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1 Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature „Die den Schrecken des Krieges kennen“ Günter Stüttgen und das ,Wunder vom Hürtgenwald' Von Thomas Böhm Redaktion: Tina Klopp Produktion: Dlf 2019 Erstsendung: Freitag, 29.11. 2019, 20:10 Uhr Regie: Claudia Kattanek Es sprachen: Anke Zillich und Tom Jacobs Ton und Technik: Daniel Dietmann und Oliver Dannert Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar -

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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature „Die den Schrecken des Krieges kennen“

Günter Stüttgen und das ,Wunder vom Hürtgenwald'

Von Thomas Böhm

Redaktion: Tina Klopp

Produktion: Dlf 2019 Erstsendung: Freitag, 29.11. 2019, 20:10 Uhr Regie: Claudia Kattanek Es sprachen: Anke Zillich und Tom Jacobs Ton und Technik: Daniel Dietmann und Oliver Dannert

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

© - unkorrigiertes Exemplar -

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1. Atmosphäre: Wannsee

2. O-Ton

Kopetzky: Ich sehe eine Bürgerkrieg-Situation. Ich sehe Menschen, die sich

durch nichts unterscheiden, außer durch ein Stück Stoff. Oder

durch ein Abzeichen. Die gleichermaßen verletzt sind. Von den

gleichen Waffen, auf die gleiche Weise... sind alles menschliche

Körper ... verletzt sind. Und die eine Gruppe von Menschen

geworden sind. Also dieses Lazarett hat sie zu Brüdern im

Schmerz gemacht. Und zeigt damit aber auch, dass eigentlich

jeder Krieg ein Bürgerkrieg ist. Der Mensch gegen den

Menschen... kann eigentlich gar keine Gegnerschaft darstellen.

Es gibt in der Politik Differenzen... Aber was hier geschehen ist,

ist eben ein Erkenntnismoment. Deswegen ist es auch so wichtig,

die Erinnerung daran aufrecht zu erhalten.

3. Ansage: Die den Schrecken des Krieges kennen

Günter Stüttgen und das „Wunder vom Hürtgenwald“

Feature von Thomas Böhm

4. Atmosphäre Wannsee

5. O- Ton

Kopetzky: Es war eigentlich so, dass ich auf der Suche war nach einem

Stoff über dem Zweiten Weltkrieg...

6. Sprecherin: August 2019. Der Schriftsteller Steffen Kopetzky ist nach

Berlin gekommen, um seinen neuen Roman

„Propaganda“ vorzustellen.

7. Atmosphäre Wannsee

8. O-Ton Kopetzky: und nicht recht wusste, wo ich anfangen sollte.

Dann habe ich einen Bekannten getroffen, einen ehemaligen

Bundeswehrsoldaten und Historiker. Und wir kamen so ins

Gespräch über militärische Leistungen und Besonderheiten und

herausragende Schlachten und so.

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9. Sprecherin: Kopetzky ist bekannt für seine Romane, die gründlich recherchierte

historische Ereignisse in Kontexte der Gegenwart stellen.

So erzählt er in seinem Buch „Risiko“, wie der deutsche Arabist Max von Oppenheim

im Ersten Weltkrieg einen Plan entwarf, um den Krieg für Deutschland zu gewinnen:

indem er die muslimischen Gruppen in den Kolonien der Briten und Franzosen zum

Heiligen Krieg aufstacheln wollte.

10. O-Ton Kopetzky: Dann kamen wir so ins Gespräch, und es ging eben um das

Problem, das die Vereinten Nationen oder die westlichen

Alliierten in Afghanistan haben, mit den paschtunischen

Talibanmilizen klarzukommen, die ihnen immer wieder

Niederlagen zufügen, die sie immer wieder in die Falle führen,

die ihnen immer wieder ein Schnäppchen schlagen.

11. Sprecherin: Als Ort für das Gespräch über seinen neuen Roman hat

Kopetzky das Literarische Colloquium am Wannsee

vorgeschlagen. Von hier aus blickt man auf die American

Academy, einen der vielen Orte, die die Amerikaner nach dem

Krieg in Berlin gestiftet haben – als Teil des kulturellen

Wiederaufbaus.

12.O-Ton Kopetzky: Und so kamen wir dann auf die Hürtgenwaldschlachten von

denen er mir erzählt hat. Das ist ein Stoff, der an jeder

Militärakademie der Welt gelehrt wird. Da geht es um

Verteidigungskampf, um den Aufbau von Verteidigungsstrukturen,

um Kommunikation, um Disziplin, um eine bestimmte Form von

Variationen im Abwehrkampf. Und da sind eben die

Hürtgenwaldschlachten herausragend. Die lernt man von

Pakistan bis Amerika... werden die durchgenommen bei den

Offizieren. Und dann habe ich gesagt: O.k., damit beschäftige ich

mich.

13. Atmosphäre Museum Hürtgenwald

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14. O-Ton Heckmann: Wenn Sie einen amerikanischen Veteranen im Gespräch

haben ... aber Sie werden nie mehr einen haben, genau wie ich...

15. Sprecherin: Dieter Heckmann betreibt zusammen mit 15 anderen

ehrenamtlichen Helfern das Museum Hürtgenwald in Vossenack.

16. O-Ton Heckmann: …. dann sag ich Ihnen mal, was sie mir gesagt haben. Die

ersten habe ich in den neunziger Jahren gesprochen. Ein

amerikanischer Veteran fragte mich: „Warum sagen sie immer

Huertgen Forest“?

Dann sagte ich: „Sie sind gut – das ist doch ihre Sprache.“

Sagt er: „Wir haben das nicht so genannt.“

Da wurde ich aufmerksam, auf sowas reagiere ich schnell, ganz

konzentriert. Ich sage: „Wer ist wir?“ Das tue ich bewusst, um

den Gesprächspartner zu öffnen.

„Meine Kameraden und ich. Wir nannten es anders. Wir nannten

es Dead Factory.“ Das habe ich mehrfach gehört.

Ich hab erst gedacht, das ist die Meinung eines Einzelnen. Nein.

Nach einigen Treffen, habe ich sie wieder gehabt, völlig andere

amerikanische ehemalige Soldaten... „Dead factory“.

17. Sprecherin: Steffen Kopetzky schildert in seinem Roman „Propaganda“ die

Ereignisse aus der Perspektive eines Erzählers namens John

Glueck. Glueck ist Leutnant der Abteilung für psychologische

Kriegsführung. Sein Großvater stammt aus Köln - jener Stadt, die

das Ziel des alliierten Vormarsches ist, der im Oktober 1944 in

der Eifel zum Stillstand kommt.

Glueck ist dabei, als die Soldaten der 28. Division in den

Hürtgenwald kommen; junge Männer, in drei Monaten zu

Soldaten ausgebildet. Viele von ihnen stammen aus

Pennsylvania, haben – wie Glueck – deutsche, mithin rheinland-

pfälzische Wurzeln, was auch in ihrer Sprache zum Ausdruck

kommt.

Kopetzky zeigt, wie ihnen der Kriegseinsatz zunächst wie ein

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großes Abenteuer erscheint. Kaum angekommen, durchsuchen

sie gefallene deutsche Soldaten nach Orden, um diese als

Erinnerungsstücke mitzubringen.

18. Vorleser:

Wir liefen etwa zwanzig Minuten, dann entdeckten wir

den unter zerfetzten Bäumen und auf herausgebombten

Schneisen liegenden Abschnitt des Schlachtfelds. Es war

schon merklich dunkel.

Was hier vor wenigen Tagen geschehen war, ü̈berstieg

damals noch unsere Vorstellungskraft. Was Granaten

anrichteten, die hundert Jahre alte Fichten zu einem

Splitterregen zerfetzten, der alles niedermähte, was sich unter

ihm aufhielt. Die Panik, die Baumscharfschützen auslösen

können oder sorgsam angelegte Tretminenfelder. Und

schließlich der Kampf Mann gegen Mann, im dichten Unterholz,

in einem grotesk unübersichtlichen Kleingebirge.

Wer sich hier auskannte, war immer im Vorteil. Dies war

der Hürtgenwald. Ein grimmer deutscher Wald. Und es waren

die letzten, aber auch die kampferfahrensten Truppen

der Wehrmacht, die ihn gegen uns verteidigten.

Ich folgte zwei unbekümmerten Privates, die wie alte

Freunde wirkten. Sie hatten die Karabiner hinten umgeschnallt

und liefen umher wie Kinder, die Schnecken oder

Pilze sammeln. Nachdem sie schon das eine oder andere

vom Boden aufgelesen hatten, wurden sie plötzlich richtig

fündig.

Der schlammige, halbgefrorene Waldboden leistete einigen

Widerstand, und so zerrten sie mit vereinten Kräften

an etwas, das sie als Arm eines Angehörigen der deutschen

Wehrmacht ausgemacht hatten. Schwer zu sagen, wie der

Landser getötet worden war. Die Ketten eines schweren

Fahrzeugs, vielleicht eines Sherman-Panzers, hatten ihn

in der von Granat- und Mörsereinschlägen aufgewühlten

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Schneise tief in den Boden gedrückt.

Ich kann mich gut an die Namen der beiden Pennsylvanier

erinnern: Kirschfang und Showalter. Kirschfang stand

über den Toten gebeugt und zerrte zusammen mit seinem

Kameraden am nassgrauen Mantelstoff des linken Oberarms.

Er bekam die eiskalte, schlammüberzogene Hand des

Gefallenen zu fassen, berührte ihre schreckliche Teigigkeit,

dann packte er sie und zog, so fest er konnte. Mit einem

tiefen Seufzen gab die Erde den Brustkorb frei. Sie drehten

den Leichnam auf den Rücken. Der Arm des Landsers fiel

mit einem satten Schmatzen in den Schlamm. Kirschfang

zog keuchend eine Taschenlampe hervor. Ihr Lichtschein

huschte für einen kurzen Moment über das von einem

Stahlhelm bedeckte Haupt des Deutschen, und wir sahen

sein Gesicht. Oder was davon halt so übrig war.

Unterhalb der Nase war das meiste weg, kein Kiefer

mehr da, ein paar Zähne standen im hautlosen Knochenfleisch

heraus. Der Tote sah aus wie Red Skull persönlich.

Ein Schaudern überlief uns.

(...)

«Jessas Maria, was für ei Muckadatsch hätt dem die Fress

poliert», murmelte er, während er systematisch mit seinem

Messer einen Knopf nach dem anderen vom Mantel schnitt.

Wehrmachts-Uniformknöpfe wurden gesammelt.

Hätte ich dem allen nicht selber beigewohnt, ich hätte es

nicht für möglich gehalten. Ich war entsetzt und gebannt

gleichermaßen. Dies war tatsächlich der Ort, nach dem

Hemingway und ich gesucht hatten. Ich war angekommen.

19. Sprecherin: Wie in Kopetzkys Roman dargestellt, war auch Ernest

Hemingway in den Hürtgenwald gekommen. Der – so Kopetzky –

das eigene Erleben als Grundlage seiner Bücher brauchte.

20.Atmosphäre Wannsee

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21. O-Ton

Kopetzky: Er wollte eigentlich das amerikanische „Krieg und

Frieden“ schreiben. Und er suchte nach dem großen Fisch des

Zweiten Weltkrieges, den er würde beschreiben können. Und

tatsächlich wurde er dann aufmerksam auf das Geschehen

zuerst in der Schneifel, dann im Hürtgenwald. (...) Was er dort

aber gesehen hat, war die Death Factory, die Todesfabrik. Ein

Ort, an dem amerikanischen Soldaten verheizt wurden ohne

Gnade, ohne Rücksicht. Einer demokratischen Armee komplett

unwürdig. Und das, was er da gesehen hat, war für ihn letztlich

so unbeschreiblich, dass er dafür nur ein paar Märchen-

Metaphern gefunden hat. In seinem Roman „Durch die Wälder

und an den Fluss“ – gemeint ist natürlich durch den Hürtgenwald

und an den Rhein – schreibt er eben: „Und im Wald da sind die

Drachen.“ Damit meinte er natürlich die Wehrmacht. Die war den

jungen GIs, die da rein kamen, so unheimlich, so unverständlich...

Wie die das eigentlich machen, mit so einer

Materialunterlegenheit und nach vier Jahren Krieg dann immer

noch so eine Kampfkraft zu entwickeln, dass da bloß noch

Metaphern übrig geblieben sind. Er selber konnte dieses

Geschehen nicht beschreiben. Und er konnte nicht beschreiben,

was dahinter steckt. Das war ein neues Zeitalter, und für dieses

Zeitalter war Hemingway nicht mehr der richtige.

.

22. Sprecherin: Die Kämpfe in der Eifel wurden zu der verlustreichsten Schlacht,

die amerikanischen Truppen im 2. Weltkrieg austrugen.

Sie waren nicht mit dem Terrain vertraut, rechneten nicht dem

Widerstand der Wehrmachtssoldaten, die – wie es der deutsche

Wehrmachtsoffizier Paul Brückner, der an der Schlacht beteiligt

war, es ausdrückte –, in dem Glauben handelten, „die Heimat

verteidigen zu müssen“.

Eine weitere Ursache für die Verluste der Amerikaner lag in der

Führungsstruktur, die der deutschen unterlegen war.

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23. O-Ton Kopetzky: Das Führungstheorem bei der Wehrmacht, da war es

eben so: der Offizier führt von vorne. D.h. er geht mit der

Mannschaft ins Gefecht und sieht dann jeweils, was geschieht,

und ist in der Lage, zu reagieren. Man nennt das „Führung durch

Auftrag“. Während bei den Amerikanern „Führung durch

Befehl“ war. Das sind eigentlich die beiden großen Konzepte, die

dagegen einander standen. (...) Bei den Amerikanern hieß es:

gehen Sie auf dem Weg XY diesen Hügel hoch.. Wenn der Weg

aber verstellt war, hatte er keine Alternative. Musste also den

Befehl ausführen, der irgendwo weit weg von einem General

oder von einem Oberst erlassen worden ist, der die Situation

zum Teil gar nicht kannte. Also die Führung bei den Amerikanern

war zum Teil blind (...) und deshalb kam diese Katastrophe im

Hürtgenwald zu Stande.

24. Sprecherin: Am 2. November 1944 beginnt die Allerseelenschlacht in den

engen, bewaldeten Tälern der Eifel, entlang der Flusses Kall.

Die Frontlinie wechselt ständig, bald ist der Wald übersät mit

Verletzen und Leichen. John Glueck bietet sich ein entsetzlicher

Anblick:

25. Vorleser: Was sich uns dann, als wir schließlich das Kampfgebiet der

Schlacht um die Kallbrücke herum betreten konnten, langsam

zeigte, war aufwühlend und todtraurig zugleich. Die

schwere Artillerie beider Seiten hatte hineingeschossen,

Panzer, Panzerabwehrkanonen, Panzerfäuste, Bazookas,

Maschinengewehre, Handgranaten, Gewehre, Pistolen waren

abgefeuert worden. Schließlich der Kampf Mann gegen

Mann, mit dem Messer. Mit bloßen Händen. Jeder hatte

gekämpft, umgeben von Nacht, Waldnebel, Ruß, Rauch,

den dampfenden Gedärmen und abgerissenen Gliedmaßen

gefallener Kameraden. Jeder für sich allein. Wurde verletzt,

blieb liegen. Und begann, nach Hilfe zu rufen, so gut er

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noch konnte. Help me!, klagten die Bergarbeiter aus Centralia

und Hilfe, bitte, die Grundschullehrer aus Düren. Als

die Sonne aufging, zeigte sich das ganze Ausmaß des

Schreckens, die unzähligen Verwundeten und Verletzten – jeder

einzelne ein Bild des Jammers.

26. Sprecherin: In dieser Situation vollzieht sich das, was amerikanische

Militärhistoriker „Das Wunder vom Hürtgenwald“ nennen. In

dessen Mittelpunkt steht ein 25jähriger, in Düsseldorf geborener,

deutscher Arzt im Range eines Hauptmanns: Günter Stüttgen.

27.O-Ton Stüttgen: Amerikaner und Deutschen hatten das Gefühl: Wir sind

beide hier in einer Situation, die gleichartig ist. Wir waren mit

unserem Überleben... waren wir sozusagen in der Balance.

28. Sprecherin: So erzählt Stüttgen selbst – in der einzigen bekannten Aufnahme,

in der er über die Ereignisse im Hürtgenwald spricht. Sie wurde

aufgenommen für ein Zeitzeugen-Portal, das heute vom Haus

der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland betrieben wird.

29. O-Ton Stüttgen : Und deswegen sind wir zu den Amerikanern mit einer

weißen Fahne hin gegangen... sie waren auf der anderen Seite

des Flusses, der Kall... und haben dann versucht eine technische

Lösung zu entwickeln.

30. Sprecherin: Stüttgen handelte mit Zustimmung seines

Regimentskommandeurs Oberst Rösler.

31. O-Ton Heckmann: Er war auf dem Gefechtsstand seines Regiments… Auf

der Höhe oben bei Schmidt am Gerstenhof und dort soll seinen

Chef zu ihm gesagt haben: „Stüttgen begeben Sie sich mal ins

Kalltal.“ Da gibt es Kontakte zwischen Amerikanern und uns; um

die Versorgung von Schwerverwundeten. Und das ist der Weg,

den Stüttgen dann macht...

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32. O-Ton Stüttgen:…... und ich bat ihn dafür zu sorgen, dass das die Artillerie von

der Urfttalsperre aufhörte für die nächste Zeit. Für zweieinhalb

Stunden. Und die Amerikaner sagten, das könnten sie auch. Und

dann hat er die Situation entwickelt, die Chancen wurde

wahrgenommen. Als auf einmal die Artillerie wieder bei uns

einschlug, dann wussten wir, dass irgendetwas nicht verstanden

worden war. Dann war die eigenartige Situation... meine

amerikanischen Kollegen und die amerikanischen Offiziere... wir

lagen alle zusammen, aufeinander gepfercht in Deckung und

mussten diesen Feuerüberfall über uns ergehen lassen.

Aber aus diesem gemeinsamen Erlebnis hatte sich dann ein

Konzept entwickelt, wie man doch... vielleicht hier nur kleinere

Feuerpausen, die von der unteren Ebene, nicht von Seiten der

Führung der Militärkräfte, sondern aus den unteren Reihen sich

entwickelte, dass man die dahin schließlich brachte, dass

Waffenstillstände oder Feuerpausen hier eingebaut werden

konnten und das ging.

Der Hauptmann mochte nicht viel älter sein als ich,

33. Sprecherin: beschreibt John Glueck in Kopetzkys Roman seinen Eindruck

von Stüttgen.

34. Vorleser: vielleicht ein, zwei Jahre, aber was für ein Autoritätsunterschied

war da zwischen uns. Natürlich, er war Arzt,

hatte also schon ein anspruchsvolles Studium hinter sich ge-

bracht, Medizin, die Lehre vom menschlichen Körper, seiner

Krankheiten und Verletzungen und wie man diese

diagnostizierte, behandelte und womöglich heilte. Er war mit

diesem Studium in den Krieg des Deutschen Reichs gegen

nahezu alle seine Nachbarländer und noch darüber hinaus

gezogen, gezogen worden, er war ein Mitglied der erst

erobernden, dann dagegenhaltenden, schließlich – jetzt – mit

letzter Kraft sich verteidigenden großen Armee, der in der

Militärgeschichte einzigartigen Wehrmacht. Und er war ein

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Träger, das sah ich erst relativ spät, als wir schon fast am

Ziel waren, des Eisernen Kreuzes, des Ordens, der seit den

Zeiten der Hohenzoller’schen Kaiser verliehen wurde; ein

Tapferkeitsorden, den nur bekam, wer wirklich im Feld

gestanden hatte. Man trug ein Band im Knopfloch, das seinen

Besitz anzeigte.

35. Sprecherin: So wie es nur eine Tonaufnahme von Stüttgen über den

Hürtgenwald gibt, existiert auch nur ein journalistischer

Artikel über sein Wirken in der Allerseelenschlacht, der auf der

persönlichen Begegnung mit Stüttgen beruht. Verfasst hat ihn

Guido Heinen, im Jahre 2001 als stellvertretender Ressortleiter

Innenpolitik bei der Tageszeitung Die Welt. Er fuhr mit Stüttgen

in den Hürtgenwald.

36. Atmo Heinen-Büro

37. O-Ton Heinen: Das ist natürlich einfach Reporterpflicht. Mit Verlaub: Wenn Sie

eine historische Figur für den Leser erarbeiten wollen, dann

gehört dazu die Begegnung, aber es gehört natürlich auch

idealerweise die Begegnung dazu an dem Ort, dem Kairos, an

dem er gewirkt hat. Und deshalb habe ich gesagt, gehst du mal

mit ihm dahin.

38. Sprecherin: Es stellt sich heraus, dass Stüttgen seit dem Zweiten Weltkrieg

nie wieder an die Orte der Allerseelenschlacht zurückgekehrt ist.

39. O-Ton Heinen: Er hat auch überlegt, ob er mit mir dahin gehen möchte, weil er

sagte, er kann nicht kontrollieren, was wieder hochkommen ?.

Und wenn man mal dort ist, und mit jemanden dort hergeht, der

40,45 Jahre davor dort im Graben oder in den Löchern gelegen

hat, dann sieht man es ja auch erst. Wenn Sie da als Wanderer

durchgehen, sehen Sie einen Eifler Wald. Einen Eifler

Mischwald. Sie sehen dann vielleicht oben auf den Höhen noch

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übriggeblieben Bunker von Panzerabwehrkanonen

oder mittlerer Artillerie, aber das ist alles sehr weit weg. Wenn

sie mit einem dort hindurchgehen wie Doktor Stüttgen, in dem

dann plötzlich die Erinnerungen wieder hoch kommt…

Und der nicht die Bilder, sondern Bewegungen real werden

lässt… der war damals ja auch schon älter… Und wie er dann

plötzlich anfing behände und leichtfüßig über diesen Bach… Der

Bach war damals die Markationslinie für die Soldaten, der

Bach war das Proble… dann auf dem gegenüberliegenden Hang

wieder hoch zu laufen, und zu zeigen: Hier haben wir eine kleine

Verletztensammelstelle eingerichtet, da war das nachgelagerte

Lazarett. Das war schon sehr bewegend.

Zumal er selber damit rang, mit seiner Erinnerung… Und auch

mit der Frage: Möchte er das eigentlich erzählen. Möchte er das

wieder hochkommen lassen?

40. Sprecherin: Mehrfach gelingt es Stüttgen im November 1944 mit seinen

amerikanischen Counterparts Feuerpausen auszuhandeln, in

denen die Toten geborgen und die Verwundeten gepflegt werden

können. Dabei versorgt Stüttgen amerikanische wie deutsche

Soldaten gleichermaßen. Günter Heinen, dessen Großvater

ebenfalls Arzt in der Wehrmacht war, kann sich Stütgens

Verhalten gut erklären.

41. O-Ton Heinen: Er war natürlich diese Arztgeneration der vierziger Jahre, der

Dreißigerjahre, die häufig Medizin studieren, im Kontext auch mit

humanistischer Bildung. Das hat mich auch wieder an meinen

Großvater erinnert, der natürlich Griechisch konnte, Hebräisch,

und so weiter… Also das war sozusagen das Menschenbild des

Mediziners damals war das, was wir heute „ganzheitlich“ nennen

würden. Auf eine eigene, ganz unprätentiöse Art. Und es war

natürlich auch etwas, das den Menschen in seiner Verstrickung

sah, wenn er das Böse tat. Und deshalb konnten sie auf eine

ganz besondere Art Ärzte sein im Krieg. Ich glaube diese

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humanistische Perspektive ist eine der Grundlagen gewesen,

also bei ihm war es christlicher Humanismus, zu sagen: „Es gibt

eben links und rechts dieses Bächleins, was da unten fließt,

keine Deutschen und Amys, sondern nur Menschen mit

abgetrennten Oberarmen, und mit Schüssen im Bauch. Und

deshalb sammel’ ich die ein. Das machen Sie dann, wenn Sie

sozusagen den Menschen als Menschen sehen.“

42. Vorleser:

(...) während an anderen Stellen im Hürtgenwald

der Kampf tobte, wurden im improvisierten Lazarett des

Dr. Stüttgen Innereien wieder in Bauchhöhlen zurückgedrückt,

verletzte Augen verbunden, Brüche geschient

und nebenher vom Chefarzt ein knappes Dutzend Sanis

beider Armeen dirigiert. Die letzten Medikamente, Verbandszeug

und Material gingen dabei drauf. Mitten in einer

der schrecklichsten Schlachten gab es einen Raum der

Menschlichkeit. Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht

lang. Und der German Doctor schaffte es, noch einen weiteren

Tag herauszuhandeln.

43. Sprecherin: John Glueck macht Günter Stüttgen ein Versprechen:

44. Vorleser: Im Behandlungszelt brannte Licht. Dr. Stüttgen saß auf

einer Art auf klappbarem Jägersitz, hatte sich offenbar gerade

die Hände gewaschen und deshalb trotz der Kälte die

Hemdsärmel noch aufgekrempelt. Er versuchte, ein klobiges,

hölzernes Pfeifchen zu entzünden, aber die Streichhölzer

waren feucht. Ich zog mein Zippo aus der Tasche, ließ

es aufschnappen und reichte es ihm. Er hielt die Pfeife ganz

schräg über die Flamme, was komisch aussah, produzierte

ein paar angenehm duftende Wölkchen und strahlte über

das ganze, bärtige Gesicht. Er schmauchte ein paar selige

Züge. Ach, diese Tabakraucher … alles Romantiker.

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«Oberleutnant Glueck», sagte er dann, «diese Schlacht

ist geschlagen. Wird Zeit für Sie zu gehen, Sie alter Kölner.

Ja, da staunen Sie, das höre ich hundert Meter gegen den

Wind.»

«Meinen kölschen Akzent? Echt?»

«Ja, und wie.»

«Stammt von meinem Opa.»

Ich denke nicht, dass mir irgendjemand sonst, auch noch

ohne es zu ahnen, jemals so ein schönes Kompliment gemacht

hatte. Ich hätte ihn umarmen mögen. Aber das ging

natürlich nicht.

«Überhaupt danke … was Sie hier getan haben, Herr

Doktor. Großartig. Mit jemandem wie Ihnen kann man

nicht untergehen. Ich verspreche Ihnen, bei allem, was ich

habe und bin, was ich liebe und schätze, dass die Welt von

Ihnen erfahren wird. Sie sind ein wahrer Held, Herr Hauptmann.

45. Sprecherin: Die tatsächlichen Gespräche zwischen Stüttgen und den

amerikanischen Soldaten im Lazarett drehten sich jedoch um

andere Inhalte.

46. O-Ton Stüttgen:

Die 28. Division, die kam aus Pennsylvania… Aus Philadelphia.

Und in dem Schulenglisch, das wir damals hatten.... Und wir

haben auch politische Gespräche geführt. Ich werde in meinem

Leben nie vergessen: Ich hatte einen amerikanischen Flieger,

der abgeschlossen war, zu versorgen und da war gerade die

Wahl des amerikanischen Präsidenten. Der Roosevelt wurde

noch mal gewählt. Und man frug so: „Warum habt Ihr den

Roosevelt noch mal gewählt?“ Wir waren ja erzogen, das waren

ja die Informationen, die waren ja politisch eindeutig. Und er

guckte mich an – und das hat mich wahnsinnig auch für die

nächste Zeit beeindruckt - der guckte mich an, als wenn ich nicht

ganz dicht wäre. Und sagte: „Peoples Choice.“ Wahl des Volkes.

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Ja… Und er guckte mich an… Als wenn er sagen wollte: was

seid ihr eigentlich für eigenartige Menschen?

47. Sprecherin:

Erst im Februar 1945, nachdem auch die Ardennenoffensive

gescheitert war, endeten die Kämpfe im Hürtgenwald.

Stüttgen, der mittlerweile an einem anderen Kampfabschnitt

tätig war, übergab ein ganzes Lazarett kampflos in die Hand der

anrückenden Alliierten und wurde dafür in Abwesenheit zu Tode

verurteilt.

48. Atmo Museum

49. O-Ton Heckmann:

Ich war sehr jung, 13 oder 14. Mit dem CVJM kam ich zum

ersten Mal in den Hürtgenwald. Ich hatte keine Ahnung von den

Vorgängen. Ich sah zum ersten Mal: diese abgebrannten und

vernichteten Wälder. Die waren noch in den Fünfzigern… Und

alle 100 m hing so ein Schild… Meinen Vater zu fragen, an so

einem Abend, das war sinnlos. Der hätte da kein Wort drüber

verloren.

50. Sprecherin: Im Friedensmuseum in Vossenack wird die

Geschichte der Hürtgenwaldschlacht erzählt. Beim

Rundgang durch das Museum bleibt Dieter Heckmann vor Fotos

eines Mannes stehen, der wie eine Komplementärfigur zu Günter

Stüttgen erscheint: Julius Erasmus. Kümmerte sich Stüttgen

während des Krieges um die Verletzten, so barg Julius Erasmus

nach dem Krieg die Leichen, die im immer noch vermimten Wald

herumliegen. Heckmann zeigt auf eine Gruppe von Fotos.

51. O-Ton Heckmann: Das sind Bilder, die wir erst vor wenigen Jahren aus privater

Hand bekommen haben. Da oben ist er. Er hat mit vier, fünf

Mitarbeitern in der ersten Nachkriegsphase über 1500

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deutsche Soldaten im Jutesäcken registriert… 52

entstehen erst die beiden Friedhöfe… Die lagen auf dem

Dorffriedhöfen und 46 lagen sie noch in den Wäldern…

Und er hat sie, die Reste von Menschen, bestattet. Und

hat versucht, Registrierungen zu nehmen.

Er hat gewohnt in einer Baracke am späteren Soldatenfriedhof.

Die Entstehung des Soldatenfriedhofs hat er

auch noch mitgemacht… Übrigens: Der Friedhof in

Vossenack ist eingeweiht worden in der Anwesenheit des

ersten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland:

Professor Theodor Heuss. Das ist auch deutsche

Geschichte.

52. Sprecherin: Die Bergung der Leichen muss eine entsetzliche Arbeit gewesen

sein. Was hat Julius Erasmus dazu bewegt?

53. O-Ton

Heckmann: (...) das ist eine Verpflichtung, ich würde sagen eines

ehemaligen Soldaten, und jetzt könnte man wieder das Wort

einbringen, das so furchtbar von den Nationalsozialisten

missbraucht worden ist: „Das sind Kameraden von mir.“

Das ist er, das ist eigentlich dieser Schatten, das ist eigentlich

das bekannteste Bild.

54. Sprecherin: Das Foto zeigt den Schatten eines Mannes mit schwerem

Rucksack.

Er hat eine große Schaufel geschultert, in der anderen Hand hält

er einen Stock. Der Schattenmann hält den Kopf gesenkt, wirkt,

als stünde er – „Der Totengräber von Vossenack“ in andächtiger

Trauer.

55. O-Ton

Heckmann Das hat Jahrzehnte nur existiert.

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(...) und er hat aktiv mit der deutschen

Kriegsgräberfürsorge zusammen gearbeitet, und ist so

gut bis auf diese Aufnahme aus der Geschichte raus.

56.

Sprecherin: „Aus der Geschichte raus“, ist auch Günter Stüttgen, zumindest

aus der deutschen. Er selbst ging nie mit der Geschichte an die

Öffentlichkeit, verdiente sich auf anderen Feldern Meriten.

1962 kehrte er in die Eifel zurück.

57. O-Ton

Heinen: Weil er in einer nahezu kamikaesken Aktion eine

große Pockenepidemie in der Region analysiert, diagnostiziert

und mit seinem medizinischen Wissen versucht hat zu

bekämpfen... auch wieder an der Front. Zu einer Zeit also, wo

die hygienischen und Schutzmaßnahmen ganz andere

waren. Er ist mitten reingegangen in die Dörfer, die unter der

Krankheit zu leiden hatten.

58.

Sprecherin: Stüttgen erkrankt selbst an der aus Indien eingeschleppten

Krankheit, wird aber wieder gesund. Die durch seinen Einsatz

besiegte Pockenepidemie gilt als die letzte ihrer Art in

Deutschland.

In den kommenden Jahrzehnten macht Stüttgen eine

beeindruckende medizinische Karriere, seine

Forschungen machen ihn zu einem international hochangesehen

Dermatologen.

Er wird Chefarzt der Universitätshautklinik und Poliklinik im

Berliner Rudolf Virchow-Krankenhaus, ist geschätzt für seinen

liberalen Führungsstil.

Seine Universitätsvorlesungen gelten als höchst unkonventionell,

wie es in einem Nachruf auf Stüttgen heisst: „Hier war er ganz

der intellektuelle, der mit flottem Witz und Charme die

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Studierenden zu unkonventionellem Denken aufrief und

begeisterte.“

Kollegen erinnern sich daran, dass er beim Anblick bestimmter

Wunden davon sprach, dass diese aussahen wir

Schussverletzungen im Zweiten Weltkrieg. Doch auf seine

Kriegserlebnisse ist er nie zu sprechen gekommen.

59. Atmosphäre Wannsee

60. O-Ton

Kopetzky: Ich glaube, dass er seine Arbeit als Arzt und Wissenschaftler viel

wichtiger fand, als in der Vergangenheit rumzukramen. Also er

hat das getan; er hat den Menschen da geholfen, wie er das

immer tun würde, weil er ein Arzt war durch und durch. Das

glaube ich. Ein Arzt im menschlichen Sinne. Eine hippokratische

Existenz.

Und er wollte da keinen Wind drum machen. Weil er war, glaube

ich, nicht interessiert an Ruhm. Er war an Medizin interessiert, an

Forschung, kranken Leuten zu helfen… Und er wusste, wenn er

sich selbst damit brüsten würde, was würde dabei rauskommen?

Keine Ahnung. Einige würden ihn vielleicht anfeinden, andere

würden ihn feiern… Das war überhaupt nicht sein Naturell.

61. Sprecherin: Diese Einschätzung teilt Guido Heinen aufgrund seiner

persönlichen Begegnung mit Stüttgen im Jahre 2001.

62. O-Ton Heinen: Ich habe damals einen Arzt getroffen. Er war einfach nur Arzt.

Und er war es auf eine Art und Weise… Unprätentiös, dass

selbst seine Geschichte, die damals schon fast 50 Jahre alt war,

lebendig wurde. Und er ist als Arzt jemand gewesen, der kaum

über sich selbst reden konnte und wollte.

63. Sprecherin: Zu diesem Zeitpunkt wurde jedoch schon über Stüttgen

gesprochen. Nicht in Deutschland. Sondern in den USA.

Dort war in den 1980er Jahren Militärshistorikern bei der

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Aufarbeitung der Hürtgenwaldschlacht in den Schilderungen der

Soldaten die wiederholte Erwähnung des „German doctor“

aufgefallen, um den herum bald der Begriff des „Miracle of

Huertgen Forest“ – das Wunder im Hürtgenwald geprägt wird.

Es dauert aber noch einige Jahre, bis Günter Stüttgen als „The

German Doctor“ identifiziert werden kann.

1996 wird er für seinen „Akt der Humanität gegenüber dem

Feind“ im Capitol in Harrisburg ausgezeichnet.

Aus diesem Anlass entsteht das Gemälde „A time for healing“.

Es zeigt eine Szene aus der Allerseelenschlacht: den

Verbandsplatz, auf dem die schwerverwundeten

deutschen und amerikanischen Soldaten behandelt werden, vor

dem Hintergrund des fast schwarzen Waldes. Im Zentrum des

Bildes, die Betrachtenden anblickend: Günter Stüttgen.

Im Friedensmuseum in Vossenack hängt eine Kopie.

Dort hat es Dieter Heckmann einmal zusammen mit

Günter Stüttgen angeschaut, als dieser das Museum besuchte.

64.

O-Ton Heckmann: Und zu diesem Bild hat er gesagt:

„Alles sehr zusammengedrängt…“

„Aber es hat stattgefunden?“, frage ich.

„Ja natürlich hat es so stattgefunden. Aber nicht so zusammen

gedrängt wir hier. Und wissen Sie: die Amerikaner lieben so

etwas. Deshalb ist es eine Geschichte geworden. Es war nur

eine von vielen… Aber sie ist sehr bekannt geworden… Aber

wissen Sie, Herr Heckmann: lassen Sie sie doch, die

Amerikaner. Es ist eine andere Mentalität.“

65.

Sprecherin: Auch Guido Heinen kennt „A time for healing“, das – wie

Steffen Kopetzky es beschreibt – eine „Bürgerkrieg-Situation“

zeigt: Verletzte Menschen, die in einem Lazarett zu „Brüdern im

Schmerz“ geworden sind. Als Heinen mit Stüttgen ins

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Museum kommt, geht Stüttgen kommentarlos an dem Bild vorbei.

66. O-Ton

Heinen: Er hat sich wahnsinnig gefreut, das war erkennbar.

Aber wissen Sie, das war nicht so eine Freude:“

In meinem Land bin ich über Jahre hin weg verkannt worden und

jetzt machen die das mal.“ Sondern es war andersrum… Er

hat mir immer gesagt: „Ich habe etwas getan, was ich tun musste

und das war erst mal keine Geschichte. Und dann habe ich mich

gefreut, dass es für die Amys eine Geschichte war.“ Aber er hat

sich niemals über ein Defizit beklagt.

67. Sprecherin: Mit dem Begriff des „Wunders“ konnte Stüttgen nichts

anfangen.

68. O-Ton

Heinen: Und er hat gesagt: „Ja, wenn wir von Wunder reden, dann nicht

von dem, was wir gemacht haben, sondern von dem, was

passiert ist.“ Also wenn zum Beispiel ein Penicillintransport

durchgekommen ist, mit dem sie nicht mehr gerechnet haben…

Und er hatte dann so lauter eigentlich banale Sachen aus dem

Alltag… Schmerzmittel oder einer hat einen Steckschuss

überlebt, den er eigentlich aufgegeben hatte. Wohl nicht mehr

die Kraft hatte, chirurgisch einzugreifen. Und irgendwie hat er

es geschafft oder so… Und dass er sagt: die Wunder waren

immer klein.

69. O-Ton: Applaus

Atmosphäre Lesung Kopetzky

70.

Sprecherin: 2. September 2019. Die Premierenlesung von Steffen Kopetzkys

Roman moderiert Deutschlands bekanntester Literaturkritiker

Denis Scheck. Am Rande der Veranstaltung erzählt Scheck von

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seiner Bekanntschaft mit dem amerikanischen Schriftsteller Kurt

Vonnegut.

71.

O-Ton Scheck: Das war einer der berührendsten Momente… Wir haben uns

mehrfach getroffen. Kurt Vonnegut war ein Kettenraucher. ich

brachte ihm immer eine Stange duty free seiner

Lieblingszigarettenmarke Pall Mall mit. Er hat dann meistens

während des Gesprächs ein Päckchen davon aufgeraucht.

(...) Und er stellte sich auf die Treppe und wir kamen ins

Gespräch und er fing an zu singen. Und er sang mir die Lieder

seiner Kindheit vor. Deutsche Volkslieder. „Warum ist es am

Rhein so schön?“ „Die Loreley.“ Und andere Lieder. In perfektem

Deutsch. Natürlich mit deutsch-amerikanischen Akzent.

72.

Sprecherin: Vonneguts Eltern waren aus dem Münsterland in die USA

eingewandert.

Als Soldat war Vonnegut bei der Landung der Alliierten in der

Normandie dabei, geriet dann in deutsche Kriegsgefangenschaft

und wurde nach Dresden verschleppt, wo er Zeuge der

Bombardierung der Stadt im Februar 1945 wurde. Dieser

Erfahrung liegt Vonneguts Roman „Slaughterhouse Five“ –

„Schlachthof 5“ zugrunde.

73.

O-Ton Scheck: Es gibt so eine Urzene der amerikanischen

zeitgenössischen Literatur, das ist Kurt Vonnegut. Der

den Menschen als Spielball absurder, stochastischer, blind

waltender Schicksalsmächte darstellt. Der die berühmte Antwort

auf die Frage: „Warum geschieht all dies Unheil?“ ... Hiob... gibt:

„Es gibt kein Warum.“

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74.

Sprecherin: Vonnegut musste bei der Bergung der verkohlten und

eingeschrumpften Leichen aus den Dresdner Häusern mithelfen.

75.

O-Ton Scheck: Von Menschen die nur noch 50,60 cm groß waren… Ein

unglaubliches Grauen. Er versucht das zu formulieren, er

versucht das irgendwie auf dem Papier zum Ausdruck zu

bringen. Und er schafft es nicht weil er – wie er im Vorwort zu

(...) Schlachthof fünf erklärt –: Man über ein Massaker nichts

Vernünftiges aussagen kann. Und erst als er eine zerbrochene

Form findet, nämlich die Idee eines Menschen, der sein Leben

in zeitlichen Spasmen lebt. Billy Pilgram ist der Held dieses

Romans, der sein Leben nicht konsekutiv, nicht linear, von heute

auf morgen auf übermorgen lebt, sondern in der Zeit hin und her

springt … Das hat ihn so befreit, künstlerisch, dass er seine

Erfahrungen, die Kriegserfahrung in einem Roman ausdrücken

konnte. Denn genau so stochastisch und sinnlos, wie dieser an

temporalem Schluckauf leidende Held Billy Pilgram, so kam ihm

die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs vor.

76. Sprecherin: Temporärer Schluckauf, zeitliche Spasmen – Vonnegut

fand eine literarische Darstellungsform für die Traumatisierung

durch die Kriegserfahrung.

Ein Schriftsteller, der wie Hemingway im Hürtgenwald war,

suchte einen anderen Ausweg: J.D. Salinger, der dort die Arbeit

an seinem später weltweit erfolgreichen Roman „Der Fänger im

Roggen“ begann. Die Geschichte eines 16jährigen, der durch

New York läuft, getrieben vom Gefühl des Angewidert-Seins in

einer verlogenen und scheinheiligen Welt.

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77.

O-Ton Kopetzky: Was er freilich geschrieben hat, in seinen Erzählungen und auch

in „Der Fänger im Roggen“ sind natürlich zutiefst verstörte,

traumatisierte Leute. In der Erzählung „Ein guter Tag für

Bananenfisch“ zum Beispiel begeht ein Kriegsveteran

Selbstmord in einer eigentlich idyllischen Ferienszene und man

merkt: Der bringt es nicht fertig, darüber zu sprechen, was er

erlebt hat – und das war Salinger, der wurde auch im

Hürtgenwald traumatisiert.

Ja, er war halt bei der Vierten Division, das war dann die

Schlacht nach der Allerseelenschlacht. Und er hat genau das

gleiche erlebt. Er hat erlebt, wie die US Soldaten angerannt sind

und wie sie zurückgeschlagen worden sind unter höchsten

Verlusten. Und er hat erlebt wie die amerikanische Militärführung

komplett ratlos war.

78.

Sprecherin: Für Steffen Kopetzky stellte sich beim Schreiben seines

Romans nicht nur die Frage nach der Darstellung des Krieges,

sondern auch die Frage: Wieviel Raum sollte Günter Stüttgen

darin einnehmen?

79.

O-Ton Kopetzky: Man hätte sagen können: Ja, das ist ein Roman über Stüttgen,

der wird dann gesucht und gefunden… Nein, ich wollte eigentlich

aus ihm einen Inspirator machen. Eine Figur, die meinen Helden

zu einer ganz bestimmten Handlung antreibt. Ein Vorbild. Einen

deutschen Offizier, der ein Vorbild für einen amerikanischen

Offizier wird. Und letztlich ist es so, ich wollte auch nicht über die

Wehrmacht schreiben, sondern ich wollte über die Amerikaner

schreiben. Ich wollte eigentlich über den Zweiten Weltkrieg aus

amerikanischer Perspektive schreiben. Und über die Entwicklung

Amerikas bis zum Vietnamkrieg. Ich wollte letztlich damit eine

ganz andere Dimension eröffnen. Und da hat Stücken, dieser

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deutsche Doktor, eine eher mythische Rolle. Eine Heldenfigur

Rolle, die, wenn man nur darüber schreibt, hätte man die

vielleicht wieder kleiner machen müssen. Und so ist er extrem

strahlend. Oder wie eine Art von humanitärer

Siegfried.

80.

Sprecherin: Aus diesem Grunde taucht Günter Stüttgen nur in wenigen

Szenen ins Kopetzkys Roman auf. Konsequent, wie Denis

Scheck findet.

81.

O-Ton Scheck: Ich rechne es ihm hoch an, dass er ihn nicht zur?

Hauptfigur seines Romans machte. Das wäre vielleicht die

Vorgehensweise eines Schriftstellers wie Bernhard Schlink, oder

sowas gewesen. Beim Schreiben gilt die gute Regel, die schon

Faulkner ausgegeben hat: Kill your Darlings! Und so bleibt für

diese Figur eben nur die Rolle einer Nebenfigur…

82.

Sprecherin: Wäre aber nicht ein Roman, der ausführlich das Leben von

Günter Stütten schildert, eine Möglichkeit gewesen, an dessen

humanitäre Heldentat zu erinnern?

83.

O-Ton Scheck: Ich glaube ja nicht an eine moralische Läuterung durch Literatur,

wenn ich ehrlich bin. Hemingway sagt, wer eine Botschaft hat,

soll zum Telegrafenamt gehen. Nun gibt es keine

Telegrafenämter mehr… Es ist eine Geschichte – genau wie die

Geschichte der gemeinsam Weihnachten feiernden deutschen

und englischen Soldaten im Ersten Weltkrieg –, die wenn sie

nicht stimmt, so ist sie doch gut erfunden. Die natürlich ein

Lichtlein in einem selbst anzündet. Man will ja an das Gute im

Menschen glauben, inmitten dieses Infernos. Und eigentlich ist

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es eine Urerzählung: Wenn wir uns zurück erinnern an die Ilias,

die einen zehnjährigen Krieg schildert... dann geht es letzten

Endes um die Leiche Hectors. Priamos, der Vater fordert die von

Achill ein. Und der verweigert ihm zunächst diese Leiche. Aber er

wächst dann, Gott sei Dank, über sich hinaus und Priamos erhält

das Recht, diesen geschundenen Leichnam zu holen. Und das

ist das selbe, was diese Geschichte in mir in der Form des

Chirurgen, der Amerikaner und Deutsche behandelt auf dem

Schlachtfeld, auslöst.

84.

Sprecherin: Eine ganze Seite umfasste der Artikel, den Guido Heinen 2001

für Die Welt schrieb. Der Artikel – der seit seinem Erscheinen

frei im Internet zugänglich ist und bei Suchanfragen mit den

Stichwörtern „Hürtgenwald“ und „Stüttgen“ schnell auftaucht,

löste damals wie heute keine Reaktionen aus.

85.

O-Ton Heinen: Sie sind der erste, der mich jetzt, nach 18 Jahren, auf diesen

Artikel anspricht. Es gab eine Reaktion in der Konferenz, wie so

Journalisten sind, am nächsten Tag, Blatt Kritik, gelungen… Aber

es gab nichts.

86.

Sprecherin: Passt Stüttgen wohlmöglich nicht in unser Geschichtsbild?

87.

O-Ton Heinen: Das drängte sich mir damals natürlich auf, dieser Gedanke.

Sagen wir es mal so: ich weiß ja auch gar nicht, ob es unser

Geschichtsbild gibt. Oder ob wir (...) uns nicht der Tatsache

stellen müssen, dass die Geschichte, die von zig Millionen

Menschen erlebt wurde, und erlitten wurde, also ein solcher

Krieg, ein solcher Weltkrieg, natürlich atomisierte

Erfahrungshorizont bedingt. Und vielleicht ist man so damit

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beschäftigt, groß überwölbende Geschichtsbilder, neudeutsch

Narrative zu bedienen, dass das einzelne vielleicht keinen Platz

hat.

Das weiß ich nicht.

Sprecherin: Heinen hat mit Stüttgen auch über die Kriegswahrnehmung des

einzelnen Soldaten gesprochen.

(...)Man darf nie vergessen, dass der Soldat immer nur

Ausschnitte sieht. Und mit diesen Ausschnitten im Herzen und in

der Erinnerung nach Hause geht. Und der Historiker später oder

der Kriegsberichterstatter, der sieht vielleicht größere

Zusammenhänge. Vielleicht auch der General. Aber dieses

Segmentielle … Das war ihm wichtig, und zwar auch vor dem

Hintergrund einer Bescheidenheit. Weil er gesagt hat: naja, ich

konnte auch nicht überall sein. Ich hätte meine Segmente gerne

auch noch 20 km nach Norden und 20 km nach Süden

verlängert. Aber ich hatte eben nur diese Mittel, die es gab.

88.

O-Ton Stüttgen: In diesen Feuerpausen haben deutsche und amerikanische

Sanitätssoldaten und Sanitätspersonal sich gemeinsam und

unabhängig von der jeweiligen Nationalität um die Versorgung

gekümmert und die Verwundeten dorthin gebracht, wo bereits

dafür alles vorbereitet war. Die Amerikaner hatten zum

Abtransport ihre kleineren Panzer bereitgestellt. Und bei uns

waren schon bereits die Bunker vorbereitet und die

Lastkraftwagen, die von dort aus in Gerstungen hier die

Verwundeten zur Urfttalsperre runterbrachten.

So war die Möglichkeit geworden, dass wir etwa so ein paar 100

Schwerverwundete in kürzester Zeit aus dem gesamten

Feuerbereich des Hürtgenwaldes evakuieren (...) konnten.

89.

Sprecherin: Heinen hat mit Stüttgen darüber gesprochen, wie

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die Erfahrungen der Soldaten nach dem Krieg zur

Sprache kamen. Ob und wie sie Teil der

Erinnerungskultur wurden.

90.

O-Ton Heinen: Also die Frage sozusagen... wir haben das mal gestreift: Wie

entsteht gemeinsame Erinnerung? Bei den Teilnehmern? Wie

entsteht 50 Jahre später Erinnerung eines Volkes an ein

Ereignis, wenn die Teilnehmer weg sind? Und wie ernst nimmt

man sozusagen die Elemente von oral history? Was in alle

Richtungen mit Problemen behaftet ist. Für mich war die

Begegnung mit Doktor Stüttgen auch die erste Begegnung mit

einer Generation, die ich nicht zu sehr als schweigend

wahrgenommen habe, sondern als nicht gefragt. Ich hatte nicht

das Gefühl, dass meine Großeltern mit mir nicht reden wollten,

abgesehen von den normalen Segmentierungen, Optimierungen

der eigenen Lebenserinnerung, die jeder Mensch, glaube ich,

hat.

Sondern: wir haben nicht gefragt. Und wir haben ihnen zu wenig

Gelegenheiten gegeben, dass wir ihnen zuhören können. Und er

war der erste, mit dem man mal so intensiv reden konnte. Wenn

man sagt, dass ein Tag intensiv ist. Das ist halt die Frage… Er

war so intensiv, weil es eben ein Tag an seiner Mühle, in

seinem Waldstück war. Eben nicht nur am Schreibtisch.

91.

Sprecherin: Auch Dieter Heckmann weist auf Leerstellen in der Erinnerung

hin, die zwangsläufig aufgetreten sind:

92. O-Ton

Heckmann: Die Leute, die ich kennen gelernt habe, die hier

zurückgekommen sind in dieses völlig zerstörte Gebiet... die

Bevölkerung war evakuiert, die ersten kommen zurück März 45.

Und stehen vor dem totalen Nichts. Das müssen Sie auch immer

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jungen Menschen hier erzählen. Die können das einfach nicht

nachvollziehen. Das ist aber auch klar, wenn man es ihnen

nicht erzählt hat. Und die Menschen damals, die zurückkamen

und vor dem Nichts standen. Die hatten nichts zum

Fotografieren, da gab es keinen Bleistift und kein Stück Papier

und die hatten ganz andere Interessen: Aufbau, neues Leben,

dabei ist viel verschwunden. Und von diesen Menschen gibt es ja

kaum noch einen. Wenn Sie jetzt nachrechnen, die sind heute

mindestens 90,95 Jahre alt… Das ist das mindeste…

93. Sprecherin: Steffen Kopetzkys Anliegen ist erklärterweise das

Erinneren – an einen für ihn wesentlichen Aspekt.

94.

O-Ton Kopetzky: Ich hatte den Wunsch, meinen Zeitgenossinnen und

Zeitgenossen darzustellen, unter welchen

Opfern die Amerikaner Deutschland vom Faschismus befreit

haben.

Wir betrachten unser Land, unsere Geschichte als so

selbstverständlich… „Ja, da war der Zweite Weltkrieg, dann

kamen die Amerikaner, dann wurden wir westlich, bekamen eine

Demokratie, die Wirtschaft hat dann irgendwie… Weil wir so toll

sind… Die Wirtschaft hat dann Autos gebaut, wir wurden dann

eine tolle Wirtschaftsmacht“ – das ist alles irgendwie von selbst

gekommen, das war irgendwie selbstverständlich. Und nichts

davon ist selbstverständlich. Dass wir befreit wurden, war die

Leistung von Soldaten der Alliierten, die sich da geopfert haben,

geopfert wurden und an diese Zeit wollte ich erinnern.

95.

O-Ton Heinen: Es war für mich übrigens hinterher ein Auslöser, diese

Begegnung mit Doktor Stüttgen, in dem zentralen

Wehrmachtsarchiv in Wien die Akten meines verstorbenen

Großvaters anzufordern. Was ich übrigens vorher gar nicht

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wusste… Jemand hat mir das erzählt… Sie bekommen die

kompletten Wehrmachtsakten, die sind alle noch da… Von fast

allen, ich glaube 19 Millionen Deutschen Soldaten, die es gab in

diesen sechs Jahren… Und da sehen Sie Marschbefehle,

Zeugnisse, Abläufe und so weiter… Das war sehr, sehr

interessant. Aber das war dann eher eine persönliche

Beschäftigung.

96.

Sprecherin: Wie hat Günter Stüttgen auf Guido Heinens Artikel reagiert?

97.

O-Ton Heinen: Er hat eine Woche später einen ganz kurzen Brief… Eine Karte

geschrieben. Wo er… Wenn ich mich richtig

erinnere, ich habe sie nicht mehr… Er geschrieben hat: „Danke

für diesen Tag. Und dafür, dass dieser Tag für andere jetzt auch

zugänglich ist.“ Das war der Tenor.

Absage

Die den Schrecken des Krieges kennen

Günter Stüttgen und das „Wunder vom Hürtgenwald“

Feature von Thomas Böhm

Es sprachen: Anke Zillich und Tom Jacobs

Ton und Technik: Daniel Dietmann und Oliver Dannert

Regie: Claudia Kattanek

Redaktion: Tina Klopp

Eine Produktion des Deutschlandfunks 2019.