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Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Klinikum der Universität München Fallstricke der arbeitsmedizinischen Begutachtung 1, 2 Dennis Nowak D. Nowak: Fallstricke der arbeitsmedizinischen Begutachtung. Zbl Arbeitsmed 63 (2013) 138–141 Schlüsselwörter: Gutachterliche Praxis, Diagnosefehler, Kenntnismängel Zusammenfassung: Mögliche Fehler bei Diagnose und Differentialdiagnose in der Gutachterpraxis unterscheiden sich nicht prinzipiell von denen anderer medizinischer Tätigkeiten. Ursachen von Fehldiagnosen sind vor allem Kenntnismangel – nicht nur medizinisch, sondern vorrangig auch auf dem Gebiet des Sozialrechts –, ungenügende Anamnese, mangelhafte Untersuchungstechnik und Zeitmangel. Pitfalls of occupational health assessment D. Nowak: Pitfalls of occupational health assessment. Zbl Arbeitsmed 63 (2013) 138–141 Key words: Assessment practice, diagnostic error, knowledge deficiencies Summary: In assessment practice possible errors in diagnosis and differential diagnosis from do not differ fundamentally from those of other medical activities. Causes of misdiagnosis are mainly lack of knowledge – not only medical, but also primary in the field of social law – insufficient medical history, inadequate techniques and lack of time. Anschrift: Prof. Dr. med. Dennis Nowak Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin Klinikum der Universität München Ziemssenstr. 1 D-80336 München Tel. 089–5160–2301 Fax –4445 [email protected] Kenntnismangel/Grenzen des verfügbaren Wissensstandes Ein Gutachter wird mit einem Gutach- ten beauftragt, weil er vom Auftraggeber für kompetent gehalten wird. Dennoch kommt bei vielen Problemen, den kom- plexen Zusammenhängen in der Arbeits- welt und der kurzen Halbwertszeit von gesetzlichen Vorgaben und Verordnun- gen mancher Gutachter nicht selten an die Grenzen seines persönlichen Wis- sens. Mitunter werden Fragen angeschnit- ten, die den verfügbaren medizinischen Kenntnisstand überschreiten. In solchen Fällen sollte dies freimütig aufgezeigt werden. Verlegenheitsdiagnosen aus mangelnder Kenntnis oder „weil es an- dere auch nicht besser wissen“ sind für alle Beteiligten nicht hilfreich. Vom Gutachter muss erwartet werden, dass er auf seinem Fachgebiet über aktu- elle Kenntnisse verfügt bzw. dass er sich bemüht, sich durch Einarbeitung und Studium das erforderliche Wissen zu erwerben. Das Anerkennen und souve- räne Benennen der gegebenen Grenzen stärkt die Qualität des Gutachtens. Es soll alles daran gesetzt werden, dass sich nicht weitere Gutachter mit demselben „Fall“ befassen müssen. Unterschiedli- che wissenschaftliche Äußerungen zu Beweisfragen, die für den Versicherten existentielle Bedeutung haben können, untergraben das Verfahren nicht nur in ärztlich-wissenschaftliche Kompetenz, sondern auch in die Rechtspflege im Allgemeinen. Wichtig ist auch, bei wissenschaftlich grundsätzlich strittigen Fragen klar zu benennen, warum der einen oder der anderen Argumentationslinie gefolgt wird. Als aktuelles Beispiel – hier auf dem Gebiet des berufsbedingten Urothelkar- zinoms – sei das insbesondere von den Berufsgenossenschaften diskutierte Do- sismodell genannt, bei dem oberhalb bestimmter kumulativer Dosen das Bla- senkrebsrisiko verdoppelt und eine Be- rufskrankheit anerkannt wird, unterhalb eine Berufskrankheit hingegen abzu- lehnen ist. Aus meiner Sicht enthält es Denk- und Konstruktionsfehler. Hier be- darf es eines wissenschaftlich fundier- ten Konsenses im Sinne von Begutach- tungsempfehlungen (Nowak, 2011). Auf dem Gebiet der berufsbedingten Atemwegs- und Lungenerkrankungen hat die Sequenz von wissenschaftlichen Leitlinien (hier ist dem Jubilar für seinen Einsatz zu danken) und daraus abge leiteten Begutachtungsempfehlungen (Reichen- haller Empfehlung, Falkensteiner Emp- fehlung, Bochumer Empfehlung auf dem 138 Festschrift zur Emeritierung von Prof. Xaver Baur: Fallstricke der arbeitsmedizinischen Begutachtung 1 Nach einem Vortrag zur akademischen Verabschiedung von Herrn Univ.-Prof. Dr. med. Xaver Baur aus seinem Amt als Direktor des Zentralinstituts für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf am 21.09.2012 2 Der Artikel legt seinen Schwerpunkt auf die arbeitsmedizinische Begutachtung von Lungen- und Atemwegserkrankungen und lehnt sich an das Kapitel „Häufige Fehler bei der Begutachtung“ von Kroidl et al. (2009) an.

Fallstricke der arbeitsmedizinischen Begutachtung

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Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Klinikum der Universität München

Fallstricke der arbeitsmedizinischen Begutachtung1, 2 Dennis Nowak

D. Nowak: Fallstricke der arbeitsmedizinischen Begutachtung. Zbl Arbeitsmed 63 (2013) 138–141 Schlüsselwörter: Gutachterliche Praxis, Diagnosefehler, Kenntnismängel Zusammenfassung: Mögliche Fehler bei Diagnose und Differentialdiagnose in der Gutachterpraxis unterscheiden sich nicht prinzipiell von denen

anderer medizinischer Tätigkeiten. Ursachen von Fehldiagnosen sind vor allem Kenntnismangel – nicht nur medizinisch, sondern vorrangig auch auf dem Gebiet des Sozialrechts –, ungenügende Anamnese, mangelhafte Untersuchungstechnik und Zeitmangel.

Pitfalls of occupational health assessment

D. Nowak: Pitfalls of occupational health assessment. Zbl Arbeitsmed 63 (2013) 138–141 Key words: Assessment practice, diagnostic error, knowledge deficiencies Summary: In assessment practice possible errors in diagnosis and differential diagnosis from do not differ fundamentally from those of

other medical activities. Causes of misdiagnosis are mainly lack of knowledge – not only medical, but also primary in the field of social law – insufficient medical history, inadequate techniques and lack of time.

Anschrift:

Prof. Dr. med. Dennis Nowak ■ Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin ■ Klinikum der Universität München ■ Ziemssenstr. 1 ■ D-80336 München ■ Tel. 089–5160–2301 ■ Fax –4445 ■ [email protected]

Kenntnismangel/Grenzen des verfügbaren Wissensstandes

Ein Gutachter wird mit einem Gutach-ten beauftragt, weil er vom Auftraggeber für kompetent gehalten wird. Dennoch kommt bei vielen Problemen, den kom-plexen Zusammenhängen in der Arbeits-welt und der kurzen Halbwertszeit von gesetzlichen Vorgaben und Verordnun-gen mancher Gutachter nicht selten an die Grenzen seines persönlichen Wis-sens. Mitunter werden Fragen angeschnit-ten, die den verfügbaren medizinischen Kenntnisstand überschreiten. In solchen Fällen sollte dies freimütig aufgezeigt werden. Verlegenheitsdiagnosen aus mangelnder Kenntnis oder „weil es an-dere auch nicht besser wissen“ sind für alle Beteiligten nicht hilfreich.

Vom Gutachter muss erwartet werden, dass er auf seinem Fachgebiet über aktu-

elle Kenntnisse verfügt bzw. dass er sich bemüht, sich durch Einarbeitung und Studium das erforderliche Wissen zu erwerben. Das Anerkennen und souve-räne Benennen der gegebenen Grenzen stärkt die Qualität des Gutachtens. Es soll alles daran gesetzt werden, dass sich nicht weitere Gutachter mit demselben „Fall“ befassen müssen. Unterschiedli-che wissenschaftliche Äußerungen zu Beweisfragen, die für den Versicherten existentielle Bedeutung haben können, untergraben das Verfahren nicht nur in ärztlich-wissenschaftliche Kompetenz, sondern auch in die Rechtspflege im Allgemeinen.

Wichtig ist auch, bei wissenschaftlich grundsätzlich strittigen Fragen klar zu benennen, warum der einen oder der anderen Argumentationslinie gefolgt wird. Als aktuelles Beispiel – hier auf dem

Gebiet des berufsbedingten Urothelkar-zinoms – sei das insbesondere von den Berufsgenossenschaften diskutierte Do-sismodell genannt, bei dem oberhalb bestimmter kumulativer Dosen das Bla-senkrebsrisiko verdoppelt und eine Be-rufskrankheit anerkannt wird, unterhalb eine Berufskrankheit hingegen abzu -lehnen ist. Aus meiner Sicht enthält es Denk- und Konstruktionsfehler. Hier be-darf es eines wissenschaftlich fundier-ten Konsenses im Sinne von Begutach-tungsempfehlungen (Nowak, 2011).

Auf dem Gebiet der berufsbedingten Atemwegs- und Lungenerkrankungen hat die Sequenz von wissenschaftlichen Leitlinien (hier ist dem Jubilar für seinen Einsatz zu danken) und daraus abge leiteten Begutachtungsempfehlungen (Reichen-haller Empfehlung, Falkensteiner Emp-fehlung, Bochumer Empfehlung auf dem

138 Festschrift zur Emeritierung von Prof. Xaver Baur: Fallstricke der arbeitsmedizinischen Begutachtung

1 Nach einem Vortrag zur akademischen Verabschiedung von Herrn Univ.-Prof. Dr. med. Xaver Baur aus seinem Amt als Direktor des Zentralinstituts für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf am 21.09.2012 2 Der Artikel legt seinen Schwerpunkt auf die arbeitsmedizinische Begutachtung von Lungen- und Atemwegserkrankungen und lehnt sich an das Kapitel „Häufige Fehler bei der Begutachtung“ von Kroidl et al. (2009) an.

Gebiet der arbeitsmedizini schen Pneu-mologie, Bamberger Empfehlung auf dem Gebiet der arbeitsmedizinischen Dermatologie) in den letzten Jahren ei-nen gewaltigen Fortschritt gebracht.

Probleme bei Anamnese, Untersuchungstechnik und Zeit

Ungenügende Anamnese Dieser Vorwurf trifft zu, wenn sich der

Gutachter – sei es aus Zeitnot, aus Be-quemlichkeit oder weil es Vorgutachter auch so gehandhabt haben – auf eine zu knapp erhobene Anamnese, auf unvoll-ständig wiedergegebene Daten oder auf von anderen zusammengefasste Vorbe -funde stützt und sich nicht die Mühe macht, Originalbefunde (eine originäre Schilderung des Krankheitsverlaufs, Lun-genfunktionskurven, Provokationsproto -kolle, Berichte erstbehandelnder Kolle-gen etc.) beizuziehen. Es sind Kunst und Erfahrung, die dem Gutachter das „Ge-spür“ geben, eventuelle unlogische Schlussfolgerungen früherer Erörterun-gen zu erkennen und zu korrigieren. Vom Gutachter muss erwartet werden, dass er auf seinem Fachgebiet über aktu-elle Kenntnisse verfügt bzw. dass er sich bemüht, sich durch Einarbeitung und Studium das erforderliche Wissen zu er-werben. Das Anerkennen und souveräne Benennen der gegebenen Grenzen stärkt die Qualität des Gutachtens.

Mangelhafte Sorgfalt bei der Erhebung der Arbeitsanamnese

Auch Fachgutachter bemühen sich häufig nicht ausreichend darum, eigene und unmittelbare Informationen zu Ar-beitsplätzen und zu den Bedingungen des Entstehens einer BK zu gewinnen. Hierdurch können schwerwiegende Be-urteilungsfehler zustande kommen. Hier-zu zählt es auch, dass man eine qualitativ bejahte Exposition mit einer Noxe als ursächlich für den eingetretenen Kör-perschaden ansieht, ohne sich nähere Gedanken über Einwirkungsdauer, Ein-wirkungsintensität und Latenzzeiten zu machen. Vor einer eigenmächtigen Ver-änderung der vorgegebenen Anknüp-fungstatsachen (= medizinische oder außermedizinische Tatsachen, die der Gutachter zum Ausgangspunkt seines

Gutachtens nehmen muss), sollte der Gutachter sich hüten, d.h., keine „Tatbe -standsquetsche“ vornehmen. Hier ist die Amtsermittlungspflicht der UV- Träger gefordert.

Der ermittelnde Unfallversicherungs-

träger sollte viel häufiger bei Unklarhei-ten der Arbeitsanamnese nochmals mit den Aussagen der Betroffenen konfron-tiert und mit präzise formulierten Fra-gen zur klärenden Stellungnahme aufge -fordert werden. Auch vor Gericht kön-nen Zeugenaussagen von Arbeitskolle-gen und/oder die Anwesenheit eines TAB als sachverständiger Zeuge sehr hilfreich sein. Im Berufskrankheitenrecht muss die Beweissicherung der Arbeitsum -stän de/Schadstoffbelastungen konse quent betrieben und Unklarheiten nachgegan-gen werden.

Die technischen Ermittlungen zur Ex-positionsdosis sind die Achillesferse des Berufskrankheitenverfahrens. Eine Un-terschätzung der Exposition und Lücken der Expositionsermittlung – insbeson-dere bei Krebskrankheiten mit langer Latenzzeit – gehen regelhaft zu Lasten des Erkrankten. Es verwundert daher, warum Sozialgerichte nicht viel öfter die Unterstützung externer Sachverstän-diger oder beispielsweise der Clearing-stellen „Asbest“ oder „Benzol“ der DGUV in Anspruch nehmen. Es ist zu diskutieren, ob hier nicht eine Beweis-lastumkehr helfen würde, der Wahrheit näher zu kommen.

Mangelhafte Untersuchungstechnik Eine mangelhafte Untersuchungstech-

nik kann sich in allen Bereichen finden. Medizinische „High-Tech“ fördert die Tendenz, statt detaillierter Inspektion, Perkussion und Auskultation z.B. eher ein HRCT anzuordnen und seinen klini-schen Befund entsprechend zu „gestal-ten“. Der Mangel an klinischer Erfah-rung und Assoziation wird durch reichli-che Abforderung von Labordaten und dergl. „kompensiert“. Niemand will und kann gegen „High-Tech“ auch bei Gut-achtenfragen argumentieren. „Einfache“ klinische Befunde, die man sieht, riecht, fühlt oder hört, sind jedoch auch in einem „modernen“ Gutachten unver-zichtbar.

Mangelnde Technik und Bewertung bei bildgebenden Untersuchungen

Vom Gutachter wird eingehende Kenntnis über die heutigen Bildge -bungstechniken erwartet, um Fehlbe -urteilungen zu vermeiden. Bei sehr as-thenischen Probanden können in der konventionellen Röntgendiagnostik auch heute noch Schaltzeitprobleme fälsch-lich „Emphysemlungen“ erzeugen, adi-pöse Patienten haben oft Probleme mit der Inspiration, besonders wenn das Kom-mando „Luftanhalten“ kommt (deswe-gen besser: Auslösung der Aufnahme in die beobachtete tiefe Einatmung hinein).

Weitere Fehler: � mangelnde Darstellung einer Verlaufs-

serie (!), insbesondere wenn analoge und digitale Bilder über die Zeit kaum eine sinnvolle chronologische Dar-stellung gestatten

� mangelnde Befundbeschreibung, ohne auf die gutachterliche Fragestellung einzugehen

� schlechte Aufnahme, unzureichende Durchbelichtung der Thoraxwand

� Auslassen der ILO-Klassifikation � Identifikation der Patientendaten und

des Aufnahmedatums auf dem Scribor oft unzureichend.

� Computertomographische Diagnostik ohne Orientierung an einschlägigen Empfehlungen, beispielsweise zur Low-dose-Mehrzeilen-Volumen-HRCT in der Diagnostik asbeststaubbedingter Lungen- und Pleuraveränderungen (Baur et al. 2011, DGUV 2011a).

Mangelnde Technik und Bewertung bei Lungenfunktionsuntersuchungen

Die Lungenfunktion spielt bei der Begutachtung pneumologischer Krank-heitsbilder eine herausragende Rolle. Die physikalischen Prinzipien, die auch bei der Lungenfunktion gelten, könnten „objektive“ Messwerte ergeben, … wenn man den Faktor „Mensch“ dabei nicht berücksichtigen müsste.

Unsicherheiten bei der Lungenfunktion durch menschliche Faktoren:

Seitens des Patienten: Die Kooperati-onsfähigkeit des zu Begutachtenden kann beeinträchtigt sein. Der erfahrene Untersucher wird dies aus dem Unter-suchungsverlauf (klinische Beobach-

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tung, Reproduzierbarkeit der Werte) er-kennen können. Nicht selten verhindern medizinische Gegebenheiten die Durch-führung von gewünschten Untersu -chungsgängen (Klaustrophobie bei der Bodyplethysmographie, orthopädische Probleme bei der Spiroergometrie etc.). Solche patientenseitigen Grenzen haben Tatsachenwert. Sie beinhalten in sich noch keinen Untersuchungsmangel, sie müssen jedoch in der Gesamtbeurtei-lung erwähnt und berücksichtigt wer-den. Patientenmitarbeit ist daher nach-vollziehbar zu dokumentieren.

Seitens des Untersuchers: Hier treten – auch in anerkannten Insti-tutionen – Mängel auf.

Personal des Lungenfunktionslabors: Durch gute Motivation, sichere Füh-rung, kontinuierliche Fortbildung und gute Erklärung der zu erwartenden Un-tersuchungsabläufe ergeben sich weite Unterschiede in den erreichbaren Aus-sagen bei der Lungenfunktion. Somit ist für ein Lungenfunktionslabor nicht nur die technische Ausstattung entscheidend, sondern die personelle Qualität der Mit-arbeiter(innen), letztere muss trainiert und erhalten werden. Mitarbeiter(innen) sollten stichwortartig Beobachtungen beim Untersuchungsablauf notieren. Gut angeleitetes Lungenfunktionsperso-nal unterlässt bei keinem Patienten die Notierung der Prämedikation, ohne die eine Interpretation oft unmöglich, gege-benenfalls grob fehlerhaft ausfällt.

Ärztliche Interpretation: Niemand würde ein EKG auf der Basis von Zah-lenwerten ohne die bildliche Formanaly-se der EKG-Kurve interpretieren. Bei der Lungenfunktion wird dies leider sehr häufig gemacht. Errechnete Zah-lenwerte müssen durch die Formanalyse der Spirometrie-Kurve, der Fluss-Volu-men-Kurve, der Analyse der Body-Schleife und der Verschlussdruckkurve, der Steigung aus der Compliance-Mes-sung kontrolliert und hinsichtlich der Plausibilität hinterfragt werden. Zur Er-rechnung der Messdaten nimmt der Computer durchaus auch „unsinnige“ Body-Schleifen und ITGV-Tangenten, wenn man ihn nicht korrigiert. Dieses gilt leider auch für rechnerisch ermit -telte Werte (TLC; RV/TLC-Quotient;

FEV1 % VC) bei mehrfach durchgeführ-ten Atemmanövern mit dann grob feh-lerhaften Angaben.

Die in der EDV hinterlegten Sollwerte und deren Schwächen müssen dem Un-tersucher bekannt sein. Viele Sollwerte basieren auf einem selektiven Unter-suchungsgut. Die einschlägig verwende-ten EGKS-Sollwerte (Quanjer et al. 1993) sind deutlich zu niedrig. Die neuen Re-ferenzwerte (Quanjer et al. 2012) sind noch nicht in die Praxis umgesetzt wor-den. Hier bedarf es eines raschen Kon-sensus zwischen Pneumologie und Ar-beitsmedizin, um klinische Diagnostik und Begutachtung auf den neuesten wis-senschaftlichen Kenntnisstand zu bringen.

In Gutachten sollte keine Lungen-funktion ohne Kopie des Funktionspro-tokolls mit Darstellung der graphischen Registrierung aktenkundig werden. Oft ist es für die Auswertung hilfreich, sich von wesentlichen Lungenfunktionsab -läufen eine „hard-copy“ (= Bildschirm -ausdruck) anfertigen zu lassen, da sol-che Daten sonst für immer verloren sein können.

Zeitmangel Realitäten unterscheiden sich von den

Idealbedingungen, die der Formulie-rung von Empfehlungen zugrunde lie-gen. Dies gilt für die Begutachtung in In-stitut, Praxis und Klinik gleichermaßen.

Die Gutachter sollten sich von sol-chem Zeitdruck unabhängig machen. Auf Zeitmangel ist gegenüber dem Auf-traggeber hinzuweisen. Kompromisse an der Untersuchungsqualität sollten nicht akzeptiert werden, auch nicht durch den Zeitdruck. Man kann eine gutach-terliche Äußerung auch qualifiziert be-enden und die derzeit noch offenen und momentan nicht lösbaren Fragen für ei-ne weitere Untersuchung vorsehen.

Weitere Fehler Eine qualifizierte gutachterliche Tä-

tigkeit erfordert mehr als nur gute medi-zinische Sachkenntnis und Beschäfti-gung mit Verordnungen und Gesetzen. Praktisch sind folgende Fehler häufig:

Verfehlen des Gutachtenauftrags Hierzu gehören die Durchführung von

Untersuchungen, die an der Fragestel-

lung vorbeigehen bzw. über die ange-messene Abgrenzung BK- bzw. unfall-unabhängiger Leiden weit hinausgehen, sowie die fehlende Beantwortung der vom Auftraggeber gestellten Fragen. Insbesondere von Zusatzgutachtern ist zu fordern, daß diese keine Beantwor-tung der Gesamtfrage anstreben, son-dern sich an die Beschreibung und Ein-schätzung der Befunde auf ihrem spe-ziellen Fachgebiet halten und die Ge-samtbeurteilung dem Hauptgutachter überlassen.

Festhalten an zweifelhaften oder falschen „Traditionen“

Die Moerser Konvention war seiner-zeit eine Konstruktion, die den Einstieg in die verbesserte Entschädigung von Silikosen gestalten sollte. Viel zu lange wurde sie gutachterlich unreflektiert verwendet, bis durch die Fachgesell-schaften eine neue Leitlinie (Baur et al. 2008) formuliert und anschließend in Begutachtungsempfehlungen übernom-men wurde (DGUV 2011b).

Auch wurde die 1000-Faser-Regel, zuletzt noch – missverständlich und da-rum bedauert – vom Verfasser selbst in Nowak und Kroidl (2009) zitiert, ob-wohl es für die Minimalasbestose keinen Fasergrenzwert gibt, wie nunmehr un-missverständlich in der entsprechenden Leitlinie (Baur et al. 2011) und in der Begutachtungsempfehlung (DGUV 2011a) niedergelegt.

Überschätzung des Ermessensspielraums Während es bei der Beurteilung von

Einzelwerten einen gewissen individu-ellen gutachterlichen Ermessensspiel-raum gibt, ist dies besonders für die Beurteilung der haftungsausfüllenden Kausalität dann nicht der Fall, wenn es hierfür eine allgemeingültige Lehrmei-nung gibt, die sich auf literaturkundige Fakten stützt. Bei Äußerungen von Min-der- oder Außenseitermeinungen und auch bei „neuen Erkenntnissen“ sind klare Kausalitätskriterien zugrunde zu legen.

„In dubio pro aegroto“ Es ist falsch, in irrtümlicher Anleh-

nung an die strafrechtliche Haltung „in dubio pro reo“ zu meinen, im Zweifels-

140 Retirement Festschrift for Prof. Xaver Baur: Pitfalls of occupational health assessment

1. Auflage 2011| 230 Seiten, gebunden | 39,90 EUR | ISBN 978-3-87284-063-9

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fall solle der Gutachter sich für die „versichertenfreundli-chere“ Aussage entscheiden. Die Berücksichtigung sozia-ler Härten, die sich aus der Ablehnung eines Ursachen-zusammenhangs zwischen Tätigkeit und Erkrankung er-geben, kann kein Maßstab für den Gutachter sein. Hierbei würde der Gutachter das strikte Gebot der Unparteilich-keit verkennen.

Fehlendes „Non liquet“ Wenn der Gutachter nach gewissenhafter Prüfung und

Berücksichtigung der speziellen Fachliteratur feststellt, dass die vom Auftraggeber gestellte Frage nicht zu beant-worten ist, so hat er diesem die Grenzen der medizini -schen Erkenntnis aufzuzeigen. Er darf sich nicht zu einer medizinisch unhaltbaren Schlussfolgerung durchringen.

Unpräzise Verwendung juristischer Termini Begriffe wie „ursächlich“, „Wahrscheinlichkeit“, „Er-

werbsfähigkeit“ und andere werden bisweilen unscharf benutzt, ohne die zugrundeliegenden juristischen Defini-tionen genau zu berücksichtigen.

Literatur Baur X, Heger M, Köhler D, Kranig A, Letzel S, Schultze-Werning-haus G, Tannapfel A, Teschler H, Voshaar T, Bohle MR, Erlinghagen N, Hering KG, Hofmann-Preiss K, Kraus T, Merget R, Michaely G, Neumann V, Nowak D, Ozbek I, Piasecki HJ, Staubach-Wicke N; Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Be atmungsmedizin; Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin; Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin; Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin: Di-agnostik und Begutachtung der Berufskrankheit 4101 (Silikose). S2-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beat-mungsmedizin und der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin. Pneumologie 62 (2008) 659–684 Baur X, Clasen M, Fisseler-Eckhoff A, Heger M, Hering KG, Hof-mann-Preiss K, Köhler D, Kranig A, Kraus T, Letzel S, Neumann V, Tannapfel A, Schneider J, Sitter H, Teschler H, Voshaar T, Weber A.. Diagnose und Begutachtung Asbestbedingter Berufskrankheiten. Interdisziplinäre S2-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Pneu-mologie und Beatmungsmedizin und der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin. Pneumologie 65 (2011) e1–47 DGUV (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung): Empfehlung für die Begutachtung asbeststaubbedingter Berufskrankheiten – Falkensteiner Empfehlung. Berlin, Eigenverlag (2011a) DGUV (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung): Empfehlung für die Begutachtung von Quarzstaublungenerkrankungen (Siliko-sen) – Bochumer Empfehlung. Berlin, Eigenverlag (2011b) Kroidl RF, Nowak D, Koch B: Häufige Fehler bei der Begutachtung. In: Nowak D, Kroidl RF (Hrsg.): Bewertung und Begutachtung in der Pneumologie. Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin und der Deutschen Atem-wegsliga. Stuttgart: Thieme, 3. Aufl. (2009) Nowak D: Verdacht auf Berufskrankheit? Von der Diagnose bis zum Gutachten – darauf kommt es im Berufskrankheiten-Verfahren an! Landsberg: Ecomed (2012) Quanjer PH, Tammeling GJ, Cotes JE, Pedersen OF, Peslin R, Yernault JC: Lung volumes and forced ventilatory flows. Report Working Party Standardization of Lung Function Tests, European Community for Steel and Coal. Official Statement of the European Respiratory Society. Eur Respir J Suppl. (1993) 5–40 Quanjer PH, Stanojevic S, Cole TJ, Baur X, Hall GL, Culver BH, Enright PL, Hankinson JL, Ip MS, Zheng J, Stocks J; the ERS Global Lung Function Initiative: Multi-ethnic reference values for spirometry for the 3–95-yr age range: the global lung function 2012 equations. Eur Respir J. 40 (2012) 1324–1343