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Fantasia 679e Aus der phantastischen Welt der Literatur edfc

Fantasia 679e - Aus der phantastischen Welt der Literatur · 2017. 6. 28. · 2 Fantasia 679e Fantasia 679e Herausgegeben von R. Gustav Gaisbauer. Das Magazin für phantastische Literatur

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  • Fantasia 679e

    Aus der phantastischen Welt der Literatur

    edfc

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    Fantasia 679e

    Herausgegeben von R. Gustav Gaisbauer.Das Magazin für phantastische Literatur erscheint alseBook nach Bedarf und wird per Email versandt.

    Erster Deutscher Fantasy Club e. V.Wolf-Huber-Straße 8 B · D-94032 [email protected] · www.edfc.de

    Titelbild: Jens EhlersEDFC-Logo: Helmut W. Pesch

    Der EDFC ist als gemeinnützig anerkannt wegen Förde-rung kultureller und wissenschaftlicher Zwecke.

    © 2017 – Nachdruck oder Weitergabe nur mit Erlaubnisdes Verfassers oder der Redaktion.

    Passau 2017-06

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    AUS DER PHANTASTISCHENWELT DER LITERATUR–––––––––––––––––––

    Franz Schröpf

    Fantasia 679e – Magazin für Phantastik

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    Thomas OstwaldKarl May’s Old Shatterhand NeueAbenteuer: Die Schwarzen Teufel vonMissouri 1: Aufbruch ins UngewisseBlitz 2201 (TB 160 S./€ 12,95)Windeck 2017Genre: Abenteuer

    Mein Gepäck war nicht besonders um-fangreich. Die Reisetasche enthielt mei-nen Jagdanzug und ein Paar Mokassins,dazu Leibwäsche. Und das kräftige Bo-wiemesser. Alles andere wollte ich mirnach meiner Ankunft neu kaufen. Diebeiden Gewehre waren in wasserdichteHüllen gepackt und darunter noch miteiner dicken Wolldecke umwickelt. DieLederriemen hatte ich so anfertigen las-sen, dass ich die Waffen leicht transpor-tieren und notfalls auch überhängenkonnte. (S. 8)

    Karl Winter alias Old Shatterhand ist aufdem Weg zu seiner zweiten Reise in denWilden Westen. Zuerst geht es auf einemKahn die Elbe hinab bis nach Hamburg. Un-terwegs freundet er sich mit einem gewis-

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    sen Fred Miller an, der unter falschem Na-men reist und bei dem es sich vermutlich inWirklichkeit um Friedrich Gerstäcker han-delt. Außerdem ist auch eine schöne jungeDame namens Klara von Rauten an Bord,die sich in St. Louis mit ihrem Verlobtentreffen will, der wegen nicht näher bekann-ter Umstände davon abgehalten wurde, siein Deutschland abzuholen.

    Man besteht Streiterein mit rauflustigenBergleuten; gewahrt einen geheimnisvollenSpion; hat vor Helgoland einen Schiffbruch;und gelangt schließlich doch nach Amerika,wo die junge Dame von einem Trio Abge-sandter ihres Verlobten begrüßt wird, dasvom Aussehen her einer Räuberband alleEhre gemacht hätte. Weiter geht’s in Bandzwei und drei.

    Aufbruch ins Ungewisse ist ein unterhalt-samer Abenteuerroman über den jungenOld Shatterhand, der kurz nach dem Endedes Amerikanischen Bürgerkrieges spielt. Esist nicht einfach, Karl Mays Stil zu treffen,aber in manchen Passagen gelingt dasThomas Ostwald ganz hervorragend. Hiereine Beschreibung der Kojen auf der „Alber-

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    tine“, die unsere Reisenden nach Amerikabringen soll:

    Dann die Kojen, in denen fünf Men-schen dicht wie die Ölsardinen in einerBüchse zusammenlagen. Und sehr oftwaren dies Menschen, die sich noch niezuvor im Leben gesehen hatten. JungeEhepaare mit einem kleinen Kind hattendas zweifelhafte Vergnügen, sich denschmalen Platz noch mit einem anderenEhepaar zu teilen. Oder, im schlechte-sten Falle, mit zwei oder sogar drei jun-gen Männern. Der Hinweis, ihre Kojewäre bereits voll, wurde von den Ma-trosen nur mit lautem Gelächter beant-wortet, denn ein Kind hatte keinen An-spruch auf einen vollen Platz und muss-te sich notfalls an den Köpfen der Er-wachsenen quer in die Koje legen. Alteund junge Menschen zusammen aufengstem Raum. Dazu kranke Menschen,ein paar schwangere Frauen. Menschenmit starken Körperausdünstungen,Menschen, die das Schaukeln schon aufder Elbe nicht vertrugen. Und ein Eimer

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    mit Deckel für zehn Personen in derDoppelkoje. (S. 68f)

    Auf Seite 82 heißt es, Old Shatterhands Bä-rentöter habe ein Kaliber 22. .22 Inch wärenein wenig viel zu klein, aber 22 mm schienmir auch kaum glaublich. Aber tatsächlich:Der gute Karl May hat sich ein doppelläufi-ges Gewehr in diesem Kaliber anfertigenlassen, wobei die Läufe vermutlich aus ei-ner Artilleriewerkstätte stammten; es wiegtüber zehn Kilogramm.

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    Ned Land, HarpuniererJules Verne’s Kapitän Nemo: NeueAbenteuer der Nautilus 1: Tötet Nemo!Blitz 1701 (TB 156 S./€ 12,95)Windeck 2017Genre: Science Fiction

    Noch einmal sah Nemo über seine Inselund erkannte die Rauchsäule deutlichüber der kleinen Bucht. Dann krümmteer den Zeigefinger, und ein mächtigergrüner Strahl schoss aus dem langenLauf der Maschine, traf auf eine Felsen-gruppe am Strand und erzeugte einenunglaublich grellen Widerschein. Allemussten trotz der Schutzbrillen die Au-gen schließen, und für einen kurzenMoment dachte Nemo, dass dies dasEnde der Insel war. Der Boden unter ih-ren Füßen vibrierte, ein leichtes Grollenschien die Luft zu durchdringen, unddas grelle Licht ergoss sich über denMount Franklin und die gesamte Insel.(S. 24)

    Wie wir wissen, wurde Kapitän Nemo mitseinem unvergleichlichen Uboot Nautilus

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    von einem Vulkanausbruch in einer unter-irdischen, wasserführenden Höhle der InselLincoln Island alias Vulcania eingeschlossenund ist dort elendiglich zu Tode gekommen.

    Oder auch nicht: Denn er ist gerade da-bei, seinem Schiff mit Hilfe einer neuartigenStrahlenkanone den Weg freizuschießen.

    Dass Nemo lebt, vermutet auch KapitänTomas Blunt. Die New York Times hat eineBelohnung von einer Millionen Dollar fürden ausgesetzt, dem es gelingt, Lincoln Is-land zu entdecken. Das will sich Blut ver-dienen, und, als angenehmen Nebeneffekt,Kapitän Nemo ein für alle mal töten.

    Doch zum Glück hat Nemo eine ganzeReihe vortrefflicher Helfer, darunter dengenialen Erfinder Robur und, als seinen un-sterblichen Chronisten – den SchriftstellerJules Verne!

    Tötet Nemo! setzt die Lebensgeschichtedes indischen Meeresprinzen mit einerganzen Reihe von wundersamen Abenteu-ern fort.

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    *Graf, Oskar M.: Minutengeschichten

    Oskar Maria Graf [Oskar Graf, 1894–1967]Minutengeschichten (1995)Ullstein (HC 330 S./€ 20,00)Berlin 2017Genre: Humor

    Soviel ich herausgebracht habe, ist derösterreichische Humor weit, weit zivili-sierter als der unsrige, man könnte auchsagen, er ist „spritziger“ und wenigerdirekt, also mehr kulant und umschrei-bend. Er ist gescheiter, schlagfertigerund witziger als der bayrische. All dasfehlt unserem Menschenschlag. Ob dasdamit zusammenhängt, daß die Öster-reicher im allgemeinen mehr Wein undKaffee trinken, während unser Natio-nalgetränk das Bier ist, weiß ich nicht.Wein trinkende Völkerschaften, habeich mir sagen lassen, seien leichtbe-schwingter, wendiger, ausgeglichenerin ihrer Heiterkeit, während das Bierstumpf, störrisch, nörglerisch und aufirgendeine Weise wurschtig, das heißt

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    etwas animalisch gleichgültig macht.(S. 11)

    Oskar Maria Graf war einer der bedeutend-sten bairischen Schriftsteller. Er wurde1894 als Sohn eines Bäckermeisters in Bergam Starnberger See geboren. Er ging 1911nach München und schloss sich Bohème-Kreisen an. Im Ersten Weltkrieg diente eran der Ostfront und wurde wegen Befehls-verweigerung ins Irrenhaus eingewiesen.Nach dem Krieg war er in München auf Sei-ten der Revolutionäre politisch aktiv, wes-halb er 1933 zusammen mit seiner zweitenFrau Mirjam Sachs nach Wien und schließ-lich 1938 nach New York ins Exil gehenmusste, wo er 1967 starb.

    In den Minutengeschichten will uns Grafdie Weltanschauung des einfachen bairi-schen Menschen erklären, die zur Zeit Grafsnoch stark am katholischen Glauben orien-tiert war:

    Wir alle haben seit Urväterzeiten denKatechismus auswendig gelernt, undnatürlicherweise ist’s brauchmäßigeGewohnheit bei uns, daß man seine

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    kirchlichen Pflichten erfüllt, aber glau-ben? Glauben tun wir bloß eins: Alles,was auf der Welt ist, vergeht. JederMensch muß einmal sterben, da hilftihm alles nichts. (S. 22)

    Der Baier glaubt nicht wirklich an die Drei-faltigkeit, sagt uns Graf, sondern an einembärtigen Herrgott im Himmel, der auf seineSchäflein herabschaut und der deren Sün-den mit Humor erträgt. Als exemplarischesBeispiel führt er den Pfarrer Jobst aus seinerDorfschulzeit an, der angesichts einiger inGlaubensfragen arg pedantischer Konverti-ten ausrief: „,Du liaber Hergott, wenn’s lau-ter solcherne gebert, könnt einem der gan-ze gute Glauben zuwider werden!‘„ (S. 29).

    Hiermit erklärt sich auch, wieso derBaier die Probleme, die Martin Luther mitdem Glauben hatte – im Lutherjahr wirdman ja unentwegt darauf gestoßen – soganz und gar nicht verstehen kann.

    Nebenbei gibt Graf auch einige Anekdo-ten zum Besten, die das Werkeln des bairi-schen Hirns erläutern sollen. Eine davonhat es mir ganz besonders angetan:

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    Ich klopfe in einem Münchner Miets-haus an eine Tür und frage: „Verzei-hung, wohnt hier im Haus vielleicht einFräulein Schall?“

    „Na“, verneint die Frau und besinntsich: „Naa ...! Aber warten S’, im zwei-ten Stock, die vermieten Zimmer...“ Undnach einer sekundenkurzen Pause fährtsie wie in einer plötzlichen Erleuchtungauf: „Meinen Sie vielleicht den HerrnBaumeister?“ (S. 17)

    Ich kann mir nicht helfen, jedesmal, wennich den letzten Satz lese, höre ich dabei in-nerlich die Stimme von Erni Singerl (Erne-stine Kremmel, 1921–2005), einer bekann-ten Münchner Volksschauspielerin, die aufganz unnachahmliche Weise diese Mi-schung aus Naivität und Schalkhaftigkeitverkörperte.

    Die hier gesammelten „Minutenge-schichten“ sind an die sechzig kurze Er-zählungen, in denen hintergründige Ereig-nisse und markante Persönlichkeiten vorge-stellt werden – die meisten, so hat es denAnschein, dem wirklichen Leben entnom-men. Die frühesten Geschichten wurden ab

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    Ende des Ersten Weltkriegs in verschiede-nen Zeitschriften veröffentlicht, die späte-sten nach dem Zweiten Weltkrieg. EinGroßteil ist jedoch unveröffentlicht imNachlass gefunden wurden, weshalb sieauch nicht in den Gesammelten Werken ent-halten sind. Ein Glück, dass Wilfried F.Schoeller, der auch das Nachwort geschrie-ben hat, diese wunderbare Sammlung zu-sammenstellen konnte.

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    *Steidele, Angela: Rosenstengel

    Angela Steidele [1968–]Rosenstengel. Ein Manuskript aus demUmfeld Ludwigs II. (2015)btb (PB 384 S./€ 14,00)München 2017Genre: Historischer Roman

    Die nachfolgenden Dokumente ent-stammen einem Depositum, das derNervenarzt Dr. Franz Carl Müller (1860-1913) im Historischen Archiv der StadtKöln hinterlegt hatte; bei Drucklegungwar nicht zu erfahren, ob die Unterla-gen den Einsturz des Archivs am 3.März 2009 überstanden haben. Das um-fangreiche Konvolut enthielt unbekann-te Briefe von Ludwig II., dem bayeri-schen Märchenkönig, Elisabeth, Kaiserinvon Österreich-Ungarn, und Bismarck,aber auch von dem großen AufklärerChristian Thomasius und seinem pieti-stischen Gegenspieler August HermannFrancke, um nur die bekanntesten Per-sönlichkeiten zu nennen. Der Fund ge-

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    schah zufällig, auf der Suche nach etwasanderem.

    Vor einigen Jahren beschäftigte ichmich mit der Geschichte der weiblichenHomosexualität, die noch kaum er-forscht ist. [Angela Steidele: „Als wennDu mein Geliebter wärest.“ Liebe und Be-gehren zwischen Frauen in der deutsch-sprachigen Literatur 1750–1850. Stuttgart2003.] Zu den wenigen Vorarbeiten ge-hört die Transkription einer Gerichtsak-te von 1721, die ein gewisser F. C. Mül-ler 1891 in Friedreich’s Blättern für ge-richtliche Medizin unter dem Titel „Einweiterer Fall von conträrer Sexualemp-findung“ veröffentlichte. Danach solleine Catharina Margaretha Linck alsMann gelebt, in Halberstadt eine andereFrau geheiratet und die Ehe mittels ei-ner „ledernen Wurst“ vollzogen haben.(S. 5)

    Mit diesem Auszug aus dem „Vorwort derHerausgeberin“ ist der Inhalt des Buchesbereits sehr gut beschrieben: Es handeltsich um einen historischen Roman in Brief-form, der abwechselnd in zwei verschiede-

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    nen Zeitepochen spielt: Der Abschnitt von1711 bis 1721, in brauner Schrift gedruckt,enthält Korrespondenz zwischen der Luthe-rischen Gemeinde in Köln, dem Pfarrer Isra-el Clauder (1670–1721), der Radikalpiesti-stin Anna Magdalena Francke (1670–1734),dem Professor August Hermann Francke(1663–1727), dem preußischen GeneralFriedrich Wilhelm von Grumbkow (1678–1739), dem Aufklärer Christian Thomasius(1655–1728) und weiteren Personen. DieBriefe beziehen sich auf die aufsehenerre-genden Auftritte pietistischer Propheten,die neben großen Wundern auch die Wie-derkehr des Messias ankündigen. Eine da-von ist die in einem frommen Waisenhausaufgezogene Catharina Margaretha Linck(1687–1721), die dank umfangreicher Bibel-kenntnisse besonders staunenswerte Aus-sprüche vorbrachte.

    Bedencket man der Linckin Leben, sohat sie sich zu vier Mahlen tauffen las-sen, zu dreyen Mahlen trauen, undward nunmehro zu zweyen Mahlenzum Tode verurtheilet. (S. 310,Grumbkow an Thomasius 1715)

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    Und sie hat sieben Jahre in Männerkleidernim preußischen Heer gedient und wärevermutlich nicht als Frau entdeckt worden,hätte sie nicht Fahnenflucht begangen undsich wieder einfangen lassen. 1721 wurdesie entgegen eines Gutachtens von Thoma-sius, wonach Sünden gegen religiöse Gebo-te nicht vor einem weltlichen Gericht zuverhandeln seien, hingerichtet.

    Das bringt uns zum zweiten Teil desBriefromans, der Korrespondenzen von1884 bis 1886 enthält, und zwar zwischenOtto von Bismarck (1815–1898), KaiserinElisabeth (1837–1898), Psychiater Bernhardvon Gudden (1824–1886), Ludwig II. (1845–1886), Prinzregent Luitpold (1821–1912),Arzt Franz Carl Müller (1860–1913) undweiteren Personen.

    Müller ist derjenige, welcher die beidenZeitstränge miteinander verbindet, indemer nämlich, wie oben aus dem Vorwort zi-tiert, einen Aufsatz über den Fall Rosen-stengel veröffentlicht, nachdem er in Ge-heimen Staatsarchiv in Berlin systematischalte Strafrechtsakten durchsucht hatte.Müller ist zugleich auch jener Arzt, der vonseinem Vorgesetzten von Gudden im Auf-

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    trag von Luitpold vorgeschickt wurde, umdie Zurechnungsfähigkeit von König Lud-wig in Frage zu stellen und somit eineMöglichkeit zu schaffen, den König abzu-setzen.

    Und dafür gibt es zwingende Gründe:Der König hat bereits siebeneinhalb Millio-nen Mark private Schulden, die er niemalsbegleichen kann. Schulden nicht bei Bankenoder Aktionären, sondern bei Handwerkern,Baumeistern, Lieferanten und Künstlern.Wenn es zu einer Bankrotterklärung desKönigs kommt – erste Prozesse werden be-reits angestrengt, Gerüchte sind im Umlauf–, sind die Existenzen von hunderten ehrli-chen, hart arbeitenden Bürgern, die sich ih-rerseits für die königlichen Aufträge ver-schuldet haben, zerstört. Der Sturm derEntrüstung könnte dann solche Ausmaßeannehmen, dass die ganze Sippe der Wit-telsbacher hinweggefegt würde. Deshalbhat das Haus Wittelsbach, mit sämtlichenMitgliedern als Bürgen, die Summe, die derKönig schuldet, bei Banken als Kredit auf-genommen und, ein wenig unvorsichtig,dem König überreicht. Dieser jedoch ver-wendet die Gelder, um weiter bauen zu las-

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    sen, so dass sich seine Schulden auf einemSchlag auf sagenhafte fünfzehn MillionenMark verdoppeln.

    Bismarck rät Luitpold, die Angelegenheitvor den bayerischen Landtag zu bringen,mit der Bitte, der Staat solle die Schuldenübernehmen, woraufhin das Parlament dieAbsetzung des Königs erzwingen könne.Dies aber will Luitpold um jeden Preis ver-meiden, nein, Ludwig soll für geisteskrankerklärt und entmündigt werden. Weil derKönig aber zwar exzentrisch, menschen-scheu und obendrein homosexuell veran-lagt, jedoch nicht wirklich wahnsinnig istwie etwa sein jüngerer Bruder Otto (1848–1916), bedarf raffinierter Strategien, umzum gewünschten Ziel zu kommen, etwa,indem man den jungen, attraktiven ArztMüller bei Ludwig einschleust. Gudden alsVorgesetzter von Müller wird dabei vonLuitpold willfährig gemacht, indem derkünftige Prinzregent ihm mit Kürzung derMittel für seine Anstalt, der Förderungseines Widersachers Prof. Gietl und sogarseiner möglichen Entlassung droht, solltedas Gutachten nicht zufriedenstellendausfallen.

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    Der König, der sich sonst bei abkom-mandierten und vermutlich hinreichendveranlagten Chevauxlegers zu bedienenpflegt, verliebt sich unsterblich in Müller,welcher die Zuneigung des Königs wenig-stens in seelischer Hinsicht erwidert.

    Und so kommt es, wie es kommen muss:Der König wird schließlich aufgrund einesGutachtens aus der Feder Guddens, derLudwig zuvor noch nie gesehen hat, verhaf-tet und auf Schloss Berg am Starnberger Seeinterniert, wo er kurz darauf tot im See ge-funden wird, neben sich die Leiche Gud-dens. Die Todesursache des Königs ist heutenoch ungeklärt, weshalb das vorliegendeWerk eine unglaublich ersehnte Erleuch-tung bringen könnte – jedoch: Luitpoldschreibt an Bismarck, Ludwig habe sich imSee das Leben nehmen wollen und dabeiGudden, der ihn davon abhalten wollte, zu-vor ertränkt. Müller schreibt an Elisabeth,Ludwig habe mit einem Unterseeboot flie-hen wollen und sei deshalb von LuitpoldsSchergen mit einem Druckluftgewehr inden Rücken geschossen worden; dieselbenÜbeltäter hätten auch den gefährlichenZeugen Gudden erwürgt. Professor West-

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    phal schreibt an Bismarck, Gudden habeden König ertränkt und sei dafür seinerseitsaus Rache von Müller getötet worden. Eli-sabeth schreibt an Müller, Ludwig habefliehen wollen und dabei Gudden, der ihndaran hindern wollte, ertränkt, woraufhinMüller wiederum den König tötete, um sichseine eigene Homosexualität nicht einge-stehen zu müssen.

    Wer jetzt den Eindruck gewonnen hat,Rosenstengel wäre ein recht trockener Be-richt, der irrt: Selten habe ich einen derartfaszinierenden und mitreißenden Romangelesen wie den vorliegenden – und das,obwohl der Briefroman doch eigentlich zuden verblichenen und heute kaum noch ge-schätzten Genres zählt. Was für Rosensten-gel spricht, ist vor allem die perfekte Be-herrschung von Stil und Geist sowohl inden Briefen aus dem frühen achtzehnten alsauch aus dem späten neunzehnten Jahr-hundert. Ich bin während des Lesens ausdem Staunen nicht mehr herausgekommen,wie denn ein derartiges Kunststück men-schenmöglich sei – bis ich im Nachwort las,dass Angela Steidele ihre Romanbriefe zum

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    größten Teil aus den echten Schriften derhistorischen Personen kompiliert hatte.

    Nach dem Mittagessen copirte ich aufeinem bereits halb beschriebenen Blattversehentlich nicht den angefangenen,sondern einen anderen Brief. Als ich denFehler bemerkte, las sich der,vermengte‘ Brief bündiger und besserals die beiden echten. Versuchsweiseentnehme ich jetzt den OriginalbriefenZitate und setze diese wiederum zuneuen Briefen zusammen, welche dieGeschichte charakteristisch erzählen.(S. 247, Müller an Elisabeth)

    Hier beschreibt eine der Figuren die Me-thode, die die Autorin selbst anwendet: AusBriefen, Aufsätzen und Streitschriften mon-tiert sie formal neue, aber inhaltlich undstilistisch authentische Briefe. Die Recher-chearbeit, die dem vorausgehen musste,kann man sich nur als enorm vorstellen; siewurde aber sich dadurch erleichtert, dassdie Dozentin Angela Steidele bereits 2004die Monografie In Männerkleidern. Das ver-wegene Leben der Catharina Linck alias Ana-

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    stasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet1721 veröffentlicht hatte; bei der Arbeitdaran war sie auch auf Müllers Werk überRosenstegel gestoßen.

    Einen wichtiger Punkt des Romans stel-len die Einblicke in die Stellung der Homo-sexualität in der Gesellschaft dar: vom got-teslästerlichen Verbrechen bis zur bekla-genswerten Krankheit. Noch interessanterund im wahrhaftig haarsträubend sind dieBeschreibungen der Behandlungsmethodenpsychisch Kranker zur Zeit Ludwigs: Ob-wohl die Zeit, in der man Geisteskranke wiewilde Tiere wegsperrte, bereits vorbei war,waren die Kuren, denen die Patienten un-terworfen wurden, oft schlimmer als dieKrankheiten. Die Autorin zeigt das sehrschön am Beispiel von Otto, Ludwigs jünge-rem Bruder:

    Die Diagnose dürfte so eindeutig wieniederschmetternd sein: Meines Erach-tens leidet S.kgl. Hoheit an Hirnerwei-chung (Progressiver Paralyse), die janichts anderes ist als eine Spätfolge derSyphilis, 10–20 Jahre nach der Infektion.(S. 13, Müller an Westphal)

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    Gudden, der eigentlich ein eher fortschritt-licher Mediziner ist und für eine Behand-lung ohne Zwang eintritt, sieht aber kei-nerlei Probleme darin, eine äußerstschmerzvolle und lebensgefährliche Be-handlung durchzuführen:

    Prinz Otto’s Wohlbefinden hat leiderdramatisch gelitten. Kaum waren Sieabgereist, hat er versucht, das FräuleinCiavierlehrerin nothzuzüchtigen. Nach-dem die Pfleger ihn von ihr weggeris-sen, mussten sie ihn in den gepolstertenKrampfkasten sperren, den er zumgrößten Theil zertrümmerte, trotz deseisernen Beschlages. Gietl, der Ihre Ab-wesenheit als Vorwand benutzte, beiSr.kgl. Hoheit vorbeizuschauen, räth zursofortigen Faradisation in der Elektri-sirmaschine. Ich neige zu einem ande-ren Verfahren, welches ich jedoch zuvormit Ihnen besprechen will. Unser Göt-tinger College Ludwig Meyer überraschtderzeit die Fachwelt mit der Nachricht,Patienten mit Progressiver Paralyse mitder guten alten ,Einreibung‘ geheilt zuhaben, also der Behandlung des Schä-

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    dels mit einer Salbe von Tartarus stibia-tus, Ihnen vielleicht auch als Auten-rieth’sche Salbe oder Brechweinsteinbekannt, Kaliumantimonyl-tartrat. Die-se Einreibung bildete früher eine Spe-cialität der Anstalt in Siegburg unter Ja-cobi (dem Großvater meiner Gattin),und man konnte in den verschiedenenPflegeanstalten der Rheinprovinz dievon Siegburg übernommenen Krankenan der tiefen Delle erkennen, die sie aufihrem Schädel trugen und die als „Sieg-burger Siegel“ bezeichnet wurde. Ichselbst habe als junger Assistent Jacobismehrfach Einreibungen vorgenommen.(S. 144, Gudden an Müller)

    Diese Salbe frisst nicht nur die Kopfhaut,sondern sogar die Schädeldecke weg:

    Als ich zurückkam, war das eingerie-bene Stück der Kopfhaut S.kgl. Hoheitschwarz und brandig und löste sich un-ter dem Einflüsse der warmen Um-schläge los, sodaß ich es mit der Pinzet-te herausnehmen mußte. Das entstan-dene Loch ist wie mit dem Meißel aus

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    gestemmt und man sieht auf demGrunde den blanken Schädel mit seinenverschiedenen Nähten freiliegen. DieEinwirkung der Salbe ist so gewaltig,daß sich in der Mitte nicht nur die vonder ernährenden Knochenhaut beraubteäußere Schädelplatte abgestoßen hat,sondern auch noch die innere. Die harteHirnhaut liegt jetzt frei, ohne jedenweiteren Schutz, und man kann ihr Pul-sieren sehen. (S. 180, Müller an West-phal)

    Von hier bis zu den Versuchen, die Ärztewie Josef Mengele (1911–1979) in Konzen-trationslagern ausführten, ist kein allzuweiter Weg mehr.

    Die Vorurteile, denen die Koryphäen derWissenschaft im späten neunzehnten Jahr-hundert anhingen, waren gewaltig. Unddas Kuriose bei der Sache ist: Wenn der Ei-ne dem Anderen seine absurde Ansichtschreibt, wird sie von Letzterem aufsSchönste widerlegt – was jedoch Denselbennicht hindert, eine noch verrücktere Thesezu vertreten, die wiederum vom Ersten be-kämpft wird. Die damalige Wissenschaft,

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    insbesondere die Psychiatrie, war nichtsweiter als ein Stochern im Nebel, mit unzu-reichenden Mitteln und von völlig falschenVoraussetzungen ausgehend. Aber geradediese wechselseitig widerlegten Thesensind es, die die ganze besondere Faszinati-on ausmachen, die von den Briefen der sosehr Gelehrten ausgehen.

    Hier zum Beispiel breitet Paul JuliusWestphal – eine Kunstperson, zusammen-gesetzt aus den Ärzten Prof. Carl Westphal(1833–1890) und Dr. Paul Julius Möbius(1853–1907) – seine Ansichten über Frauenaus:

    Wollen wir ein Weib, das ganz seinenMutterberuf erfüllt, so kann es nichtAufgaben übernehmen, denen nur derMann sich gewachsen zeigt. Die Inferio-rität des weiblichen Gehirns ist nichtnur nützlich, nein der physiologischeSchwachsinn des Weibes ist auchnothwendig, er ist nicht nur ein Fak-tum, sondern auch ein Postulat. [...]

    Versagt das moderne Weib den Dienstder Gattung, will es sich als Individuumausleben, will es lernen, studiren,

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    männliche Berufe ausüben, gar wählenund seinen kleinen Kopf mit Dingen ab-quälen, die viel zu groß für ihn sind, sowird es mit Siechtum geschlagen;übermäßige Gehirnthätigkeit macht dasWeib nicht nur verkehrt, sondern auchkrank. Diese modernen Närinnen sindschlechte Gebärerinnen und schlechteMütter. Die Qualität ihrer Kinder läßt zuwünschen übrig und es fehlt an Mut-termilch. In dem Grade, in dem die Civi-lisation wächst, sinkt die Fruchtbarkeit,je besser die Schulen werden, umsoschlechter werden die Wochenbetten,kurz, umso untauglicher werden dieWeiber. (S. 263f, Westphal an Bismarck)

    Dass die Geburtenrate in Deutschland heuteso sehr abgenommen hat, bestätigt zumTeil sogar Westphals Ansichten. Wobei al-lerdings eine Reduzierung der Bevölkerungin einem so übersiedelten Land wieDeutschland durchaus wünschenswert wä-re, ebenso wie die Abkehr von der Alterspy-ramide. Diese lässt sich nämlich nur auf-recht erhalten, wenn in jedem Lebensalterein Prozent der Bevölkerung stirbt – ich

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    kann mir nicht vorstellen, dass Irgendeinersich freiwillig für die Mehrheit opfern undvorzeitig das Zeitliche segnen würde, dieVertreter der Alterspyramide sicherlichselbst am allerwenigsten. Nein, die natur-gemäße Verteilungskurve wäre ein Obelisk,der bis zur Marke von achtzig Jahren par-allel hochgeht und dann langsam zu einerSpitze zusammenläuft: Die Achtzig zu er-reichen, ist doch wohl unzweifelhaft dasZiel sämtlicher Einwohner. Freilich, Politikund Wirtschaft sehen das anders, sie hättengerne ein großes Reserveheer junger Ar-beitsloser, um die Lohnkosten niedrig zuhalten.

    Allerdings bleibt es hierzulande nichtbeim stillen Rückgang der Bevölkerung,vielmehr sehen wir eine zunehmende Ein-wanderung von Völkern, in denen die Frau-en kaum besser als Sklaven gehalten wer-den. Darwinistisch gesehen, scheint dasModell der Gebärmaschine dem der eman-zipierten Frau überlegen zu sein – aller-dings auch erst, seit selbst in Ländern, dieeinem mittelalterlichen Frauenbild huldi-gen, die Kindersterblichkeit aufgrund der

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    modernen Medizin und Hygiene drastischabgenommen hat.

    Zum Schluss zur Aufmunterung noch ei-ne Analyse der Wagner’schen Heldinnen,angefertigt von dem unermüdlichen Müller:

    Alle Heldinnen Wagners kennzeichnetja ein Zug von Edelhysterie, etwas Som-nambules, Verzücktes und Seherisches.Aber Kundry, die Höllenrose im Parsifal,ist geradezu ein Stück mythischer Pa-thologie; in ihrer qualvollen Zweiheitund Zerrissenheit, als Instrumentumdiaboli und heilssüchtige Büßerin, istsie mit geradezu klinischer Drastik undWahrheit gemalt, mit einer naturalisti-schen Kühnheit im Erkunden und Dar-stellen schauerlich krankhaften Seelen-lebens, die mir als etwas Äußerstes anirrenärtzlichem Wissen erscheint. – VonWagners Meisterschaft in der Behand-lung Irrer bin ich demnach noch weitentfernt. Doch nachdem ich das Bierheute lauwarm ausgetheilt habe, errei-che ich Ähnliches wie der Meister vomGrünen Hügel: Alles schläft. (S. 109)

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    Während die Briefe der meisten Protagoni-sten authentisch sind oder aus überliefer-ten Versatzstücken zusammengestellt wur-den, bekennt Angela Steidele, Müllers Briefezum größten Teil erfunden zu haben. Nichtso die ekstatischen Schreiben Ludwigs anMüller: Diese sind echt, wenn auch an an-dere Liebhaber gerichtet.

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    Bernard CornwellUhtred Saga 10: Der Flammenträger(The Saxon Stories 10: The Flame Bearer,2016)rororo 29 110 (TB 480 S./€ 10,99)Reinbek bei Hamburg 2017Aus dem Englischen von Karolina FellGenre: Historischer Roman

    Es begann mit drei Schiffen.Jetzt waren dort vier.Die drei Schiffe waren an die Küste

    Northumbriens gekommen, als ich einKind war, und binnen Tagen war meinälterer Bruder tot, und binnen Wochenfolgte ihm mein Vater ins Grab, meinOnkel raubte mein Land, und ich warein Vertriebener geworden. Nun, soviele Jahre später, beobachtete ich vondemselben Strand aus vier Schiffe, dieauf die Küste zukamen.

    Sie kamen aus dem Norden, und ausdem Norden kommt nur Schlechtes. DerNorden bringt Frost und Eis, Norwegerund Schotten. Er bringt Gegner, und ichhatte schon genügend Gegner, denn ichwar nach Northumbrien gekommen, um

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    Bebbanburg zurückzuerobern. Ich wargekommen, um meinen Cousin zu tö-ten, der sich meine Stellung angeeignethatte. Ich war gekommen, um mir meinHeim zurückzuholen. (S. 15)

    Bebbanburg, Uhtreds Heimat und eine aus-nehmend schwer zu bezwingende Burg, inder Hand seines verräterischen Cousinsgleichen Namens, liegt vor ihm. Die Chanceauf Rückeroberung war gegeben, dennEngland war befriedet, doch mit der Unter-stützung durch Norwegische Krieger wirdes sehr viel schwerer werden. Da erreichtUhtred die Nachricht, dass Northumbrienvon Sachsen angegriffen wurde und Hilfeberaucht – Brebbanburg muss wieder ein-mal warten.

    Der Flammenträger ist sehr flüssig undunterhaltsam erzählt, wie eigentlich alleRomane des großen Historienautors Ber-nard Cornwells. Auf dem Cover prangt einAufkleber mit der Schrift „BestBestseller“ –entweder ist das ein SchreibSchreibfehler,oder es soll damit der außerordentlich gro-ße Verkaufserfolg dieser Serie ausgedrücktwerden.

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    Paul BiegelDas große Virgilius-Tulle-Buch(Virgilius van Tuil, 2009)Urachhaus (HC 366 S./€ 19,90)Stuttgart 2017Aus dem Niederländischen von FrankBerger, Marie-Thérèse Schins und ItaMaria NeuerGenre: Phantastik

    „Und wie alt wirst du?“„Oh, äh, tausend oder so“, antwortete

    er. Der älteste Zwerg wird natürlichsehr alt, wenn er Geburtstag hat.

    „An welchem Tag denn, und woherweißt du das überhaupt?“

    „Oh, ich spüre einen kleinen Stoß“,sagte Ate, „wenn ich aufstehe und einBein aus dem Bett strecke, spüre ich ei-nen kleinen Stoß, ehe ich den Boden be-rühre. Und dann weiß ich: Aha, heute!Heute werde ich tausend. Und dannmöchte ich eine Torte haben, um zu fei-ern.“

    „Ja!“, riefen die Tulle-Zwerge. „Mittausend Kerzen drauf.“ (S. 119f)

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    Ein tausendster Geburtstag muss natürlichgefeiert werden, und eine Torte muss her,auch wenn überhaupt nichts zum Backenim Haus ist. Virgilius Tulle weiß Rat: Ergeht einfach zum Bäcker. Die anderenZwerge glauben, er hätte den Verstandverloren: Wie will er dort hinkommen? Wiewill er mit den Menschen umgehen? Wiewill er die Torte zurückbringen? Und wirder selbst überhaupt jemals wiederkommen?

    Für Virgilius Tulle sind solche Bedenkenüberhaupt kein Hindernis, und schwuppsist er weg. Im Wald trifft er eine Familiebeim Picknicken, schleicht sich in eine Tra-getasche und wird mit nach Hause ge-nommen. Dort entdeckt ihn der Sohn An-dreas und ist geradezu begeistert: DieSchüler sollen doch am nächsten Tag irgen-detwas aus dem Wald mit in die Schulebringen, einen Käfer, eine Kastanie – odereben einen Zwerg. Kaum wird der Lehrerdes Zwerges ansichtig, verliert er schierden Verstand und schleppt ihn in die Lo-kalpresse: Jetzt wird er berühmt ... und dasVerhängnis nimmt seinen Lauf.

    Vier Bücher über den dicken, abenteu-erlustigen Zwerg Virgilius Tulle gibt es in

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    den Niederlanden: Virgilius van Tuil (1978),Virgilius van Tuil op zoek naar een taart(1979), Virgilius van Tuil en de oom uit Zwe-den (1980) und Virgilius van Tuil overwintertbij de mensen (1982). Im vorliegenden Sam-melband sind die Bücher eins, zwei undvier enthalten: Virgilius Tulle, Virgilius Tulleauf Tortenjagd und Virgilius Tulle überwintertbei den Menschen, wobei das erste und dasletzte Buch deutsche Erstveröffentlichun-gen darstellen.

    Jedes Buch ist wiederum in eine größereZahl von relativ selbstständigen Kapitelnunterteilt, die sich an einem Abend bequemvorlesen lassen. Zusammen mit den sympa-thischen Illustrationen von Mies van Houtist Das große Virgilius-Tulle-Buch eine wun-derbare Lektüre für Kinder und sogar Er-wachsene. Hoffen wir, dass auch das feh-lende dritte Buch noch auf Deutsch er-scheint.

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    Maja Winter [Lena Klassen, 1971–]Träume 2: Träume aus StaubBastei Lübbe 20 865 (PB 672 S./€ 15,00)Köln 2017Genre: Fantasy

    Sie sagen, dass die Sonne von Wajun,das göttliche Herrscherpaar, gesegnetist und unfehlbar. Stirbt ein Teil derSonne, so macht der Verbliebene Platzfür eine neue Sonne von Wajun. Dochseit Großkönig Tizarun heimtückischvon einem Meuchelmörder, einem Wü-stendämon aus dem Nachbarland Kan-char, ermordet wurde, weigert sichGroßkönigin Tenira, den Thron für dasnächste Herrscherpaar freizumachen.Mit ihrem Sohn Sadi, geboren in derNacht, als sein Vater starb, hat sie sichzur neuen Sonne erklärt und regiert mitfester Hand Le-Wajun.

    Sie sagen, Tenira sei eine Lichtgebore-ne, die Nachfahrin aus einer Verbin-dung zwischen Mensch und Gott, eineFee. Sie sagen, Tenira sei zweifach un-fehlbar – Nachfahrin der Götter und alsSonne selbst zur Göttin geworden. Und

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    unbarmherzig wie eine Göttin geht sieihren Weg. (S. 7)

    Großkönig Tizarun von Le-Wajun ist im vo-rigen Band von dem Knappen Karim er-mordet worden. Karim ist eine Figur mitschillernder Herkunft: unehelicher Sohn desGroßkönigs Tizarun; Ziehsohn von Laon,dem König von Daja; und Wüstendämon,ein ausgebildeter Meuchelmörder. Gegen-wärtig versucht er mit Hilfe seiner Magieund seiner Wüstenschwester Linua, die dreiGefährten Lani, Sidon und Laikan aus derGefangenschaft von Banditen zu befreien –nachdem er selbst den Banditen Hinweisegegeben hatte, wie leicht die Drei einzu-fangen wären. Gleich nach dieser zweifel-haften Tat löst er seine Verlobung mit Prin-zessin Rumia, der Tochter von Laon, weil ersich heimlich in Anyana verliebt hat, dieTochter von Prinz Winya, des jüngerenBruders des toten Großkönigs.

    Das ist nur ein winziger Ausschnitt ausder überaus komplexen Handlung vonTräume aus Staub, die sich an George R. R.Martins Das Lied von Eis und Feuer zu orien-tieren scheint. Dabei ist allerdings Maja

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    Winters Werk um so viel besser geschrie-ben – siehe das obige Zitat –, dass danebenGeorge R. R. Martins Großwerk wie eineschwache Kopie wirkt.

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    *Klepper, Jochen: Vater

    Jochen Klepper [1903–1942]Der Vater (1937)dtv 14 565 (TB 928 S./€ 17,90)München 2017Genre: Historischer Roman

    Seit Friedrich Wilhelm zum Staatsratzugelassen war, zeigte er manchmal ei-ne geradezu verhängnisvolle Art, Zwi-schenfragen zu tun, die einen beinaheaus der Fassung bringen konnten. SechsJahre ging es nun schon so. Den Fünf-zehnjährigen hatte der König in schönerGeste und Floskel zu den Beratungender Minister hinzugezogen, und derjunge Mensch machte sich seitdem ei-nen Zwang daraus und versäumte keineSitzung. Ja, mitunter nahm er bei allerAchtung vor dem König dem Vater dasWort aus dem Mund und gab, ohne daßdie Majestät noch widersprechen konn-te, der ganzen Verhandlung eine völligandere Richtung als geplant war.Manchmal wußte man nicht, wer hierder Vater, wer der Sohn war. Fest stand

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    nur, daß der Herrscher mitunter denThronfolger, niemals aber der Kronprinzden König fürchtete. [...]

    Sonst ahmte er die gemeinen Soldatennach, rauchte Tabak, fluchte, band sicheinen Riesensäbel um und redete mitVorliebe die niedrigsten Soldaten an,und zwar in ihrem Umgangston. AlleFrauen, auch die eigene Stiefschwester,nannte er Huren. Wenn er nicht fluchte,sprach er schnarrend, leise, kurz undabgerissen, sprach überhaupt ungern;fand er eine Antwort nicht, so runzelteer die Stirn; [...]. (S. 16f)

    Sein Vater Friedrich III. Markgraf von Bran-denburg (1657–1713) hatte sich als Fried-rich I. selbst zum König in Preußen ernanntund führte ein Leben im äußersten Luxus,und das in einem armen, wenig bevölkertenLand, das der Spielball seiner mächtigenNachbarn war.

    Sein Sohn Friedrich Wilhelm I. (1688–1740) war schon als Kind und Jugendlichervon ganz anderer Art, wie Jochen Klepperoben so schön beschreibt.

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    „Die sichersten Mittel, einem Volk, ei-nem Land, einem Königreich eine dau-erhafte Glückseligkeit zu verschaffen,sind ein Heer auserlesener Soldaten undeine gute Wirtschaft der Bürger.“ (S. 18)

    Das ist der Wahlspruch des Kronprinzen.Seiner Umgebung scheint er ganz aus derArt geschlagen, und man fürchtet den Tag,an dem er den Thron besteigen wird. Leo-pold II., Fürst von Anhalt-Dessau (1700–1751), Sohn des Alten Dessauers, später le-benslanger Vertrauter Friedrich Wilhelms,hat über den Prinzen schon viel gehört:

    Niemand erschien seinem klaren Sinngeheimnisvoller als der junge Königs-sohn, von dem es an den Höfen immernur hieß, daß er gewalttätig, eigenwil-lig und beschränkt sei und keine andereBildung habe als die der Kaserne, keineandren Formen des Umgangs kenne alsKommandieren und Order parieren. Ermüsse künftig einmal, so hatte es im-mer bei Hofe geheißen, die Minister fürsich regieren lassen, denn er scheue jadie geringste geistige Anstrengung; er

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    werde Verwicklungen herbeiführen undden Staat nicht schützen können. (S. 39)

    Aber Friedrich Wilhelm ist ganz anders, alsdie böswilligen Verleumder verbreiten. Alser 1813 den Thron besteigt, entfaltet er ei-ne Tätigkeit, wie sie die Welt noch nichtgesehen hat.

    Indem er 1814 dem Kaiser die weitereTeilnahme am Spanischen Erbfolgekriegverweigert, beendet er diesen quasi im Al-leingang. Auch eine Mitwirkung, die denGroßen Nordischen Krieg wieder auflebenließe, ist von ihm nicht zu haben. Erst alsder schwedische König Karl XII. (1682–1718) aus der Gefangenschaft zurückkehrtund sogleich einen neuen Krieg zum Zaumbricht, schreitet Friedrich Wilhelm ein undbelagert 1815 die als uneinnehmbar gel-tende Festung Stralsund, die von Karl XII.,dem größten Feldherrngenie seiner Zeit,verteidigt wird. Nach der überraschendenEroberung Stralsunds kann sich FriedrichWilhelm I. nun König von Preußen nennen,statt wie bisher nur König in Preußen.

    Friedrich Wilhelm ist weithin als derSoldatenkönig bekannt, dessen Stecken-

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    pferd es war, lange Kerls zu sammeln unddamit ein ausgesucht stattliches Leibregi-ment aufzustellen. Tatsächlich war sein er-ster Spitzname aber der Plusmacher, dennsein ganzen Sinnen und Trachten war dar-auf gerichtet, die Wirtschaft im Reich zubeleben, die Schulden zu tilgen und ebenein Plus zu machen.

    Wie läßt die Leinenweberei sich bele-ben? In welcher Frist kann man Ersatzbeschaffen für die auswärtigen Kattuneund Baumwollstoffe? Aufweichen Ge-bieten der Stoffabrikation fehlt es anFacharbeitern? Soll man nicht Werk-meister aus Holland für die Tuch- undGewebeindustrie als Lehrmeister holen?Muß man nicht Wollkämmer, Tuchsche-rer, Walker, Presser, Seidensortierer,Wicklerinnen, Blattmacher, Mouliniers,Musterleserinnen, Färber, Appreteure,Webstuhlschlosser, Stuhlaufsetzer ausLyon, Turin, der Schweiz herrufen? Wiesteht es um Berliner Ellen und Archinen,ums Zwirnen und Haspeln und Zupfen,die besten Binsen zum Wollrade, das

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    feinste Baumöl für die Walkmühle?(S. 91f)

    Als Experimentierfeld wählt er sich als er-stes die Tuchmacherei: Importe von ferti-gen Produkten werden verboten, ebensodie Exporte von Wolle; der Export von Stof-fen wiederum wird erleichtert, die heimi-sche Produktion wird mit allen Kräften ge-fördert. Um die Sache in Gang zu bekom-men, ist anfangs der König selbst der größ-te Abnehmer, denn er braucht ja Uniformenfür sein gewaltig anwachsendes Heer.

    Zugleich wird die Hofhaltung aufs Al-lernötigste reduziert: Schauspieler undSänger werden entlassen, Einrichtungenverkauft, seltene Weine veräußert; selbstdie Mehrzahl der Schlösser wird verkauftoder verpachtet. Das verursacht anfangsArbeitslosigkeit, aber der König steuert mitvielen Maßnahmen, auch mit dem nötigenUnterhalt der Armee, dagegen.

    Die Zahl der Reformen, die der Königschon in den ersten Jahren seiner Herr-schaft durchführt, ist ungeheuerlich: Ab-schaffung der Leibeigenschaft, Besteuerungdes Adels, Nothilfe für Bauern bei Naturka-

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    tastrophen, Trockenlegung von Sümpfen,Entschuldung von Handwerkern und Bau-ern, Ansiedlung von Einwanderern, Ab-schaffung der Prügelstrafe, Erhebung vonSchutzzöllen, Reform der Verwaltung, Ver-besserung des Gesundheitswesens, Förde-rung der Hygiene, und und und. Ein Bei-spiel noch von vielen: Die Strafen für ledigeMütter werden abgeschafft, dafür die Stra-fen für Kindsmord verschärft – der Königbraucht Einwohner.

    Der König arbeitet Tag und Nacht, jederErlass, jede Rechnung, jeder Bericht, jederBrief muss durch seine eigenen Hände ge-hen.

    Unter dem Vater Friedrich I. verbandman Preußen nicht mit dem, wofür es heu-te steht, sondern höchstens mit einem un-glaublich armen, rückständigen Land, indem die Bauern von den Junkern kujoniertwerden.

    Was man als die berühmten preußi-schen Tugenden bezeichnet – Aufrichtig-keit, Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Fleiß, Ge-radlinigkeit, Gerechtigkeitssinn, Gewissen-haftigkeit, Ordnungssinn, Pflichtbewusst-sein, Pünktlichkeit, Redlichkeit, Sauberkeit,

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    Sparsamkeit, Toleranz, Unbestechlichkeit,Zurückhaltung, Zielstrebigkeit, Zuverlässig-keit (Wikipedia) – hat Friedrich Wilhelmdank seiner Persönlichkeit und seines un-geheuren Einsatzes quasi selbst geschaffen.

    Dabei war ihm natürlich die calvini-stisch-pietistische Religiosität seiner Unter-tanen – der Adel selbstverständlich ausge-nommen – eine große Hilfe. Am erstaun-lichsten aber ist, dass die von ihm bewirktegeistige Umwälzung auch nach seinem Todanhielt und weitergeführt wurde, wo soviele andere Werke großer Herrscher unterihren Nachfolgern sogleich zerfielen. Derscharrende Kasernenhofton, der Uniform-wahn – der König trug stets die Uniformeines Obersten –, die Militarisierung dergesamten Gesellschaft: alles das Werk die-ses einen Königs.

    In einem unterschied sich FriedrichWillhelm allerdings von seinen Nachfol-gern: Bis auf den einen, kaum ein halbesJahr dauernden Krieg um Stalsund, der ihmaufgezwungen worden war, zog er niewieder ins Feld. Seine glänzende Armeediente ihm ausschließlich dazu, seineNachbarn davon abzuhalten, mit Preußen

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    Schlitten zu fahren, wie es unter seinemVater so oft gesehen war, aber zum Krieg-führen war sie ihm viel zu schade. Sein Pluskam nicht vom Krieg und nicht vom Er-obern, sondern vom Handwerk, vom Han-del und von der Landwirtschaft.

    Unterhaltungen mit dem großen Sohnwaren während der Tafel nicht dasRechte. Fritz war auch hier unablässigvon der Vorbereitung auf das Amt desKönigs von Preußen in Anspruch ge-nommen. Hofmeister und Gouverneursaßen dem Thronfolger zur Seite. DerHofmeister und der militärische Erzie-her bewachten jedes Wort und die ge-ringste Geste mit Güte, Strenge und Ge-rechtigkeit; denn solche Erzieher hatteder König seinem Nachfolger gegeben.Der blutjunge Major Friedrich von Ho-henzollern war blaß und schien ein we-nig überanstrengt. Ernst und freundlichsah der Vater zu dem großen Sohn hin-über, während er, ein wenig gedan-kenlos, mit Friedrichs Brüderchen spiel-te. (S. 397)

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    Der umfangreichere zweite Teil des Romansist der Beziehung zwischen dem König unddem Kronprinzen Friedrich gewidmet. DerKönig weiß, dass alle seine Anstrengungenvergeblich sein werden, wenn sein Sohnauch nur im mindesten dem Großvaternachgeraten würde. Deshalb wird Friedrichungewöhnlich streng erzogen – was jedochvon seiner Mutter heimlich hintertriebenwird. Sie ist die Tochter des früheren Kö-nigs von England und die Schwester desjetzigen, des mächtigsten Monarchen derErde, der das absolute Gegenteil des arm-seligen Preußenkönigs darstellt. Nach ih-rem Willen soll Friedrich höfisch erzogenwerden und später eine englische Prinzes-sin heiraten – denn nur aus Englandkommt Würde und Ansehen.

    Unterdessen arbeitet der König weiteran der Reformierung seines Reiches: Dieallgemeine Schul-Pflicht wird eingeführt,sogar für die Bauernkinder; dann die allge-meine Wehrpflicht, denn jeder Mann imLand soll gedient haben, die Bürger als Sol-daten, der Adel als Offiziere; später wirdsogar den Bürgerlichen die Offizierslauf-

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    bahn geöffnet; Mustergüter werden errich-tet als Vorbilder für die Landwirtschaft.

    Aber bei allem seinem Fleiß und bei allerseiner Frömmigkeit ist der König nicht ge-feit gegen Naturkatastrophen: Vor allem inPreußen herrscht große Not, die viel Unter-stützung nötig macht, und ein Teil derNeusiedler wandert angesichts der schlim-men Aussichten gleich wieder ab.

    Der unwandelbar heilige und ewigeGott, die Krone des Lebens und der Ge-rechtigkeit auf seinem Haupte, saß aufdem Stuhl, der wie ein Regenbogen an-zusehen und in den Tiefen der Erde ge-gründet war. Ein silberner Mantel floßvon den Schultern Gottes wie Wasserdes Lebens. Gottes Haare waren wie derSchnee und seine Augen eine Feuer-flamme. Sein leuchtendes Angesichtwar ohne Schatten und Wandlung: un-abänderlich heilig.

    Im Schoße Gottes lag sein Sohn. Dergebrochene Leichnam hing über demSchöße des Vaters; und die Rechte Got-tes hielt den Kopf des Mcnschensohnesmit der Dornenkrone; und die Linke

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    Gottes trug die nägeldurchgrabenenFüße seines eingeborenen Sohnes. Derwar elend und nackt und nur angetanmit einem Leinenschurz; das Tuch warmit Blut besprengt.

    Gott hatte aber einen Namen ge-schrieben auf seinem Kleid und auf sei-ner Hüfte wie ein Band: Ein König allerKönige und ein Herr aller Herren.(S. 630)

    Kronprinz Friedrich hält das überstrengeReglement des Vaters nicht mehr aus undwill nach England fliehen. Der Plan wirdentdeckt, einer der Mitverschwörer, einFreund Friedrichs, Hans Hermann von Katte(1704–1730) wird hingerichtet. Den Kron-prinzen trotz seines offensichtlichen Hoch-verrats zu verurteilen, wagt der Gerichtshofnicht, sondern gibt die Angelegenheit anden König zurück, der nun entweder selbstdas Todesurteil über seinen Sohn fällenoder von seinen eisernen Prinzipien der all-gemeinen Gerechtigkeit abweichen muss.Die oben beschriebene Pietà ist gleich einedoppelte Seltenheit: Sie zeigt den trauern-den Vater statt der Mutter, und sie findet

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    sich im streng protestantischen Brandburgals letztes, zufälliges Überbleibsel des altenGlaubens – aber sie drückt genau aus, wasder König fühlt.

    Wie gehetzt suchte er nach dem schwe-ren und einzigartigen Verbrechen, indem endlich alle Quälereien, Enttäu-schungen, Verrate des Herzens, Hinter-gehungen, Bloßstellungen, Auflehnun-gen, Verspottungen wurzelten, die erJahre hindurch erduldet hatte. Er suchtenach der zermalmenden, allen Wider-spruch – auch den des eigenen Herzens– dahinfegenden Begründung für dasgroße Gericht, zu dem sein Land ihmüberreif geworden schien! Der Königs-sohn litt nicht mehr nur für die eigeneTat der Unordnung: er trug auch alleFeindschaft und Abkehr, die im Landegegen den König am Werk war, er trugsie als der erste aller Widersacher undAbtrünnigen. (S. 649)

    Der König sucht Trost in der Bibel, aber erfindet dort:

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    „Mein Sohn Absalom! Mein Sohn Absa-lom! Wollte Gott, ich wäre für dich ge-storben! O Absalom, mein Sohn, meinSohn!“ (S. 656)

    Dann aber erbarmt sich der König doch,und Friedrich wird nach einer Zeit der Haftbegnadigt und söhnt sich mit dem Vateraus: Die englischen Pläne sind begraben,Friedrich will ein guter König aus eigenerKraft werden, wie sein Vater.

    Die wirtschaftlichen Verhältnisse imLand bessern sich im gleichen Maß; einegroße Zahl von Einwanderern aus Salzburg,die ihres Glaubens wegen vertrieben wur-den, gründet ganze Dörfer in Litauen. Eineinziges Mal muss Friedrich Wilhelm I. demKaiser Gefolgschaft leisten, gegen Frank-reich, allerdings nur als Kurfürst von Bran-denburg, da Preußen kein Teil des Reichesist. Das brandenburgische Heer erregt inseiner Disziplin und Organisation das Stau-nen der Verbündeten; es kommt jedoch zukeiner Schlacht, da sich Frankreich mit ei-ner kleinen Eroberung zufrieden gibt.

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    Zu der Zeit ist der König schon schwerkrank, und 1740 geht es ans Sterben. SeinVermächtnis lautet:

    Dabei erging, noch einmal in der Formeines Ediktes, des letzten, die Mahnungan die Minister, „nicht wie die Schau-spieler aufzutreten und zu reden, son-dern an die Schlichtheit Christi und sei-ner Jünger zu denken“. (S. 921)

    Und seine letzten Worte sind:

    „Herr Jesus, dir leb’ ich; Herr Jesus, dirsterb’ ich; Herr Jesus, du bist mein Ge-winn im Leben und im Sterben – meinHerr Jesus!“ (S. 921)

    Der Vater hat die Neuauflage mehr als ver-dient, denn es handelt sich dabei um einenäußerst ungewöhnlichen historischen Ro-man. Jochen Klepper war der Sohn einesPastors und studierte selbst Theologie; dasAmt eines Pfarrer konnte er jedoch wegenseiner schwachen Gesundheit nicht aus-üben, so dass er als Schriftsteller und Dich-ter geistlicher Lieder wirkte. Dass Kleppers

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    Sprache am Alten Testament und an dengroßen Autoren des neunzehnten Jahrhun-derts geschult ist, spürt man in jeder Zeile.Diese Form ist jedoch keine leere Fassade,sondern offenbart die tiefe Frömmigkeit desAutors, der im König Friedrich Wilhelm I.einen Geistesverwandten und ein Vorbildgefunden hat. Der Roman ist auch überwie-gend aus dessen Sicht geschildert; insbe-sondere die Flucht und Gefangenschaft desKronprinzen sind ausschließlich vom Kö-nigs aus erzählt – von längeren Passagenaus der Perspektive der Königin und derPrinzessin Wilhelmine abgesehen, die sichallerdings weniger um den Prinzen als umsich selbst sorgen, da sie ja durch ihre Kor-respondenz mit England leicht als Mitver-schwörerinnen angeklagt werden könnten.

    Die Figuren des Romans sind jedoch be-wundernswert gut herausgearbeitet. Insbe-sondere die Charakterisierung des Königsist hervorragend gelungen: Er ist einMensch, der sein Leben und sein Schicksalsehr schwer nimmt, der sich nie unbe-schwert vergnügen kann, der immer nurdarauf bedacht ist, seine Pflicht zu erfüllen.Aber auch die Fülle von anderen, teils sehr

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    schillernden Persönlichkeiten, bereichertden Roman ganz ungemein.

    Allerdings war der König bekannterma-ßen keine unproblematische Persönlichkeit.Und ebenso haben schon viele Pastoren-söhne unter einem überstrengen Vater ge-litten und rebelliert, teils mit Erfolg, teilsohne. Man kann sich vorstellen, dass JochenKlepper in der Beziehung des Königs zumKronprinzen Parallelen zu seiner eigenenBiographie sah – eigene Kinder hatte Klep-per nicht –, denn sonst hätte er diesesThema nicht mit solcher Energie und Aus-dauer abgehandelt. Die Art und Weise, wiesich Klepper in seinen Roman hineinstei-gert, an dem er ganze drei Jahre langschreibt, hat schon fast etwas Neurotischesan sich, was sich insbesondere im zweiten,viel zu lang geratenen Teil zeigt.

    Nochmals zum Autor: Jochen Klepperwar mit der verwitweten Johanna Steingeb. Gerstel verheiratet, die aus erster Ehezwei Töchter mitgebracht hatte. Die ältesteStieftochter konnte kurz vor Kriegsbeginnnach England ausreisen; die Flucht der jün-geren Tochter scheiterte. Als Frau und Stief-tochter nach Osten deportiert werden soll-

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    ten, nahm sich die ganze Familie gemein-sam das Leben.

    Fazit: Der Vater ist ein außergewöhnli-cher historisch-psychologischer Roman, dergerade heute besonders aus der Masse dereinschlägigen Veröffentlichungen hervor-sticht.

    Zuletzt noch ein paar Worte über denKronprinzen Friedrich, den späteren KönigFriedrich II. den Großen (1712–1786). Ganzallgemein herrscht ja die Ansicht vor, derVater sei ein grobianisches, gefühllosesMonster gewesen, das seine Umwelt ohneUnterlass tyrannisierte. Diese Sichtweisegeht wohl vor allem auf Beschwerden desSohnes zurück, der sich dem Vater nichtunterordnen wollte – hier war der Sohnvermutlich nicht weniger starrsinnig alsder Vater. Das Anliegen von Jochen Klepperwar unter anderem, dieses schiefe Bild desaußerordentlich verdienstvollen Königs, derin einer Gewalttour aus einem hochver-schuldeten, schwachen Land einen moder-nen, starken, finanzkräftigen Staat gemachthatte, zurechtzurücken. Ob er dabei gegen-über der historischen Realität etwas überdas Ziel hinausgeschossen ist, vor allem in

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    Bezug auf den Charakter des Königs, ent-zieht sich meiner Kenntnis.

    Dass das Verhältnis zwischen König undKronprinz anders gewesen sein musste, alses Letzterer so eifrig darstellte, war mirschon früher bei einer Dokumentation auf-gefallen, die 2012 im Fernsehen ausge-strahlt worden war: Friedrich der Große, Al-les oder Nichts von Christian Twente. Dortwurde berichtet, dass Friedrich nach seinerBegnadigung lernte, sich zu verstellen. Nunist allerdings die Verstellung am Hofe das Aund O: Wer mag schon gutheißen, wennder Prinz vor Gesellschaft öffentlich lautklagt, dass das Essen grauenvoll sei, die Gä-ste langweilig und die Gespräche geisttö-tend?

    Das ganze Wohl und Wehe des Landeshing an dem Nachfolger des Königs, unddieser nahm nicht die geringsten Anstalten,sich in das künftige Amt zu fügen: Er inter-essierte sich nicht für Staatskunde, für Mili-tärwesen oder für Kriegskunde; sein eige-nes Regiment, das ihm der Vater gegebenhatte – für jeden Knaben, der mit Zinnsol-daten zu spielen pflegte, der Traum seinesLebens –, konnte ihn kein bisschen fesseln.

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    Stattdessen spielte er Flöte, las Dichter undwar ganz in seinen eigenen Phantasiewel-ten gefangen. Der Vater musste schier ver-zweifeln: Wenn es ihm nicht gelang, diesenso ganz ungewöhnlich erziehungsresisten-ten Sohn zur Räson zu bringen, dann wardas Land verloren und verlotterte wie unterdem Vorgänger Friedrich I. Man kann ver-stehen, dass er mit dem Gedanken gespielthat, Friedrich hinrichten zu lassen: Immer-hin wäre dann der jüngere Sohn, ein ganznormaler, vernünftiger Mensch, auf denThron nachgefolgt, und das Land wäre ge-rettet gewesen.

    Kaum war Friedrich II. 1740 auf demThron, brach er schon den ersten Krieg vomZaun. Im Siebenjährigen Krieg blutetePreußen im wahrsten Sinn des Wortes völ-lig aus und wäre zerstückelt worden, wärenicht zufällig die Zarin gestorben und ihrSohn Peter ein Bewunderer Preußens gewe-sen. Wobei die militärischen Erfolge derPreußen zu allem Überfluss auch noch we-niger dem angeblichen militärischen Geniedes Königs als vielmehr seinem tüchtigenjüngeren Bruder zuzurechnen sind. Hätteder Vater, der stets Land und Bürger nach

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    Kräften schonte, das miterlebt, er wäre ver-zweifelt.

    Darüberhinaus hielt sich Friedrich füreinen fast so guten Musiker wie Bach, einenbesseren Politiker wie Machiavelli und ei-nen ebensoklugen Philosophen wie Voltaire(wofür er von diesem heimlich aufs Ärgsteverspottet wurde). Aber nichts ist gebliebenvon des Königs Musik oder Schriften, wasdes Andenkens wert wäre, am allerwenig-stens sein Antimachiavell. Als König warFriedrich so, wie sein Vater befürchtet hat-te: versponnen und sprunghaft. Eigentlichhätte man den Vater den „Großen“ nennenmüssen, nicht den Sohn. Dass der Sohnaber Preußen schließlich doch noch gutförderte, verdankt er vermutlich später Ein-sicht und der drakonischen Erziehung sei-nes Vaters.

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    Larry CorreiaMonster Hunter International 5: EinMonster sieht rot(Monster Hunter International: Nemesis,2014)Bastei Lübbe 20 872 (PB 496 S./€ 16,00)Köln 2017Aus dem Amerikanischen von MichaelKrugGenre: Phantastik

    „An Ihren Händen klebt unschuldigesBlut. Wie viele Bundesagenten, Zivilistenund Monsterjäger haben Sie im Einsatz ge-tötet?“, verlangte der Verhörleiter zu er-fahren.

    „Ich zähle längst nicht mehr mit.“Die beiden Männer saßen in einem klei-

    nen, hell erleuchteten weißen Raum undwaren nur durch einen schmalen, rechtek-kigen Tisch voneinander getrennt. Frankskonnte sich nicht daran erinnern, wie erhierher gelangt war.

    „Nennen Sie für das Protokoll Ihren Na-men.“

    „Franks.“

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    „Und welche Position haben Sie bis vorKurzem bekleidet?“

    „Special Agent des Amts für Monsterkon-trolle der Vereinigten Staaten.“ (S. 8)

    Earl Harbinger wurde 1900 als RaymondEarl Shackeford Jr. geboren, Sohn einesMonsterjägers. Inzwischen lebt er schonziemlich lange, was wahrscheinlich damitzusammenhängt, dass er sich in einenWerwolf verwandelt hat. Trotzdem ist erseinem Beruf treu geblieben und leitet jetztdie Monster Hunters International – dennwie man weiß, ist die Welt seit 1895 mitUngeheuern aller Art verseucht.

    Doch auch die Regierung hat ihre Agen-tur für Monsterjagden – und den SpecialAgent Franks, der wie weiland Frankensteinaus den unterschiedlichsten Körperteilenund alchemistischen Substanzen zusam-mengesetzt ist. Ein perfekter, fast unzer-störbarer Monsterjäger – aber Frank ist derMeinung, einer von seiner Sorte ist genug.Die Regierung dagegen ist eben dabei, drei-zehn weitere Special Agents zu erschaffen,was bei Franks auf erbitterten Widerstandstößt.

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    Ein Monster sieht rot – flott, actionreich,blutig – was will man mehr.

    Der Autor startete seine Karriere imSelbstverlag, bevor er auf der New YorkTimes Bestsellerliste landete. Nach eigenenAngaben übt Larry Correia die Berufe Waf-fenverkäufer, Schießlehrer, Buchhalter undSchriftsteller gleichzeitig aus, und er istMitinhaber des Fuzzy Bunny Movie Guns,ein Geschäft, das sich auf Waffen und B-Horror-Film-Memorabilia spezialisiert hat.

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    Paul TassiEarthborn 3: Die Söhne Soras(The Sons of Sora, 2016)Bastei Lübbe 20 876 (TB 612 S./€ 12,00)Köln 2017Aus dem Amerikanischen von ThomasSchichtelGenre: Science Fiction

    Der Krieg tobte weiter.Noah war umzingelt. Er konnte die

    anderen im Nebel nicht sehen, wohlaber ihre Schritte auf dem uralten Ge-stein hören. Sie rannten um seine Stel-lung herum, um ihm in die Flanke zufallen. Den Rest seines Teams gab esnicht mehr; er hatte ihre Schreie imFunk gehört, ehe die Signale ausfielen.

    Er war der Letzte, und er hatte keineChance, lebend zu entrinnen. (S. 7)

    Zum Glück ist das nur eine Übung, was derLeser allerdings erst später erfährt – einbeliebter Kniff bei Schriftstellern und Dreh-buchautoren, wenn sie einerseits mit einerhochdramatischen Actionszene einsteigen

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    möchten, die Handlung aber einen ruhige-ren Beginn verlangt.

    Im ersten Band der Serie haben die au-ßerirdischen Xalaner haben die Erde ange-griffen. Zwar haben die Erdenmenschen ge-siegt und die Xalaner sind abgezogen, aberdie Erde ist völlig unbewohnbar.

    Einige Menschen haben jedoch überlebt,und zwar dank der Hilfe eines auf der Erdenotgelandeten Soraners, eines Außerirdi-schen, dessen Volk seit Jahrhunderten ge-gen die Xalaner Krieg führt. Doch auch aufSora enden die Konflikte nicht: Unbekanntelassen Anschläge verüben. Noah und seinZiehbruder Erik begeben sich auf die Jagdnach den Auftraggebern durch die Weitendes Weltraums, wobei sie auf ein äußerstfinsteres Geheimnis stoßen.

    Die Söhne Soras ist ein klassisches Sci-ence-Fiction-Abenteuer, wie es etwa RobertA. Heinlein geschrieben haben könnte, mitSpannung, Dramatik, sympathischen Figu-ren und den Wundern des Weltalls.

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    Susanne KlimtMagische Orte in EuropaAncient Mail Verlag (PB 148 S./€ 6,99)Groß-Gerau 2014Genre: Reisebeschreibungen

    [Ich] reise seit vielen Jahren zu den ge-heimnisvollen Orten dieser Welt. MeineReportagen für namhafte Zeitschriftenführen mich stets zu Plätzen, welchesich selten in einem Reiseführer findenlassen. Da ich gerne alte Traditionenund Bräuche weiter gebe und möchte,dass diese erhalten bleiben, schreibe ichüber besondere Bauwerke, mystischeOrte und geheimnisvolle Kraftplätzemeine Bücher. Es geht mir nicht darum,über ein ganzes Land zu schreiben,sondern einfach nur die Schönheit, ver-borgene Kulte und die energetischeSchwingung der meist sehr ausgefalle-nen Plätze mit Ihnen zu teilen. Natür-lich bin ich auch stets mit meinen Re-cherchen bemüht weitere, noch unge-klärte Phänomene aufzudecken und zuden bereits bekannten Forschungser-

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    gebnissen meine Erkenntnisse beizu-tragen. (S. 7)

    Susanne Klimt berichtet über ihre Reisennach Les Saints Maries de la Mer in Frank-reich, Jama Baredine in Kroatien, zu dem„Fröhlichen Friedhof“ in Österreich, das GutAiderbichl ebendort, und an viele anderedenkwürdige Orte. Unterstützt von zahlrei-chen Farbfotos schildert die Autorin sehrstimmungsvoll den Eindruck, den diese„magischen Orte“ auf eine empfindsameReisende machen – dabei muss man nichteinmal an das Übernatürliche glauben, umsich vom Zauber Europas einfangen zu las-sen. Magische Orte in Europa ist nicht nur in-teressant zu lesen, sondern kann auch alsAnregung für eigene Reisen dienen.

    Der Verlag schreibt über das Buch:

    Europa bietet mit seiner Jahrtausendealten Historie, sowie unzähligen Sagenund Legenden, einen wahren Schatz fürOrte der „besonderen Art“!

    Faszinierende Plätze, imposante Bau-werke, atemberaubende Landschaftenund so manch spannende Legende fin-

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    den sich in den Berichten von SusanneKlimt wieder.

    Sie ist seit vielen Jahren Autorin, TVModeratorin, Künstlerin, Expertin fürparanormale Phänomene und Seherin.

    Durch ihre Präsenz in den Medien istsie den Menschen weit über die Gren-zen Europas hinaus bekannt.

    Mit ihren Reisen zu den magischenOrten dieser Welt, nimmt sie den Lesermit an die mystischen Plätze und teiltihren außergewöhnlichen Wissens-schatz mit ihren Fans.

    Kommen Sie mit Susanne Klimt auf ei-ne Zeitreise in Länder, wo die Vergan-genheit im Heute gelebt wird, keine al-ten Traditionen vergessen werden undFabelwesen ihr Zuhause haben! (Back-cover)

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    William MeikleSherlock Holmes und die Wiedergänger(Sherlock Holmes: Revenant, 2012)Blitz 3018 (TB 170 S./€ 12,95)Windeck 2017Aus dem Englischen von AndreasSchiffmann

    Ich beugte mich nach vorne, um ihn zuuntersuchen. Lord Menzies war be-wusstlos, obwohl seine Augen weit of-fen standen. Er atmete gleichmäßig undsein Puls glich dem eines Menschen imTiefschlaf. Seine Pupillen reagiertenweder auf direkten Lichteinfall, nochzuckte er zusammen, als ich mit denFingern an seinen Ohren schnippte. Ichschlug eines seiner Beine über das an-dere, was schwierig war, da sie nichtnachgeben wollten, beinahe so als habedie Totenstarre eingesetzt. Allerdingszeigte ein kurzes Klopfen auf den unte-ren Bereich seines Knies den erwartetenReflex. Obwohl sich seine Lippen be-wegten, als ob er sprechen wollte,brachte er keinen Ton heraus. SeineHände fühlten sich kalt und feucht an,

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    doch äußere Zeichen von Gewaltan-wendung ließen sich nicht ausmachen.Ich besah seinen Schädel, tastete denSchöpf nach Schwellungen oder Krat-zern ab, doch auch hier deutete nichtsauf ein Trauma hin. (S. 11f)

    Kurz darauf erwacht Lord Menzies undkann sich an nichts erinnern, ja, er ist em-pört, dass man ihn in seinem Club belästigt.Mycroft Holmes hat Sherlock Holmes undDr. Watson wegen dieses merkwürdigenFalles holen lassen, denn Lord Menzies istnicht der einzige Adelige, dem so etwas zu-gestoßen ist. Wie Sherlock Holmes im Laufder Nachforschungen herausfindet, habendie anderen Opfer während des Zustandsihrer Besessenheit mit fast akzentfreiemEnglisch gesprochen, während sie norma-lerweise einen deutlichen schottischen Ak-zent erkennen lassen, und sie haben in die-ser Zeit sogar Briefe wichtigen Inhalts an-gefertigt, an die sie sich danach auch nichtmehr erinnern konnten.

    Sherlock Holmes entdeckt, dass alle Be-troffenen von demselben Urahn abstam-men, Angus Seaton, geboren 1483. Von der

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    Polizei verfolgt, suchen Holmes undWatson in Verkleidung das Stammhaus derSeatons auf und entdecken dort ebenjenenAngus, dem es dank alchemistischer Me-thoden gelungen ist, bis heute am Leben zubleiben. Angus weiß auch, wer der Missetä-ter ist: Niemand anders als der tote Profes-sor Moriarty, dem es gelungen ist, als Geistdie Leiber Lebender zu übernehmen.

    Sherlock Holmes und der Wiedergänger –ein amüsanter Titel übrigens, weil Holmesselbst eine Art literarischer Wiedergängerist – überrascht dadurch, dass Holmes, dersonst wie etwa in The Hound of the Basker-villes alles Übernatürliche als Humbug zuentlarven pflegt, nun selbst an die Alchemieund an böse Geister glaubt. Dass Moriartysich allerdings ausgerechnet einen schotti-schen Clan als Opfer aussucht und dass erals Geist einen Goldraub plant, mutet etwasmerkwürdig an – aber vermutlich ist es dieenge Verwandtschaft seiner Übernomme-nen, die ihm die Arbeit erleichtert, undwenn er wirklich plant, in geliehenen Kör-pern auf Erden zu weilen, braucht er si-cherlich auch finanzielle Mittel, von einem

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    Ventil für seine unstillbare kriminelle Ener-gie ganz zu schweigen.

    William Meikle stammt aus Schottlandund lebt jetzt in Kanada, wo er fleißig My-stery-Romane und -Kurzgeschichtenschreibt; ein Foto auf seiner Homepagezeigt ihn mit dichtem weißem Bart, geradeso, als wolle er selbst Dr. Watson verkör-pern. Leider hat man es bei Blitz versäumt,im Impressum den Originaltitel und dasOriginalerscheinungsjahr anzugeben.

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    Gabriele Lukacs []Gruselhäuser. Ein Blick in die Abgründe vonWien. Fotografiert von Peter C. HuberPichler (HC 208 S./€ 24,99)Wien 2014Genre: Sachbuch

    Wien, auf der einen Seite für seinengemütlichen Charme bekannt, ist aufder anderen Seite auch eine Fundgrubefür alles Dunkle und Mysteriöse. Hinterden prächtigen Fassaden liegt die unbe-kannte Seite Wiens verborgen. DieSchattenplätze der Geschichte sind esim Besonderen, die faszinieren und unsSchauer über den Rücken jagen. InWiens Häusern ist viel Unheimlichespassiert. Mord und Totschlag ist im Ge-dächtnis der Mauern gespeichert. Indunklen Kellern verbargen sich licht-scheue Gestalten. Diebe, Gauner, Hals-abschneider trieben ihr schändlichesHandwerk in ehemaligen Spelunken, diezu Nobelgaststätten mutierten, in dieman heute gern seine Gäste aus derFremde lädt. Als einzige Stadt der Weltkann Wien sogar mit einer Blutgräfin

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    und einer Vampirfürstin aufwarten.Liegt über dem Haus Habsburg einFluch? Geht die Weiße Frau noch immerum in der Hofburg und in SchlossSchönbrunn? Und ist auf dem HohenMarkt die Aura des Todes noch immerzu spüren? (S. 7)

    In welcher Stadt hat ein Würstlbrater zu-erst seinen Konkurrenten erschossen unddann sich selbst? Wo hat ein Protestant ei-nem Bischof die Monstranz entrissen undsie fluchend weggeworfen? Wo wurde zurHinrichtung eines Fürsten die kulinarischeKöstlichkeit mit dem Namen Mörderkrapfenkreiert? An welchem Ort haben die HenkerLeichenteile als Heilmittel verkauft? Wodiente eine Kapuzinergruft als Oubliette? –Natürlich in Wien.

    Dass diese Stadt die schauerlichste undmorbideste unter Europas Hauptstätten ist,muss Jedermann klar sein, der einige Wie-ner vom Schlage eines Viktor St. Farkasoder Franz Havranek kennenlernen durfte;wahlweise kann auch ein Wahlwiener wieHugh Walker als Ersatz herangezogen wer-den. Letzterer schrieb einige der grauselig-

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    sten Gruselgeschichten über das gute alteWien, so zum Beispiel „Mimikri“, das einenPsychiater der Freud’schen Schule zum Pro-tagonisten hat, der ... aber mehr sei hierhier nicht verraten.

    Magister Gabriele Lucacs ist Fremden-führerin von Beruf; ihre Spezialität ist dieBesichtigung besonders gruseliger, grauen-voller, unheimlicher und unterirdischerWiener Stätten. Aus diesem reichen Erfah-rungsschatz heraus kann sie natürlich nachHerzenslust schöpfen für ein so herrlichdegoutantes Buch wie Gruselhäuser. DerVerlag schreibt dazu:

    Von so manchen Wiener Gebäudenwird glaubhaft überliefert, dass es sichum Spukhäuser handelt. Und dort, woeinst die Galgen standen, wo man He-xen verbrannte und wo Mörder gevier-teilt, gerädert und gehängt wurden,weht noch immer der Hauch des Todes.Aus Gräbern und Grüften steigen dieUntoten und mischen sich unter die Le-benden. Gevatter Tod zeigt sich an un-heimlichen Orten. Mörder, Betrüger,Halsabschneider trieben ihr schändli-

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    ches Handwerk in dieser Stadt. Glaubtman den alten Berichten, so ist nichtTranssylvanien die Wiege der Vampire,sondern Wien. Denn hier lebten zweiblutsaugende Adelige, die bis heute ihreSpuren in der Donaumetropole hinter-ließen.

    Gariele Lucacs begibt sich seit vielenJahren auf die Spuren von verborgenen,rätselhaften und mysteriösen Begeben-heiten und Orten. Mit diesem Buchwagt sie wieder einmal einen Blick indie Abgründe von Wien. (Klappentext)

    Näheres kann man auf mysterytours.at er-fahren, wo man sich ohne Umstände fürGruselführungen anmelden kann.

    Optisch ausgestaltet wurde das Buchvon dem Fotographen Peter C. Huber, dersich nicht aufs bloße Ablichten der be-schriebenen Orte beschränkt, sondern vie-len Bildern auch noch durch Nachbearbei-tung und schaurige Lichteffekte besondereAusdruckskraft verleiht. Das Umschlagbildallerdings stammt nicht von Fotographendes Schaurigen, sondern von Lukas Dosti.

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    William MeikleH. P. Lovecraft’s Schriften des Grauens 1:Das Amulett(The Midnight Eye Files 1: Amulet, 2013)Blitz 2101 (TB 222 S./€ 12,95)Windeck 2017Aus dem Englischen von AndreasSchiffmannGenre: Horror

    Ich langweilte mich. Seit über einemMonat blieben die Aufträge aus, undmein letzter Fall hatte darin bestanden,eine verschwundene Katze aufzuspüren.Mir waren unglaubliche Geschichtenüber Kinderbanden untergekommen,die angeblich solche Fellknäuel stahlenund an Kleiderhersteller aus Fernostverkauften. Chinesische Abholrestau-rants mit vollen Gefrierschränken undabwegige Mutmaßungen über Teufel-sanbetung, bis hin zu rituellem Katzen-schlachten. Wie auch immer, das un-glückliche Tier blieb vermisst.

    [...]Nur ein weiterer einsamer Tag im Pa-

    radies. (S. 5)

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    Derek Adams ist Inhaber der Adams’ Detec-tive Agency in Glasgow und auch der einzi-ge Mitarbeiter. Eine Sekretärin kann er sichnicht leisten, noch nicht einmal einen Com-puter, seine Sachen tippt er auf einer me-chanischen Schreibmaschine.

    Während er dabei ist, seine Langeweilein Whiskey zu ertränken, erhält er unver-mutet Besuch: Fiona Dunlop von Arthur &Fiona Dunlop Antiquities behauptet, ihnenwäre ein Amulett gestohlen worden. Siegibt ihm ein Foto davon:

    Es war ein Anhänger, wie ich ihn nochnie gesehen hatte. Eine Figur an einerdicken Goldkette. Nichts auf dem Fotoließ auf seine genauen Maße schließen.Die Figur sollte wohl ein Tier darstellen,doch auch das kannte ich nicht. SeineHinterläufe ähnelten denen einer Katzeund waren gestreift wie bei Königsti-gern. Doch von den Hüften an aufwärtswirkte es grotesk, glich einem gestaltlo-sen, schwarzen Steinklumpen mitSaugnäpfen an langen Tentakeln, diewiederum von einem mehr ballförmi-

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    gen Etwas ausgingen, möglicherweisedem Kopf. (S. 8)

    Die Bezahlung ist nicht schlecht, dahernimmt Adams den Job an. Als erstes zeigter das Foto seinen guten alten Freund DougLang, der das abgebildete Objekt sofort alsdas Johnson-Amulett identifiziert, das um1900 bei einer Expedition in Ur gefundenwurde. Viele mysteriöse Geschichten ran-ken sich um das uralte Amulett, das angeb-lich dazu dienen soll, ein monströses We-sen aus einer anderen Dimension zu be-schwören.

    Adams beginnt seine Nachforschungenbei den verschiedensten Pflandleihern, diein der Regel gute Kontakte zur Unterwelthaben – mit dem Ergebnis, dass einer nachdem anderen auf schauerlichste Weise um-gebracht wird. Adams muss erkennen, dasses sich bei den Geschichten um die GroßenAlten um keine Ammenmärchen, sondernum schreckliche Realität handelt.

    Das Amulett ist ein spannender, unter-haltsamer Horror-Thriller mit einem lakoni-schen Detektiv als Hauptfigur. Hier nochein Beispiel für den trockenen Humor von

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    Adams, der sich gerade mit einer Kellnerinunterhält:

    Ihr schwarzes Haar fiel bis über dieSchultern, sie hatte tiefdunkle Augenund ein Namensschild über der linkenBrust, auf dem Eileen stand.

    „Wie heißt die andere?“, fragte ichweiter.

    „Rechte Titte“, antwortete sie. (S. 53)

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    *Baker, Dorothy: Zwei Schwestern

    Dorothy Baker [Dorothy Dodds Baker,1907–1968]Zwei Schwestern(Cassandra at the Wedding, 1962)dtv 14 559 (TB 280 S./€ 10,90)München 2017Aus dem Amerikanischen von KathrinRazumGenre: Drama

    Wenn ich hinging [zur Hochzeit meinerSchwester], und natürlich musste ichhin, würde ich in offizieller Funktionunübersehbar dabei sein – als ihre ein-zige Brautjungfer. Sie hatte mich brief-lich darum gebeten, und ich hatte nichtdirekt darauf reagiert, da ich eher zu-rückhaltend bin, besonders was Hoch-zeiten angeht, aber ich hatte gesagt,dass ich am zweiundzwanzigsten zuHause sein würde, und unbewusst dafürgesorgt, dass ich schon am einund-zwanzigsten startklar war, im Juni derlängste Tag des Jahres. (S. 10)

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    Cassandra und Judith Edwards sind Zwil-lingsschwestern, aufgewachsen auf demLand in der Nähe von Berkeley. Die MutterJane ist vor drei Jahren an Krebs gestorben;der Vater Jim, ein Arzt im Ruhestand, unddie Großmutter Rowena Abbott leben noch.

    Cassandra und Judith sind nicht nurkaum zu unterscheiden, sondern waren ihrganzes Leben eng aneinander gebunden –bis vor einem Jahr Judith scheinbar unmo-tiviert nach New York gezogen ist. Undjetzt will Judith heiraten, einen jungen As-sistenzarzt namens John Thomas Finch.

    In dem Zweiergespann Cassandra-Judithwar Cassandra immer die lebhaftere, phan-tasievollere, unternehmungslustigere – siedominierte ganz eindeutig ihre zurückhal-tende, ruhige Schwester Judith, die Cassan-dra dafür bewunderte. Vermutlich als Folgedes Todes der Mutter war aber Judithschließlich zu der Schlussfolgerung gelangt,dass sie sich von Cassandra lösen musste,um endlich ein eigenbestimmtes Leben füh-ren zu können. Überraschenderweise hatJudith die Trennung gut verkraftet, hat sichverliebt und ist dabei zu heiraten. Cassan-dra dagegen ist so schwer getroffen, dass

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    sie sich in Behandlung bei der PsychiaterinDr. Vera Mercer begeben muss und von die-ser nicht nur psychoanalytisch therapiert,sondern auch mit einem wahren Cocktailan Medikamenten, aufputschenden unddämpfenden, versorgt wird.

    Wenn Cassandra im obigen Zitat sagt,sie hätte auf die Einladung ihrer Schwesternicht reagiert, weil sie in Bezug auf Hoch-zeiten eher zurückhaltend sei, so ist das ei-ne grobe Verfälschung der wahren Situati-on: Cassandra ist nämlich entsetzt über Ju-diths Pläne, hatte sie doch gehofft, dass siebeide wieder zusammenfinden könnten;dass sie nun doch kommt, und sogar einenTag früher, hat den Grund, dass sie hofft,dem unvernünftigen Paar die Hochzeit aus-reden zu können. Damit ist schon derGrundtenor für den ersten Teil des Romans,„Cassandra spricht“ gesetzt: dass man keineinziges Wort der Erzählerin ungeprüft fürbare Münze nehmen darf.

    Der heimatliche Haushalt, in den Cas-sandra zurückkehrt, ist mehr als merkwür-dig: Die Großmutter legt sich die Realität sozurecht, wie es ihrem Befinden am ange-nehmsten ist. Ein Verdacht, sie könne an

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    beginnender Demenz leiden, ist unbegrün-det, denn sie war schon in jüngeren Jahrennicht anders, und die Mutter war ganz nachihr geraten. Der Vater ist ein ruhiger, un-aufdringlicher Mensch, der alle Dinge ihrenGang nehmen lässt und sich um seine Töch-ter so wenig kümmert wie möglich; dassseine Drinks immer verfügbar sind, ist dieeinzige Sorge des heimlichen Alkoholikers.Wenn er denn spricht, dann in abgehobe-nen intellektuellen Grundsätzen. Hier zumBeispiel wird er von Cassandra nach demBräutigam gefragt:

    „Und, wie ist er so?“, fragte ich.Mein Vater fragte nicht, wen ich

    meinte, aber er beantwortete meineFrage auch nicht. Stattdessen wurde erphilosophisch und hielt mir einen Vor-trag darüber, dass es nicht so einfachsei, zu sagen, wie Leute seien, selbstwenn man sie gut zu kennen glaube,und das schlug ein, denn wie die mei-sten von Papas Behauptungen war esverflixt wahr. Judith Edwards etwa, dieich früher zu kennen glaubte wie michselbst, wie meine sprichwörtliche We-

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    stentasche: Warum hatte sie beschlos-sen, New York auszuprobieren, ein gan-zes Jahr lang und allein, bevor wir zu-sammen Paris ausprobierten? Wer weißschon, wie andere Leute sind? (S. 50f)

    So verschieden Cassandra und Judith cha-rakterlich sind, so ähnlich sind sie doch imDenken und Fühlen: Judith hatte vergeblichversucht, Cassandra telefonisch mitzutei-len, sie solle doch einen Tag früher kom-men – wofür sich Cassandra ganz aus eige-nem Einfall nun selbst entschieden hatte.Und Cassandra hat sich, auf Kosten derGroßmutter, ein weißes Kleid für ihre Rolleals Brautjungfer gekauft – nicht wirklichzufällig genau dasselbe, das Judith als Brauttragen will.

    Cassandra formuliert ihre Einstellung zuihrer Zwillingsschwester sehr bestimmend:

    „Wir sind beide integrale Bestandteileeines Ganzen. Wir bilden ein Gefüge,eine Gesamtheit, eine Einheit – erst zu-sammen sind wir vollständig. Wir sindintegrale Bestandteile eines Ganzen,und dieses Ganze zu bewahren erfor-

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    dert Integrität. Wir besitzen diese Inte-grität, und genau deshalb können undmüssen wir unsere Desintegration ver-hindern. Das wissen wir ja nun schonsehr lange.“ (S. 145)

    Eigentlich sollte Cassandra den Bräutigamvom Flughafen abholen, aber inzwischenerscheint Judith die Sache als zu bedenk-lich: Cassandra könnte sich als Judith aus-geben, um die Hochzeit zu hintertreiben.Die zurückgelassene Cassandra plant nunsorgfältig einen Selbstmord: Sie zählt dienötige Zahl an Schlaftabletten ab, schüttetden Rest in ein Nebenfach ihrer Handta-sche, die sie unter dem Bett versteckt, undstellt die leere Flasche ostentativ neben dasBett. Sie zieht sich nackt aus, legt sich insBett und wartet. Auf das Einschlafen? Aufdie Rettung? Auf den Tod? Ganz sicherweiß man es nicht, denn Cassandra hatzwei Tabletten mehr genommen als nötig,so dass sie von selbst nicht mehr erwachenwürde – sie nimmt das Sterben bewusst inKauf, ersehnt es sich vielleicht sogar. Eswäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass siemit dem Tod liebäugelt.

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    Aber sie wird gerettet, schließlich ist Ju-diths Ehemann – die beiden haben vor-sorglich auf der Heimreise geheiratet, umallen Eventualitäten im Zusammenhang mitCassandra vorzubeugen – Arzt von Beruf.Cassandra ist teils glücklich, teils ent-täuscht, gerettet worden zu sein – so er-scheint es wenigstens Judith, die diesenAbschnitt des Romans erzählt. Der nun wa-chen Cassandra versichert Jim, Judith wür-de sie lieben – und er auch, eine doch rechtmerkwürdige, sicherlich aber ganz und garehrliche Feststellung. Und nicht nur das:Die noch erstaunlich junge Dr. Vera Mercerist per Flugzeug herbeigeeilt, nachdem mansie telefonisch nach der Art der Schlafta-bletten befragt hatte. Fast schon ein wenighysterisch vor Sorge wacht sie über die ge-nesende Cassandra: Das ist jetzt nicht nurAngst, sie könnte als verschreibende Ärztinfür den Selbstmord Cassandras mitverant-wortlich gemacht werden, nein, es ist of-fensichtlich, dass sie Cassandra aus tiefsterSeele liebt.

    Den Schluss erzählt wieder Cassandra:Die dreifachen Liebesbeweise haben sie of-fenbar innerlich so gefestigt, dass sie an der

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    kirchlichen Hochzeit – die vorzeitige bür-gerliche verschweigt das Paar teilnehmenkann, die dank dem Erscheinen etlicherFreundinnen der Großmutter sogar so et-was wie ein gesellschaftliches Ereigniswird. Cassandra kann sich nun ein Lebenauch ohne Judith vorstellen. Auf der GoldenGate Bridge, dem Mekka der SelbstmörderSan Franciscos, wirft sie am Ende eine stör-rische Socke hinunter und beobachtet, wiesie im Dunst verschwindet, noch bevor siedie Wasseroberfläche erreicht. War das nunein Abschied vom Selbstmord oder ein Vor-spiel dazu? Das weiß wahrscheinlich Cas-sandra selbst nicht, und wenn, würde sieuns alles sagen, aber nicht die Wahrheit.

    Zwei Schwestern ist ein außerordentlichberührender Roman, der auf kunstvolleWeise erzählt wird: Cassandras Bericht istsprunghaft, abschweifend, irritierend – wieman von einer zur Zeit schwer gestörtenjungen Frau nicht anders erwarten würde,auch wenn sie alles versucht, ihren Zustandzu verheimlichen. Judiths kurzes Zwischen-spiel dagegen ist klar und folgerichtig –hier wird schon aus der Erzählweise klar,

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    wer von beiden Schwestern die innerlichgefestigtere ist.

    Die dysfunktionale Edwards-Familie sollnach Auskunft von Howard Baker, DorothyBakers Ehemann und bekanntem Dichter,nach dem Modell der eigenen gestaltetsein, wobei Dorothys der toten Mutter ent-spricht und ihre Töchter den zwei Schwe-stern des Romans.

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    Dietmar KueglerEdgar Wallace – Neue Abenteuer: Diegoldenen MöncheBlitz 1902 (TB 188 S./€ 12,95)Windeck 2017Genre: Krimi

    Der letzte Waggon des Schnellzugeswar ebenso unbeleuchtet wie alle ande-ren Wagen. Deswegen waren die Ge-stalten, die von der hinteren Plattformaus auf das leicht gewölbte Waggon-dach kletterten, in der Dunkelheit zu-erst nicht zu sehen. Dann zuckten fürSekundenbruchteile mehrere Blitzedurch die Nacht und strahlten sechsgroße Affen an, die mit schwerfälligenBewegungen geduckt über die Wag-gondächer tappten. (S. 7)

    Dieser Zug befördert just einen Teil desKronschatzes von Hogame, eines unterge-gangenen afrikanischen Volkes aus demBritischen Kolonialreich. Anschließend istnicht nur ein Waggon mitsamt den Wach-leuten verschwunden, sondern natürlichauch der Schatz – und zurück bleiben Fin-

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    gerabdrücke und Haare von Gorillas, wasdie Polizei vor ungeahnte Probleme stellt.

    Doch zum Glück ist Inspektor EbenezerPommery von Scotland Yard ein belesenerEdgar-Wallace-Kenner und weiß, dass dieRomane des Meisters stets Hinweise zurLösung aus der kniffeligsten Fälle bereithal-ten.

    Pommery lehnte sich zurück. Er zogzwei Bücher heran, die griffbereit aufseinem Schreibtisch lagen. [Sergeant]Daven schielte darauf, bevor er sich zurTür wandte. Er las: Der viereckige Sma-ragd und Der Diamantenfluss. Zwei Ro-mane von Edgar Wallace. „Glauben Sie,dass Sie darin Hinweise finden, die unsfür unseren Fall nützlich sind?“

    „Überlegungen von Edgar Wallacesind immer nützlich, Sergeant. Es gibtkein Verbrechen, welches er nicht be-schrieben hat.“ Pommery schlug dasBuch Der viereckige Smaragd auf undsagte: „Wir werden sehen ...“ (S. 16)

    Insgesamt drei Novellen enthält der BandDie goldenen Mönche, die allerdings keine

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    eigenen Titel aufweisen und auf die auchkein Inhaltsverzeichnis hinweist.

    Dietmar Kuegler, der hundertfach er-probte Westernroman- und Truckerge-schichten-Veteran, erzählt wie erwartet mitSpannung und Humor. Dass jede Novellefünf bis zehn Hinweise auf Edgar Wallaceund seine hilfreichen Romane enthält, warfür den Anfang ein origineller Einfall, nutztsich aber im Lauf der Zeit ab, so dass derAutor gut beraten wäre, den ehrenwertenInspektor Pommery etwas mehr auf seineneigenen Verstand vertrauen zu lassen.

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    James CoreyThe Expanse 6: Babylons Asche(Babylon’s Ashes, 2017)Heyne 31 655 (PB 624 S./€ 14,99)München 2017Aus dem Amerikanischen von JürgenLangowskiGenre: Science Fiction

    „Das war aber eine große Stern-schnuppe“, sagte Nami.

    Nein, dachte Namono. Nein, das war esnicht. (S. 17)

    Es ist vielmehr ein Zeichen für einen gro-ßen Krieg zwischen den Gütlern, den Sied-lern auf dem äußeren Asteroidengürtel,und den Inneren Planeten. Zum Glück gibtes den unverwüstlichen James Holden mitseiner Crew und seiner „Rosinante“, deralles zum Guten wenden wird – hoffentlich,denn jenseits des Gürtels wartet eine au-ßerirdische Bedrohung.

    „James Corey“, das sind in WirklichkeitDaniel James Abraham and Ty CoreyFranck. Ihre Serie The Expanse verbindet ei-ne realistische technische Schau in die nä-

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    here Zukunft mit handfesten Abenteuernund einem Touch des Sense of Wonder. DieSerie, die mittlerweile in den USA auf sechsBände angewachsen ist und von der dreiweitere angekündigt sind, erfreut sich inihrem Heimatland großer Beliebtheit. Sogarvon Riesenbestsellerautor George R. R. Mar-tin kommt (auf dem Backcover) uneinge-schränktes Lob: „So muss ein Science-Fiction-Abenteuer sein: episch und action-geladen!“ (Auf Englisch liest sich das so:„It’s been too long since we had a reallykickass space opera.”)

    Die gleichnamige Fernsehserie, die inden USA seit 2015 ausgestrahlt wird, ist einungeheurer Erfolg und gilt als eine der be-sten Science-Fiction-Serien aller Zeiten.Vom Aufbau und von der Beliebtheit herkann man The Expanse in beiden Mediensehr wohl mit Game of Thrones vergleichen.

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    Robert Charles WilsonNetzwerk(The Affinities, 2015)Heyne 31 657 (TB 378 S./€ 9,99)München 2017Aus dem Englischen von FriedrichMaderGenre: Science Fiction

    „Angenommen, Sie werden einemZweig zugeordnet, dann begeben Siesic