12
53. Bundeskongress des Verbandes der Diätassistenten Deutscher Bundesverband e.V. in Kooperation mit dem Bundersverband Deutscher Ernährungsmediziner e.V. (BDEM) Ernährung und Medizin 2011 Wissensupdate in Diätetik und Medizin - aktuell und patientennah - Fast Track "Aktuelles" aus der Viszeralchirurgie - multimodale Therapiekonzepte Dr. Antonio Lelli Facharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie Klinikum Leverkusen

Fast Track - vdd.de · PDF fileFacharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie Klinikum Leverkusen

  • Upload
    ngodang

  • View
    217

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Fast Track - vdd.de · PDF fileFacharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie Klinikum Leverkusen

53. Bundeskongress des Verbandes

der Diätassistenten Deutscher Bundesverband e.V.

in Kooperation mit dem Bundersverband Deutscher Ernährungsmediziner e.V.

(BDEM)

Ernährung und Medizin 2011

Wissensupdate in Diätetik und Medizin - aktuell und patientennah -

Fast Track "Aktuelles" aus der Viszeralchirurgie -

multimodale Therapiekonzepte

Dr. Antonio Lelli

Facharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie

Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie

Klinikum Leverkusen

Page 2: Fast Track - vdd.de · PDF fileFacharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie Klinikum Leverkusen

F a s t T r a c k S e i t e | 2

Einführung Ein in den letzten Jahren häufig gebrauchter Begriff in der Viszeralchirurgie, insbesondere in der Ko-

lonchirurgie, der in besonderem Maß auch Ernährungstherapeuten betrifft, ist "Fast Track" Chirurgie.

Man kann sagen, dass er seit ca. 5-6 Jahren in aller Munde ist. Ist es aber auch ein "aktuelles" The-

ma?

Sieht man es historisch dann handelt es sich um "kalten Kaffee". Die Prinzipien der multimodalen

Rehabilitation nach chirurgischen Eingriffen (ERAS - Enhanced Recovery After Surgery) wurden vor-

wiegend von der dänischen Arbeitsgruppe um Henrik Kehlet schon in den 90 Jahren erarbeitet1, eini-

ge Aspekte waren bereits um 1982 wissenschaftlich belegt2 3. Seit dem Jahr 2000 mehrten sich die

Publikationen darüber. Mittlerweile sind die meisten Chirurgen überzeugt, dass die Prinzipien der

multimodalen Rehabilitation wirksam sind und zu einer besseren und auch schnelleren Genesung der

Patienten führen.

Sieht man dieses Therapiekonzept aber unter dem Aspekt der Verbreitung und der Durchdringung

seiner Prinzipien in der chirurgischen Alltagspraxis, so muss man erkennen, dass alle darüber reden,

viele sich damit beschäftigen, aber nur wenige es wirklich anwenden4. Dies obwohl kaum ein Be-

handlungspfad so gut wissenschaftlich untermauert ist, wie die multimodale Rehabilitation (Stich-

wort "evidence based medicine"). Daher ist die multimodale Rehabilitation doch ein sehr aktuelles

Thema.

Während ein früher Begriff für diesen Behandlungspfad (Enhanced Recovery After Surgery; ERAS als

Akronym) Sinn und Zweck beinhaltete, nämlich die beschleunigte Erholung nach Operationen, hat

sich speziell in Deutschland eher der unglückliche Begriff "Fast-Track-Chirurgie" eingebürgert. Der

Begriff kommt ursprünglich aus der Bauindustrie und wurde erstmals in der Zeitschrift Businness

Week 1976 veröffentlicht. Damit war ein Bauverfahren gemeint, bei dem mit den Bauarbeiten be-

gonnen wurde, noch bevor die Pläne vollständig waren. Kein gutes Prinzip für die Chirurgie. Ganz zu

schweigen von der Mißverständlichkeit des Begriffs für all jene Deutsche, die kein oder nur schlecht

Englisch verstehen und das sind über 50%. Daher wird in diesem Beitrag von ERAS oder multimodaler

Rehabilitation die Rede sein.

Was verändert, bzw. was ist neu an diesem Konzept?

Traditionelles perioperatives Patientenmanagement Um die letzte Frage beantworten zu können, sollte man sich zunächst die traditionelle Vorgehens-

weise in der perioperativen Behandlung der Patienten vor Augen führen.

Kenneth Fearon, Exponent des ERAS Konzeptes in England und Professor für Chirurgie an der Univer-

sität Edinburgh, hat auf dem ESPEN Kongress 2004 in Lissabon während eines Vortrages die provo-

kante Umschreibung der Prinzipien in der traditionellen perioperativen Behandlung beschrieben mit

Starve (verhungern lassen)

Stress (seelische und körperliche Belastung)

Drown (ertrinken lassen)5

Page 3: Fast Track - vdd.de · PDF fileFacharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie Klinikum Leverkusen

F a s t T r a c k S e i t e | 3

Starve Im traditionellen perioperativen Konzept wird den Patienten in aller Regel die Nahrungs- und Flüssig-

keitsaufnahme ab 0:00 Uhr des Operationstages verboten. Dieses Vorgehen lässt sich zurückführen

auf die Erstbeschreibung eines Aspirationstodes unter Chloroformnarkose im Jahr 18626. Trotzdem

wurde "Nüchternheit ab Mitternacht" erst in den 1960er Jahren zu einem weltweiten Anästhesie-

dogma7. Eine wissenschaftliche Basis dafür war aber zu keiner Zeit gegeben. Im Gegenteil sind schon

lange die negativen Effekte längerfristiger präoperativer Nüchternheit bekannt. Es kommt zum Vo-

lumenmangel (ca. 1 L)8, der symptomatisch sein kann (Durst, Schwindel, Unwohlsein, Schläfrigkeit).

Auf jeden Fall erhöht er die negativen Faktoren Angst und Stress für den Patienten.

Auch bekannt ist, dass durch die Nüchternheitsperiode die Glykogenspeicher der Leber entleert wer-

den, was zum Mangel an kurzfristig verfügbaren Zuckerreserven während der Operation führt, also

dann, wenn der Patient sie am nötigsten hätte9. Außerdem kommt es dadurch zu einer Verschlimme-

rung der postoperativen Insulinresistenz10.

In der postoperativen Phase setzt sich der "Hungerstatus" durch verzögerten Kostaufbau fort. Jeder

kennt die traditionellen Schemata 1 - 3 - 5 bzw. 3 - 5 - 7, wobei die Ziffern für die postoperativen

Tage stehen, an denen die Patienten ihre erste Flüssigkeit, erste Suppe und erste feste Nahrung er-

halten. Auch hier gibt es keine wissenschaftlichen Belege für Vorteile solcher Vorgehensweisen. Viel-

mehr sind negative Effekte beschrieben, die von der Verlängerung des postoperativen Ileus11 bis zur

Begünstigung des Übertritts von Bakterien bzw. deren Giftstoffen vom Darmlumen ins Blut gehen.12

Stress Im traditionellen Konzept der perioperativen Behandlung spielen viele Faktoren ineinander, die zur

Steigerung der ohnehin vorhandenen Stresssituation der Patienten führen. Dazu zählen die mangel-

hafte Information der Patienten über den normalen Verlauf vor, in und nach der Operation und den

damit verbundenen Maßnahmen, was sie dem Stress der Ungewissheit und der damit verbundenen

Angst vermehrt aussetzt. Dafür konzentriert sich die Aufklärung auf die Risiken und negativen Aspek-

te einer Operation, was zwar juristisch nötig ist, aber für sich alleine die Angst steigert. Hunger und

Durstgefühl (s.o.) sind weitere Stressfaktoren vor der Operation.

Eine nicht zu unterschätzende Belastung ist auch in der sogenannten Darmvorbereitung zu sehen.

Die dazu vorgesehenen Abführmaßnahmen reichen von der Darmspülung, über mehrere Liter Elekt-

rolyt- oder Makrogollösungen bis zur Einnahme von Bisacodyl und Sennapräparaten (z.B. XPrep).

Dadurch sollte der Darm "gereinigt" und somit die Rate der Anastomoseninsuffizienzen und der sep-

tischen Komplikationen gesenkt werden. Wir wissen heute, dass die Darmvorbereitung auf diese

Komplikationen keinen Einfluss hat13, dafür aber die Ausgangslage der Patienten verschlechtert, da

sie dadurch in Wasser- und Elektrolytstörungen14 getrieben werden können und die Prozedur die

Patienten insgesamt schwächt.

Nach der Operation setzt sich der Stress fort durch das postoperative Erbrechen (PONV) und den

Beschwerden, die durch Magensonde und diverse Katheter und Drainagen bedingt sind15.

Der wichtigste Stressfaktor nach der Operation ist aber der postoperative Schmerz. Er ist immer noch

ein wichtiges Thema in deutschen Krankenhäuser, da allen Bemühungen zum Trotz das schmerzfreie

Krankenhaus weiterhin fernab der Realität ist. Entsprechende Arbeiten zeigen, dass häufig ein ein-

heitliches Konzept der postoperativen Schmerztherapie fehlt, die Schmerzintensität nicht erfasst

wird und Pat. ganz allgemein schmerztherapeutisch mangelhaft versorgt sind16 17 18

Page 4: Fast Track - vdd.de · PDF fileFacharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie Klinikum Leverkusen

F a s t T r a c k S e i t e | 4

Drown Der relative Volumenmangel der Patienten in den traditionellen präoperativen Konzepten führt meist

dazu, dass das Volumen bei Narkoseeinleitung ausgeglichen werden muss, um den Kreislauf stabil zu

halten. Dies führt dazu, dass Patienten in relativ kurzer Zeit, zu einem ungünstigen Zeitpunkt (opera-

tives Trauma) eine hohe Menge Flüssigkeit bekommen, von der ein Teil ins Gewebe diffundiert und

zunächst dort liegen bleibt. Die Patienten zeigen somit regelhaft eine Gewichtszunahme von 3-5 Li-

tern, die sich, wie wir heute wissen, ungünstig auf den postoperativen Verlauf auswirkt19.

Jedes Trauma, somit auch das operative, führt mehr oder minder zu einem Postaggressions-Syndrom

(siehe Anhang). In den traditionellen perioperativen Behandlungskonzepten wird dies als gegeben

hingenommen, nur ungenügend bekämpft und in mancher Hinsicht sogar durch die Behandlungs-

maßnahmen verstärkt.

Multimodale Rehabilitation ERAS-Konzepte hingegen setzen auf der Basis neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse (Evidence Based

Medicine) alles daran, dieses Postaggressions-Syndrom zu vermeiden und zu bekämpfen.

Damit stehen die ERAS Prinzipien fest:

Optimiere die Funktion des Verdauungstraktes

Optimiere die Kontrolle des Schmerzes

Optimiere die Mobilisation

Die ineinander wirkenden Maßnahmen des ERAS-Konzeptes einmal grafisch dargestellt:

Page 5: Fast Track - vdd.de · PDF fileFacharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie Klinikum Leverkusen

F a s t T r a c k S e i t e | 5

Optimiere die Funktion des Verdauungstraktes Die Optimierung beginnt schon präoperativ. Unter Berücksichtigung der Datenlage, dass klare Flüs-

sigkeiten nach 90 Minuten aus dem Magen entleert sind und feste Nahrung (wozu auch Milch gezählt

werden muss) nach spätestens 6 Stunden, ist es den Patienten im ERAS-Konzept bis 2 Stunden vor

geplanter Narkoseeinleitung erlaubt, klare und zuckerhaltige Flüssigkeiten zu trinken. Darunter sind

Tee, schwarzer Kaffee, Wasser, klare Obstsäfte zu rechnen. Bis 6 Stunden vor Narkoseeinleitung darf

der Pat. leichte Kost haben20. Daher dürfen die Patienten auch bei Operationen, die eine einge-

schränkte Darmvorbereitung vorsehen, selbst nach Beginn der Abführmaßnahmen flüssige Kost (Jog-

hurt, Sondennahrung ohne Ballaststoffe etc.) zu sich nehmen

Eine metabolische Konditionierung ist in den ERAS Konzepten ebenfalls vorgesehen. Dazu erhalten

die Patienten, die keinen Diabetes als Begleiterkrankung haben, einen kohlenhydratreichen Drink (z.B.

ProvideXtra oder preOP) spätestens zwei Stunden vor Narkoseeinleitung. Dies sorgt auch dafür, dass

unabhängig vom Durstgefühl zusätzlich zu den Kohlenhydraten Volumen zugeführt wird und ein gut

hydrierter Patient den Operationssaal erreicht21.

Der Optimierung des Verdauungstaktes dient auch der Verzicht auf eine ausgiebige Darmvorberei-

tung, entweder ganz oder teilweise. Damit wird ein weiterer Stessfaktor vermindert.

Postoperativ setzt sich die Optimierung der Funktion des Verdauungstraktes fort. Eine gute Schmerz-

ausschaltung, die mit möglichst wenig darmlähmenden Opioiden arbeitet, ist ein wesentlicher Faktor.

Auch die konsequente Bekämpfung der postoperativen Übelkeit und des postoperativen Erbrechens

(PONV) gehört dazu. Sie schaffen die Voraussetzungen, dass die Patienten dazu angehalten werden

können, sobald sie genügend aus der Narkose erwacht und klar sind (ca. 2 Stunden nach Narkoseaus-

leitung), gezuckerten Tee oder sonstige klare Flüssigkeiten zu trinken. Werden die Getränke gut ver-

tragen, werden den Patienten Naturjoghurts zu essen angeboten. Die Infusionsmenge wird möglichst

auf 500 ml begrenzt.

Am ersten postoperativen Tag werden die Patienten angehalten ca. 1500 ml Flüssigkeit zu sich zu

nehmen und dürfen Schonkost essen, zumindest aber Energydrinks und möglichst Sondennahrung.

Ab dem 3. Tag postoperativ wird dann Normalkost angeboten.

Optimiere die Schmerztherapie Eine wesentliche Bedeutung für die Verminderung des perioperativen Stress ist die möglichst kom-

plette Ausschaltung von Schmerzen. Sie ist auch eine wesentliche Voraussetzung, um die Patienten

rasch und vollständig zu mobilisieren. Hierzu müssen alle Möglichkeiten der modernen Anästhesie

eingesetzt werden. Eine wichtige Rolle spielt dabei die rückenmarksnahe Anästhesie in Höhe der

Brustwirbelsäule (thorakale Periduralanästhesie). Damit ist eine gute Schmerzausschaltung der ge-

samten Bauchregion zu erreichen mit minimalen Wirkungen auf die Beine und die Blasenfunktion.

Dadurch wird die Mobilisation sehr erleichtert. Hinzu kommt, dass durch die Blockade der Schmerz-

weiterleitung ins Gehirn eine sogenannte dynamische Schmerzausschaltung erreicht wird. Damit ist

gemeint, dass die Schmerzen ausgeschaltet werden, unabhängig davon, ob der Patient ruht oder sich

bewegt. Dies kann mit einer i.v. Schmerztherapie nicht erreicht werden.22

Außerdem ist die thorakale Periduralanästhesie eine Säule, um das Postaggressionssyndrom zu ver-

meiden und zu bekämpfen, da es die sogenannte neurohumorale Achse weitestgehend blockiert

(siehe dazu den Anhang über das Postaggressionssyndrom).

Page 6: Fast Track - vdd.de · PDF fileFacharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie Klinikum Leverkusen

F a s t T r a c k S e i t e | 6

Zusätzlich zur Periduralanästhesie muss bedarfsgerecht eine systemische Schmerztherapie mit einer

Kombination von peripher wirksamen Schmerzmitteln (z.B. Paracetamol, Metamizol, Ibuprofen, Ce-

lecoxib) und einer möglichst geringen Dosis von Morphinderivaten erfolgen. Damit soll einerseits

eine gute Schmerzausschaltung erreicht, andererseits der Verdauungstrakt so wenig wie möglich von

den darmlähmenden Morphinderivate beeinflußt werden.

Optimiere die Mobilisation Wie schon erwähnt, gehört hierzu ganz wesentlich die gute Schmerzausschaltung, da nur diese es

den Patienten ermöglicht, sich ohne großes Leid zu bewegen und somit zu einer möglichst raschen

Autonomie zurückzukehren. Aber auch die intensive Betreuung und Hilfe bei der Mobilisation in den

ersten postoperativen Tagen muss fest in ERAS Konzepte vorgesehen werden (Personal).

Im einzelnen sieht das ERAS Konzept die ersten Schritte aus dem Bett schon am Abend des Operati-

onstages vor, die Patienten sollten 4-6 Stunden nach Op bereits in einen bequemen Stuhl gesetzt

werden und möglichst 2 Stunden aus dem Bett verbringen. Am ersten postoperativen Tag werden 8

Stunden außerhalb des Bettes angestrebt, die in z.B. 2 Stunden-Phasen eingeteilt werden können,

mit entsprechenden Ruhepausen im Bett. Bereits am zweiten Tag ist die vollständige Mobilisation

der Patienten angestrebt, die spätestens am 3. Tag erreicht sein sollte. Dabei sollen die Patienten nur

zur Nachtruhe und einem Mittagsschlaf im Bett sein.

Multidisziplinäres und interprofessionelles Konzept Ein solche Konzept erfordert die enge Kooperation zwischen Fachdisziplinen und auch den verschie-

denen Berufsgruppen, die alle zusammen am Ziel arbeiten müssen, den Patienten möglichst rasch

wieder zu einem selbstbestimmten und autonomen Leben nach einer auch schweren Operation zu

gelangen. Hierzu müssen alte Strukturen und Denkweisen abgelegt und die Prinzipien des ERAS-

Konzeptes angenommen werden. Ohne ein Hand in Hand arbeiten aller an der Patientenversorgung

beteiligten Personen sind die hervorragenden Ergebnisse der perioperativen Behandlung nach ERAS-

Konzepten nicht zu erreichen. Widmet man sich dieser modernen Behandlungsform chirurgischer

Patienten kann man aber die Rate der Thrombosen und Embolien, der postoperativen Lungenent-

zündungen und der postoperativen Herzinfarkte dramatisch senken15.

Page 7: Fast Track - vdd.de · PDF fileFacharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie Klinikum Leverkusen

F a s t T r a c k S e i t e | 7

Literaturhinweise 1 Kehlet H (1997) Multimodal approach to control postoperative pathophysiology and rehabilitation.

Br J Anaesth.;78:606–617.

2 Kehlet H (1982) The endocrine-metabolic response to postoperative pain. Acta Anaesthesiol Scand Suppl.;74:173-5.

3 Christensen T, Bendix T, Kehlet H (1982) Fatigue and cardiorespiratory function following abdominal surgery. Br J Surg. Jul;69(7):417-9.

4 Walter CJ, Smith A, Guillou P (2006) Perceptions of the application of fast-track surgical principles by general surgeons. Ann R Coll Surg Engl; 88: 191–195

5 Fearon K (2004) Nutrition and elective surgery. Early refeeding after surgery. ESPEN Congress Lisbon

2004 http://www.espen.org/presup/presfile/Fearon.pdf

6 Balfour GW (1862). New cause of death by chloroform. Edinburgh Medical Journal; 8: 194e195

7 Maltby JR (2006 ) Fasting from midnight--the history behind the dogma. Best Pract Res Clin

Anaesthesiol. 20(3):363-78.

8 Chung F, Mezei G. (1999) Factors contributing to a prolonged stayafter ambulatory surgery. Anesth

Analg: 89: 1352–1359.

9 Diks J. et al (2005) Preoperative fasting: an outdated concept? Parenter Enteral Nutr. 29 (4):298-304.

10 Ljungqvist O, Søreide E (2003) Preoperative fasting. Br J Surg;90(4):400-6.

11 Holte K, Kehlet H. (2000 )Postoperative ileus: a preventable event. Br J Surg; 87: 1480-1493

12 LübkeHJ (2000) Protektion der Mukosabarriere durch Strategien der Ernährung. Anaesthesist

49:455–459

13 Guenaga K.F. et al (2003) Mechanical bowel preparation for elective colorectal surgery (Cochrane

Review). The Cochrane Database of Systematic Reviews 2003, Issue 2, Art.No.: CD001544. DOI: 10.1002/14651858. CD001544.

14 Arzneimittelkomm. der dtsch. Ärzteschaft (2006) Schwere Hyponatriämie und zerebrale Krämpfe

unter Darmreinigung mit Macrogol. Dtsch Ärztebl 103:A 2061 [Heft 30]

15 Schwenk W, Spies C, Müller JM(2005) Beschleunigte Frührehabilitation in der operativen Medizin:

„Fast-track“-Rehabilitation. Dtsch Arztebl; 102: A 1514–1520

16 Neugebauer E et al. (1998) Situation der perioperativen Schmerztherapie in Deutschland. Ergebnis-

se einer repräsentativen, anonymen Umfrage von 1000 chirurgischen Kliniken. Chirurg. 69: 461–466.

17 Neugebauer E, Sauerland S, Keck V et al. (2003) Leitlinien Akutschmerz-therapie und ihre Umset-

zung in der Chirurgie. Eine deutschlandweite Klinikumfrage.Chirurg. 74: 235–238.

18 Osterbrink J (2006) Schmerzmanagement: Wie sieht die Realität in deutschen Krankenhäusern aus?

Schmerzfreies-Krankenhaus, Online-Version http://www.schmerzfreies-krankenhaus.de/fileadmin/user_upload/docs/ Stuttgart_18072006_Osterbrink.pdf

Page 8: Fast Track - vdd.de · PDF fileFacharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie Klinikum Leverkusen

F a s t T r a c k S e i t e | 8

19

Brandstrup B et al (2003) Effects of Intravenous Fluid Restriction on Postoperative Complications. Annals of Surgery. 238(5):641-648

20 Spies C. (2003) Präoperative Nahrungskarenz - Ein update. Anaesthesist 52:1039–1045

21 Ljungqvist O., Nygren J. and Thorell A. (2002) Modulation of post-operative insulin resistance by

pre-operative carbohydrate loading. Proceedings of the Nutrition Society. 61: 329–335

22 Holte K., Kehlet H. (2002) Effect of postoperative epidural analgesia on surgical outcome. Minerva

Anestesiol.68:157-61

Page 9: Fast Track - vdd.de · PDF fileFacharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie Klinikum Leverkusen

Anhang

Das Postaggressionssyndrom

Allgemeines Unter Postaggressionssyndrom versteht man eine Reaktion des Körpers auf Bedrohung und Verlet-

zung und damit auch auf eine Operation. Es ist eine stereotype Reaktion, die sich im Laufe der Evolu-

tion herausgebildet hat und die Überlebenswahrscheinlichkeit junger Individuen in lebensbedrohli-

chen Stresssituationen erhöhen soll. Dafür kommt es zu einer Reihe pathophysiologischer Vorgänge,

die das Ziel haben, den Blutdruck aufrecht zu erhalten, damit die lebenswichtigen Organe Herz, Lun-

ge und Gehirn bei Blut-und Flüssigkeitsverlusten weiterhin durchblutet werden. Außerdem sollen

durch eine katabole Stoffwechsellage dem Körper Energieträger bereitgestellt werden, vorzugsweise

die schnell und gut verwertbare Glucose. Diese Energieträger dienen akut der Kampf- und Fluchtre-

aktion, auf längere Sicht den Gewebsreparaturvorgängen.

Leider hat diese Reaktion aber auch eine Reihe von Wirkungen, die bei längerem Bestehen dem Kör-

per schaden anstatt ihm zu nutzen. Daher ist die Antwort auf die Frage, ob das Postaggressionssyn-

drom dem Körper nutzt oder schadet, davon abhängig, ob es sich schnell und phasenartig zurückbil-

det oder in der Frühphase bestehen bleibt und letztendlich zum Organversagen führt.

Das Postaggressionssyndrom kann man grafisch vereinfacht wie folgt darstellen:

Page 10: Fast Track - vdd.de · PDF fileFacharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie Klinikum Leverkusen

A n h a n g S e i t e | II

Auslöser Die Gewebeverletzung durch eine Operation ist der zentrale Reiz, der über eine Kette von verschie-

denen Signalen eine Kaskade an Reaktionen auslöst, die den oben bereits angesprochenen Zielen

dienen. Dabei kann man in der Grafik zwei unterschiedliche Wege unterscheiden. Links des zentralen

Ereignisses (Messer durchtrennt Gewebe) ist die durch das Nervensystem vermittelte Reaktionskas-

kade (neurohormonale Achse) dargestellt. Rechts davon findet sich die durch chemische Botenstoffe

vermittelte Reaktionskaskade (humorale Achse).

Die neurohormonale Achse Die Verletzung des Körpers durch den Operationsvorgang ist der Reiz, der die Nervenrezeptoren für

Schmerz aktiviert. Diese melden - auch wenn der Patient in Narkose liegt und nichts davon ins Be-

wusstsein dringt - den Schmerz über afferente Nervenfasern an das Gehirn. Eine Verstärkung dieses

Reizes entsteht, wenn zuvor Stressfaktoren wie Angst, Hunger, Durst und Volumenmangel diese Ket-

te bereits teilweise aktiviert hatten. Die Reaktion im Gehirn ist einerseits die direkte Beeinflussung

der Leber, die das in ihr gespeicherte Glykogen zur Bereitstellung von Zucker ausschüttet und gleich-

zeitig die Zuckerbildung aus Aminosäuren aktiviert (Glukoneogenese). Andererseits kommt es zu

einer Ausschüttung des Hormons ACTH (Adrenokortikotropes Hormon), das die Nebenniere beein-

flusst und diese dazu veranlasst, einer Reihe weiterer Hormone auszuschütten. Die wichtigsten da-

von sind die Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin, das Cortisol und das Aldosteron. Die Wir-

kung dieser Hormone erklärt die zu beobachtenden Körperreaktionen.

Adrenalin und Noradrenalin

Diese Substanzen führen zu einer Steigerung von Herzfrequenz, Herzminutenvolumen und Blutdruck.

Gleichzeitig führt das zu einem erhöhten Sauerstoffverbrauch aber auch zu einer schlechteren Sauer-

stoffverwertung (es stehen somit günstige Effekte ungünstigen gegenüber). Das Pankreas wird ange-

regt Insulin auszuschütten, damit die bereitgestellte Glukose besser in die Muskelzellen eindringen

kann (Flucht- und Kampfreaktion). Gleichzeitig werden aber die Insulinwirkungen in den peripheren

Zellen gehemmt (Insulinresistenz), was zu einer Steigerung des Blutzucker führt, obwohl Insulin sogar

im Übermaß vorhanden ist (Hyperinsulinismus).

Cortisol

Das Cortisol beeinflusst wesentlich die Vorgänge um eine Bereitstellung von Energie. Es aktiviert die

Glukoneogenese, die Lipolyse (Fettabbau), die Proteolyse (Eiweißabbau) und führt zu einer Insulinre-

sistenz. Dem Körper werden dadurch Glukose, freie Fettsäuren und Aminosäuren kurzfristig zur Ver-

fügung gestellt, die er zur Energiegewinnung nutzen kann. Gleichzeitig schwächt das Cortisol aber die

Immunabwehr.

Aldosteron

Dieses Hormon gehört zum Renin-Angiotensin-Aldosteron-System, das dadurch aktiviert wird. Die

Folge ist, das der Körper Wasser und Salz zurückzuhalten versucht, um die mit einer Verletzung ein-

hergehenden Verluste an Blut und Flüssigkeit zu kompensieren.

Page 11: Fast Track - vdd.de · PDF fileFacharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie Klinikum Leverkusen

A n h a n g S e i t e | III

Die humorale Achse Der zweite Reaktionsweg im Postaggressionswechsel wird durch chemische Signalträger vermittelt,

die aus verletztem Gewebe freigesetzt werden. Man spricht vom Komplementsystem. Dieses akti-

viert die Körperabwehrzellen, was wiederum zur Ausschüttung von weiteren Botenstoffen führt

(Zytokine). Diese führen dazu, dass die Blutgefäße im Verletzungsgebiet weitgestellt (bessere Durch-

blutung) und durchlässiger werden für die Abwehrzellen (Leukozyten), die der Bekämpfung des Ge-

webeschadens und der eindringenden Keime dienen.

Außerdem werden die Blutplättchen (Thrombozyten) aktiviert, um die Blutgerinnung anzustoßen und

Blutungen zum Stillstand zu bringen.

Diese an sich sinnvollen Vorgänge laufen aber leider nicht nur am Ort der Verletzung ab, sondern im

ganzen Körper. Werden sie nicht zeitig genug wieder zurückgefahren, schädigen sie die gesunden

Organe, was dann zur Funktionsstörung (Organdysfunktion) und letztendlich zum Organversagen

führen kann.

Verlauf Das Postaggressionssyndrom verläuft phasenhaft in vier Stadien:

Aggressionsphase

Diese Phase wird auch Akutphase genannt und schließt sich dem Trauma direkt an. Sie dauert etwa

12-72 Stunden. Durch Schmerz und Blutverlust besteht ein erhöhter Sympathikotonus, der bewirkt,

dass der Körper mit der Ausschüttung von Stresshormonen wie Glucagon, Cortison und

Katecholaminen reagiert (Fluchtreaktion, s.o.). Diese Hormone fördern die Gluconeogenese, um eine

ausreichende Menge an Glucose im Blut zu gewährleisten. Dadurch wird sichergestellt, dass die Or-

gane (Zentrales Nervensystem, Nierenmark, Blutzellen), die ausschließlich auf die Energiebereitstel-

lung aus Glucose angewiesen sind, weiterarbeiten können. Organe die nicht auf Glucose als Energie-

träger angewiesen sind, entwickeln eine durch die o.g. Hormone vermittelte Insulinresistenz und

können so den Blutzucker nicht mehr verwerten. Dadurch wird die Konzentration von Glucose im

Blut weiter erhöht. Diese Organe (z. B. Muskulatur) werden mit freien Fettsäuren (FFS) als Energielie-

feranten versorgt. FFS stehen durch die gesteigerte Lipolyse in vermehrtem Maße zur Verfügung.

Postaggressionsphase

Diese zweite Phase wird auch als katabole Phase bezeichnet. Sie dauert einige Tage bis wenige Wo-

chen an und ist durch einen gesteigerten Ruheumsatz charakterisiert. Die Glycogenvorräte des Kör-

pers wurden bereits in der Akutphase (nach 24 Std.) verbraucht, so dass eine andere Energiequelle

genutzt werden muss. Um daher die Zuckerversorgung aufrecht zu erhalten, wird weiterhin die

Gluconeogenese genutzt, die auf Aminosäuren angewiesen ist. Damit muss körpereigenes Eiweiß

abgebaut werden, das aus der Muskulatur oder aus anderen Quellen (z. B. Enzyme) herangezogen

werden muss. Das hat unweigerlich einen Körpersubstanzverlust zur Folge.

Die Insulinwirkung wird weiter durch antiinsulinäre Hormone gehemmt, wenn auch nicht so stark wie

in der Aggressionsphase.

Page 12: Fast Track - vdd.de · PDF fileFacharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie Klinikum Leverkusen

A n h a n g S e i t e | IV

Reparationsphase

Der Hypermetabolismus und die Wirkung der Stresshormone gehen in dieser Phase allmählich zurück.

Die Insulinwirkung greift wieder und die Blutzuckerwerte fallen auf ein normales Maß. Mit dem Ab-

klingen der Entzündungsreaktion des Körpers ist der Stoffwechsel nicht mehr darauf aus, aus Eiweiß

Zucker herzustellen, sondern das verlorene Eiweiß wieder aufzubauen. Diese Phase kann Wochen bis

Monate dauern. In dieser Phase haben Patienten weiterhin einen hohen Energie- und Eiweißbedarf,

der in den Reparationsvorgängen in den Zellen (Muskelaufbau) und der zunehmenden körperlichen

Aktivität (Mobilisation, Rehabititationsmaßnahmen) begründet ist. Diese Phase dauert auch nach der

Entlassung aus der Klinik in eine Rehabilitationseinrichtung oder in die häusliche Umgebung weiter

an.

ERAS und Postaggressionsstoffwechsel Die Maßnahmen in den ERAS Protokollen zielen alle darauf, die negativen Einflussfaktoren auf den

Postaggressionsstoffwechsel entweder ganz auszuschalten oder zu minimieren. Angst, Hunger und

Volumenmangel soll vorgebeugt werden durch die entsprechenden Ernährungsregeln (siehe Haupt-

vortrag).

Die großzügige Anwendung der thorakalen Periduralanästhesie kontrolliert nicht nur den Schmerz,

sondern blockiert zu einem wesentlichen Teil auch die neurohormonale Achse, indem die entspre-

chenden Reize nicht bis zum Gehirn gelangen und somit die Hormonausschüttungen - theoretisch

ganz - ausbleiben.

Das ERAS-Konzept bemüht sich daher den Postaggressionsstoffwechsel zu vermeiden und ihn früh-

zeitig zu bekämpfen. Das ist vielleicht auch der wesentliche Unterschied zum traditionellen

perioperativen Behandlungskonzept, das den Postaggressionsstoffwechsel als unvermeidbare Be-

gleiterscheinung der Operation akzeptierte und nur dessen Auswirkungen zu behandeln versuchte

und somit den pathophysiologischen Vorgängen hinerherlief, anstatt ihnen zuvor zu kommen.