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Mangel von Gesundheitersonal weltweit Überall auf der Welt mangelt es an qualifiziertem Ge- sundheitersonal. Nach Berechnungen der Weltge- sundheitsorganisation (WHO) fehlen derzeit weltweit über 17 Millionen Gesundheitsfachkräſte, davon 2,6 Millionen Ärzt*innen sowie 9 Millionen Krankenpfleger*innen und Hebammen. Die WHO errechnet diese Zahlen an Hand des aus den Nachhaltigkeitszielen (SDGs) abgeleite- ten Mindestbedarfs von 44,5 Gesundheitsfachkräſten (Ärzt*innen, Pflegekräſte und Hebammen) pro 10.000 Menschen. In 83 Ländern in Afrika, Asien und Latein- amerika, also fast jedem zweiten Staat auf dieser Welt, stehen nicht einmal halb so viele Gesundheitsfachkräſte zur Verfügung. In diesen Fällen richt die WHO von ei- ner Gesundheitsfachkräſtekrise, in der nicht einmal eine elementare Gesundheitsversorgung zu gewährleisten ist. Nach WHO-Berechnungen wird sich an diesem Bild bis 2030 nicht viel ändern - außer in Afrika, wo sich die Lage sogar verschlimmern wird. Der Zusammenhang zwischen der Dichte an Gesundheitsfachkräſten und der Mortalität ist empirisch gut belegt. Wissenschaſtler*innen aus Har- vard haben berechnet, dass sich in unterversorgten Län- dern mit jedem zusätzlichen Arzt pro 1.000 Einwohner die Kindersterblichkeit mielfristig um 15 und langfristig um 45 Prozent senken ließe. Inzwischen bilden nahezu alle westlichen Industrienatio- nen weniger Gesundheitsfachkräſte aus, als sie tatsäch- lich brauchen, oder sie sind nicht in der Lage, die Fach- kräſte in ihrem erlernten Beruf zu halten. Sie setzen daher offensiv oder stillschweigend auf den Zuzug qualifizierter Kräſte aus dem Ausland. Der weltweite Brain-Drain von Gesundheitsfachkräſten ist zu einem systemischen Pro- blem geworden und stellt eine weltweite politische Deter- minante von Gesundheit dar. Mangel von Gesundheitersonal in Deutschland Auch in Deutschland sind Gesundheitsfachkräſte und vor allem Pflegekräſte knapp, allerdings auf einem im Ver- gleich zu den Ländern im Süden recht hohen Niveau: Das Bundesgesundheitsministerium schätzt den Bedarf in der Pflege bis 2025 je nach Szenario und Quelle auf 110.000 bis 200.000 zusätzliche Kräſte. Nach einer Erhebung der Dienstleistungsgewerkschaſt ver.di fehlen im stationären Bereich heute bereits 162.000 Beschäſtigte, 70.000 allein davon in der Pflege. Der dramatische Fachkräſtemangel ist dort schon heute deutlich ürbar. Die Ursachen sind dabei weit weniger schicksalhaſt als hausgemacht und vor allem der deutschen Gesundheits- politik der letzten beiden Jahrzehnte geschuldet, die die Arbeitsbedingungen hierzulande stetig verschlechtert hat. Im Gesundheitssystem hat in vielen Bereichen eine Konzentration auf marktwirtschaſtliche Prinzipien sta- gefunden. Zudem verhindern bestehende Regularien und enge politisch gesetzte Finanzierungskorridore bei- ielsweise in vielen Landeskrankenhaulänen ein frei ausgehandeltes Lohnniveau für Pflegekräſte, das Ange- bot und Nachfrage in Einklang bringen würde. Seit Jah- ren geht die schlechte und in vielen Fällen rückläufige Bezahlung, die oſt mit einer Flucht der Arbeitgeber aus Flächen- in Haustarifverträge verbunden ist, mit steigen- der Arbeitsverdichtung und zunehmendem Dokumentati- onsaufwand einher. Die Arbeitsbedingungen in der Pflege haben sich so weit verschlechtert, dass zahllose Pflege- kräſte ihrem Beruf den Rücken kehren, denn sie nehmen den Beschäſtigten jede Zufriedenheit mit ihrer eigentlich sinnstiſtenden Tätigkeit. Der Pflegeberuf ist in Deutschland inzwischen so unat- traktiv geworden, dass die Bundesregierung und Arbeit- geber*innen auf dem Weltmarkt nach Arbeitskräſten su- chen, die bereit sind, unter diesen Bedingungen tätig zu werden. Dazu muss man allerdings feststellen, dass die bisherigen Formen der Auslandsrekrutierung den Druck auf das Berufsbild der Pflege erhöhen, das geringe Lohn- niveau im besten Falle erhalten oder sogar senken und somit die Kernprobleme des hiesigen Pflegemarktes eher verschärfen als lösen. Ein zunehmendes Problem entsteht dadurch, dass die Gesundheitssysteme der Länder, aus denen Personal rekrutiert wird, zunehmend unter der Abwanderung lei- den und die Gesundheitsversorgung dort vielerorts nicht mehr zu gewährleisten ist. Fa Sheet: Brain-Drain durch grenzüberschreitende Abwerbung von Gesundheitsfachkräſten Fa Sheet Brain-Drain durch grenzüberschreitende Abwerbung von Gesundheitsfachkräſten

Fact Sheet Brain-Drain durch grenzüberschreitende ...€¦ · Brain-Drain durch grenzüberschreitende Abwerbung von Gesundheitsfachkräften. Empfehlungen für die nächste Bundesregierung

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Page 1: Fact Sheet Brain-Drain durch grenzüberschreitende ...€¦ · Brain-Drain durch grenzüberschreitende Abwerbung von Gesundheitsfachkräften. Empfehlungen für die nächste Bundesregierung

Mangel von Gesundheitspersonal weltweit

Überall auf der Welt mangelt es an qualifiziertem Ge-sundheitspersonal. Nach Berechnungen der Weltge-sundheitsorganisation (WHO) fehlen derzeit weltweit über 17 Millionen Gesundheitsfachkräfte, davon 2,6 Millionen Ärzt*innen sowie 9 Millionen Krankenpfleger*innen und Hebammen. Die WHO errechnet diese Zahlen an Hand des aus den Nachhaltigkeitszielen (SDGs) abgeleite-ten Mindestbedarfs von 44,5 Gesundheitsfachkräften (Ärzt*innen, Pflegekräfte und Hebammen) pro 10.000 Menschen. In 83 Ländern in Afrika, Asien und Latein-amerika, also fast jedem zweiten Staat auf dieser Welt, stehen nicht einmal halb so viele Gesundheitsfachkräfte zur Verfügung. In diesen Fällen spricht die WHO von ei-ner Gesundheitsfachkräftekrise, in der nicht einmal eine elementare Gesundheitsversorgung zu gewährleisten ist. Nach WHO-Berechnungen wird sich an diesem Bild bis 2030 nicht viel ändern - außer in Afrika, wo sich die Lage sogar verschlimmern wird. Der Zusammenhang zwischen der Dichte an Gesundheitsfachkräften und der Mortalität ist empirisch gut belegt. Wissenschaftler*innen aus Har-vard haben berechnet, dass sich in unterversorgten Län-dern mit jedem zusätzlichen Arzt pro 1.000 Einwohner die Kindersterblichkeit mittelfristig um 15 und langfristig um 45 Prozent senken ließe.

Inzwischen bilden nahezu alle westlichen Industrienatio-nen weniger Gesundheitsfachkräfte aus, als sie tatsäch-lich brauchen, oder sie sind nicht in der Lage, die Fach-kräfte in ihrem erlernten Beruf zu halten. Sie setzen daher offensiv oder stillschweigend auf den Zuzug qualifizierter Kräfte aus dem Ausland. Der weltweite Brain-Drain von Gesundheitsfachkräften ist zu einem systemischen Pro-blem geworden und stellt eine weltweite politische Deter-minante von Gesundheit dar.

Mangel von Gesundheitspersonal in Deutschland

Auch in Deutschland sind Gesundheitsfachkräfte und vor allem Pflegekräfte knapp, allerdings auf einem im Ver-gleich zu den Ländern im Süden recht hohen Niveau: Das Bundesgesundheitsministerium schätzt den Bedarf in der

Pflege bis 2025 je nach Szenario und Quelle auf 110.000 bis 200.000 zusätzliche Kräfte. Nach einer Erhebung der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di fehlen im stationären Bereich heute bereits 162.000 Beschäftigte, 70.000 allein davon in der Pflege. Der dramatische Fachkräftemangel ist dort schon heute deutlich spürbar.

Die Ursachen sind dabei weit weniger schicksalhaft als hausgemacht und vor allem der deutschen Gesundheits-politik der letzten beiden Jahrzehnte geschuldet, die die Arbeitsbedingungen hierzulande stetig verschlechtert hat. Im Gesundheitssystem hat in vielen Bereichen eine Konzentration auf marktwirtschaftliche Prinzipien statt-gefunden. Zudem verhindern bestehende Regularien und enge politisch gesetzte Finanzierungskorridore bei-spielsweise in vielen Landeskrankenhausplänen ein frei ausgehandeltes Lohnniveau für Pflegekräfte, das Ange-bot und Nachfrage in Einklang bringen würde. Seit Jah-ren geht die schlechte und in vielen Fällen rückläufige Bezahlung, die oft mit einer Flucht der Arbeitgeber aus Flächen- in Haustarifverträge verbunden ist, mit steigen-der Arbeitsverdichtung und zunehmendem Dokumentati-onsaufwand einher. Die Arbeitsbedingungen in der Pflege haben sich so weit verschlechtert, dass zahllose Pflege-kräfte ihrem Beruf den Rücken kehren, denn sie nehmen den Beschäftigten jede Zufriedenheit mit ihrer eigentlich sinnstiftenden Tätigkeit.

Der Pflegeberuf ist in Deutschland inzwischen so unat-traktiv geworden, dass die Bundesregierung und Arbeit-geber*innen auf dem Weltmarkt nach Arbeitskräften su-chen, die bereit sind, unter diesen Bedingungen tätig zu werden. Dazu muss man allerdings feststellen, dass die bisherigen Formen der Auslandsrekrutierung den Druck auf das Berufsbild der Pflege erhöhen, das geringe Lohn-niveau im besten Falle erhalten oder sogar senken und somit die Kernprobleme des hiesigen Pflegemarktes eher verschärfen als lösen.

Ein zunehmendes Problem entsteht dadurch, dass die Gesundheitssysteme der Länder, aus denen Personal rekrutiert wird, zunehmend unter der Abwanderung lei-den und die Gesundheitsversorgung dort vielerorts nicht mehr zu gewährleisten ist.

Fact Sheet: Brain-Drain durch grenzüberschreitende Abwerbung von Gesundheitsfachkräften

Fact Sheet Brain-Drain durch grenzüberschreitende Abwerbung von Gesundheitsfachkräften

Page 2: Fact Sheet Brain-Drain durch grenzüberschreitende ...€¦ · Brain-Drain durch grenzüberschreitende Abwerbung von Gesundheitsfachkräften. Empfehlungen für die nächste Bundesregierung

Empfehlungen für die nächste Bundesregierung

> Anpassung der gesetzlichen Vorgaben für die Selbst-verwaltung des deutschen Gesundheitswesens, um der Pflege und anderen Gesundheitsprofessionen mehr Einfluss und ein größeres Gewicht in den relevan-ten Gremien zu verschaffen.

> Nachhaltige Gesundheitspersonalentwicklung in Zu-sammenarbeit mit den Beteiligten sowie den politi-schen und gewerkschaftlichen Interessenvertretungen der Pflege, um die Attraktivität der Pflegeberufe und ihrer Arbeitsplätze zu verbessern.

> Überwindung des marktvermittelten Wettbewerbs und grundlegende Reform der Krankenhausfinanzierung um die negativen Auswirkungen auf die Arbeitsbedin-gungen der Pflegekräfte zu reduzieren.

> Verbindliche rechtliche Verankerung wesentlicher Ele-mente des WHO-Kodexes zur internationalen Rekru-tierung von Gesundheitspersonal (WHO Global Code of Practice on the International Recruitment of Health Personnel),

- Insbesondere für die nachhaltige Gesundheitsperso-nalentwicklung über bedarfsgerechte Personalvorga-ben in der Pflege und

- durch Ausweitung des bislang lediglich für Pflege-kräfte bestehenden Verbots der aktiven Abwerbung aus einem nach WHO Kriterien definierten Krisenland auf alle anderen Gesundheitsberufe und insbesondere auch auf Ärzt*innen.

> Einsatz in der WHO für eine Kompensation der Ausbil-dungskosten in den Herkunftsländern für abwandernde Gesundheitsfachkräfte.

> Ausschließliche Zulassung der Anwerbung von Pflege-kräften aus Drittstaaten im Rahmen von bilateralen Re-gierungsabkommen und über die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) beziehungsweise über von der ZAV zertifizierte Vermittler*innen.

> Verbindliche Regeln zur Kostenübernahme durch die Vermittler beziehungsweise Arbeitgeber*innen, für den Erwerb ausreichender Sprachkenntnisse als zwingende Voraussetzung für eine Berufsanerkennung in Deutsch-land und somit eine rechtliche Gleichstellung mit den Ausbildungskosten für einheimische Pflegekräfte.

Fact Sheet: Brain-Drain durch grenzüberschreitende Abwerbung von Gesundheitsfachkräften