, in was für einer Welt sie sich befand.

Es war ein höchst merkwürdiges Gefühl, aber nicht unangenehm.

Als es Nachmittag wurde, machte Siân sich zum Ausgehen bereit. Sie wusch sich die Haare, zog sich nett an, klebte Pflaster auf die Abschürfungen an ihren Händen und Handgelenken, obwohl ihr klar war, daß die bald abgehen würden. Als sie gegen drei vom White Horse and Griffin aufbrach, spielte sie mit dem Gedanken, auf das East Cliff zu

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steigen und sich hinunter auf den Felsenstrand zu stürzen, wo sie beim Aufprall augenblicklich zu sterben hoffte, doch statt dessen überquerte sie die Brücke in die Weststadt und begab sich zur ärztlichen Untersuchung in das Springvale Medical Centre.

»Ich dachte, du hättest beschlossen, daß du mich niemals Wiedersehen willst«, sagte Mack, als er sie am Montag, achtundvierzig Stunden nach ihrer Verabredung, in The Whitby Mission and Seafarer’s Centre traf, wo sie auf ihn wartete.

»Danke, daß du gekommen bist.« Sie wählte ihre Worte sorgfältig. »Es war nicht schön von mir, daß ich am Samstag nicht erschienen bin. Aber es ging mir wirklich zu schlecht.«

Er musterte prüfend ihr Gesicht, sichtlich unschlüssig, ob er als Arzt oder als Liebender reagieren sollte, hin- und hergerissen zwischen den beiden Impulsen, professionelle Besorgnis zu äußern und ihre weiblichen Reize zu preisen, auch wenn sie noch so grausig aussah.

»Du siehst sehr müde aus«, sagte er nach kurzem Bedenken. Er seinerseits war wie üblich in blendender Verfassung, auch wenn er heute so tipptopp zurechtgemacht und gefönt war, daß er sie an ein männliches Model erinnerte. Sie stellte sich ihn während der Visite im Krankenhaus vor, von mehr Schwestern begleitet als eigentlich nötig. Oder was wäre, wenn er eine Privatpraxis aufmachte? Bestimmt würden reihenweise Patientinnen bis dahin ungeahnte Talente zur Hypochondrie entdecken. »Und ich muß sagen…«, bemerkte er zögernd zu Siân, »daß dein Gesicht ziemlich gerötet ist.«

»Ja, ich bin wirklich krank«, versicherte sie ihm, wobei sie mit einem kühlen Handrücken ihre Wangen betupfte. »Aber es ist jetzt im Abklingen. Du mußt dir keine Sorgen machen.«

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Sie saßen in der zweiten Gaststube der Mission, der mit dem Schild über der Tür: »Wenn Sie rauchen möchten oder einen Hund dabeihaben, benutzen Sie bitte diesen Raum.« Hadrian schnüffelte und winselte unter dem Tisch, nach Kräften bemüht, nicht zu bellen, schlug lautstark mit dem Schwanz auf den Boden und an die Tischbeine und legte Siân mehrfach auffordernd den Kopf in den Schoß. Trotz des tierfreundlichen Schilds über der Tür war er im Augenblick der einzige Hund im Raum, und er buhlte schamlos. Mack, der einen nervösen Eindruck machte, drehte sich eine Zigarette mit bernsteingelbem Tabak aus einem knisternden Kunststoffbeutel.

»Ich wußte gar nicht, daß du rauchst«, sagte Siân. »Tu ich auch nicht – meistens«, erwiderte er und machte mit

einem schnellen Hochziehen der Augenbrauen auf die leicht verräucherte Atmosphäre aufmerksam, die die Leute an den anderen Tischen erzeugten. »Mich packt bloß hin und wieder die Lust, wenn die Luft davon voll ist.« Ein verschmitztes, entwaffnendes Grinsen breitete sich langsam auf seinem Gesicht aus, so als ob er, der bravste Schuljunge der Stadt, paffend hinter einer Mülltonne ertappt worden wäre. »Nicht gerade das gute Beispiel, das man als Arzt geben sollte, hm? Aber wenigstens rauche ich nicht die Massenware.«

»Damit bist du natürlich reingewaschen«, bemerkte sie trocken.

So begann der Schlagabtausch zwischen ihnen schon wenige Minuten nach ihrem Wiedersehen aufs neue. Magnus entspannte sich sichtlich, vielleicht aus Erleichterung darüber – oder vielleicht war es auch das Nikotin.

»Du hast mir gefehlt«, sagte er. Sie leckte sich die Lippen und öffnete den Mund zur

Erwiderung.

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»Baff!« sagte Hadrian und bumste mit dem Schädel an die Unterseite des Tisches.

Mack hob die Tischdecke an und spähte halb belustigt, halb verärgert darunter. »Hadrian hat sich hier am Samstag bis auf die Knochen blamiert, ob du’s glaubst oder nicht«, sagte er und packte dabei den Hund am Schwanz, damit er sich herumdrehte. »Gewinselt hast du, daß alle geguckt haben, nicht wahr, du Racker? Dich hab ich zum letztenmal irgendwohin mitgenommen.«

»Muff!« versetzte Hadrian so leise, wie seine hündischen Stimmbänder es zuließen.

Mack ließ die Tischdecke wieder fallen, und Hadrian kehrte zu Siân zurück; nur seine flauschige weiße Rute schaute heraus und rührte die rauchige Luft auf. Die anderen Gäste, hauptsächlich ältere Paare, lächelten und stießen sich gegenseitig an; dieser Hund war besser als Fernsehen.

»Hast du Hunger?« fragte Mack. »Ich kriege schon eine warme Milch gemacht«, antwortete

Siân. »Sie werden sie bringen, wenn sie fertig ist.« Er stand auf und ging hinüber zur Hauptstube, um die

Speisekarte zu studieren. Siân wußte genau, daß nichts nach seinem Geschmack sein würde. Er würde, prognostizierte sie, noch am ehesten die Quiches in Erwägung ziehen, sich dann aber dagegen entscheiden, weil die zur Auswahl stehenden Sorten in der geradlinigen unlondonischen Art der Mission einfach als »Käse und Zwiebeln« und »Speck und Eier« bezeichnet waren.

Während sie auf seine Rückkehr wartete, streichelte sie abwechselnd Hadrian und blätterte das Whitbyer Kirchenblättchen Streonshalh durch. Die große Neuigkeit war die Kirchensynode – selbstverständlich nicht die alte, zu der Sankt Hilda seinerzeit eingeladen hatte, sondern eine demnächst bevorstehende. Es gab Anzeigen für Videos und

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Laserfarbkopien, aber auch lange Artikel über die nützlichen Eigenschaften der Erle und des Weidenröschens. Seit letztem Monat waren erschreckend viele Gemeindemitglieder gestorben, und zwar, trotz ihrer angeblich höheren Lebenserwartung, mehr Frauen als Männer. Vier verschiedene Bestattungsunternehmer boten Siân ihre Dienste an.

Erfreulich dagegen war, daß ein gemischter Chor mit Namen Sleights Singers, gegründet 1909, sie werbend umsäuselte: »Neue sangesfreudige Mitglieder immer willkommen.« Sicher, das klang verstaubt, aber hinter der Verstaubtheit spürte sie eine ehrliche menschliche Offenheit, das Versprechen, daß sie, wenn sie an einem bestimmten Abend in einem bestimmten Haus in Sleights auftauchte, auf der Stelle neue Freunde haben und mit ihnen zu singen anfangen könnte. Siân prägte sich die Adresse ein. Wenn sie am nächsten Donnerstag zwischen viertel nach sieben und neun noch lebte, würde sie vielleicht mal vorbeischauen.

Mack kam zum Tisch zurückgeschlendert und setzte sich. »Nichts für Magnusse?« fragte Siân mit unbewegter Miene. »Nichts für Magnusse«, bestätigte er. »Hör mal, ich weiß, du

warst krank und so weiter, aber bist du vielleicht dazu gekommen… äh…«

Sie zog ihr Star-Wars-Notizbuch aus der Jacke und hielt es sich an den Mund. Sie genoß die Lautheit dieser stummen Geste, ja ihr kam der Gedanke, daß alle Worte, die sie bis dahin gewechselt hatten, überflüssig gewesen waren, ein umständliches rhetorisches Spiel, und ohne weiteres ersetzbar durch ein paar sparsame Handbewegungen.

»Ich habe jetzt alles«, sagte sie. »Es ist fertig.« Eine mütterliche Frau kam an den Tisch und stellte ein hohes

Glas warme Milch vor Siân. Sie legte ihr auch eine kalte Fleischpastete in einer Papierserviette hin.

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»Wow«, murmelte Mack, als sie wieder in die Küche gegangen war. »Wenn man extra bezahlt, kriegt man dann einen Teller? «

»Ich habe ihr gesagt, der Gast würde keinen benötigen«, entgegnete Siân und beförderte die Pastete umgehend unter den Tisch, wo Hadrian sie geräuschvoll verputzte.

Mack sah sie konsterniert an. »Warst du dir so sicher, daß wir kommen würden?«

»Nein, war ich nicht«, sagte sie und nahm einen vorsichtigen Schluck von ihrer Milch, während zu ihren Füßen der Hund grompf, schlabber, schnapp machte und Ähnliches mehr. »Aber die Vorstellung, Hadrian diese Freude zu bereiten, hat mir so gefallen, daß ich sie ihm bestellt und gehofft habe, er würde sie bekommen. Und jetzt hat er sie.«

Er runzelte die Stirn, als ob ihre Erklärung ein dorniges – oder ein klebrig sentimentales – Rätsel wäre, von dem er lieber die Finger ließ.

»Okay: lies«, sagte er und deutete auf das Notizbuch. »Bitte.« Sie beugte sich vor, und er tat es ihr nach, so daß sich ihre

Gesichter ganz nahe waren, was Tuscheln und Raunen hinter ihnen auslöste. Siân trug das Bekenntnis des Thomas Peirson mit leiser Stimme vor, die spektakulären Passagen noch leiser, und gönnte sich zwischendurch alle paar Sätze einen Schluck Milch. Als sie die Stelle erreichte, wo Marys Leiche aus dem Esk gefischt worden war und ihr Vater sich vor Weinen nicht lassen konnte, schüttelte Magnus bewundernd den Kopf.

»Wow«, sagte er. »Thomas Peirson, Hut ab. Hollywood wartet auf dich.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Siân. »Es kommt noch mehr. Die letzten anderthalb Seiten habe ich gestern nacht gemacht. Sie werden dich enttäuschen, Mack.«

Sie räusperte sich und las im selben leisen Ton wie zuvor weiter. Doch dies waren jetzt neue Worte, Worte, die sie in den

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frühen Morgenstunden hervorgeholt hatte, als ihre nüchterne Hand ein letztes Mal das Messer führte und sie Tränen des Mitleids auf das brüchige alte Papier vergoß.

Von den anschließenden Geschehnißen zu schreiben, fehlt mir die Zeit. Diese Beichte muß in der Erde vergraben werden, solange ich noch die Krafft dazu habe. Ich will nur so viel sagen, als daß die Trauerfeier für unsre Mary eine der größten war, die diese Stadt jemals gesehen hat. Sie hatte eine von sechs Kohlschwarzen Pferden gezogene Kutsche, und einen langen Zug Fackelntragender Trauergäste, denn damals wurden Begräbniße noch im dunkeln abgehalten. Als wir sie die Stufen hinauftrugen, trugen ganz in Weiß gekleidete Ministranden einen Jungfernkranz vor ihrem Sark her, und alle ihre Freundinnen hielten die Bänder. Der Pfarrer sprach mit großer Zuversicht von ihrem Platz im Himmel. Itzt, da die Reihe zu sterben an mich kommt, weiß ich nicht, ob ich meine Tochter wiedersehn werde. Sollte sie in der Hölle seyn, so bete ich, daß Gott Ursache finden möge mich dorthin zu schiken; sollte sie im Himmel sein, so erflehe ich Seine Vergebung. In diesen letzten Jahren, haben die Leute angefangen mich hinter meinem Ruhen den Bibel-Thomas zu nennen, denn ich habe mehr in der Heiligen Schrifft gelesen, als die meisten Geistlichen, und manch einer sagt: Er hätte Mönch werden sollen, das wäre für viele Wale ein Glük gewesen. Niemand kann ahnen, warum ich das Buch des Herrn so ernstlich studirte und jedes Wort umwenden mußte – wollte ich doch die Gewißheit haben, daß kein Fall wie meiner jemals gerichtet ward.

Streng nach dem Buchstaben der Schrifft habe ich kein Gebot gebrochen, so viel weiß ich. Und noch etwas weiß ich mit Sicherheit: Hätte ich meine Tochter genau so gelaßen, wie ich sie vorfand, mit dem Giftigen Pulver auf den toten Lippen und dem Namen ihres treulosen Geliebten auf den Bauch

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geschrieben, dann wäre sie mit einem Pfahl durch’s Herz in ungeweihter Erde verscharret worden. Jetzt liegt sie unter den Gerechten, und bald werde ich bei ihr seyn. Für wie lange? Das wird die Posaune des Jüngsten Gerichts erweisen.

Du, der Du diese Zeilen findest, der Du sie liest: Bete für sie, ich bitte Dich!

Thomas Peirson, Vater und Christ, nach bestem vermögen. Siân legte das Notizbuch auf den Tisch und trank ihre

restliche Milch aus. Hadrian hatte sich auf ihren Füßen schlafen gelegt, seine warme Flanke atmete gegen ihr linkes Schienbein. Magnus’ Stirn war noch stärker gerunzelt als vorher, so daß seine dunklen Augenbrauen beinahe zusammenstießen.

»Da komm ich nicht mit«, sagte er. »War sie am Ende ein Vampir? Diese Sache mit dem Pfahl durchs Herz…«

»So wurden früher Selbstmörder beerdigt«, sagte Siân. »Mary hatte Selbstmord begangen, Mack. Sie war schon tot, als ihr Vater sie fand.«

Die Runzeln auf der Stirn vertieften sich nur. »Und darum…«

»Und darum tat er, was er tun mußte.« »Schnitt seiner eigenen Tochter die Kehle durch, damit sie im

amtlichen Stück Erde verbuddelt werden durfte?« Siân nahm ihr leeres Glas und stellte es auf eine Seite des

Tisches, wie um Platz zu schaffen für eine Umarmung – oder ein Armdrücken.

»Magnus«, sagte sie, so ruhig sie konnte, »ich frage mich allmählich, ob du wirklich alles hast, was man braucht, um ein guter Arzt zu sein. Siehst du denn nicht, daß es für unseren guten Thomas schlicht und einfach nicht denkbar war, sein Kind mit ein paar sarkastischen Sprüchen aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert zu verteidigen? Als

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Selbstmörderin hätte sie nur Empörung und Verachtung geerntet; statt dessen gelang es ihm, ihr ein liebevolles und ehrbares Begräbnis zu sichern. Das kannst du ihm nicht zum Vorwurf machen.«

Mack lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und fuhr sich mit den Händen durchs Haar, überfordert, schien es, von der Zumutung, einen solchen ausgemachten Schwachsinn zu verstehen.

»Aber… was macht das für einen Unterschied? Gott fällt doch darauf nicht rein, oder? Wenn Mary sich umgebracht hat, kommt sie in die Hölle, nicht wahr?«

»Vielleicht hatte Thomas die Hoffnung, Gott werde ein Auge zudrücken.« Bei dem Laut, den Mack daraufhin mit häßlichem Nachdruck ausstieß, einem Mittelding zwischen höhnischem Lachen und wütendem Schnauben, zog sich Siân alles zusammen. »Bitte, Mack, versuch dich doch einmal in den Geisteszustand eines Menschen zu versetzen, der glaubt, daß es ein Leben nach dem Tode und einen liebenden und gerechten Gott gibt. Stell dir das Ende der Welt vor, wenn die Posaune des Jüngsten Gerichts erschallt und alle Toten sich aus ihren Gräbern erheben, die vielen Millionen Menschen, die jemals gelebt haben. Stell dir vor, wie Gott auf Whitby hinunterschaut, auf den Friedhof von Saint Mary, und dort, zwischen all den auferstandenen Seelen, steht Mary Hand in Hand mit ihrem Vater und ihrer Mutter und ihrer Schwester, alle vom Licht geblendet und unsicher, was jetzt als nächstes kommt. Stell dir das vor. Gottes und Marys Blicke begegnen sich, und plötzlich erinnern sich beide daran, wie sie gestorben ist. Die Tür zum ewigen Leben steht offen, und die anderen Bürger gehen alle hinein, die Säufer und die Klatschmäuler und die Männer, die Frauenherzen gebrochen haben. Aber Mary zögert, und ihr Vater legt den Arm um sie. Jetzt sage mir, Mack: Wenn du Gott wärst, was würdest du tun?«

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Magnus, verunsichert von der Intensität ihrer leuchtenden Augen, blies die Lippen, kaum fähig zu glauben, daß sie ihn so etwas fragte. »Ich hätte den Job gar nicht erst angenommen«, versuchte er die Sache ins Lächerliche zu ziehen. »Ich hätte der Götterinnung gesagt, sie sollen sich einen andern suchen.«

Er verzog den Mund zu einer Art flehendem Grinsen, das geradezu schmerzhaft im Widerspruch zu seiner schwitzenden Stirn und seinem gehetzten Blick stand. Er hoffte offensichtlich, der Kalauer werde die Spannung lösen und eine warme Atmosphäre harmlosen Gefrotzels wiederherstellen, aber die Hoffnung erstarb in der Eiseskälte zwischen ihnen.

»Tja«, sagte Siân mit einem Seufzen. »Dann ist es wohl nur gut, daß dich niemand gefragt hat, was?« Und sie klappte das Notizbuch zu und schob es in ihre Jacke zurück.

In Sorge, sie könnte sich zum Gehen rüsten, suchte Mack nach einem neuen Anknüpfungspunkt, einer Möglichkeit, ihr Gespräch zu verlängern, wenn nicht gar zu retten.

»Daß… daß Mary sich den Namen ihres Geliebten auf den Bauch geschrieben hat, das ist irgendwie komisch, nicht? Glaubst du, sie könnte geisteskrank gewesen sein?«

Siân stützte das Kinn auf die gefalteten Hände und schloß halb die Augen. »Ich glaube, daß sie sehr, sehr unglücklich war.«

»Eben das wollte ich damit sagen. Klinisch depressiv, würde heute die Diagnose lauten.«

»Wenn du meinst.« »Oder hatte sie vielleicht herausgefunden, daß sie schwanger

war?« »Mit einem kleinen Schwangerschaftstest aus der

Apotheke?« »Ich bin sicher, sie hatten auch im achtzehnten Jahrhundert

Mittel, nicht wahr, um das festzustellen.« Er sah sie hoffnungsvoll an, als wollte er sie auf seine Bereitschaft

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aufmerksam machen, die Weisheit früherer Zeiten anzuerkennen.

»Ich glaube nicht, daß Mary schwanger war«, sagte Siân. »Oder wenn, dann war ihr das nicht bewußt. Ich glaube, dieser William Agar hat sie defloriert und wollte dann nichts mehr von ihr wissen, und sie kam nicht über den Verlust ihrer Ehre hinweg.«

»Wow. Das ist so viktorianisch. Oder romantisch. Oder so.« »Wir brauchen alle etwas, woran wir uns halten können,

Mack«, sagte sie und zog dabei endlich ihre Füße unter Hadrians schlafendem Körper hervor. »Heutzutage mehr denn je. In unserer Zeit begehen weitaus mehr Leute Selbstmord als in jeder früheren Epoche. Was haben alle diese Leute verloren, wenn nicht ihre Ehre?«

»Von mir aus, aber… herrje, daß man die Entscheidung, zu leben oder zu sterben, davon abhängig macht, ob man von einem Freund den Laufpaß bekommen hat…«

»Ach, ich weiß nicht«, sagte Siân. »Wem wir uns hingeben, ist sehr wichtig, meinst du nicht?«

»Jap«, ertönte eine Stimme unter dem Tisch. Siân setzte sich auf ihrem Stuhl zurück und fing an zu lachen,

unbezähmbar, wie gekitzelt. Ihr rechtes Bein, das seit längerem eingeschlafen war, stach plötzlich wie mit Nadeln; der Höcker in ihrem Schenkel tat höllisch weh; das einzige an ihr, was keine Probleme machte, war das Teil, das von russischen Technikern angefertigt worden war.

»Alles in Ordnung mit dir?« fragte Mack mit nervösem Grinsen. Er hätte gern mitgelacht.

»Nein, mit mir ist gar nichts in Ordnung«, stöhnte sie, dannkicherte sie erneut. Zu allem Überfluß war auch noch Hadrian aufgewacht und schabte sacht mit der Pfote an dem Bein, dessen Nervenenden zu explodieren drohten. »Bist du schon mal tot gewesen, Mack?«

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»Was?« »Bist du schon mal klinisch tot gewesen? Du weißt schon,

nach einem Unfall, bevor du wiederbelebt wirst.« Er schüttelte sprachlos den Kopf. »Ich schon«, fuhr sie fort. »Und weißt du was? Ich habe das

Licht gesehen, von dem die Leute immer reden, das strahlende Licht auf der anderen Seite.«

Bevor er sich bremsen konnte, platzte Mack heraus: »Ja, ich habe ein paar Untersuchungen darüber gelesen: das kommt daher, daß die Synapsen im Gehirn blitzen oder so was in der Art…«

Nun hatte Siân endgültig genug, und sie erhob sich von ihrem Sitz.

»Tut mir leid, Mack«, sagte sie. »Ich muß jetzt gehen.« Eine Woche später, frisch aus dem Krankenhaus entlassen,

stieg Siân mit äußerster Vorsicht die hundertneunundneunzig Stufen zur Abtei hinauf. Die Ruine war bei dem Sommergewitter, das auf Whitbys moderneren Gebäuden Dächer und Satellitenschüsseln beschädigt hatte, unversehrt geblieben. Siân ging einmal ganz herum, um sich zu vergewissern, daß wirklich nichts fehlte, was nicht schon vorher gefehlt hatte, verharrte dann eine Weile im Schatten der hohen Ostwand der Abtei und freute sich an der gotischen Symmetrie der Reihen hoher Spitzbogenfenster und der schadhaften Vollkommenheit der alten Steinmetzarbeiten. Vielleicht hatte Gott mit diesem mittelalterlichen Gerippe doch noch etwas im Sinn.

Als sie zur Grabungsstätte hinüberging und hallo sagte, legten alle die Werkzeuge hin, scharten sich um sie und behandelten sie wie eine heimkehrende Heldin. Selbst die beiden Turteltäubchen aus Wales ließen sich immerhin lange genug in ihrer Fleißeslust stören, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Tatsächlich schienen alle maßlos erleichtert zu

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sein, daß sie wieder auf den Beinen war. Das verwunderte Siân; sie hatte niemandem gesagt, daß sie ins Krankenhaus gehen wollte, nur daß sie krank war und eine Pause von der Arbeit brauchte, aber nach dem Theater zu urteilen, das ihre Kollegen machten, hätte sie Lazarus sein können. Vielleicht war in den qualvollen letzten Tagen, bevor sie sich in die Klinik begeben hatte und in den Armen einer Schwester in Tränen ausgebrochen war, auf ihrem unverstellten und leichenblassen Gesicht die Todesangst für jedermann deutlich zu sehen gewesen.

Aber vielleicht war die Todesangst ja schon seit Jahren zu sehen gewesen.

Die Grabungsleiterin teilte ihr mit, daß ein gutaussehender junger Mann jeden Tag nach ihr gefragt hatte. Siân nahm die Nachricht nachdenklich auf, als ließe sie sich einen ganzen Troß in Frage kommender Männer durch den Kopf gehen, und fragte dann, ob der Betreffende einen schönen Hund bei sich gehabt habe. Eher einen traurig aussehenden, winseligen Hund, war die Antwort.

Von der strahlenden Nachmittagssonne durchgewärmt ging Siân zum Friedhof von Saint Mary hinüber, bis hart an den Rand des Steilufers. Sie merkte, daß durch das Gewitter etwas Erde abgebröckelt und auf die Felsen am Fuße der Anhöhe gefallen war. Die Erosion nagte am East Cliff, das unendliche Trachten der Natur, das Mißverhältnis zwischen Land und Wasser zu korrigieren. Mit jedem Stückchen Erde, das wegbrach, rückte die leere Luft näher an die große Gemeinde der Gräber heran. An einem Punkt in der Zukunft, irgendwann zwischen morgen und der Explosion der Sonne zur Supernova,würden Thomas Peirsons sterbliche Überreste und die seiner Lieben hinunter ans Ufer der Nordsee purzeln.

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Siân wich vom Rand zurück auf das sicherere Gelände, fand den Peirsonschen Grabstein und blieb sinnend davor stehen. Sie schwankte ein wenig, noch leicht benommen von Schmerzmitteln, Antibiotika und der Nachwirkung der Anästhesie. Die Spuren, die sie mit ihrem Schäufelchen im Boden hinterlassen hatte, waren kaum wahrzunehmen, nicht mehr als Kratzer von Hundekrallen.

Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel etwas auf sich zustürzen, doch bevor sie sich gegen den Stoß wappnen konnte, war es schon passiert. Sie prallte zurück, fiel aber nicht hin, diesmal nicht von einem Auto erwischt, sondern von Hadrian, der von ihrem Oberkörper zurücksprang wie ein überdimensionales Stofftier im Freudentaumel. Während sie torkelte und mit den Armen ruderte, tanzte er um sie herum und bellte ihr Mut zu.

Eine tiefe Männerstimme schrie: »Hadrian, nein!«, als Siân gerade an Thomas Peirsons Grabstein Halt fand. Magnus rannte herbei, die Hand ausgestreckt, und sie griff zu, obwohl es eigentlich nicht mehr nötig war.

»Herrje, tut mir leid…!« sagte Mack. Die Hände über dem Grab absurd verklammert standen sie sich gegenüber, er wie ein Geschäftsmann gekleidet, sie ganz in Schwarz wie im Gothic Look – der auch bei ihr nichts Gotisches hatte. Hadrian sprang hechelnd und schnüffelnd zwischen ihnen auf und nieder, und obwohl sein durchgedrehtes Verhalten zunächst lästig war, verschaffte es ihnen eine bequeme Entschuldigung, sich loszulassen.

»Vielleicht braucht er dringend Auslauf«, meinte Siân und wuschelte die flauschige Flanke des Hundes mit beiden Händen. »Hast du das Laufen aufgegeben?« Und sie deutete mit einem Nicken auf Macks eleganten Anzug, dessen Hosen ihr unwillkürlich das Bild heraufbeschworen, wie der Besitzer sie kritisch nach Hundehaaren absuchte. Sie konnte sich diesen

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Mann im Moment nur schwer mit einem dunklen Schweißpfeil auf der Brust vorstellen, spärlich bekleidet mit T-Shirt und kurzen Hosen, so sehr war die Erinnerung verblaßt.

»Es wurde ein wenig… impraktikabel«, sagte er und tat einen Ruck vorwärts, um Siân – zu spät – behilflich zu sein, als sie sich mit einem Schmerzenslaut neben Hadrian hinkniete und jetzt erst richtig anfing, den Hund zu knuddeln. »Hadrian wollte nicht mehr mit mir laufen, weißt du. Er schoß immer voraus wie eine Rakete. Völlig außer Rand und Band.«

»Und das hat dich schließlich veranlaßt, dich wie ein Versicherungsvertreter zu kleiden?«

Doch seine Lust zu Wortgefechten schien ihm vergangen zu sein; statt schlagfertig etwas zurückzuschießen, verzog er nur das Gesicht.

»Ich habe heute eine Sitzung, eine Konferenz«, erklärte er, und sein ohnehin recht gezwungener Blickkontakt mit ihr brach ganz ab. »Genauer gesagt, ich gehe. Aus Whitby weg.«

»Ach ja?« sagte sie, nachdem sie nur kurz mit dem Streicheln innegehalten hatte. »Zurück nach London?«

»Ja.« »Fertig mit der Arbeit?« »Ja.« »Beweis erbracht?« Er zuckte die Achseln und blickte zur Stadt hinunter,

ungefähr in die Richtung des Bahnhofs. »Das haben andere zu entscheiden.«

Siân hatte die Arme um Hadrians Hals, drückte mit dem Kinn seinen knochigen, zottigen Schädel. Sie wartete noch ein paar Sekunden ab, ob Mack sie zu der Frage nötigen würde oder ob er den Mut hatte, sie von ihrer Ungewißheit zu erlösen.

»Und was wird aus Hadrian?« durchbrach sie schließlich die Stille auf der Uferanhöhe.

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Mack lief knallrot an, ein häßlicher Ausbruch von den Haarwurzeln bis zum Kragen seines rahmweißen Hemdes. »Ich weiß nicht. Ich werde ihn wohl mitnehmen, denke ich, aber… ich kann mir nicht vorstellen, wie ich ihn im Zentrum von London halten soll.« Schweiß glänzte auf seiner großen roten Stirn, und er fing zu stottern an. »Aber er… er ist natürlich reinrassig, und ich bin sicher, er ist ein Vermögen wert, daher nehme ich an, daß sich… Experten finden ließen, nicht wahr, Kenner, die… äh… ihn nehmen würden.«

»Wieviel willst du für ihn haben?« fragte Siân. Sie hatte keinen Zweifel, daß er sich zu dieser Anfrage nicht würde verhalten können, machte sich auf eine verschämt vorgebrachte Widerlichkeit gefaßt: feige Vergeltung, Ausflüchte, Empörung. Sie irrte sich. Er war unverkennbar unendlich erleichtert.

»Siân«, erklärte er und schlug sich mit der Hand an die Stirn, »wenn du ihn willst, kannst du ihn haben.«

»Red keinen Quatsch«, sagte sie. »Er ist ein Vermögen wert, wie du so… unverblümt bemerkt hast. Wieviel willst du haben?«

Magnus lächelte, schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn lange genug gehabt, Siân. Jetzt möchte ich, daß du ihn geschenkt nimmst – wie die Geschichtsbücher, die du mir durch den Briefschlitz geworfen hast.«

»Spiel nicht den großen Gönner.« »Nein, nein!« wehrte er so lebhaft und bestimmt ab, wie sie

ihn selten erlebt hatte. »Du verstehst mich falsch, ich wollte ihn dir schon längst anbieten! Ich… ich wußte bloß nicht, wo du wohnst – ob du in der Lage wärst, dort einen Hund zu halten. Ich dachte, vielleicht wohnst du in einem Hotel…«

»Ja, vielleicht«, sagte sie. »Aber ich könnte woanders hinziehen, wenn ich wollte. Wenn es einen Grund gäbe.« Ja, ja, ja, dachte sie und verbarg ihr debiles überglückliches

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Grinsen in Hadrians dunklem Rückenfell. Meiner, meiner, meiner.

»Ich möchte nur nicht«, sagte Magnus gerade, »daß du einen falschen Eindruck von mir zurückbehältst – wirklich nicht. Als ob ich kein Fünkchen Großzügigkeit im Leibe hätte…«

Sie kicherte und drückte Hadrian fester an sich, um ihre Hysterie im Zaum zu halten, ihr Verlangen, zu weinen und laut zu heulen. Die Wunde in ihrem Schenkel pochte; sie fragte sich, ob die Naht aufgeplatzt war, als Hadrian sie vorhin beinahe umgestoßen hatte.

»Bloß nicht verkannt in die Geschichte eingehen, was?« sagte sie.

Mit einer Grimasse bestätigte er, daß sie einen Volltreffer gelandet hatte. »Jo.«

Siân nahm Hadrian als vierbeinige Stütze, um aufzustehen, was der Hund instinktiv zu verstehen schien.

Sie bemerkte, daß Mack verstohlen auf seine Uhr blickte, und erst da ging ihr auf, daß er wahrscheinlich einen Zug erwischen mußte und daß irgendwo in London ein Zimmer voll Leuten darauf wartete, von einem Mann in einem makellosen Anzug beeindruckt zu werden.

»Du verspätest dich meinetwegen, stimmt’s?« »Dann werde ich mich halt unterwürfig bei der versammelten

Ärzteschaft entschuldigen, und die Sache ist wieder gut.« Und er schloß bedachtsam seine riesigen Hände ineinander wie zum Gebet, beugte das Haupt wie ein büßender Mönch. »Mea culpa, mea culpa.«

Plötzlich raste die Zeit, als Siân begriff, daß dies nun tatsächlich der Abschied war.

»Ich muß dir noch deine Beichte zurückgeben«, sagte sie. »Und die Flasche. Aber nicht durch den Briefschlitz.«

»Mach dir deswegen keine Gedanken«, winkte er ab. »Du kannst sie behalten.«

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»Sie ist verdammt viel mehr wert als ein Finnischer Lapphund, das ist dir doch klar, nicht wahr?«

Ihr Versuch, seine Sprache zu sprechen, ging daneben; er lächelte wehmütig und guckte weg. »Für mich nicht. Ich mochte sie, wie sie war, bevor… bevor ich wußte, was drinstand. Als sie noch ein Geheimnis war, ein geheimnisvoller Gegenstand, den mein Vater als Junge aus den Trümmern von Tin Ghaut geborgen hatte. Etwas, das er hervorholte und mir zeigte, wenn ich brav war, und dann wieder an seinen besonderen Platz zurückstellte.«

»Tut mir leid, Mack«, sagte Siân. »Mea culpa.« »Schon gut«, beruhigte er sie. »Ich bin sicher, du schreibst

eines schönen Tages einen wissenschaftlichen Aufsatz darüber. Dann kannst du mich in der Danksagung erwähnen, hm?«

Sie trat vor und umarmte ihn, preßte fest ihre Hände auf seinen Rücken. Zunächst erwiderte er die Umarmung eher förmlich, dann gestattete er sich, sie an sich zu drücken, und stieß einen tiefen, langgezogenen Seufzer aus. Er roch nach Zahnpasta, Deo, Aftershave und ganz schwach nach Mottenkugeln, und irgendwie schaltete diese Kombination ihren Selbstschutz aus und brachte sie trotz ihres festen Vorsatzes, ja keine Melodramatik aufkommen zu lassen, doch noch zum Weinen.

»Ich weiß nicht mal deinen Nachnamen«, sagte sie. Er ächzte, und ein hicksendes Lachen übertrug sich von

seiner Brust auf ihre. »Boyle.« »Dafür kannst du deinem Vater keinen Vorwurf machen.« »Und deiner?« Sie umschlang ihn noch fester, überwand den letzten Rest der

von den Alpträumen zurückgebliebenen Furcht, seine Hand würde aufhören, ihre Haare zu streicheln, und sie bei der Kehle packen. »Der ist geheim«, sagte sie. Sie zog seinen Kopf zu ihren Lippen herunter und flüsterte ihm den Namen ins Ohr.

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Als Mack gegangen war, hob Siân im Schutz von Thomas Peirsons Grabstein ihren Rock hoch und inspizierte ihren bandagierten Schenkel. Der Verband war sauber und weiß, gänzlich unbefleckt von dem sich ausbreitenden blutigen Stigma, das sie sich ausgemalt hatte. Zuviel Phantasie, wie immer.

Zögernd drückte sie die operierte Stelle ab; sie tat weniger weh als vorher, und der Schmerz war jetzt rein lokal, nicht mehr das Netz brennender Qual in ihren inwendigen Organen.

»Wie es aussieht, tragen Sie seit etlichen Jahren ein kleines Stück Bosnien mit sich herum«, hatte der Arzt nach dem Röntgen gesagt. Sie hatte zuerst auf der Leitung gestanden und angenommen, das sollte eine süffisante, ach so scharfsinnige Bemerkung über ihre Beziehung zur Vergangenheit sein. Gemeint hatte er aber, daß ein Steinsplitterchen, das sich tief in ihr Fleisch gebohrt hatte, als das Auto ihren schwerverletzten Körper zwanzig Meter weit über eine von Panzern aufgerissene Straße schleifte, hinterher bei den verzweifelten Versuchen, sie wieder zusammenzuflicken, unbemerkt geblieben war. Überarbeitete Lazarettchirurgen retteten ihr dasLeben, taten ihr Äußerstes, um ihr Knie zu retten, und mußten es wegen einer gewaltigen Schwellung und Entzündung dann doch opfern. Aber irgendwie war bei dem ganzen Drama ein hineingeriebenes Splitteilchen übersehen worden und hatte sich dann in den Jahren seither Millimeter für Millimeter an die Oberfläche geschoben.

»Das kann doch gar nicht sein«, hatte Siân gemeint. Aber ihr sicheres Gefühl, daß sie das achte Weltwunder sein mußte, wurde von der medizinischen Statistik glattweg widerlegt. Die Tendenz von Fremdkörpern, sich aus dem Fleisch, in das sie eingedrungen waren, wieder herauszuarbeiten, sei bis in die Renaissance bezeugt, hatte ihr der Arzt versichert; im Lauf der

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Geschichte sei davon schon ein ziemlich großer Haufen zusammengekommen.

Siân stand oben an den hundertneunundneunzig Stufen, befingerte das Geröllkörnchen in ihrer Tasche und fragte sich, ob Magnus es mit der höchsten Laufgeschwindigkeit, die sein Anzug und seine steifen schwarzen Schuhe ihm gestatteten, schon zum Bahnhof geschafft hatte. Sie fragte sich, wieviel älter er wohl werden mußte, wieviel er noch durchleben mußte, bis die Zeit ihn zum richtigen Mann für sie ausgewittert hatte – wobei sie sich nüchtern klarmachte, daß er bis dahin bestimmt schon jemand anders gefunden hatte. Das Steinchen in ihrer Tasche war glatt wie ein Flußkiesel, als ob ihr Fleisch es jahrelang wie einen Sahnebonbon abgelutscht hätte in dem Versuch, es zu verdauen. Abermals zuviel Phantasie.

Seltsam, sich vorzustellen, daß Whitbys schlafender Hafen hier unter ihr glitzerte, weitgehend verdeckt von einem pilzartigen Gewucher typisch englischer Dächer, während in ihrer Hand das Relikt einer tausend Meilen entfernten Straße auf dem vom Krieg zerrissenen Balkan ruhte. Sie überlegte, ob sie es die Treppe hinunterwerfen sollte, einfach um zu sehen, wie lange sie es im Auge behalten konnte, bevor es unwiderruflich ein Teil der britischen Landschaft wurde. Aber letzten Endes gefiel ihr die ursprüngliche Idee besser, sich von einem Juwelier einen Anhänger daraus machen zu lassen. Ein silbernes Kettchen wäre nett; Sankt Hilda würde ihr vergeben müssen.

Sie erreichte die Abtei, als gerade die letzten Besucher des Tages gingen. Aufbrechende amerikanische Touristen sahen sie mitleidig an, als sie auf die Ruine zuschritt; sie wußte erst nicht warum und erkannte dann, daß sie wahrscheinlich dachten, sie wäre eben erst mit einem späten Reisebus

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eingetroffen und bekäme vor der Schließung nur noch fünf Minuten Mittelalter zugestanden.

Sie ging zur Sakristei und fand das steinerne Rechteck, wo Bobby und Jemima ihr das abergläubische Drehspiel vorgeführt hatten. Die ungefähr menschgestalte Vertiefung im Stein lud, wie sie zugeben mußte, sehr zum Hineinlegen ein, obwohl sie in ihrer grauen Kargheit von den Worten »I WAS HERE«, mit gelbem Filzstift hingekrakelt, verschandelt worden war. Morgen würde man diese Worte zweifellos mit frommem Eifer entfernen.

Siân schaute nach links und rechts, um sich zu vergewissern, daß die Touristen alle fort waren, stellte sich vorsichtig balancierend auf ein Bein und begann dann nach einem tiefem Atemzug sich zu drehen. Sie hatte die Absicht, sich vierunddreißigmal zu drehen, aber die Leiblichkeit vereitelte das Ritual, und ihr wurde schon nach zehnmal schwindlig. Während Erde und Himmel vor ihren Augen rotierten, legte sie sich in die steinerne Mulde und brachte Schultern und Kopf in die richtige Position. Unendlich lange, kam es ihr vor, schwankten die Türmchen und Pfeiler der Abtei auf dem Rasen des East Cliff hin und her wie riesige Segelschiffe aus Stein, immer sachter, bis sie schließlich ausglitten und zum Stillstand kamen. Oben auf dem Strebewerk machte das Geisterfräulein nicht nur keine Anstalten, zu springen, sondern erst gar keine, zu erscheinen.

Siân stieß einen Schreckenslaut aus, als sie etwas Rauhes und Nasses und ziemlich Ekliges an der Wange spürte; Hadrian schleckte sie ab. Sie machte den Mund auf, um ihn zu schelten, doch sein alberner Name blieb ihr in der Kehle stecken.

»Ich denke, ich werde dich Baff nennen«, sagte sie und stemmte sich mit den Ellbogen ein kleines Stück hoch.

»Baff«, stimmte er zu und gab ihr mit einem Stups zu verstehen, daß sie aufstehen sollte.

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Dank

Zu diesem Buch kam es, weil Keith Wilson, im Sommer 2000 Artist in Residence der Whitby Abbey, mich fragte, ob ich nicht Lust hätte, mich von den Grabungsarbeiten im Auftrag des Denkmalpflegeamts English Heritage zu einer Geschichte inspirieren zu lassen. Dafür wie auch für seine Führungen durch Whitby, die er Eva und mir bei unserem Aufenthalt dort gab, meinen herzlichen Dank.

Eine Reihe von Leuten widmeten mir großzügig ihre Zeit und ihr Expertenwissen, um mich in Sachfragen zu beraten. Fehler, die das Buch eventuell noch enthält, sind daher allein durch meine Schuld – durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld – entstanden und gehen keinesfalls auf das Konto von English Heritage, Cath Buxton (Archäologin), Stephen und Pam Allen (Papierrestauratoren), Carla Graham, Colin Manlove oder der Whitby Literary & Philosophical Society. Verbunden bin ich auch Father Roland Connelly und dem Historiker Andrew White für ihre wertvolle Hilfe. Wie immer steuerte Eva Youren kluge Ratschläge und treffende Ideen bei.

Während der Arbeiten an diesem Buch wurden keine Tiere gequält oder artwidrig behandelt.

Michel Faber Februar 2001