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Feind Im Dunkel

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Die Erkenntnis war bitter: Philip Hasard Killigrew hatte viele Feinde und Neider.

Besonders niederträchtig war der Plan dieses Sir Thomas Doughty, den Seewolf aufs Kreuz zu legen. Und die beiden spanischen Agenten, die ihn mit tödlichem Haß verfolgten, warteten nur auf einen winzigen Fehler, um sich für die Kape­rung der ›Isabella‹ zu rächen.

Hasard merkte es auf Schritt und Tritt: In Plymouth war in dieser Nacht der Teufel los. Er hätte mit der ›Isabella‹ auslau­fen können, und das wäre seine Rettung gewesen.

Aber die Crew leistete sich gerade ein Riesenbesäufnis..

PHILIP HASARD KILLIGREW wurde ›Seewolf‹ genannt, denn er war der Härteste in der Seeräubersippe der Killigrews.

Er machte nicht nur die Küste Cornwalls unsicher. Er segelte über alle alle Meere der Welt, als Seemann so perfekt wie als Pirat. Ihm folgten noch viele Generationen der Seewölfe.

Sie alle waren Kaperfahrer, Eroberer und Entdecker. P. H. Killigrews große Seeabenteuer begannen 1576 an Bord

der ›Marygold‹ - unter dem Kommando von Sir Francis Drake,dem größten Korsaren unter Königin Elisabeth I., der dazu beitrug, daß England zur größten Seemacht der Welt aufstieg.

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Davis J. Harbord

Feind im Dunkel

Seewölfe Band 17

DIE AUTHENTIS CHEN ERLEBNISS E,KAPERFAHRTEN UND SEES CHLACHTEN

DES PHILIP HASARD KILLIGREW

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1.

Die Glocke der Kirche St. Andrews läutete die zweite Mor­genstunde. Ihr eherner Klang wirkte irgendwie beruhigend und signalisierte dem einsamen Mann, daß zumindest der Glöckner zu dieser Stunde noch wach war. Jedenfalls in diesem Teil von Plymouth.

Philip Hasard Killigrew tastete nach der Schnittwunde an sei­nem linken Unterarm. Der Kerl im »Queen’s Hotel« hätte ihn um ein Haar mit dem Messer erwischt. Das der Mann jetzt vielleicht mit gebrochenem Genick unter dem Hotelfenster lag,sollte seine geringste Sorge sein - Hasard hatte ihn und seinen Kumpan schwungvoll durchs Fenster befördert. Und die schö­ne Lady, die ihn auf dem Fest von Sir Thomas Doughty um­garnt und ihm gesagt hatte, sie sei eine Lilie, die man pflücken müsse, hatte kreischend zugesehen. Lilienhaft hatte die Damesich nun wirklich nicht gebärdet. Philip Hasard Killigrew fluchte still vor sich hin und beschleunigte seine Schritte. Ir­gend etwas war hier faul, verdammt faul.

Hatte dieser geschniegelte Doughty seine Hände im Spiel? War die hübsche Lady ein Lockkätzchen gewesen? Hatte er, Hasard, ausgeschaltet werden sollen, damit man ungestört über die Ladung der ›Isabella von Kastilien‹ - seiner Silberprise ­herfallen konnte?

Und wer waren die beiden Männer gewesen, die ihn fast in der Kutsche entführt hätten?

Fragen über Fragen, die im Augenblick nicht zu lösen waren. Nur eins stand fest: Hier im Hafen von Plymouth, wohin er die ›Isabella‹ nach abenteuerlicher Fahrt gesegelt hatte, war sie gefährdeter als im Atlantik. Dort auf der freien See erkannte man einen Feind - hier lauerte er im Dunkel, unberechenbar, unerkannt, unheimlich.

Kapitän John Thomas hätte die Prise übernehmen sollen. Das war die Order von Kapitän Francis Drake gewesen. Aber Kapi­

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tän Thomas, der bereits die Prise ›Santa Cruz‹ nach Plymouth gesegelt hatte, weilte bei seiner Familie in Exeter.

»Mist«, sagte Philip Hasard Killigrew und bog in die Citadel Road ein. Vom Plymouth Sund drang salzige Luft zu ihm, durch die Straßen wehten Nebelschwaden.

Unwillkürlich stoppte Hasard seinen Schritt, als auf einem Dach rechts von ihm der Kampfschrei eines Katers ertönte. Es klang, als greine ein Kind, aber doch war es wilder und erbitte­terter. Ein zweiter Kater krakeelte dagegen an, und im Nu tob­ten die beiden Tiere dort oben im Dunkel fauchend und krei­schend umeinander. Krallen kratzten über Ziegel. Knarzen, Zischen und wieder wildes Fauchen, und dann raste die wilde Jagd über die Dächer. Es war wie ein Spuk.

Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, schüttelte den Kopf und setzte sich wieder in Bewegung. Er mußte an die Katze denken, die ihn damals im Oktober in der ›Bloody Mary‹ vor dem Schlaftrunk Nathaniel Plymsons bewahrt hatte.

Damals! Jetzt ging es auf den Dezember zu. Die zurückliegenden Wo­

chen waren wie Jahre, prall voller Ereignisse, voll Kampf und Tod und Stürmen. Mit einer Galeone - der »Santa Barbara« ­hatte ihn Kapitän Drake zurück nach Plymouth geschickt. Mit ihr hatte der Seewolf die »Barcelona« gekapert. Und beide Schiffe hatte er geopfert, um die ›Isabella von Kastilien‹, die dreißig Tonnen Silber geladen hatte, zu erobern. Und er hatte es geschafft.

Die wilde Reise war zu Ende. Aber die Order Kapitän Drakes war immer noch nicht erfüllt. Und dann waren da noch die spanischen Seekarten der Neuen Welt - ein Schatz, noch kost ­barer als die dreißig Tonnen Silber.

Hasard ging wieder schneller, ein großer, geschmeidigerMann mit breiten Schultern, schmalen Hüften und einem har­ten, verwegenen Gesicht, das älter wirkte, als er tatsächlich war. Einige nannten ihn einen schwarzhaarigen Teufel. Aber

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war der Teufel blauäugig? Es waren eisblaue Augen, die aus dem braungebrannten scharfgeschnittenen Gesicht leuchteten ­blaufunkelnde Feuer, die jäh intensiv grell werden konnten, wenn der Seewolf kämpfte.

Und kämpfen konnte er, dazu hatte ihn Sir John Killigrew, der alte Freibeuter, erzogen. So erzogen, daß er eines Tages seinem Alten und den drei Brüdern auf der Nase herumtanzte. Da hatte er selbst gemerkt, daß er auf Arwenack nichts mehr zu suchen hatte. Es war ihm zu eng geworden. Mochten sich die Brüder weiter von dem Alten tyrannisieren lassen oder sich gegenseitig belauern, wer was von Arwenack erbte - er hattedie Feste der Killigrews über Falmouth längst hinter sich gelas­sen.

Eigenartig war nur, wie leicht ihm das gefallen war … Er bog nach links in die Leigham Street ein, wandte sich

zweihundert Schritte weiter nach rechts in die Hoe-Promenade, überquerte die West Hoe Road und gelangte zu den Pieranla­gen und Kais der Mill Bay.

Der Nebel war dichter geworden. Dicke Watteschwaden trie­ben vom Plymouth Sund heran, kalt, naß, salzig. Der Seewolf brauchte keinen Kompaß, er hatte die Richtung im Kopf. Leichtfüßig ging er über die Western Road und stieß genau auf der Pier, an der die ›Santa Cruz‹ und neben ihr die ›Isabella‹ lagen. Ihre Masten ragten über die Nebelschwaden hinaus. Ihre Rümpfe mit den Aufbauten der Vor- und Achterkastelle waren nur undeutlich erkennbar.

Nebel dämpfte jegliche Geräusche - das wußte der Seewolf. Oder er verzerrte sie, so daß man nie genau heraushören konn­te, aus welcher Richtung sie ertönten. Aber die Stille bei den beiden Galeonen war absolut. Sie wirkten wie Geisterschiffe. Der Posten auf der ›Santa Cruz‹ hätte ihn längst anrufen müs­sen. Entweder schlief er, oder er war unter Deck gegangen.

Hasard schloß beide Möglichkeiten aus. Sein Instinkt sagte ihm, daß er mit etwas anderem rechnen müßte.

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Hier war Gefahr im Verzug. Wenn nur der verdammte Nebel nicht wäre. Lautlos glitt er

auf der Pier entlang, an der die ›Santa Cruz‹ mit ihrer Steuer­bordseite längsseits vertäut lag. Den Festmachern - dicken Trossen aus Kokostauwerk -, die wie mächtige Fußfallen wir­ken konnten, wich er geschickt aus. Am Laufsteg, der Pier und Schiff miteinander verband und schräg nach unten zur Kühl der Galeone führte, verharrte er und lauschte.

Nichts. Nur das Plätschern und Glucksen des Wassers an den Bord­

wänden der beiden Galeonen. Dann teilte sich ein Nebelschwaden und gab den Blick zum

Großmast mit den Nagelbänken frei. Hasard riß die Augen auf. Da lag ein Mann, lang ausgestreckt. Aus einer Kopfwunde

war Blut auf die Planken gesickert und hatte eine dunkle Lachegebildet.

Geduckt schlich Hasard über den Laufsteg. Unter seinem Gewicht knarrte das Holz. Leichtfüßig sprang er auf die Kuhl, federte ab und bewegte sich lautlos zu dem Mann. Einen kur­zen Moment kniete er nieder und tastete dessen Puls. Der klopfte noch, wenn auch ziemlich schwach. Die Kopfhaut, wo den Mann ein ziemlicher Schlag erwischt haben mußte, war aufgeplatzt und geschwollen. Hasard stellte es innerhalb von Sekunden f est. Er würde sich später um den bewußtlosen Mann - anscheinend der Wachtposten der ›Santa Cruz‹ - kümmern. Wichtiger war sein eigenes Schiff.

Leise huschte er zum Schanzkleid an der Backbordseite der ›Santa Cruz‹. Die brusthohen Holzplanken boten eine hervor­ragende Deckung über die Länge des gesamten Mitteldecks. Hinter den Backbordwanten zum Großmast richtete er sich vorsichtig auf und spähte zur ›Isabella‹ hinüber.

Zweierlei sah er: Lichtschein, der aus der Frachtluke der Ga­leone nach oben drang, und die hingestreckte Gestalt des Kut ­

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schers. Er lag neben dem Süll zur Frachtluke. Hasard fluchte insgeheim. Und dann entdeckte er den Mann, der hinter der Luke stand

und zum Vorkastell lauschte. Aus dem Vorkastell erklangen murmelnde Stimme, zwar gedämpft, aber unverkennbar wü­tend. Auch ein Rumoren, als würde Holz herumgeschoben, war nicht zu überhören.

Die Situation war ziemlich klar. Unbekannte hatten die Posten auf der ›Santa Cruz‹ und den

Kutscher auf der ›Isabella‹ ausgeschaltet und waren in den Frachtraum der ›Isabella‹ eingedrungen. Und die Männer des Seewolfs war en im Vorkastell eingesperrt und schienen dabei zu sein, einen Ausbruch zu versuchen. Vielleicht montierten sie die massive Platte der Back ab - des Klapptisches, an dem die Backschaften ihre Mahlzeiten im Vordeck einnahmen.

Immerhin etwas, dachte der Seewolf erbittert. Mit so einer Platte konnte man vielleicht das Schott zum Vorkastell einren­nen. Wenn kräftige Fäuste die Platte gegen das Schott donner­ten, mußte es brechen.

Hasards Blick glitt zu dem lauernden Mann zurück, der sich jetzt in Bewegung setzte und mit vorgehaltener Pistole vier Schritte vor dem Schott stehenblieb.

Und dann feuerte er. Natürlich blieb die Kugel in dem massiven Eichenholz des

Schotts stecken. Hasard hörte die fluchende Stimme Ben Brightons, seines Bootsmanns.

Aus der Luke des Frachtraums tauchte ein Kopf auf. »Ist was?« fragte der Mann in der Luke. »Sie versuchen anscheinend, auszubrechen, diese Hurensöh­

ne«, sagte der Mann mit der Pistole. »Mir wird das hier zu mulmig. Könnt ihr euch nicht etwas beeilen?«

»Halt’s Maul und paß auf!« fauchte der Mann in der Luke und verschwand wieder.

Der Pistolenmann murmelte etwas Unverständliches - sehr

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freundlich klang es nicht - und wandte sich wieder dem Schott zu, während er seine Pistole nachlud.

Hasard schwang sich lautlos aufs Schanzkleid. Er sprang hin­über aufs Schanzkleid der ›Isabella‹, balancierte auf ihm ent ­lang, bis er in die Nähe des Mannes gelangt war, und landete lautlos auf allen vieren auf der Kuhl. Zwei ebenso lautlose Sätze, ein gewispertes »He!«

Als der Mann herumfuhr, explodierte Hasards Faust an seiner Schläfe.

Wo der Seewolf einmal hinschlug, da wuchs kein Gras mehr. Der Mann hatte nicht mehr die Kraft, zu ächzen. Und sein

Seufzer war auch sehr müde. Zugleich knickte er in den Knien ein und kippte vornüber.

Hasard packte ihn noch rechtzeitig am Genick und ließ ihn sachte auf die Planken nieder. Die Pistole steckte er in seinen Gürtel. Hastig durchsuchte er den Mann, fand noch ein Messerund warf es außenbords.

Mit einem Satz war er an der Frachtluke, wuchtete sie hoch, schob sie über die viereckige Öffnung und verkeilte sie. Von innen war sie nicht mehr zu knacken.

Er grinste, als die Kerle im Frachtraum losbrüllten. Eine Faust donnerte innen gegen die Luke.

»Bist du verrückt, Mac?« brüllte eine Stimme. »Was soll der Quatsch? Du kannst uns hier doch nicht einsperren, du Ochse! Los, mach auf!«

»Mac hat sich schlafen gelegt!« rief Hasard zurück. »Ihr könnt jetzt auch pennen.«

»Killigrew?« fragte die Stimme unter der Luke. »Wer denn sonst«, erwiderte der Seewolf. Die Flüche unter der Luke waren ziemlich ordinär. Hasard

lauschte kopfschüttelnd. Wer die Kerle auch immer sein moch­ten, als Gentlemen waren sie nicht anzusprechen. Aus der Gat ­tung der Galgenvögel, entschied er und kümmerte sich nicht weiter um sie, denn aus dem Vorkastell dröhnte die Stimme

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Ben Brighton fiel ihm fast um den Hals.

Ben Brightons. »Das war der Seewolf, Männer! Ich hab seine Stimme ganz

deutlich gehört!« Worauf du dich verlassen kannst, dachte Hasard. Er stieß den

Pistolenmann mit dem Fuß an. Der rührte sich nicht. Mit ein paar Schritten war er am Schott zum Vorkastell und entriegelte es.

»Na, na«, sagte Hasard mißbilligend. »Ihr habt euch, scheint’s, ganz schön aufs Kreuz legen lassen.«

Ben Brighton schnaufte. »Nach dem Branderangriff dachte ich, jetzt sei Ruhe …«

»Branderangriff? Bist du verrückt?« fragte Hasard überrascht. Seine Männer umringten ihn und redeten durcheinander. »Nun mal langsam«, sagte Hasard, »eins nach dem anderen.

Kümmert euch um den Kutscher und um den Posten drüben auf der ›Santa Cruz‹. Und fesselt diesen Kerl hier. Die anderen sitzen im Frachtraum fest. Schlagt noch Ketten über der Luke an, falls sie versuchen sollten, auszubrechen. So, Ben, was ist mit dem Branderangriff?«

Der Bootsmann räusperte sich. »Ferris hat ihn im Alleingang abgewehrt - vor etwa drei

Stunden. Das Ding trieb brennend auf uns zu, als er gerade mit dem Beiboot und ein paar Bootsgasten um die ›Isabella‹ her­umpullte, um nachzusehen, ob alles klar sei. Dann entdeckten sie den Brander und pullten wie die Verrückten auf ihn zu. Ferris, dieser arme Irre, enterte alleine auf den brennenden Kasten, schlug mit der Axt die Bootsplanken zu Kleinholz und brachte den Brander zum Absaufen. Er sprang von dem bren­nenden Schiff, und das Beiboot nahm ihn auf. Und dann soff er

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sich hier die Hucke voll …« Hasard blickte sich um und unterbrach ihn: »Wo steckt der

Höllenhund?« »In der ›Bloody Mary‹«, sagte Ben Brighton und schien etwas

schuldbewußt. »Ich konnte ihn nicht zurückhalten. Schließlich hatte er sich den Landgang verdient - ich meine, nach allem, was er für die alte ›Isabella‹ bisher getan hat. Und dann dachte ich, daß für die Nacht eigentlich Ruhe sein müßte. Vor etwa einer Stunde wachte ich von einem Schrei des Kutschers auf. Ich hatte ihn als Posten aufziehen lassen. Bevor ich am Schott war, wurde es dichtgerammelt. Genauso verriegelten sie dasSchott zum Galionsdeck. Wir saßen so richtig in der Falle - bis du kamst.«

»Habt ihr feststellen können, wer den Branderangriff gefah­ren hat?«

Ben Brighton schüttelte den Kopf.»Als Ferris enterte, war niemand mehr an Bord des Bran­

ders.« Hasard zerbiß einen Fluch. Er blickte seinen Bootsmann viel­

sagend an. »Vor etwa einer Stunde versuchten zwei Kerle im Queen’s

Hotel, mich ins Jenseits zu befördern. Ihr Lockvogel war eine prächtige Lady.«

Er grinste auf seine Art, vor der es einem Teufel grausen konnte.

»In ihrer Suite fielen sie über mich her …« »Und?« fragte Ben Brighton bestürzt. »Sie flogen durchs Fenster auf die Straße«, sagte Hasard. »Und die Lady?« »Die schrie, als hätte sie Feuer unter dem Rock, dieses Lu­

der.« »Doughty«, sagte Ben Brighton. »Dahinter steckt dieser ver­

dammte Doughty. Der hat die Lady auf dich gehetzt, klarer Fall …«

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»Das ist irgendwie sinnlos«, unterbrach ihn Hasard und schüt ­telte den Kopf. »Der Branderangriff! Was ist mit dem Brande­rangriff? Was hätte Doughty davon gehabt, wenn er gelungen wäre? Die ›Isabella‹ wäre mit der Silberladung verbrannt und auf Tiefe gegangen. Nein, Ben, da sind andere Zusammenhän­ge. Doughty, so scheint mir, ist ausschließlich an der Ladung der ›Isabella‹ interessiert. Und irgend jemand anderes legt es darauf an, die ›Isabella‹ zu vernichten - und mich auch.«

»Kapier ich nicht«, sagte Ben Brighton ratlos. Er nickte zur Frachtluke hin. »Und die Kerle dort?«

Hasard zuckte mit den Schultern. »Wir lassen sie schmoren.« Er überlegte einen Moment. Dann

sagte er: »Ferris ist in der ›Bloody Mary‹?« Ben Brighton nickte. »Als er loszog, hatte er schon ganz schön einen sitzen. Er sag­

te, er wolle beim dicken Plymson einen auf die Pauke hauen.« Hasard seufzte. »Auch das noch. Ist jemand von unseren

Männern bei ihm?« Er blickte sich um. »Wo steckt Dan O’Flynn?«

Ben Brighton trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Der ist auch dabei - und Smoky sowie Lewis Pattern. Hätte

ich sie zurückhalten sollen? Sie hatten Freiwache. Du hattest jeweils vier Männern von der Besatzung den Landurlaub frei­gegeben.«

»Schon gut, Ben. Ich reiß dir ja nicht den Kopf ab. Aber in­zwischen ist mir klar geworden, daß Plymouth für die ›Isabel­la‹ und uns kein sehr friedlicher Hafen ist. Seit wir eingelaufen sind, passiert mir hier zuviel.« Er blickte zur Luke hinüber, wo sich Blacky um den Kutscher bemühte. »Moment, Ben, wir sprechen gleich weiter.«

Blacky richtete den Koch der Crew auf und stützte ihm das Kreuz. Der Kutscher schielte ziemlich unglücklich zu Hasard hoch.

Hasard grinste und kniete nieder. Mit flinken Fingern unter­

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suchte er die Kopfwunde. Es war wie bei dem Posten drüben auf der ›Santa Cruz‹ - die Haut war geplatzt, die Schlagstelle verschwollen.

Hasard grinste immer noch. »Soll ich dich zu Sir Freemont bringen lassen?« Bei Sir Freemont - einem Arzt in Plymouth - war der blessier­

te Mann angestellt gewesen, bevor er mit Gewalt auf Drakes ›Marygold‹ rekrutiert worden war. Hasard hatte ihn dann in seine Crew übernommen. Sie nannten ihn alle den »Kutscher«, weil er nie seinen Namen gesagt hatte. Zuerst hatte er die See­fahrt verflucht, aber allmählich waren ihm Seebeine gewach­sen, und er hatte eine Aufgabe, die von ihm hingebungsvoll wahrgenommen worden war.

Über schlechten Fraß hatte sich jedenfalls noch keiner der Männer des Seewolfs beklagt.

Jetzt blickte er fast entsetzt zu Hasard hoch und geriet insStottern.

»Willst - willst du mich wegschicken, Sir?« Auch Blacky, der sich zu einer Art Beschützer für den Kut ­

scher ernannt hatte, sah ziemlich betreten aus. Er war ein kräf­tiger Kerl mit harten Fäusten. Wer seinen Kutscher attackierte, kriegte es mit ihm zu tun - wie Donegal Daniel O’Flynn, der ständige Raubzüge auf die Kombüse unternahm, um etwas gegen seinen unstillbaren Hunger zu tun.

Hasard lächelte die beiden an. »Aber nein, wer spricht denn von wegschlicken? Ich meine

nur, daß dich Sir Freemont vielleicht verarzten sollte.« Der Kutscher stützte sich auf Blacky und stand mit wackligen

Knien auf. »Mach ich selbst«, sagte er und versuchte, sehr tapfer auszu­

sehen. »Ich regle das«, sagte Blacky sehr resolut. »Ich wasch ihm

die Rübe und verbinde sie. Einen ordentlichen Verband kriegt er verpaßt, das verspreche ich dir, Sir.«

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In Hasard stieg leise Wut hoch. Immer wieder dieses verdammte »Sir«. Er konnte das nicht

mehr hören. Gut, sie hatten ihn als Kapitän anerkannt, aber auf »Sir« konnte er verzichten.

Er funkelte den Kutscher an. Irgendein Ventil brauchte er. »Deine Wunde ist am Hinterkopf, Kutscher. Wo hast du ge­

standen, als du sie verpaßt kriegtest?« Der Kutscher schrumpfte wieder zusammen. Mit einer

schwachen Handbewegung deutete er zur Nagelbank des Großmastes.

»Da.« »Hab ich mir gedacht«, sagte der Seewolf bissig. »Stell dich

das nächstemal so hin, daß dich keiner von hinten anfallen kann. Diese Regel gilt für jeden Kampf, verdammt noch mal. Außerdem - hast du nicht gehört, wie sie den Posten auf der ›Santa Cruz‹ flachgelegt haben?«

»Nein, da - da war es schon zu spät. Ich hörte zwar was, aber im selben Moment explodierte mein Kopf.«

Batuti, der schwarze Herkules, rückte heran und zeigte sein weißes Gebiß. Seine rechte Pranke hielt den bewußtlosen Pis­tolenmann am Genick gepackt. Der Kerl hing wie leblos in seiner Faust. Batuti schlenkerte ihn wie eine Stoffpuppe.

»Wohin mit dem Bastard?« fragte er. »Sperr ihn in die Vorpiek und schnür ihn ordentlich zusam­

men, klar?« »Wie Paket?« »Wie Paket«, sagte Hasard. Batuti nickte, fletschte die Zahne und verschwand zum Vor­

deck. Den bewußtlosen Mann hielt er mühelos leicht von sich abgespreizt. Hasard blickte ihm nach und sah den geschmeidi­gen Gang des Negers. Der wiegt zehn Bullen auf, dachte er.Dann nickte er Blacky zu.

»Verarzte den Kutscher. Dann halte dich klar. Wir gehen noch einmal an Land. Du, Batuti und Pete.

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Sag ihnen Bescheid.« »Aye aye.«

Blacky schleppte den Kutscher in die Kombüse. Kurz darauf flammte dort Licht auf.

Ben Brighton trat auf Hasard zu. »Was hast du vor?« »Sofort auszulaufen«, erwiderte Hasard. »In diesem stinkigen

Hafen bleibe ich keine Minute länger, als nötig ist. Gib an die Manner Waffen aus, Ben. Dann möchte ich, daß die ›Isabella‹ seeklar gemacht wird. Inzwischen hole ich Ferr is und die drei anderen aus der ›Bloody Mary‹.

Batuti, Blacky und Pete werden mich begleiten. Sobald wir sie an Bord verfrachtet haben, verlassen wir Plymouth.«

»Und wohin?« »Nach Falmouth.« Hasard räusperte sich. »Mein Alter ist

zwar ein krummer Hund und meint, ich sei der Enkel von des Teufels Großmutter, aber wenn ich irgendwo Schutz finde, dann im Hafen der Killigrews. Wenn der Alte hört, daß mir eine Prise von Kapitän Drake untersteht, kriegt er sowieso ei­nen Schlaganfall.« Hasard grinste. »Vor Francis Drake hat er einen unheimlichen Respekt. Ich kann dir nicht sagen, wie ich mich freue, sein dämliches Gesicht zu sehen, wenn wir einlau­fen.«

»Hm«, sagte Ben Brighton. »Und was ist mit Kapitän Tho­mas? Sollten wir ihn nicht benachrichtigen, daß wir nach Fal­mouth ausgelaufen sind?«

»Nein«, entschied Hasard. »Wir brauchen jeden Mann hier an Bord, Ben. Außerdem will ich nicht, daß irgend jemand erfährt, wohin wir die ›Isabella‹ bringen. Unsere unbekannten Gegner

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könnten einen Boten abfangen und ihn zu einer Aussage zwin­gen. Soll ich ein solches Risiko eingehen? Niemals.

Wir können Kapitän Thomas auch von Falmouth aus benach­richtigen. Die Nachricht dauert dann eben etwas länger als von hier aus. Jedenfalls halte ich es für das Richtigste, aus Plym­pouth so schnell wie möglich zu verschwinden - und zwar für alle mit unbekanntem Ziel. Nur so haben wir eine Chance, die Silberladung entweder Kapitän Thomas oder Kapitän Drake unbeschadet zu übergeben.«

»In Ordnung«, sagte Ben Brighton. »Ich glaube, diese Ent ­scheidung ist richtig. Gut, ich werde inzwischen die alte Tante›Isabella‹ seeklar machen zu lassen. An sich brauchten wir nur noch Proviant und Trinkwasser, aber das können wir auch noch in Falmouth erledigen.«

»Das holen wir uns beim alten John«, sagte Hasard, und so wie er es sagte, klang es ganz danach, als habe der Seewolfvor, den Alten ordentlich zu rupfen, natürlich, ohne einen Pen­ce dafür zu bezahlen.

Ben Brighton grinste. »Du reibst dich wohl gern an dem alten Sir John, wie?« »Und ob. Lern ihn erst mal kennen, diesen alten Gauner. Er

ist geizig, tyrannisch und mit hundert schmutzigen Wassern gewaschen.«

»Hoffentlich probiert er diese schmutzigen Wasser nicht bei uns aus«, sagte Ben Brighton skeptisch.

»Keine Sorge« - der Seewolf kniff ein Auge zu -, »ich habe bei ihm gelernt, Ben!«

2.

Eine Viertelstunde später zogen die vier Männer los. Hasard schärfte Ben Brighton noch einmal ein, niemanden an Bord zu lassen, die ›Isabella‹ wie eine Festung zu bewachen und vor

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allem auf die Kerle im Frachtraum aufzupassen. Die hatten anfangs noch Lärm geschlagen und gedroht, das verdammte Schiff anzubohren, aber da hatte ihnen der Seewolf seelenruhig erklärt, das sollten sie getrost tun - wenn sie Lust hätten, abzu­saufen. Er jedenfalls würde keinen Finger krümmen, sie her­auszuholen. Von da an war Ruhe im Frachtraum gewesen.

Der riesige Batuti, den nur noch Philip Hasard Killigr ew ü­berragte, der breitschultrige Blacky, der Draufgänger Pete Bal­lie, Rudergänger an Bord der ›Isabella‹, der Fäuste so groß wie Ankerklüsen hatte, und schließlich der Seewolf. Diese vier Männer würden - wild genug waren sie - die Hölle mit einem Eimer Wasser angreifen. Das war keine leere Redensart. Sie alle konnten kämpfen, sie hatten es mehr als einmal bewiesen.

Die See spuckte nur die Lauen aus und spülte sie wieder an Land - wenn überhaupt. Wen die See aber nicht zerschlagen hatte, den konnte überhaupt nichts zerschlagen. Die See wardas Maß, Männer auf die Probe zu stellen. Jeder einzelne von ihnen war mehr als einmal auf die Probe gestellt worden - und hatte bestanden.

Ihr Ziel, die Kneipe des feisten Nathaniel Plymson mit dem beziehungsreichen Namen ›Bloody Mary‹, war nicht allzuweit von dem Liegeplatz der beiden Galeonen entfernt. Die Kneipe lag genau an einer Ecke, an der Millbay Road und St.Mary Street zusammenstießen.

Als sie am Hafenbecken entlang in die Millbay Road einbo­gen, lösten sich hinter ihnen aus einem verfallenen Gemäuer, in dem einmal Frachtgut gestapelt worden war, zwei Gestalten und folgten ihnen lautlos und in einem sicheren Abstand. So, wie sie es taten, verrieten sie eine gewisse Routine - Dunkel­männer, die genau wußten, wie man bei Nacht und Nebel eine Beute verfolgt.

Keiner der vier Männer bemerkte sie. Hasard verhielt vor der ›Bloody Mary‹ und lauschte. In der

Kneipe war es merkwürdig still, zu still für Nathaniel Plymsons

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Giftbude, in der andalusischer Wein aus geschenkt wurde, der den Zecher nach spätestens einer Minute ins Reich der Träume beförderte - und meist dann an Bord eines Schiffes.

Der feiste Plymson handelte mit menschlicher Ware wie ein Pferdehändler mit Gäulen.

Daß Ferris Tucker, der riesige Schiffszimmermann, in der ›Bloody Mary‹ auf die Pauke haute, wie er verkündet hatte, davon konnte schon gar nicht die Rede sein.

Der Seewolf winkte seinen Männern, stieg die paar Stufen hinunter und stieß die massive Tür zürn Schankraum auf.

Ruckartig wandten sich ihm alle Köpfe zu. Die Öllampen blakten, die Kerzen auf den Tischen flackerten.

Mit einem Blick übersah Hasard die Situation. Der dicke Lewis Pattern, Segelmacher auf der ›Isabella‹, lag,

anscheinend bewußtlos, neben einem umgestürzten Tisch. Fer­ris Tucker, Smoky und Donegal Daniel O’Flynn standen mitdem Rücken an der Wand. Sie hatten Stuhlbeine in den Fäus­ten.

Noch einer stand bei ihnen, als gehöre er dazu. Hasard kniff die Augen zusammen. Das war ja jener Mann, den er damals bei der Schlägerei vor der ›Bloody Mary‹ durch ein Fenster befördert hatte. Er hatte zur Preßgang der ›Marygold‹ gehört ­richtig, Tom Smith war der Name. Er war nach dem unfreiwil­ligen Flug nicht wieder an Bord zurückgekehrt. Aber jetzt stand er bei den drei anderen, hatte ebenfalls ein Stuhlbein in der Faust und grinste glücklich, wieder bei der Crew zu sein.

Auch Ferris, Dan O’Flynn und Smoky grinsten, dabei hatten sie weiß Gott keinen Anlaß, fröhlich zu sein. Aber sie grinsten wohl, weil sie ihren Seewolf sahen, der sie, das war sicher, aus dem Schlamassel herausholen würde, in dem sie steckten.

Denn sie waren von fünf Männern eingekreist, und zwei die­ser Männer hatten Pistolen in den Fäusten. Zwei Pistolen gaben zumindest zwei Löcher, daran würden auch vier Stuhlbeine nichts ändern können.

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Die übrigen Zecher in der ›Bloody Mary‹ saßen wie Salzsäu­len auf ihren Stühlen oder hatten sich zur Seite gedrückt. Zu­mindest verhielten sie sich neutral.

Das Bild wechselte jäh, als die Sekunden der schweigendenÜberraschung von einem Ächzen unterbrochen wurden.

Hasards Blick wanderte mißbilligend zur Theke, an deren Platte sich Nathaniel Plymson, der Wirt der ›Bloody Mary‹, krampfhaft festzuhalten versuchte.

Nathaniel Plymson hatte auf seiner Glatze keine schmierige, schwarzhaarige Perücke mehr - die war in der Straßenschlacht im Oktober vor der ›Bloody Mary‹ in Fetzen gegangen. Er trugjetzt eine rothaarige Kopfzierde, und wenn er damals mit der schwarzhaarigen Haarpracht wie die Großmutter einer Krake ausgesehen hatte, so ähnelte er jetzt einem mißlungenen Fuß­abtreter.

Nathaniel Plymson stammelte, die Augen weit aufgerissen: »Der - der Seewolf!«

Die Zecher fuhren ruckartig von ihren Stühlen hoch, schieres Entsetzen auf den Gesichtern, und strebten im eiligen Gänse­marsch zur Tür.

Hasard wich höflich zur Seite und hielt ihnen die Tür auf. Als der letzte Zecher verschwunden war, knallte er sie dicht und schlenderte zur Theke. Der schwarze Herkules, Blacky und Pete Ballie folgten in seinem Kielwasser.

Die fünf Kerle glotzten mit Kuhaugen. Sie standen plötzlich zwischen zwei Fronten - zwischen den

vier grinsenden Männern mit den Stuhlbeinen in den Fäusten und vier anderen Männern, die anscheinend waffenlos waren, aber so freundlich wie hungrige Haie aussahen.

Hasard blickte den feisten Wirt scharf an, lehnte sich an die Theke und sagte über die Schulter: »Meine drei Männer undich erhalten einen Whisky, keinen andalusischen Schlaftrunk, wohlgemerkt.«

Der feiste Plymson ächzte wieder. Dann schluckte er sehr laut

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und sagte: »Sehr wohl, Sir.« Hasard musterte die fünf Männer und sagte: »Na?« Er sagte es sehr gemütlich, und dennoch klang es so, als klirre

Stahl. Die beiden Kerle mit der Pistole schwenkten ihre Waffen auf ihn zu.

»Gott o Gott«, flüsterte Nathaniel Plymson hinter Hasard. »Red nicht und schenk ein«, sagte Hasard ungerührt. Er lauschte, wie hinter ihm der feiste Plymson eine Flasche

entkorkte, sie auf den Tresen stellte, mehrere Gläser daneben aufbaute und einzuschenken begann. Da plätscherte eine ganze Menge daneben.

Die ganze Zeit hielt Hasard die beiden Pistolenmänner im Auge. Ferris Tucker schwenkte indessen sein Stuhlbein und warf einen fragenden Blick auf den Seewolf.

»Noch nicht, Ferris«, sagte Hasard. Die beiden Pistolenmänner ruckten wieder herum. Zwischen

zwei Fronten war es immer ungewiß, wohin man eigentlich mit der Waffe zielen sollte. Die drei anderen Männer kapierten überhaupt nichts mehr. Sie waren zwar auch Galgenvögel, aber bei ihrer Geburt hatte niemand für ihren Verstand gebürgt. Wie Puppen drehten sie einmal ihren Kopf zur Theke und dann wieder zu den vier Männern an der Wand. Und dabei glotzten sie wie Kälber in einer Mondnacht.

Gefährlich waren nur die beiden Pistolenmänner, das erkann­te Hasard. Er lächelte freundlich, langte hinter sich und nahm eins der Glaser, ohne hinzusehen.

»Bedient euch«, sagte er zu seinen drei Mannern, »Mister Plymson spendiert ihn uns - nicht wahr, Mister Plymson?«

»Ja - jawohl, Sir.« Dicke Schweißperlen glänzten auf der Stirn Nathaniel Plymsons. Ihm war machtig warm. Er nahm die rothaarige Perücke ab und strich sich über die feuchte Glatze.

»Zum Wohl, Männer«, sagte Hasard und kippte seinen Whis­ky hinunter. Vorsichtig setzte er das Glas ab und blickte dann seinen Schiffszimmermann an. »Nun erzähl mal, Ferris. Woll­

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ten euch diese schrägen Vögel hier ärgern?« »Ha«, sagte der riesige Ferris Tucker, »Lewis hat mit den

Gaunern ein bißchen gewürfelt. Plötzlich haben sie ihm eins über den Schädel gezogen und behauptet, er spiele falsch. Ist das vielleicht ‘ne Art? Und dann sind sie auf uns losgerückt. Erst dachte ich, sie waren genauso scharf auf eine ordentliche Keilerei wie wir, aber da zauberten diesen beiden bösen Buben da plötzlich ihre Pistolen hervor.« Er deutete mit dem Stuhl­bein nach links zu dem einen Pistolenmann, der Hasard gege­nüberstand. »Dieser Kerl sagte, wir sollten unsere Zeche be­zahlen und mitkommen.«

»Mitkommen?« fragte Hasard verblüfft. »Wohin denn?« »An Bord der ›Isabella‹, erwiderte Ferris Tucker. »Er be­

hauptete, unsere ganze Crew sei schon matt gesetzt. Stimmt das?«

Hasard grinste seine drei Männer an, mit denen er in die Schankstube gezogen war.

»Sind wir matt, Leute?« »Nicht die Bohne«, sagte Pete Ballie und grinste ebenfalls.

»Vielleicht verwechselt uns dieser Mensch mit den Kerlen, die jetzt im Frachtraum matt sind.«

»Glaub ich auch«, sagte der Seewolf und blickte den Kerl an, der wie ein Clown aussah, allerdings ein gefährlicher Clown.

Seine Knollennase und der rote Kirschmund wirkten zwar recht gemütlich, aber die kalten, f ast leblosen F ischaugen warnten den Seewolf, diesen Kerl zu unterschätzen.

»Ja, so ist das nun mal«, sagte er zu dem Clown sehr freund­lich und höflich. »Die neugierigen Knaben, die auf unserer Galeone herumschnüffeln wollten, haben wir im Frachtraum eingesperrt. Gehören sie zu euch, mein Freund?«

»Ich versteh immer Veilchen«, sagte der Kerl mit den Fisch­augen.

»Dann mußt du deine Ohren mal waschen, mein Freund«, sagte Hasard. »Von Veilchen war nicht die Rede.«

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Ein maunzender Laut erklang. »Ah, mein Kätzchen«, sagte Hasard und schaute nach rechts. Um die Theke tigerte jene graue Katze - linkes Ohr zerfled­

dert und vernarbt, den Schwanz steil aufgerichtet -, die ihn im Oktober vor Nathaniel Plymsons andalusischem Schlaftrunk bewahrt hatte. Sie strich um seine Beine, rieb ihren Kopf an seiner Hose und schnurrte.

Nathaniel Plymson beugte sich über den Tresen, sichtlich wü­tend.

»Laß das, Theodora«, sagte er. »Komm hierher!« Theodora hatte wie alle Katzen ihren eigenen Kopf. Sie straf­

te Nathaniel Plymson mit Nichtachtung, und das hätte Hasard an ihrer Stelle auch getan.

Er bückte sich und nahm Theodora vorsichtig auf. Sie ku­schelte sich an seine Brust, schloß die rätselhaften Augen, und als Hasard sie hinter den Ohren kraulte, schnurrte sie eine Ok­tave tiefer, behaglich, satt und zufrieden.

Es war ein friedliches Bild. »Zur Sache«, sagte Hasard und streichelte Theodora weiter.

»Unser Freund, der immer Veilchen versteht, wollte euch also gewissermaßen auf die ›Isabella‹ verschleppen, Ferris, so war’s doch, nicht wahr?«

»Genau«, sagte Ferris Tucker. »Und was sagst du dazu, mein Freund?« fragte Hasard den

Fischäugigen. Der schien zu einem Entschluß gelangt zu sein. Er winkte mit

der Pistole Hasards Männern zu. »Ihr könnt abhauen, wir tun euch nichts.« Dann blickte er mit

seinen Fischaugen Hasard an. »Du bleibst hier. Du heißt doch Killigrew - wie?«

Anscheinend dachte er, Hasards Männer wurden mit Freuden die Flucht ergreifen. Die aber blieben stehen und grinsten nur.

»Haut ab!« zischte der Fischäugige wütend. »Du verkennst die Situation, mein Freund«, sagte Hasard.

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»Nicht du gibst hier die Kommandos, sondern ich. Außerdem sitzt ihr ganz schön in der Klemme. Nach zwei Seiten kann man nämlich nicht kämpfen. Und dann habe ich etwas dage­gen, daß einer meiner Männer so mir nichts dir nichts nieder­geschlagen wird, weil er angeblich beim Spiel betrogen hat. Eher wart ihr wohl darauf aus, das Kräfteverhältnis ein wenig zu euren Gunsten zu verändern. Damit ist es aber nichts. Es steht jetzt acht zu fünf, mein Freund. Ich würde also an deiner Stelle davon absehen, hier das Maul aufzureißen oder gar ein Tänzchen zu wagen.«

Der fischaugige Clown hob die Pistole.»Du vergißt was, Killigrew! Das hier! Mit dem Ding schieße

ich auf zwanzig Schritt Entfernung eine Kerzenflamme aus.« »Zeig’s mal«, sagte Hasard freundlich. »Ich bin doch nicht blöd«, sagte der Fischäugige. »Aber ich

könnte dir zum Beispiel eine Kniescheibe zerschießen.« »Ein wirklicher Menschenfreund«, sagte Hasard und kraulte

Theodora. Er blickte zu Dan O’Flynn hinüber. »Dan, weißt du, was ich vorhabe?«

Der Junge grinste. »Ich kann’s mir denken.« »Wirst du schnell genug sein?« »Klar«, sagte Dan O’Flynn. »Was soll das?« fuhr der Fischäugige dazwischen und fuch­

telte wild mit der Pistole. »Klar Schiff zum Gefecht!« rief Hasard und warf Theodora

mit einem blitzschnellen Schwung dem Fischaugigen ins Ge­sicht. Sie flog mit gespreizten Krallen auf den Kerl zu, schlug sie in seine linke Wange und das rechte Ohr, schnellte im Schwung hoch auf seinen Kopf, furchte seine Kopfhaut mit den dolchspitzen Krallen - und dann war in der ›Bloody Mary‹ der Teufel los.

Dan O’Flynns Stiefel krachte unter die Pistolenhand des an­deren Pistolenmannes, und die Pistole flog in hohem Bogen durch den Schankraum.

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Hasard schlug mit der Faust zu. Er hämmerte sie dem Fisch­äugigen aufs Handgelenk, und die Pistole klirrte zu Boden. Hasard beförderte sie mit dem Stiefel unter irgendeinen Tisch.

Zu dieser Zeit war der Fischäugige bereits drauf und dran, verrückt zu werden. Denn Theodora turnte auf seinem Kopf herum und versuchte, ihre Position zu halten, was nicht leicht war, weil er den Kopf hin und her warf, mit den Händen nach ihr griff und wie am Spieß dazu brüllte. Seine Haarbüschel flogen mitsamt daranhängenden Hautfetzen durch die Gegend. Theodora fauchte und biß und kratzte. Sie verteilte saftige Hie­be auf die Hände, die nach ihr griffen, und war kräftig dabei,Kopf und Gesicht des Fischäugigen in rohes Hackfleisch zu verwandeln.

Zur selben Zeit hatte sich Batuti einen der fünf Kerle gegrif­fen, drehte ihn in der Luft um und rammte ihn mit dem Kopf voran einmal kurz und ruppig gegen den Tresen.

Nathaniel Plymson stand dicht vor einem Ohnmachtsanfall. Batuti ließ los, und der Kerl klatschte wie ein Mehlsack zu

Boden. Dan O’Flynns Pistolenmann rannte in eine krachende Rechte

von Ferris Tucker, der ihn umeinandertrieb und zu Pete Ballie beförderte, der ihn mit einem Kopfstoß abfing, ihm die Anker­klüse von Faust in den Magen jagte und mit diesem Hieb zu Smoky hinüberkatapultierte, der den zusammengekrümmten Mann mit einem wuchtigen Haken wieder aufrichtete - aber nur künstlich, denn zwei Sekunden später fiel er einfach um, weil er in den Beinmuskeln nur noch Sülze hatte.

Zwei Kerle standen noch auf den Füßen, abgesehen von dem verrückt spielenden Fischäugigen, aber der war vollauf mit Theodora beschäftigt, die ihn Stück für Stück skalpierte.

Hasard lehnte an der Theke, griff sich Nathaniel PlymsonsWhiskyflasche, gurgelte mit dem Schnaps und schaute zufrie­den zu, wie seine Männer mit den beiden letzten Kerlen Fang­ball spielten.

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Hinter dem Tresen ging Nathaniel Plymson mit nach oben gedrehten Pupillen ruckweise in die Knie, und als sich Hasard nach ihm umdrehte, saß der Dicke bereits in der Hocke, kippte seitwärts weg und enteilte ins Reich der Alpträume.

Nathaniel Plymson war nicht sehr hart im Nehmen, dabei brauchte er nur zuzusehen. Aber vielleicht hatte ihn seine The­odora entsetzt - und der Anblick des Fischäugigen.

Blutüberströmt wankte er auf Hasard zu. »Zu Hilfe«, flüsterte er. »Ich versteh immer Veilchen«, sagte Hasard ungerührt, lockte

aber dennoch Theodora, indem er einen Napf mit Whisky voll­goß, Theodora vor die Nase hielt und dann den Napf auf den Boden stellte.

Hasard kannte seine Theodora. Mit einem eleganten Satz verließ sie ihre Kampfstätte, landete

vor dem Napf, schnupperte und begann zu schlappern, als seider Whisky reine Sahne.

Der Clown wischte sich das Blut aus den Fischaugen, stierte auf die schlappernde Theodora, wurde unter der blutver­schmierten und zerkratzten Gesichtshaut grün, gurgelte etwas Unverständliches und schlug lang hin.

Theodora zuckte zusammen, fauchte, soff dann aber weiter. »Ja, ja«, sagte Hasard, »der Krug geht so lange zu Wasser, bis

er bricht.« Zwischenzeitlich gingen auch die Laternen für die beiden

letzten Kerle aus. Der eine hing über einem Tisch und spuckte drei Schneidezähne aus. Der andere hatte gerade einen Schwinger von Ferris Tucker eingesteckt und umarmte einen der Pfeiler, die in bestimmten Abständen die Gewölbedecke des Schankraums abstützten. An ihm rutschte er hinunter wie ein müder Frosch, der sich zur Ruhe legt.

»Sehr gut«, sagte Hasard und r eichte Ferris Tucker die Whis­kyflasche. »Hier, stärk dich mal und laß sie ‘rumgehen.«

Ferris Tucker nahm die Flasche in Empfang, grinste breit und

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sagte: »Beim dicken Plymson ist immer was los, wie? Aber kapieren tu ich die Sache nicht. Ich denk, du bist bei dem stink­feinen Doughty? Und was ist mit den Kerlen, die im Fracht ­raum der ›Isabella‹ eingesperrt sind? Gehören die zu dem Kerl hier?«

»Wahrscheinlich. Sie hatten den Kutscher überrumpelt und Ben und die anderen im Vordeck eingeschlossen. Ich hab sie befreien und den Spieß umdrehen können. Und das auch nur, weil ich frühzeitig Doughtys Fest verlassen habe. Dort hatten mich zwei Halsabschneider in die Mangel nehmen wollen, schafften es aber nicht. Wäre es ihnen gelungen, dann würdenjetzt einige Leute damit beschäftigt sein, in aller Ruhe die Sil­berbarren aus der ›Isabella‹ zu entladen. Ihr hättet dabei stören können, also mußtet ihr auch noch aus geschaltet werden. Und das sollten diese fünf Kerle hier besorgen.«

Ferris Tucker pfiff durch die Zähne.»Jetzt kapier ich. Und Ben und ich dachten, mit dem mißlun­

genen Branderangriff heute nacht sei nun endlich Ruhe. Hat Ben dir schon davon erzählt?«

»Hat er. Ich muß mich bei dir bedanken, Ferris.« Hasard lä­chelte. »War wohl mächtig heiß auf dem Teufelskasten, wie?«

»Mann, hatte ich einen Durst hinterher! He, Blacky, laß mir noch was in der Flasche drin.«

»Hinter dem Tresen sind noch mehr Flaschen«, sagte Blacky und blickte Hasard hoffnungsvoll an.

»Versorgt euch«, sagte Hasard. »Dem dicken Plymson scha­det es gar nichts, wenn er ein bißchen gerupft wird. Smoky, kümmere dich um Lewis. Wir brechen gleich auf.«

Ferris Tucker deutete auf Tom Smith. »Er möchte bei uns anheuern.« Die anderen Männer begannen zu grinsen. Tom Smith hatte

ihnen bereits seine Geschichte erzählt. Seinen Flug durch ein Fenster an der St. Mary Street hatte er im Bett der Witwe Abi­gail Adelaide Drummer beendet. Und in dem Bett war er dann

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auch gleich geblieben - zusammen mit der gar nicht so prüden Abigail Adelaide. Und die ›Marygold‹ war ohne ihn ausgelau­fen. Aber jetzt hatte er das süße Leben satt, zumal Abigail Ade­laide ihn unter die Haube kriegen wollte.

Tom Smith starrte Hasard erwartungsvoll an. Er war ein breitschultriger, kräftiger Mann, der mit seiner gebrochenen Sattelnase ziemlich verwegen aussah.

Hasards Blick glitt hinunter zu den Schuhen von Tom Smith. Sie waren neu und aus hellem Rindleder.

Tom Smith sah Hasards Blick und grinste verlegen. »Die hat mir Abigail anfertigen lassen«, sagte er.„Abigail?“ Tom Smith wand sich. »Ja - nun - ich meine … Also Abigail

ist Mrs. Drummer.« »Ach so«, sagte der Seewolf gedehnt. In seinen Augenwinkeln bildeten sich Lachfältchen.»Und war’s schön bei Mrs. Drummer? Hatte ihr Mann nichts

dagegen?« »Sie ist doch Witwe«, erwiderte Ton Smith und schnaufte.

»Und jetzt will sie mich unter die Haube bringen.« »Aber die magst nicht?« »Das Weib macht mich schwach«, sagte Tom Smith erbittert. Hasards Männer brüllten vor Vergnügen. Hasard hatte Mühe, ernst zu bleiben. Das ganze war ja auch

ein Witz. Da flog ein Mann bei einer Straßenkeilerei durch ein Fenster in das Bett einer liebestollen Witwe, versäumte das Auslaufen seines Schiffes, fand für ein paar Wochen die Um­garnungen eines liebendes Weibes gar nicht einmal so übel, aber dann! Dann stank ihm das irgendwo, und irgend etwas zog ihn wieder hinaus auf die See, die er liebte, verfluchte, haßte, die ihn aber nie wieder losließ.

So war das also. Und Tom Smith sah ihn mit bettelnden Au­gen an und trampelte nervös von einem Fuß auf den anderen.

Hasard langte nach der Whiskyflasche und hielt sie ihm hin.

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»Auf eine gute Zeit auf der alten ›Isabella‹«, sagte er nur. Tom Smith griff wie ein Ertrinkender nach der Flasche, setzte

sie an und soff wie ein Loch. »He, he«, sagte Hasard, »der Kapitän ist auch noch da.« Tom Smith verschluckte sich. »Verzeihung, Sir«, murmelte er und reichte Hasard die Fla­

sche. Viel war nicht mehr drin. Hasard trank die Flasche aus und knallte sie mit einem wüs­

ten Wurf gegen einen der Steinpfeiler, daß die Splitter nur so flogen.

»Abmarsch«, befahl er. »Batuti, du nimmst Lewis auf deinen Buckel. Die neue Perü­

cke von Plymson nehmen wir auch mit …« »Und die Kerle?« fragte Ferris Tucker. »Sollen schwimmen lernen«, sagte Hasard, »und sich ein we­

nig abkühlen. Werft sie ins Hafenwasser. Vielleicht kapierensie dann, daß die Männer der ›Isabella‹ für sie ein paar Num­mern zu groß sind.«

Zwei Minuten später klatschten fünf Leiber - schwungvoll angelüftet - in das Wasser der Mill Bay. Sie erwachten sofort zum Leben. Der Kerl, den Theodora skalpiert hatte, schrie am lautesten. Sie planschten, spuckten Wasser, brüllten und ge­bärdeten sich wie eine Rotte von Delphinen. Aber die beweg­ten sich weiß Gott eleganter, wenn sie schwammen oder tauch­ten.

Hasard hatte den Eindruck, daß sich die Kerle im Wasser ge­genseitig verprügelten.

Nun, dagegen war nichts einzuwenden. Nur der fürchterliche Krach stimmte ihn unruhig. Er dachte an die Oktoberschlacht vor der ›Bloody Mary‹.

»Beeilt euch, Männer«, sagte er scharf, »sonst ist hier gleichder Teufel los.«

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3.

Der Teufel war los. Nur fuhr er aus einer unerwarteten Rich­tung aus der Kiste.

Hasard warf sich herum, noch bevor der Schuß durch die Millbay Road peitschte. Er ging hinter seinen Männern und hatte nur ein leises Knacken gehört, von rechts aus einer dunk­len Nebengasse, die sie gerade passiert hatten.

Instinktiv hatte er sich geduckt. Er sah den roten Mündungsblitz, der auf ihn zuraste, etwas

Glühendes strich an seiner Schulter vorbei, klatschte gegeneine Hauswand, und eine zweite rötliche Flamme zuckte brül­lend auf ihn zu.

Da lag Hasard bereits flach auf den gebuckelten Pflasterstei­nen, und auch dieses Stück Blei klatschte wirkungslos gegen die Hauswand.

Niemand war verletzt. Hasards Manner standen wie erstarrt. Auch sie waren herumgefahren, als die beiden Schüsse fielen ­zwei Schüsse, abgefeuert von zwei Kerlen, die jetzt wie Sche­men davonhuschten.

Bruchteile von Sekunden hatten die Mündungsfeuer die Sze­nerie erhellt. Sie hatten für Hasard genügt, um die beiden He­ckenschützen zu erkennen, die keine Skrupel hatten, einen Mann aus dem Hinterhalt abzuschießen.

Die hagere Gestalt des einen mit dem Raubvogelgesicht und die stämmige Figur des anderen waren unverkennbar gewesen. Es waren die beiden Manner, die ihn in der Kutsche hatten entführen wollen.

Entführen? Auf Mord waren sie aus, und nur sein feines Gehör hatte Ha­

sard davor bewahrt, jetzt zwei Bleiklumpen im Kreuz zu ha­ben.

Als er hochfederte, fegte bereits Donegal Daniel O’Flynn an ihm vorbei und stürmte in die Nebengasse.

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»Zurück, Dan!« schrie der Seewolf. »Es hat keinen Zweck, die Gassen nach ihnen durchzustöbern. Es ist zu dunkel.«

Dan O’Flynn stoppte und drehte sich um. »Diese Hunde!« Über ihnen wurde krachend eint Fensterlade aufgestoßen. Ein

Mann mit einer Zipfelmütze beugte sich aus dem Fenster. Er hielt eine Laterne und leuchtete auf die Straße.

»Ruhe!« brüllte er. »Lumpengesindel! Galgenstricke!« »Halt’s Maul!« schrie Smoky zu ihm hoch. »Kriech zu deiner

Alten unter die Decke, du Warzenschwein!« Er bückte sich, hob einen noch frischen Roßapfel auf und schleuderte ihn zudem Mann im Fenster hoch.

Der Mann zog den Kopf ein. Das - zumindest nicht harte ­Wurfgeschoß flog über ihn hinweg ins Zimmer. Der Mann fiel fast aus dem Fenster, als eine schrille Frauenstimme irgendwo hinter ihm im Zimmer loszeterte. Offensichtlich hatte Smokyeinen Treffer erzielt.

Donegal Daniel O’Flynn kicherte. Hasard blickte Smoky tadelnd an und sagte: »Mußte das sein,

Smoky? Und dann noch mit einem Roßapfel?« »Wir sind kein Lumpengesindel«, sagte Smoky empört. »Auf

dich ist geschossen worden, und dafür quakt uns dieser Kerl da oben auch noch an. Was denkt der sich eigentlich?«

»Spitzbuben!« brüllte der Mann. »Du kriegst gleich noch ‘ne Ladung«, drohte Smoky. Er und Dan O’Flynn bückten sich gleichzeitig nach neuer

Munition. »Laßt das«, sagte Hasard. »Ihr seid wohl verrückt? Los, weiter, zurück an Bord, bevor

die ganze Millbay Road rebellisch wird.«

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Ohne weitere Zwischenfälle erreichten sie den Liegeplatz und bugsierten Lewis Pattern über die ›Santa Cruz‹ auf die ›Isabel­la‹.

»Gott sei Dank«, sagte Ben Brighton, als sie an Bord waren. »Ich hörte vorhin die beiden Schüsse und dachte schon, es hät ­te mit euch was zu tun.«

»Hatte es auch«, sagte Hasard. »Die beiden Kerle, die mich in der Kutsche entführen wollten, waren allem Anschein nach auf einen zweiten Versuch scharf - diesmal hinterrücks. Sie haben aber nur die Luft durchlöchert.«

»Wurde Lewis verletzt?« fragte der Bootsmann besorgt.Batuti trug Lewis Pattern, den Segelmacher, gerade unters

Vordeck. Er hatte ihn wie einen Säugling in beiden Armen. Hasard lächelte. »In der ›Bloody Mary‹ hatten fünf Kerle unsere Männer in der

Zange. Lewis hatten sie bereits einen Schlag auf den Schädelverpaßt. Wir kamen gerade rechtzeitig.«

»Und?« Der Seewolf zuckte mit den Schultern. »Nichts, und! Jetzt schwimmen sie in der Mill Bay. Ich nehme an, daß sie zu den Kerlen gehören, die wir im

Frachtraum haben. Ferris erzählte, die Kerle in der ›Bloody Mary‹ hätten damit angegeben, euch hier matt gesetzt zu ha­ben. Er und die anderen hätten ebenfalls im Schiff eingesperrt werden sollen. Wahrscheinlich wäre die Bande dann darange­gangen, die Silberbarren auszuladen.«

»Und die beiden vorhin, die geschossen haben? Wie passen die ins Spiel?«

»Wenn ich das wüßte«, erwiderte der Seewolf. »Fast glaub ich, die arbeiten auf eigene Faust. Bisher hatten sie es immer nur auf mich abgesehen.«

Ben Brighton erstarrte und blickte über Hasards Schulter. Ha­sard drehte sich um.

»He!« sagte Ben Brighton verblüfft. »Da ist ja mein guter, al­

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ter Tom Smith, der Hundesohn. Wir dachten alle, du wärst damals heimlich abgehauen. Na warte, wenn dich erst mal Ed Carberry zwischen die Finger kriegt. Wo hast du gesteckt?«

»Bei ‘ne aufregenden Witwe«, sagte Tom Smith und kicherte. Er war ganz schön voll mit Whisky. Und die Drohung mit

dem Profos der ›Marygold‹, dem eisenharten Carberry, konnte ihn schon gar nicht erschüttern.

Er grinste. »Die hat mich umgarnt, verstehst du?« »Aha«, sagte der Bootsmann erbittert, »du hast vielleicht

Nerven! Treibst dich bei ‘ner Witwe ‘rum, während wir uns draußen auf See einen abschinden, wie? Ist das noch zu fas­sen?«

»Siebzehn Männer sind besser als sechzehn«, sagte der See­wolf. .Außerdem war ich derjenige, der Tom zu der Witwe verholfen hat - damals, als eure Preßgang mich kidnappte.«

Ben Brighton riß die Augen auf, dann dämmerte es bei ihm.»Richtig - das erzählte ja Pat Evarts. Du hattest Tom aus den Stiefeln und durch ein Fenster katapultiert. Mann! Und da lan­dete er bei ‘ner Witwe?«

»Genau«, sagte Hasard und grinste seinen Bootsmann an. »Was hättest du denn an Toms Stelle getan? Vielleicht die

Flucht ergriffen?« »Nein«, sagte Ben Brighton prompt. »Dann ist ja alles klar«, sagte Hasard. »Also, Tom bleibt bei

uns an Bord, und wenn Ed Carberry wild wird, kriegt er es mit mir zu tun. Und nun Schluß der Debatte. Wir laufen sofort aus. Sag dem Posten drüben auf der ›Santa Cruz‹, wir hätten die Absicht, nach Afrika oder sonstwohin zu segeln, falls er frägt. Mit Kapitän Thomas würden wir uns zu gegebener Zeit in Ver­bindung setzen.« Er schnupperte in die diesige Morgenluft. »Wir gehen unter Fock und Besan ‘raus, Ben. Zuerst die Fock.Wenn die Vorleine los ist, schwingt die ›Isabella‹ herum. Dann laß die Achterleine loswerfen und hoch mit dem Besan, klar?«

»Aye, aye.«

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Und schon dröhnte Ben Brightons Stimme über das Deck. »Klar bei Vor- und Achterleine! Sonst alle Leinen los und

ein! Beeilt euch, ihr Säcke! Gary, ‘ran an die Fock - Smoky, meinst du vielleicht, der Besan kommt von allein zu dir?

Bewegt euch, Männer! Hurtig, hurtig!«

Die ›Isabella‹ zog bei leichtem Südostwind westwärts auf Falmouth zu. Sämtliche Segel waren gesetzt. Der Plymouth Sund lag hinter ihnen, an der Steuerbordseite erstreckte sich die Küste von Cornwall im Dunst des Morgens. Es war feuchtkalt, und der Kutscher, wieder einigermaßen wohlauf und mit einem weißen Verband um den Kopf, fachte mit einem Blasebalg dasHolzkohlenfeuer im Kombüsenherd an, um eine kräftige Fleischbrühe zu kochen.

Donegal Daniel O’Flynn strich wie ein hungriger Wolf um die Kombüse. Den Ausguck hatte der strohblonde Jim Maloney übernommen. Vorn auf der Back klarierte Smoky die Festma­cherleinen. Blacky, Batuti, Al Conroy und Carter setzten die Kuhl unter Wasser und schrubbten die Decksplanken. Pete Ballie hatte das Ruder übernommen.

Hasard starrte achteraus, wo der Hafen vom Plymouth all­mählich von der diesigen Luft verschluckt wurde. Eine Möwe segelte über das Kielwasser, ließ sich fallen und stieg wieder hoch. Ob sie etwas geschnappt hatte, konnte Hasard nicht er­kennen. Er schlug den Kragen seiner Segeltuchjacke hoch und wandte sich um. Sein Blick glitt gewohnheitsmäßig über die Segel. Sie standen gut. Hasard nickte zufrieden.

Im Kombüsenschott leuchtete der weiße Kopfverband des Kutschers auf. Hasard sah, wie er mit dem Kopf vorruckte und Dan O’Flynn giftig anstarrte. Das Bürschchen hatte die Hände

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in den Hosentaschen vergraben, pfiff unmelodisch und blickte angelegentlich in den Himmel.

»Hier wird nicht gepfiffen!« fauchte der Kutscher los. »Das bringt Unglück. Hast du nichts Besseres zu tun, als hier herum­zulungern? Verzieh dich!«

Batuti schaute vom Deckschrubben auf und verspürte mal wieder Beschützerinstinkte.

»Kleines O’Flynn pfeift wie Vogel auf Ast«, erklärte er, »kleines O’Flynn hat Freiwache und kann lungern, was er will. Du schlechte Laune, weil Kopf brummt.«

»Ha!« sagte der Kutscher. »Pfeift wie Vogel auf Ast! Derpfeift eher wie ein zerlöcherter Dudelsack.«

»Was Dudelsack?« fragte Batuti interessiert. »Ein Dudelsack macht Pfeifmusik«, erklärte der Kutscher.

»Wenn du die hörst, rennst du weg, weil du denkst, ein Engel­chen hätte gefurzt, klar?«

»Aha«, sagte Batuti und rollte mit den Augen. »Deine Suppe brennt an«, sagte Donegal Daniel O’Flynn

höhnisch. Der Kutscher fuhr herum und fluchte. Er verschwand in der

Kombüse. Dan O’Flynn feixte und rief: »He, Kutscher! Der Bootsmann

will dich sprechen. Er ist beim Vorratsschapp im Vordeck.« »Mich? Wieso?« Der Kutscher erschien wieder im Kombü­

senschott, eine Holzkette in der Rechten. »Hat er mir nicht gesagt«, erklärte Dan und fügte sehr sanft

hinzu: »Ich kann mich ja solange um die Suppe kümmern und aufpassen, daß sie nicht anbrennt.«

Dan O’Flynn konnte einen umwerfenden Charme entwickeln, wenn er etwas erreichen wollte. Er lächelte voller Unschuld, probierte einen züchtigen Augenaufschlag, seine Füße standenmit den Spitzen zueinander, seine Hände waren fromm gef altet. Er wirkte so harmlos wie ein Dorftrottel.

Hasard hatte vom Achterdeck aus dem Dialog gelauscht. Dan

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O’Flynns Manöver war ein derart fauler Zauber, daß man da­von fast Zahnschmerzen kriegte. Aber der Kutscher fiel darauf herein. Er band hastig seine Schürze ab und reichte sie mit der Holzkelle dem Jungen.

»Immer kräftig umrühren, verstanden?« sagte er. »Verstanden«, erwiderte Dan O’Flynn und band die Schürze

um. Sie reichte ihm bis zum Boden, und er mußte sie anheben, um nicht draufzutrampeln Er schlurfte in die Kombüse, der Kutscher eilte ins Vordeck.

Vom Achterdeck aus konnte Hasard in die Kombüse sehen. Sie befand sich an der Achterkante der Back auf der Back­

bordseite. Dan O’Flynn stand über dem Kombüsenherd ge­beugt und schaufelte mit der Kelle die Suppe in sich hinein.

Hasard lächelte vor sich hin. Wenn der Kutscher sich aufs Kreuz legen ließ, war das seine Sache. Allerdings fraß Dan O’Flynn den anderen die Suppe weg, und das war Mundraub.

»Dan O’Flynn!« donnerte Hasards Stimme über das Deck. Der Junge zuckte zusammen, trat einen halben Schritt zurück

und rührte mit steifem Arm in dem Suppenkessel herum - sehr emsig, wie Hasard feststellte.

Der Kutscher schoß aus dem Vordeck, hochrot im Gesicht. Batuti - wie immer am richtigen Ort zur rechten Zeit - goß ihm eine Putz Seewasser vor die Füße und stoppte so den Vor­marsch.

»Erzähl, wie Leute dudeln«, sagte er sehr freundlich, »wie furzt Sack mit Dudel?«

»Was?« fragte der Kutscher irritiert. Hasard sah, wie Dan O’Flynn Wasser aus einer Kruke in den

Suppenkessel goß, um den gesunkenen Pegelstand wieder aus­zugleichen. Batuti hielt indessen den Kutscher mit seinem Pa­laver auf.

Die beiden sind ganz schon ausgekocht, dachte Hasard. Batuti sagte: »Wie sieht Sackdudel aus?« »Dudelsack, Mann!« sagte der Kutscher giftig. »Nicht Sack­

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dudel. Die verdammten Iren und Schotten …« »Soll ich noch Holzkohle nachlegen?« rief Dan aus der Kom­

büse. »Ich glaube, die Suppe braucht mehr Hitze.« »Kleines O’Flynn guter Koch«, sagte Batuti, »muß bestimmt

noch Hitze unter Suppe.« »Versteh ich nicht«, murmelte der Kutscher. »Die Suppe war

doch schon ganz in Ordnung, als ich zum Bootsmann …« Er brach ab und fuhr herum. »Der Bootsmann war gar nicht beim Vorratsschapp, du Lümmel!«

Dan O’Flynn erschien im Kombüsenschott. »Nicht? Vielleicht hat ihm das Warten zu lange gedauert, o­

der er erledigt inzwischen was anderes, was wichtiger ist.« Dan O’Flynn hatte wieder sein Trottelgesicht auf gesetzt. »Und was ist nun mit der Holzkohle? Soll ich welche nachlegen oder nicht?«

»Natürlich«, sagte der Kutscher, »was denn sonst, wenn dieSuppe noch nicht heiß ist. Laß mal sehen.«

Er trat in die Kombüse, äugte in den Suppenkessel - der war genauso voll wie vorher -, stocherte in der Holzkohlenglut und schüttelte den Kopf.

»Merkwürdig. Ich glaub, die Holzkohle ist schlecht. Danke fürs Umrühren, Dan.«

»Ich helf dir gern, wenn ich kann«, sagte Dan O’Flynn scheinheilig und verließ die Kombüse.

»Du kannst dir nachher einen Nachschlag holen!« rief der Kutscher hinter ihm her.

»Danke«, sagte Dan O’Flynn artig und blinzelte Batuti zu. Der grinste von einem Ohr zum anderen.

»Dan!« rief Hasard vom Achterdeck. »Ja?« »Komm mal her.« »Aye, aye.« Dan O’Flynn stiefelte über die Kuhl und stieg

den Backbordniedergang zum Achterdeck hoch. Er blickte den Seewolf erwartungsvoll an, gemischt mit schlechtem Gewis­

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sen. »Dan O’Flynn«, sagte der Seewolf streng, »das nimmt mit dir

kein gutes Ende.« Dan O’Flynn seufzte abgrundtief. »Ich hab nichts dagegen, daß du einen Extraschlag erhältst«,

fuhr Hasard fort, »aber dann tu auch was dafür und hör auf, den Kutscher zu betrügen. Außerdem beklaust du mit deiner Ver­fressenheit die anderen, denen die gleiche Ration zusteht.

Sollten wir einmal wegen Proviantmangel die Rationen be­messen, und du klaust dann auch, dann garantiere ich dir, daß ich dir den Arsch versohle, wie es dein Alter mit seinem Holz ­bein nie geschafft hat. Ist das klar?«

»Jawohl, Sir«, sagte das Burschen, »aber ich hab immer Hun­ger. Ich versteh das auch nicht.«

»Immer Hunger?« »Ja.« »Heißhunger?« Hasard hatte eine bestimmte Idee. »Und wie«, sagte Dan O’Flynn begeistert. »Hm. Und wird dir immer ganz schlecht vor Hunger - mit

Magengrimmen und leichtem Übelsein?« »Haargenau.« Dan O’Flynn nickte wichtig, und Hasard merk­

te, daß da wohl auch Übertreibung mit im Spiel war.»Hm, hm. Und Magengrimmen und Übelsein sind weg, wenn

du was gegessen hast?« »Jawohl, aber erst, wenn ich nudelvoll bin.« »Tja.« Hasard legte sein Gesicht in ernste Falten wie ein Dok­

tor, der eine Diagnose stellt und dem Patienten nun schonungs­voll den Befund mitteilt.

»Weißt du was, Dan?« »Na?« »Du hast einen Bandwurm!« Das war ein voller Treffer mittschiffs. Dan O’Flynn zuckte

zurück, als habe ihn jemand in den Bauch gepiekt. »Ein - einen Bandwurm?«

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»Klar. Alle Symptome deuten darauf hin.« »Ich hab aber keinen Bandwurm. Ich hab noch nie einen ge­

habt, wirklich.« »Erzähl mir nichts. Hast du vorm Essen Magengrimmen und

Übelsein, oder hast du es nicht?« »Nein - oder doch, manchmal vielleicht, aber nicht immer.« Hasard fixierte den Jungen, der sich da eine Ausrede zurecht

stotterte, und sagte: »Da hilft nur eins.« Dan O’Flynn riß Mund und Augen auf und sah jetzt tatsäch­

lich nach Magengrimmen und Übelsein aus. »Rizinus«, sagte Hasard mit satter Stimme. Er wandte den

Kopf zur Kombüse. »Kutscher!« »Sir?« Der Kutscher hastete aus der Kombüse. Das Schiffsvolk begann sich allmählich zu amüsieren. Pete

Ballie am Ruder, der den ganzen Dialog mitgekriegt hatte, prustete laut los.

Der Seewolf blickte ihn tadelnd an. »Ich weiß gar nicht, was es da zu lachen gibt, Pete.« Er kniff

blitzschnell ein Auge zu. »Hat Dan einen Bandwurm, oder hat er ihn nicht?«

»Er hat einen«, sagte Pete mit dem Brustton der Überzeu­gung, »wahrscheinlich einen ganz langen. Der arme Junge. Klar, daß er immer Kohldampf hat - der Bandwurm frißt ihm ja alles weg. Aber so ein Luder geht nur ab, wenn man ordentlich Rizinus säuft, da hast du recht, Hasard.«

Donegal Daniel O’Flynn starb bereits an seinem Bandwurm, den er gar nicht hatte. Er war grün im Gesicht und zum ersten­mal, seit er mit Hasard und den Männern segelte, wußte er nicht mehr, was er sagen sollte.

Der Kutscher meldete sich. »Hast du Rizinus in der Schiffsapotheke?« fragte Hasard. »Rizinus?« Der Kutscher zupfte sich am Ohrläppchen. »Ja,

drei Flaschen.«

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»Eine genügt«, sagte Hasard. »Dan hat nämlich einen Band­wurm.«

»Ts.« Der Kutscher nickte gewichtig. »Ich sag’s ja. Der Junge frißt alles in sich ‘rein, was er zu fressen kriegt. Das mußte ja so kommen. Aber Rizinus ist gut, das hat Sir Freemont auch immer verschrieben. Und wenn der Bandwurm dann abgeht, muß man vorsichtig an ihm ziehen, bis er ganz ‘raus ist. Bis zu acht Yards werden die Burschen lang. Das hört überhaupt nicht mehr auf, wenn man daran zieht. Den Kopf darf man nicht abreißen, sagt Sir Freemont, und der versteht was davon. Einen hat er mal in einem Glas in Alkohol eingemacht. Ich hab ihmdabei geholfen. Der stammte von einem Metzger, ich mein den Bandwurm. Das war der längste Bandwurm, den es jemals in Plymouth gegeben hat …«

Der Kutscher redete und redete. Er beschrieb den Bandwurm des Metzgers von vorn bis hinten und von hinten bis vorn, sorichtig genußvoll und plastisch, und als er schließlich breitbei­nig in die Knie ging und demonstrierte, wie man Hand über Hand einen Bandwurm aus dem Hintern zieht, da war das Maß voll.

Donegal Daniel O’Flynn, sonst unerschütterlich und mit der Schnauze immer vornweg, hing über der Achterdecksreling ­nach Lee, versteht sich - und opferte dem Gott der sieben Mee­re.

»Rizinus«, befahl Hasard mit harter Stimme. »Wenn der Ma­gen leer ist, wirkt das Zeug noch besser und lockt den Band­wurm raus.«

Der Kutscher flitzte los und kehrte nach drei Minuten mit der Rizinusflasche zurück.

»Ich - ich hab keinen Bandwurm«, sagte das Bürschchen matt.

»Wir werden sehen«, sagte Hasard, nahm die Flasche ent ge­gen, entkorkte sie, roch daran und befahl: »Mund auf, Augen zu!«

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Und Donegal Daniel O’Flynn - würgend, hustend, spuckend, schluckend - kriegte den Inhalt einverleibt. Sekunden später sauste er wie ein Blitz vom Achterdeck, hinunter auf die Kuhl, durchs Vordeck aufs Galionsdeck hinter dem Bugspriet, wo man jene Geschäfte erledigte, zu denen selbst der König zu Fuß hingeht, und opferte dort auf dem umgekehrten Weg. Sei­ne Hosen hatte er noch rechtzeitig heruntergekriegt.

Dort verblieb er die nächste Stunde und versäumte sogar die morgenliche Essensausgabe. Die Fleischbrühe schmeckte ziemlich dünn, fand Hasard. Dafür hatte Dan O’Flynn den Schaden und den Spott noch dazu.

Als er eine Stunde später mit weichen Knien zurück aufs Vordeck kletterte und wie ein kranker Affe auf die Kuhl turnte - mit eingezogenem Kopf und Leichenbittermiene -, fragte Hasard: »Na? Ist der Bandwurm abgegangen?«

»Ich hab keinen Bandwurm«, sagte Dan beleidigt.»Hast du denn noch Hunger?«»Überhaupt nicht.« Und trotzig fügte Dan hinzu: »Das war

gemein mit dem Rizinus.« »Ach? Und wie bezeichnet man das, wenn man seinen

Deckskameraden die Suppe verwässert, mein Freundchen? Vielleicht sollten wir die Rizinuskur wiederholen. Zwei Fla­schen sind noch da. Was meinst du?«

Dan O’Flynn sah zu, im Vordeck zu verschwinden. Batuti knüpfte ihm die Hängematte auf. »Du sehr krank?« fragte er voller Mitgefühl. »Leck mich am Arsch«, sagte Dan O’Flynn patzig und

schmollte.

4.

Gegen Mittag ließ Hasard Waffen an die Freiwachen vertei­len, um die Frachtluke herum Aufstellung nehmen und die

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Luke öffnen. Vorsichtshalber ließ er seine Männer zurücktre­ten.

Die Kerle, die im Frachtraum gefangen saßen, hatten wahr­scheinlich die Geräusche über sich und an der Luke gehört.

Als Ferris Tucker - er stand hinter der Luke - sie hochlüftete, krachte ein Schuß, dann noch einer. Die erste Kugel pfiff in den Himmel, die zweite schrammte eine Delle in den Süllrand der Luke und bohrte sich in den Großmast.

»Ihr seid wohl scharf darauf, daß wir eure Hälse an der Rah langziehen?« rief Ferris Tucker erbost.

Eine Stimme antwortete aus dem Frachtraum: »Fragt sich, wer wen an der Rah aufknüpft. Eine alte Regel sagt, daß man erst einen hängen kann, wenn man ihn hat. Uns habt ihr noch lange nicht. Holt uns doch, wenn ihr lebensmüde seid. Wir haben uns hier ganz gut zwischen den Silberbarren eingerich­tet.«

»Ist das noch zu fassen?« sagte Ferris Tucker. »Die sind vom vielen Silber übergeschnappt«, meinte Ben

Brighton, und damit hatte er zweifellos recht. Das bewies dieÄußerung, die als nächstes aus dem Frachtraum zu hören war.

»Jetzt haben wir das Silber!« rief die Stimme höhnisch. »Wir sind gemachte Leute, ha-ha-ha! Und ihr seid die Geschmierten! Wer sich an der Luke zeigt, wird weggeputzt, ha-ha-ha!«

Ferris Tucker knurrte vor Erbitterung und blickte Hasard an. »Die tanzen uns tatsachlich auf der Nase herum« sagte er. Hasard lächelte. »Wirf mir mal deine Muskete herüber, Ferris.« Er fing die Waffe auf, prüfte kurz, ging um die Luke herum,

so daß er sich seiner Schätzung nach jetzt dem Sprecher der Kerle schräg gegenüber befand, hielt die Muskete blitzschnell über den Süllrand und feuerte in den Frachtraum.

Ein fluchender Laut ertönte von unten. »Jetzt hört mir mal zu, Freunde!« rief Hasard. »Und wenn ihr

euren Verstand noch beisammen habt, dann denkt darüber

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nach, was ich jetzt sage. Es gibt für uns vier Möglichkeiten, euch fertigzumachen. Erstens: wir hungern euch aus. Zweitens: ihr sterbt einen qualvollen Dursttod. Drittens: wir schießen euch zusammen. Viertens: wir räuchern euch aus. Ich ziehe die beiden ersten Möglichkeiten vor. Das ist für uns das einfachste. Wenn ihr hungrig seid, könnt ihr ja die Silberbarren anknab­bern. Ich schätze, in etwa vier Tagen seid ihr soweit, daß wir euch über Bord werfen können …«

Ein mehrfaches Geheul und Fluchen drang von unten herauf. Als es abebbte, fuhr Hasard mit schneidender Stimme fort: »Ich gebe euch eine Minute Zeit, ohne Waffen an Deck zu steigen und zu kapitulieren. Nach einer Minute wird die Luke wieder geschlossen. Wenn ich sie das nachstemal öffnen lasse, dann nur, um eure Leichen herauszuholen.«

»Und was passiert, wenn wir uns ergeben?« fragte eine Stimme - es war nicht die, die bisher das große Wort gefuhrt hatte.

»Das wird sich herausstellen, wenn ihr mir einige Fragen be­antwortet habt.«

Unten setzte Stimmengemurmel ein, jemand beschimpfte ei­nen anderen, der fluchend antwortete. Ein dritter erklärte ziem­lich laut, er hatte keine Lust, in dem Frachtraum zu verrecken, von dem Silber hätte er dann auch nichts.

»Noch eine halbe Minute«, sagte Hasard. Sie hörten, wie Waffen auf die Planken fielen. Einer rief: »Wir geben auf!« Hasard winkte Ben Brighton zu, eine Strickleiter über den

Süllrand zu werfen. Die Männer mit den Musketen ließ er dich­ter an die Luke heranrücken.

»Paßt auf«, flüsterte er. »Falls sie irgendwelche Mätzchen versuchen, sofort schießen, klar?«

Die Männer nickten. Die Strickleiter bewegte sich. Sekunden später tauchte eine

struppiger Kopf am Süllrand auf und blickte sich um.

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»Nicht schießen«, sagte der Kerl hastig, als er die auf sich ge­richteten Musketenläufe sah.

»Komm schon, Freundchen«, sagte Hasard. »Ferris, durch­such ihn, ob er noch Waffen bei sich hat.«

Ferris Tucker filzte den Mann - nicht gerade zärtlich - und schob ihn dann zum Schanzkleid an der Steuerbordseite.

Der zweite und der dritte folgten, wurden durchsucht und zu dem ersten gestellt. Dann erschien der vierte, ein wüster Kerl mit einer Narbe quer über dem Gesicht. Er wäre eine Zierde für jeden Galgen gewesen, die drei anderen ebenso.

Ferris Tucker untersuchte auch ihn und förderte ein langes Messer zutage.

»Sieh mal an«, sagte er, »die drei anderen waren schön brav, aber du dreckiger Sack mußtest es wohl unbedingt versuchen, wie? Ein Messerchen -so ein Schelm!«

Er klopfte ihn noch einmal von oben bis unten ab, gelangte andie Stiefel - etwas gebückt -, und da zuckte das rechte Knie des Narbenmannes hoch.

Ferris Tucker blieb auf den Füßen. Sein Kopf flog zwar zu­rück, aber der Schiffszimmermann verdaute ganz andere Rammen, bevor er umfiel.

Er ließ das Messer fallen, zog sich den Narbenmann mit der Linken heran und donnerte ihm die rechte Pranke unter das Kinn. Die beiden nächsten Schläge waren Maulschellen, die wie Pistolenschüsse krachten und dem Kerl fast den Kopf vom Genick drehten.

Als Ferris Tucker losließ, kreiselte der Mann um sich selbst, dann schoß er mit verrenktem Kopf wie ein Betrunkener quer über die Kuhl und wurde von Matt Davies gestoppt, der ihm ein Bein stellte.

Das brachte ihn endgültig an Deck.»Zieh ihm die Stiefel aus, Matt«, sagte Ferris Tucker. Matt Davies Rechte fehlte. Statt dessen trug er eine Ledermanschette mit einem zuge­

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spitzten Haken - eine fürchterliche Waffe. Ein Handikap war die fehlende Rechte keineswegs.

Matt Davies, dunkelblond und braunäugig, grinste über das ganze kantige Gesicht. Mit einem kurzen Hieb schlug er den Haken in den rechten Stiefelabsatz. Ein Ruck, und schon war der Stiefel aus gezogen. Ein schmieriger Fußlappen erschien. Ein zweiter Hieb, und der andere Stiefel flog an Deck und mit ihm ein Messer.

»Na bitte«, sagte Ferris Tucker befriedigt. »Der handelt mit Messern«, sagte Matt Davies, »und bei uns

will er Silber klauen, der Galgenstrick. Schaut euch mal seineFußlappen an. Da hat er doch ne Armee von Flöhen versteckt, dieser Mistbock. Der versaut uns das ganze Schiff!« Er fuhr auf den Narbenmann los und hielt ihm drohend den Haken vor die Nase. »Wickle diese stinkenden Flohlappen von deinen Latschen und schmeiß sie außenbords, oder ich reiß dir die Nase ab!«

Der Kerl ächzte, richtete sich mühsam auf, grapschte im Sit ­zen nach den Lappen, nahm sie ab, stand auf und trug sie zum Schanzkleid auf der Backbordseite.

Als sie ins Wasser flatterten, stieß eine Möwe zu, kurvte aber sofort wieder hoch.

»Da kriegen selbst die Möwen das große Kotzen«, sagte Matt Davies angewidert.

Hasard sagte: »Er soll sich die Füße waschen.« Und Ferris Tucker sagte: »Die anderen sollten sich auch die

Stiefel ausziehen.« Jetzt wollte er es genau wissen - nicht nur wegen der Flöhe. Matt Davies knallte dem Narbenmann eine Segeltuchpütz vor

die Füße. Indessen zogen zwei der Kerle auf der Steuerbordsei­te schnell ihre Stiefel aus. Der dritte allerdings zögerte. FerrisTucker schlich langsam auf ihn zu - die Rechte geballt und den Arm locker angewinkelt. Allein die Faust sah schon wie ein Schmiedehammer aus, aber die Miene des rothaarigen Riesen

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war noch fürchterlicher. »Soll ich helfen?« fragte er leise und gefährlich. Er zog die

Faust genußvoll nach unten, haargenau in der Kurve, deren Scheitelpunkt das Kinn des Mannes bildete. Wenn dort die Faust explodierte, mußte der Unterkiefer ausrenken, das stand fest.

Der Mann hatte ein ausgefranstes rechtes Ohrläppchen, an dem ein Ring baumelte. An diesem Ohrläppchen zupfte er jetzt nervös herum.

»Bitte«, sagte er. »Zieh die Stiefel aus«, sagte Ferris Tucker, »und laß dein

Ohrläppchen zufrieden, da sind keine Stiefel.« Der Mann knickte etwas zusammen, winkelte das rechte Bein

an und zerrte, bis der Stiefel an Deck fiel. Ferris Tucker beäugte die Fußlappen und schnüffelte. Er ver­

zog das Gesicht und murmelte: »Was seid ihr bloß für Schwei­ne.« Und jäh fuhr er den Mann an: »Los, den anderen Stiefel!«

Der Mann verdrehte gottergeben die Augen und zog den Stie­fel aus. Ein Messer fiel auf die Planken.

Ferris Tuckers Schlag war wie ein zuckender Blitz, und ge­nauso schnell packte er zu, denn der Kerl war bereits auf dem Weg außenbords. Mit einem Ruck zerrte er ihn innenbords hinter das Schanzkleid und ließ ihn fallen.

»Quapp-quapp«, quetschte der Mann heraus. Seine Kinnlade war gebrochen. Und dann zeigte er nur noch das Weiße seiner Augen und rutschte in sich zusammen. Bewußtlosigkeit war das Beste für einen Mann, den der Schmerz mit tausend Tü­cken ansprang.

Ferris Tucker streichelte seine rechten Handknöchel und sag­te: »Dieser Bastard war fällig wie eine Jungfer in der Braut ­nacht.«

Der Narbenmann badete seine Füße in der Segeltuchpütz, die beiden anderen lehnten bleich am Schanzkleid. Der Kerl mit dem Ohrring hatte zunächst das beste Los gezogen - trotz zer­

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schmetterter Kinnlade. Hasard trat auf den Narbenmann zu, der zu ihm hochstarrte. »Wußtet ihr, daß hier Silber an Bord ist?« fragte er. »Silber? Ich hör immer Silber.« Der Narbenmann hatte sicht ­

lich Oberwasser. »Nein, wir wollten uns nur mal die Füße ver­treten - und plötzlich standen wir auf diesem Kasten …«

»Und vorher wurden zwei Posten zusammengeschlagen«, un­terbrach ihn der Seewolf ironisch, »oder schlugen die sich selbst einen Knüppel über den Kopf?«

»So was passiert«, sagte der Narbenmann. »Hier passiert noch mehr«, sagte Hasard. »Kannst du

schwimmen?« Der Narbenmann blickte den Seewolf verblüfft an.

»Schwimmen? Klar kann ich schwimmen.« »Sehr gut«, sagte Hasard. »Wenn du jetzt nach Plymouth zu­

rückschwimmst, kannst du ja mal darüber nachdenken, warumdu plötzlich auf diesem Kasten standest. Und grüß auch schön die fünf Figuren, die heute nacht in der Mill Bay ein Bad ge­nommen haben.«

Hasard fackelte nicht lange. Er bückte sich, stemmte dem Mann mit beiden Armen hoch und warf ihn außenbords.

Als der Kerl ins Wasser klatschte, sagte Hasard zu Ferris Tu­cker: »Gib ihm einen Balken mit auf die Reise, Ferris. Bis Plymouth schafft er es sonst nicht.«

»Mach ich«, sagte Ferris Tucker und lief aufs Achterdeck. Der Narbenmann schrie Zeter und Mordio und planschte im

Wasser. Soviel wie Hasard verstand, schien er bereit zu sein, alles zu sagen. Die beiden anderen Kerle standen dicht vor einem Nervenzusammenbruch. Da zertrümmerte der eine, die­ser rothaarige Riese mit einem Schlag eine Kinnlade, und der andere, noch größer und wilder als der Rothaarige, warf ihrenKumpan einfach so außenbords und empfahl ihm, nach Ply ­mouth zurückzuschwimmen. Und erst die Burschen, die grin­send um sie herum auf der Kuhl standen - ein Schwarzer, riesig

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und mit rollenden Augen, ein anderer mit einem Fleischerha­ken statt der rechten Hand, und ein dritter - nämlich Smoky ­bullig wie ein wildgewordener Stier - sie sahen alle aus, als seien sie dem Teufel schon mehr als hundertmal ins Maul ge­sprungen.

Spätestens jetzt merkten diese beiden, daß sie keinen Spazier­gang unternommen hatten, sondern an eine Crew hartgesotte­ner, salzdurchtränkter Piraten geraten waren, von denen dieser blauäugige, schwarzhaarige Riese, den sie Seewolf nannten, der wildeste war.

Der Narbenmann warf sich indessen über den Balken im Kielwasser der ›Isabella‹ und jammerte zum Gotterbarmen.

Hasard ließ beidrehen und die Segel aufgeien. Er stand auf dem Achterdeck und sah mit grimmigem Lächeln zu, wie der Narbenmann rittlings auf dem Balken sitzend heranpaddelte.

»Zu Hilfe!« schrie der Narbenmann hoch. »Ich ertrinke!« »Das dauert noch eine Weile!« rief der Seewolf hinunter. »Können wir jetzt weiter verhandeln, oder möchtest du noch

etwas baden?« »Holt mich ‘raus!« schrie der Narbenmann. »Ich will ja alles

sagen!« Er paddelte wild drauf los, verlor die Balance und kippte wieder vom Balken herunter - natürlich mit dem ent ­sprechenden Gebrüll. Er veranstaltete da unten im Wasser ein ziemliches Theater.

Hasard beugte sich über die Reling des Achterdecks und ließ eine Strickleiter ausbringen, eine sogenannte Jakobsleiter, die oben am Schanzkleid belegt wurde und frei nach unten hing.

»Wenn du wieder an Bord willst«, rief er nach unten, »mußt du schon ein bißchen schwimmen. Bis hierher ist es nicht so weit wie bis Plymouth!«

Der Mann gurgelte und fluchte und paddelte wie ein Hundheran. Abwechselnd schlug er die Arme ins Wasser und zog sie nach hinten durch. Nach einigen Schlägen erreichte er die Ja­kobsleiter und hielt sich an einer Sprosse fest. Anscheinend

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hatte er sich total verausgabt. Er atmete keuchend und pum­pend, spuckte Wasser und hing wie ein nasser Sack an der Sprosse.

»Bevor du aufenterst, steck den Kopf noch mal unter Was­ser«, befahl Hasard, »damit du deine Tierchen loswirst. Das hier ist nämlich ein sauberes Schiff, verstanden?«

Der Narbenmann ignorierte die Aufforderung. Er begann auf zuentern.

»Zurück!« sagte Hasard scharf. »Erst wird der Kopf gewaschen. Falls dir das nicht paßt, laß

ich die Jakobsleiter slippen, und du liegst wieder im Wasser.«Der Fluch des Narbenmanns hätte den Teufel erröten lassen,

so hundsordinär war er. Aber er ließ sich wieder ins Wasser sinken und tauchte mit dem Kopf unter.

Der Narbenmann schien allmählich zu kapieren, woher der Wind wehte. Dieser blauäugige Teufel da oben war ohne Erbarmen und setzte das durch, was er wollte.

Hasard sah fachmännisch von oben zu und nickte. »Gut so, du lernst es, mein Freund. Jetzt darfst du aufentern, aber bring die Bürste mit.«

Der Mann kroch wie ein müder Käfer die Sprossen hoch. Als er wieder an Deck stand, schlotterte er am ganzen Körper. Sei­ne Kleidung triefte vor Nässe, das Haar hing ihm in Strähnen ins Gesicht. Er blickte Hasard trübe an.

»Na? Nun schieß mal los«, sagte der Seewolf. »Ihr wart also scharf auf unsere Ladung. Wußtet ihr, was wir geladen ha­ben?«

»Nein.« Der Mann zitterte und schlug schnatternd die Zähne aufeinander. Er sah aus wie eine abgetakelte Vogelscheuche.

»Wußten wir nicht.« »Weiter!« befahl Hasard. »Wir sollten das erst feststellen.« »Sollten? Also hattet ihr einen Auftraggeber. Und wer erteilte

den Auftrag?«

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Der Narbenmann zuckte hilflos mit den Schultern. Hasard beobachtete ihn scharf. Das Schulterzucken schien ihm echt zu sein.

»Kenne den Kerl nicht«, sagte der Narbenmann. »Er saß in einer Kutsche mit verhängten Fenstern, als er mit

mir verhandelte. Heute vormittag um zehn sollte ich ihn am Nordausgang von Plymouth wiedertreffen und ihm Bericht erstatten … Ich frier so …«

»Smoky! Hol eine Decke für den Mister, bitte.« Smoky holte eine Decke, obwohl er der Ansicht war, der

»Mister« könne ruhig etwas frieren.»Versau mir die ja nicht mit deinen Flöhen«, fuhr er den Nar­

benmann an und warf ihm die Decke zu. Der hüllte sich in die Decke, und sein Schnattern ließ allmäh­

lich nach. »Nun mal weiter«, sagte Hasard, »da ist noch einiges ziem­

lich unklar. Du solltest heute um zehn Bericht erstatten - und dann?«

»Dann hätte ich den zweiten Teil der vereinbarten Summe er­halten - zehn Pfund. Die ersten zehn Pfund hatte er mir gege­ben, als er mir den Auftrag erteilte.«

»Der große Unbekannte«, sagte Hasard nachdenklich. »Wie hat er sich ausgedrückt und gesprochen?«

»Vornehm und gewählt - wie die hohen Herren eben so spre­chen.«

Hasard fixierte ihn scharf. »Wie ist dieser Unbekannte denn an dich herangekommen, mein Freund?«

»Über zwei Mittelsmänner, von denen ich aber nur den ken­ne, der mir den Auftrag angeboten hat.«

»Hm. Kennst du einen hageren Mann mit einem Raubvogelgesicht,

der stets mit einem anderen zusammen ist, der eine stämmige Figur hat?«

Der Narbenmann schüttelte verwundert den Kopf. »Nein.«

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»Gut. Dennoch stimmt etwas nicht. Euer Auftrag lautete, festzustellen, was für eine Ladung die ›Isabella‹ führt.

Nachdem ihr zwei Posten niedergeschlagen hattet und das Vordeck verrammelt worden war, hättet ihr in knapp fünf Mi­nuten nachsehen und dann verschwinden können. Statt dessen tatet ihr aber etwas anderes. Fünf Kerle - einer von ihnen mit einer Knollennase und rotem Kirschmund - kreuzten in der ›Bloody Mary‹ auf, und zwar in der Absicht, vier meiner Män­ner, die Landurlaub hatten, ›matt zu setzen‹, wie sie sich aus­drückten. Diese vier Männer sollten zu meinen anderen Män­nern ins Vordeck gesperrt werden. Und dann wäret ihr - zehnMann hoch - darangegangen, den Silberschatz zu heben. Wie verträgt sich das mit dem Auftrag des Unbekannten, der ja anscheinend nur wissen wollte, was wir geladen haben?«

Der Narbenmann grinste verlegen. »Na ja, ganz einfach. Als wir herauskriegten, daß hier Silber

zu holen ist, pfiffen wir auf den Auftrag, für den wir lediglich lumpige zwanzig Pfund erhalten hätten. Wir sind doch nicht verrückt. Wir hatten beobachtet, daß vier Mann in die ›Bloody Mary‹ gezogen waren. Um uns von denen nicht überraschen zu lassen, schickte ich fünf von meinen Leuten los, die deine vier Mann aufhalten sollten. Dann hätten wir in aller Ruhe eure Silberfracht ausräumen können.«

»Daß ich nicht an Bord war, wußtet ihr?« Der Narbenmann nickte. »Das hat mir der unbekannte Mister

in der Kutsche gesagt.« »Pech für euch«, sagte Hasard. Er wandte sich zu Ben Brigh­

ton um. »Laß sie fesseln, Ben, und steckt sie zu dem anderen in die Vorpiek auf Nummer Sicher. Ein Mann zieht vor dem Schott als Posten. Sie erhalten die gleiche Verpflegung wie wir. Außerdem werden sie sich morgens und abends unter Be­wachung waschen, klar?«

»Aye, aye.« Ben Brighton gab die entsprechenden Befehle. Die drei Galgenvögel verschwanden im Vordeck. Den Ohr­

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ringmann zog Matt Davies arn Haken hinter sich her. Der Kerl war immer noch bewußtlos.

Ferris Tucker schüttelte mißbilligend den Kopf. »Ich hätte die Kerle mit einem Tritt in den Hintern außenbords befördert.«

»Ich auch«, sagte der Seewolf, »aber nur in unmittelbarer Landnähe.«

»Du hast was vergessen zu fragen.« »Was denn?« »Ob sie was mit dem verdammten Branderangriff zu tun ha­

ben«, sagte Ferris Tucker. Hasard schlug sich an den Kopf. »Natürlich. Holst du den

Kerl mit der Narbe noch einmal her, Ferris?« Der Schiffszimmermann nickte und schob eine Minute spater

den bereits gefesselten Narbenmann aufs Achterdeck. »Hier ist der Bursche«, sagte er. Der Narbenmann schlotterte immer noch - oder wieder, dies­

mal anscheinend aus Angst, es solle ihm an den Kragen gehen. Ferris Tucker sagte seelenruhig: »Ich hab ihm erklärt, es kön­

ne sein, daß jetzt sein letztes Stündchen geschlagen habe. Kerle wie der werden dann immer redselig.«

Hasard grinste seinen Schiffszimmermann an, wurde aber so­fort wieder ernst und fixierte den Narbenmann.

»Hast du nicht vergessen, uns noch etwas zu erzählen, mein Freund?« sagte er.

»Ich hab alles gesagt!« stieß der Narbenmann hervor. »Bestimmt. Was sollte ich denn vergessen haben?« »Na, zum Beispiel, daß ihr letzte Nacht versucht habt, die ›I­

sabella‹ durch einen Branderangriff zu vernichten.« Der Narbenmann fuhr zurück. »Vernichten? Das Silberschiff

vernichten? Ich bin doch nicht verrückt. Nein, das waren wir nicht. Beobachtet haben wir den Angriff auch und uns gewun­dert. Aber wer dahintersteckt, das weiß ich nicht, ehrlich.«

Hasard blickte Ferris Tucker an. »Klingt einleuchtend, wie? Und dann überleg mal die Zeitfolge, Ferris. Wer ein Schiff

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vernichten will, fängt nicht nach einem mißlungenen Anschlag an, dann das Schiff zu untersuchen - das wäre widersinnig. Unser Freund hier hat damit nichts zu tun, davon bin ich über­zeugt.«

»Du hast recht.« Ferris Tucker nickte. Er brachte den Narbenmann wieder in

die Vorpiek. Dort war inzwischen der Ohrringmann ins Be­wußtsein zurückgekehrt. Er hatte glasige Augen und sagte: »Quapp-quapp.«

»Ja, ja«, sagte Ferris Tucker. »man hat’s nicht leicht.« Und ungerührt riegelte er das Schott dicht.

5.

Sie hatten Pech. Am frühen Nachmittag verschlechterte sichdas Wetter, der Wind drehte auf West und wurde knallhart.

Hasard ließ die Blinde bergen und ebenfalls das Vormars-und Großmarssegel. Nur Großsegel, Fock und Besan ließ er stehen, und auch die waren fast zuviel. Die ›Isabella‹ lag hart am Wind schwer über, hatte aber den Vorteil der schweren Ladung. Mühsam knüppelten sie die Galeone mit langen Kreuzschlägen westwärts.

Es war, wie Ben Brighton grimmig sagte, etwa so, als mar­schiere man zwei Schritte vor und einen zurück, und dieser Ver gleich war gar nicht einmal so verkehrt, denn bei jeder Wende, wenn die ›Isabella‹ durch den Wind auf den neuen Bug ging, verloren sie einen Teil der so mühsam ersegelten Höhe -, jenes Raums, der so wichtig war, weil er sie Kreuz ­schlag für Kreuzschlag dem Ziel näher brachte.

Dabei handhabte der Seewolf die Galeone virtuos. Er kämpfte um jeden Yard, jede Meile, brachte Pete Ballie am Ruder zum Schwitzen, scheuchte seine Männer an die Brassen und Scho­ten und segelte auf Teufel komm ‘raus. Wäre eine andere Ga­

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leone gleicher Bauart und Besegelung mit ihnen gelaufen, er hätte ihr bereits nach den ersten drei Meilen das Heck gezeigt.

Die See wurde ruppig, je weiter sie bei den Kreuzschlägen über Backbord in den Atlantik vorstießen. Dort fegt der Wind mit unverminderter, ungebrochener Kraft von Westen heran, schob massige Wellenberge vor sich her, die sich gischtend und schäumend mit wütender Urkraft gegen das dickbauchige Schiff warfen, und geigte mit schrillem Pfeifen durch die Wan­ten und Verstagungen der drei Masten.

Die Kreuzschläge auf dem Steuerbordbug brachten sie dann wieder mehr in den schützenden Bereich der Landmassen von Cornwall, deren südlichsten Zipfel Kap Lizard bildete. Hier verlor die See ihre Ruppigkeit, und der Wind benahm sich et ­was manierlicher.

So holzten sie sich Schlag für Schlag auf Falmouth zu. Die Nacht verging, der neue Tag brach an. Stunde reihte sich an Stunde - und jede Stunde verlangte alles von jedem ab. Denn auch die Freiwache mußte mit heran.

Der Kutscher vollbrachte in seiner engen Kombüse auf schwankendem Boden, der eine Zeitlang nach Backbord, eine Zeitlang nach Steuerbord geneigt war, nach voraus und achter­aus kippte, artistische Meisterleistungen. Heißer, mit Wasser verdünnter Whisky ging reihum, Fleischbrühen, Speckbrote, Haferbrei, grüne heiße Bohnen.

Donegal Daniel O’Flynns vom Rizinus gereinigter Magen feierte Orgien. Der Junge holte nach, was er versäumt hatte ­und brauchte nicht einmal zu klauen. Dan O’Flynn hatte seine Lektion gelernt. Die Schmollperiode hatte er hinter sich ge­bracht.

Zähneknirschend, mit sich selbst zerfressen und hadernd, aber auch kritisch - und hervor ging ein neuer Donegal DanielO’Flynn, der ein Stückchen härter geworden war.

Hasard beobachtete ihn. Wenn seine Befehle wie Trompeten­stöße über das Deck gellten, war Dan O’Flynn zuerst »an der

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Spitze«, unverdrossen, zäh mit aller Kraft, die in seinem jun­gen, sehnigen Körper steckte. Hasard grinste vor sich hin.

Die fünf Kerle in der Vorpiek indessen schrien Zeter und Mordio und schienen der Meinung zu sein, daß der Weltunter­gang nunmehr bevorstünde. Außerdem kotzten sie sich die Seele aus dem Leib, und Tom Smith, der sie bewachte, brachte fluchend und schimpfend eine Segeltuchpütz nach der anderen mit ihren Opfern zum Schanzkleid und kippte den stinkenden Inhalt außenbords.

Smoky tröstete ihn: besser außenbords als eine versaute Vor­piek. Und da er ein Spaßvogel war, fügte er noch hinzu, daßnach den stürmischen Nächten bei einer gewissen Witwe eine solche Nacht doch direkt erholsam sei. Worauf Tom Smith bissig erwiderte, er, Smoky, sei ja nur neidisch. Und als er dann begann, die Liebeskünste der Abigail Adelaide Drummer in höchst unzüchtiger Weise zu beschreiben, ergriff Smoky dieFlucht, obwohl er gern mehr gehört hätte. Denn das »Klar zur Wende!« drang wie eine Fanfare in das Vordeck.

Gegen Mittag umrundeten sie Pendennis Castle - jene zipflige Spitze, die in die Falmouth Bay ragt -, kreuzten mit kurzen, knappen Schlägen die schlauchartige Bucht hoch, die in Ost-West-Richtung verlief, und steuerten den Hafen von Falmouth an, der Backbord voraus lag.

Mit traumwandlerischer Sicherheit führte Hasard die ›Isabel­la‹ an Klippen und Untiefen vorbei. Diese Bucht hatte er als Junge mit einer Nußschale von Boot kreuz und quer durch­streift, hier hatte er geangelt, geschwommen, sich herumgetrie­ben bei Wind und Wetter, bis er älter und waghalsiger gewor­den war und seine Erkundungsfahrten weiter aus gedehnt hatte ­um Kap Lizard herum bis Land’s End, die südwestlichste Spit ­ze Cornwalls. Hier kannte er jeden Winkel und jede Bucht.

Als sie Pendennis Castle rundeten, das der alte Hurenbock Heinrich VIII., Elisabeths Vater, errichtet hatte, war es Hasard nicht entgangen, daß sie gesichtet worden waren. Er hatte ge­

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sehen, wie sich ein Mann auf ein Pferd schwang und im Ga­lopp auf Falmouth zu jagte.

Hasard grinste vor sich hin. Der Bote würde nach Arwenack reiten und den Alten benachrichtigen, daß eine unbekannte Galeone den Hafen von Falmouth anlaufe.

Er spähte durch den Kieker voraus und sah, daß bereits aller­lei Volk im Hafen zusammenlief. Wortlos reichte er den Kieker Ben Brighton, der neben ihm auf dem Achterdeck stand. Ben Brighton nahm ihn vors Auge und starrte hindurch.

Der Bootsmann murmelte: »Großer Empfang, wie? Weniger Volk wäre besser - ich meine, wenn die neugierig werden.«

Er wiegte zweifelnd den Kopf. »Ich weiß nicht, ob Falmouth für uns gesünder als Plymouth ist.«

Er spähte wieder durch den Kieker und erstarrte plötzlich. Und dann sagte er sehr laut und erbittert: »Scheiße, verfluch­te!«

Hasard fuhr zu ihm herum. »Wie bitte?« Vom Hauptmars tönte die helle, jetzt ziemlich schrille Stim­

me Dan O’Flynns herunter. »Deck!« Hasard blickte zu ihm hoch. »Was ist los, Dan?« Der Junge wies voraus zu der langgestreckten Pier, die quer

in den Hafen ragte. »Ich sehe Sir John, und neben ihm steht noch einer. Und der hat verdammte Ähnlichkeit mit einem gewissen Mister Doughty!«

Hasard zuckte zusammen. Ben Brighton räusperte sich. »Er hat nicht nur Ähnlichkeit

mit ihm - er ist es, Hasard.« Er gab dem Seewolf den Kieker. Hasard blickte hindurch. Sein Gesicht wurde hart wie Granit,

und schon peitschte seine Stimme über das Deck: »Ferris! Laß sofort Waffen verteilen - Pistolen und Musketen! Los, schnell!«

»Aye, aye.« Ferris Tucker rief Smoky und Blacky zu sich und verschwand mit ihnen unter Deck.

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Hatte der Alte irgendwo versteckte Schützen aufgestellt? Aufmerksam ließ Hasard den Kieker über das Hafengelande wandern.

Nein. Auch die beiden Kanonen, die den Hafeneingang flankierend

beschießen konnten, waren unbesetzt. »Dan! Siehst du irgend etwas Verdächtiges?« rief er zum

Hauptmars hoch. »Nichts - bis auf Mister Doughty, den ich jetzt ganz deutlich

erkenne. Der sieht wieder gelackt und geschniegelt wie immer aus.«

Ferris Tucker, Smoky und Blacky verteilten Musketen und Pistolen. Hasard ließ aus seiner Kammer die sächsische Rad­schloßpistole holen, die er einem bretonischen Freibeuter ab­genommen hatte, und steckte sie in den Gürtel.

Innerhalb von knapp sechs Minuten sahen die siebzehn Män­ner des Seewolfs aus wie eine Bande zähnefletschender, wilder Freibeuter - und die waren sie ja auch.

Hasard trat an die Holzbalustrade des Achterdecks. Sein grimmiger Blick wanderte über die Männer, die zu ihm hoch­schauten.

»Herhören!« sagte er leise und scharf. »Der einzige, den ihr an Bord lassen werdet, wird mein Alter sein. Das ist der rothaa­rige Bulle mit der Knollennase, der neben Sir Doughty steht.« Dieses »Sir Doughty« spuckte er wie Galle heraus. »Sollte sonst jemand versuchen, die ›Isabella‹ zu betreten, wird das verhindert - notfalls mit Waffengewalt. Ist das klar?«

Die Männer nickten und grinsten. »In Ordnung. Ben, laß Vor- und Achterleine klarlegen. Wenn

wir längsseits der Pier liegen, fahren wir die Gangway aus. Wir gehen mit der Backbordseite an die Außenkante der Pier, sodaß wir notfalls sofort wieder abhauen können, falls sich das ergeben sollte. Klar?«

»Aye aye.«

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Ganz Falmouth schien auf den Beinen zu sein. Männer, Frau-en und Kinder drängten sich auf den Kais. Das letzte Drittel der Pier war allerdings abgeriegelt. Dort standen der alte Sir John und Sir Thomas Doughty - Respektpersonen, von denen die Menge ferngehalten wurde.

Als Hasard die Segel aufgeien ließ, wandte Sir John den Kopf und rief etwas zur Menge hin. Zwei Männer eilten heran.

»Ben!« rief Hasard seinem Bootsmann zu, der auf der Kuhl stand. »Die beiden sollen die Leinen wahrnehmen. Laß ihnen die Wurfleinen zuwerfen.«

»Geht klar!« rief Ben Brighton zurück.Die beiden Wurfleinen wurden an die Festmachertrossen an­

gesteckt. Vorn auf der Back stand Smoky klar zum Wurf, ach­tern Stenmark, der große, blonde Schwede.

Hasard korrigierte den Kurs und gab noch einen kurzen Ru­derbefehl an Pete Ballie - und dann glitt die ›Isabella‹ im sanf­ten Auslauf entlang der Pier. Die beiden Wurfleinen flogen hinüber, die beiden Männer auf der Pier fingen sie auf und holten sie Hand über Hand durch. Die an die Leinen angesteck­ten Trossen klatschten ins Wasser, wurden herangezogen und um die klotzigen Holzpolier belegt.

Die ›Isabella‹, deren abenteuerliche Reise mit dem Durch­bruch auf der Reede von Cadiz begonnen hatte, lag im Hafen von Falmouth fest - jenem Hafen, den die Sippe der Killigrews beherrschte. Und einer dieser Killigrews, Philip Hasard Kil­ligrew, den sie den Seewolf nannten, brachte seine erste Prise ein - ein Schatzschiff, das dreißig Tonnen Silberbarren geladen hatte.

Hasard warf einen kurzen Blick auf die Pier. Der Alte lief aufgeregt hin und her. Sir Doughty stand kühl und beherrscht dabei. Er stützte sich auf einen eleganten Spazierstock mit sil­berner Krücke, den linken Fuß hatte er ein wenig vor gesetzt. Wie stets war er nach der letzten Mode gekleidet: hoher, schmalkrempiger Filzhut mit Straußenfeder, spitzenbesetzte

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Halskrause, kurzes Cape, Wams, Kürbishosen, seidene Strumpfhose, breite Schuhe mit silbernen Schnallen. An seinen Fingern blitzten Ringe.

»Drecksack«, murmelte Hasard vor sich hin. Als sich ihre Blicke kreuzten, zog Sir Doughty die linke Au­

genbraue etwas hoch. Vielleicht bildete er sich ein, das sei vor­nehm oder sonst was, aber auf Hasard wirkte es wie das rote Tuch auf den Stier. Er zwang sich zu eiserner Beherrschung.

Ben Brighton ließ die Gangway ausbringen und bezog mit Batuti und Matt Davies Stellung auf der Pier. Er verbeugte sich leicht vor Sir John und sagte: »Bitte, Sir - Sie wollen sicherlich an Bord.«

»Und ob, mein Sohn, und ob«, röhrte Sir John mit seinem Baß los.

Er setzte sich in Bewegung, starrte zu Batuti hoch, der ihn angrinste, beäugte sich die Hakenprothese von Matt Daviesund stiefelte dann über die Gangway.

Hasard sprang auf die Kuhl hinunter. Der Alte schoß auf ihn zu und drosch ihm die Hand auf die

Schulter. Hasard drosch zurück, daß Sir John regelrecht in die Knie ging, aber unverdrossen weiterröhrte.

»He, du Teufelsbraten, willkommen in Falmouth! Du stellst ja tolle Sachen an. Sir Doughty hat mir bereits erzählt …« Er unterbrach sich und drehte sich um. »Wo steckt er denn?«

Sir Thomas Doughty stand vor den Pistolen Ben Brightons, Batutis und Matt Davies, der seine Waffe in der Linken hielt. Die drei Männer versperrten ihm den Weg zur Gangway. Sir Doughty sah um die Nase herum ziemlich blaß aus. Seine Lip ­pen bildeten einen schmalen Strich.

Der Alte fuhr zu Hasard herum, hochrot im Gesicht. Gleich platzt er, dachte Hasard. Und schon ging’s los.»Was soll das, du Lümmel?« Hasard reckte die breiten Schultern und stemmte die Hände in

die Hüften. Eisig sagte er: »Nenn mich noch einmal ›Lümmel‹,

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und du gehst in deinem eigenen Hafen baden, Mister Kil­ligrew.«

Der Alte prallte zurück. »Und nun zu deiner Frage«, fuhr Hasard fort. »Ich habe be­

fohlen, niemanden außer dir an Bord zu lassen. Das hier ist mein Schiff, bis ich es Kapitän Drake übergeben habe. Ist das klar?«

Der Alte stampfte mit dem Fuß auf. »Du wirst sofort Sir Doughty an Bord lassen. Er ist mein Gast, verstanden?«

»Aber meiner nicht«, sagte Hasard kühl. »Er hat an Bord meines Schiffes nichts zu suchen, verstanden?«

»Unerhört!« röhrte der Alte. Die Adern auf seiner Stirn waren blaurot geschwollen. »Unerhört! Was sind das für Manieren? Und das einem Manne gegenüber, der der Sekretär von Sir Christopher Hatton ist, des Kapitäns der Ehrenwache Ihrer Majestät!«

»Na und?« erwiderte Hasard ungerührt. »Von mir aus kann er bei sonstwem Sekretär sein, es interessiert mich nicht.«

»Du wirst dich sofort bei ihm entschuldigen, verstanden?« »Ich denke nicht daran.« Der Alte zitterte vor Wut am ganzen Körper. »Ich - ich sollte die Hunde auf dich hetzen!« stieß er heraus. »Und ich sollte dich dahin feuern, wo du schon mal gezappelt

und geschrien hast - nämlich im Hirschgeweih der Halle von Arwenack. Vielleicht hast du die Güte, dich daran zu erinnern. Du hast mir nichts zu befehlen. Und laß deine lächerlichen Drohungen. Die Hunde auf mich hetzen! Ein Wort von mir, und sie fahren dir an die Gurgel. Du solltest wissen, daß sie mir immer besser gehorcht haben als dir. Kein Wunder, von dir erhielten sie ja nur Fußtritte, nicht wahr?«

Er wandte den Kopf zu dem riesigen Schiffszimmermann, derrechts hinter ihm stand. »Laß die Drehbasse auf der Back be­mannen und mit gehacktem Blei laden, Ferris.«

»Aye, aye, Sir.« Ferris Tucker grinste, rief Smoky und Blacky

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zu sich und holte aus der Pulverkammer das, was er brauchte. »Wozu das?« fuhr ihn der Alte an. »Kleine Vorsichtsmaßnahme, weil ich deine schmutzigen

Tricks kenne. Aber keine Sorge, ich hab ja bei dir gelernt. Wie geht es Mutter?«

»Gut«, knurrte der Alte. Er schielte zur Frachtluke. »Und du hast also bei Kapitän Drake angeheuert, eh?« Plötzlich grinste er verschmitzt und sagte: »Habt ihr ein bißchen im Atlantik geräubert?«

»Wie darf ich das verstehen?« Der Alte knuffte seinen Sohn. »Na, du weißt schon …« »Wir haben geangelt«, sagte Hasard todernst. »Ah, verstehe. Geheim, wie?« Er rückte näher und flüsterte

hinter der vorgehaltenen Hand. »Was habt ihr denn geladen, eh?«

»Eingepökelte Heringe«, sagte Hasard.Der Alte schielte zu ihm hoch. »Machst du Witze?« »Nein.« »Warum habt ihr denn dann Plymouth verlassen? Sir Dough­

ty sagte mir, ihr wäret Knall auf Fall abgehauen. Er war dar­über sehr verwundert. Genauso verwundert war er, daß du es fertigbringst, einfach mir nichts dir nichts von einem Fest zu verschwinden, ohne dich vom Gastgeber zu verabschieden.«

»So?« Hasard verschränkte die Arme über der Brust und wippte auf den Fußballen. »Jetzt will ich dir mal was sagen, verehrter Mister Killigrew« - dieses »Mister Killigrew« war eine glatte Unverschämtheit -, »und zwar was das Verwundern dieses Doughty betrifft. Es interessiert mich einen Dreck, über was oder wen sich dieser Gentleman verwundert. Und genauso geht es ihn einen Dreck an, ob die ›Isabella‹ einen Hafen ver­läßt oder dortbleibt. Ich bin schließlich Kapitän Drake für die­ses Schiff verantwortlich, niemandem sonst. Das war das. Nun zu dem Fest, von dem du sprachst. ›Fest‹ ist übrigens gut - eher sollte man es ein ›Schlachtfest‹ nennen. Nun, ich hatte nämlich

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keine Lust mehr, an diesem Fest länger teilzunehmen, weil nämlich zwei Galgenvögel versuchten, mich abzumurksen. Eine sehr merkwürdige Geschichte, und zwar deswegen, weil zur selben Zeit zehn weitere Galgenvögel versuchten, die ›Isa­bella‹ um ihre Ladung zu erleichtern. Sie waren mächtig scharf auf die eingepökelten Heringe.«

Hasard schwieg einen Moment, wandte den Kopf und blickte zur Pier hinüber, wo Thomas Doughty stand. Dessen Gesicht war eine undurchdringliche Maske. »Sie hatten mächtiges Pech, diese zehn Galgenvögel, Sir. Genauso wie die beiden Kerle, die ich im ›Queen’s Hotel‹ in Plymouth aus dem Fenster warf.«

Lässig sagte Sir Doughty: »Meinen Sie, jemand glaubt Ihnen diese Räubergeschichten, mein lieber junger Freund?«

»Ich bin weder Ihr lieber noch Ihr junger und schon gar nicht Ihr lieber junger Freund, Mister. Das vorweg.« Hasards Stim­me war kalt. »Und was die Räubergeschichten betrifft, will ich Ihnen gern einen dieser Räuber vorstellen. Nach allem, was ich bisher in Erfahrung bringen konnte, liegt die Vermutung nahe, daß Sie ihn kennen.« Hasard winkte Gary Andrews zu. »Gary, führe uns doch bitte den Galgenvogel mit der Narbe vor.«

»Aye, aye, Sir.« Gary verschwand im Vordeck. Eisiges Schweigen herrschte. Sir John sah aus, als stünde er

dicht vor einem Schlaganfall. Sir Doughty hatte verächtlich den Mund verzogen, aber das war ihm schnell vergangen, als Batuti ihn zähnefletschend anstarrte und Matt Davies plötzlich seinen Haken in die Pier schlug und einen unterarmlangen Span herausriß. Er steckte die Pistole in den Gürtel, nahm den Span mit der Linken auf und begann sich mit dem Holz den Rücken zu kratzen. Dabei grinste er Sir Doughty unverschämt an.

Gary Andrews, ein hellblonder, hagerer und zäher Mann, der mit unwandelbarer Treue an Hasard hing, weil der sich um ihn gekümmert hatte, als er schwer verwundet worden war, er­

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schien im Vordeckschott. Er stieß den gefesselten Narbenmann vor sich her und baute ihn bei der Gangway mit Front zu Sir Doughty auf.

Sehr laut und deutlich sagte Hasard: »So, Mister, das ist der Räuber Nummer eins aus meiner Räubergeschichte.

Die Nummer zwei, drei, vier, fünf habe ich ebenfalls unter Verschluß. Einer hat übrigens eine gebrochene Kinnlade. Mein Schiffszimmermann dort auf der Back bei der Drehbasse hat einen sehr harten Schlag, müssen Sie wissen. Ja, und die Nummer sechs bis zehn habe ich nicht an Bord, aber zuletzt nahmen sie ein kühles Bad im Hafenbecken der Mill Bay ­übrigens alle schwer angeschlagen, wie man so sagt. Dieser Gentleman hier mit der schönen Narbe versicherte mir, daß er mit einem sehr vornehmen Herrn verhandelt hätte. Leider saß dieser vornehme Herr in einer verhängten Kutsche, so daß er ihn nicht sehen konnte. Aber seine Stimme wird er sicherlich wiedererkennen. Sagen Sie doch mal was, Sir!«

Sir Doughty preßte die Lippen zusammen und schwieg. Hasard nickte. »Daß Sie schweigen, ist fast ein besserer Beweis, als wenn

Sie jetzt etwas gesagt hätten. Sie befürchteten, der Galgenvogel könnte tatsächlich Ihre Stimme wiedererkennen. Mit an Si­cherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stecken Sie also hinter den Anschlägen auf die ›Isabella‹ und mich.«

Hasards Stimme wurde schneidend. »Ich hasse Männer, die nicht offen, sondern feige aus dem

Dunkel heraus kämpfen oder sich solchen Gelichters wie dieses Kerls hier bedienen. Sie sind ein Drecksack, Sir Doughty! Reicht diese Beleidigung für einen Waffengang, oder muß ich noch härteres Geschütz auffahren?«

Sir Doughtys Gesicht war schneeweiß. Er drehte sich um undging schweigend über die Pier davon.

»So ein mieser Feigling«, sagte Ben Brighton hinter ihm her. »Schade«, sagte Hasard, »ich hätte ihn gern vor meiner Klin­

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ge gehabt.« Erst jetzt explodierte Sir John. »Du verdammter Bastard!« schrie er seinen Sohn an. »Du

dreimal verdammter Bastard! Ich sollte dich und dein ver­dammtes Schiff zusammenschießen lassen. Vierteilen sollte man euch Bande, man - man sollte euch …«

»Verschluck dich nicht, Alter«, sagte Hasard. »Falls du die Gangway suchst, sie ist hinter dir. Pete - Sir Killigrew möchte gehen. Würdest du ihn bitte begleiten? Sonst fällt er mir noch ins Wasser, der alte Herr.«

»Du - du …« Sir John verschluckte sich tatsächlich, schnappte hochrot

nach Luft, röchelte, hustete und spuckte, und Hasard drosch ihm kräftig den Rücken.

»Nun mal langsam, Alter, schön durchatmen, sonst erstickst du mir noch.«

Der Alte, jetzt blaurot, rang nach Atem, die hellblauen Augen quollen beängstigend aus den Höhlen, er ruderte mit den Ar­men, seine Knollennase nahm eine violette Farbe an.

Hasard bearbeitete weiter seinen Rücken und fuhr seelenruhig fort: »Und wer spricht denn gleich von Zusammenschießen, du alter Angeber! Das schaffst du doch gar nicht. Mein Schiff ist gefechtsklar. Du hättest mal zusehen sollen, wie wir auf der Reede von Cadiz zwei Kriegsgaleonen der Dons zur Hölle geschickt haben. Also laß da lieber die Finger weg.

Na? Geht’s besser?« »Was, verdammt, habt ihr geladen ?« »Eingepökelte Heringe.« »Eingepökelte Heringe!« Das alte Schlitzohr kniff listig ein

Auge zu. »Silber, wie?« »Und wenn?« fragte Hasard.»Machen wir halbe-halbe.« Hasard seufzte und blickte den Alten tadelnd an. »Die Katze

läßt das Mausen nicht. Was hab ich nur für einen Erzeuger!

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Du willst die Krone von England beklauen? Schäm dich, Vi­zeadmiral von Cornwall. Wenn unsere gute Lissy das erfährt, hängt sie dich eigenhändig auf dem Tyburn auf.«

»Sie braucht’s ja nicht zu erfahren, Junge. Ich krieg das schon hin. Wieviel Silber hat denn die alte Tante ›Isabella‹ nun im Bauch?«

»Eingepökelte Heringe.« Schon ging der Alte wieder in die Luft. Er drohte mit der

Faust und schrie: »Ich werde …« »Nichts wirst du. Dort ist die Gangway. Pete - Sir Killigrew

möchte gehen.«Er blinzelte Pete zu, und der verstand. Seine Fäuste, groß wie Ankerklüsen, packten Hosenboden

und Kragen des Alten, lüfteten beides etwas an, und so wurde Sir John Killigrew von Bord der ›Isabella‹ bugsiert, obwohl er zeterte, fluchte, schrie und zappelte. Er war ein bulliger Mann,aber Pete Ballie hatte ihn so richtig im Griff, schob ihn über die Gangway und deponierte ihn auf der Pier.

»Gangway ein!« befahl Hasard. »Ben, wir laufen wieder aus. Ferris! Bleib an der Kanone!«

»Aye, aye!« tönte er zurück. Sir John führte auf der Pier einen Veitstanz auf. Und aus der

Menge löste sich ein einzelner Mann, weißhaarig, verwittert wie ein alter Granitfelsen, und marschierte auf zwei Krücken, einem gesunden und einem Holzbein heran - der alte Donegal Daniel O’Flynn, der Vater Dans.

Der Junge fiel vor Aufregung fast vom Hauptmars. »Huhu! Ich lach mich tot!« schrie er. »Da rückt die Ersatzreserve an! Leute! Das ist der alte

O’Flynn mit dem Holzbein, mit dem er auf meinem Rücken herumgedroschen hat. Ben – paß auf, wenn er das abschnallt.Hau ihm was vor die Kiemen, dem alten Hurensack - o Mann, ich wird verrückt …«

»Komm sofort da runter!« brüllte der alte O’Flynn und drohte

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mit der einen Krücke. Gleichzeitig brüllte Sir John, er würde seinen Sohn an der

nächsten Kirchturmspitze aufknüpfen. Die beiden Väter don­nerten ihre Söhne zusammen, daß es über den ganzen Hafen schallte.

Das Volk lauschte hingerissen. Hasards Männer grinsten, während die Leinen los geworfen

wurden. Die Segel fielen, und die ›Isabella‹ nahm langsam Fahrt auf.

»Du mißratene, stinkige Kröte!« schrie der alte O’Flynn. »Du verdammter Bastard!« brüllte Sir John. Donegal Daniel O’Flynn lachte sich tatsächlich fast tot. Er

turnte über die Marsverkleidung, zog die Hosen herunter und zeigte seinem Alten den nackten Hintern.

Aus der Menge im Hafen stieg ein einziges Gelächter hoch. Und als es verebbte, geschah etwas Merkwürdiges. Eine helleStimme, die Stimme eines Mädchens, ertönte wie eine Fanfare und trug ihren schmetternden Klang über den Hafen.

»Drei Hurras für den Seewolf!« Hasard ruckte verblüfft herum und blickte zum Kai hinüber. Ein dreifaches Hurra donnerte über das Wasser, Menschen

winkten und jubelten. Hasard nahm den Kieker hoch und rich­tete ihn auf die Stelle, von wo die helle Stimme erklungen war. Im Okular tauchte unter den vielen Gesichtern ein Mädchenge­sicht auf - rotblondes Haar, das im Wind flatterte, ebenmäßige Züge, eine kleine, gerade Nase, darunter ein sanft geschwun­gener Mund und ein festes Kinn. Teufel auch, dachte der See­wolf und ließ den Kieker weiterwandern - ah, und die Figur erst! Schlank, großgewachsen, und was sich da unter dem Mie­der spannte - Mann o Mann!

Hasard winkte, und dann brüllte er mit seiner Stimme, die schon so manchen Sturm übertönt hatte: »Drei Hurras für die schönen Mädchen von Falmouth!«

Das Hurra seiner Männer prallte wie eine krachende Breitsei­

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te gegen die Häuser am Hafen, wurde zurückgeworfen und rollte grollend über die Bucht.

Sir Thomas Doughty lehnte still und bleich an der Kutsche von Arwenack in einer Seitengasse.

Und an der Ecke davor rauften sich Sir John und der alte O’Flynn die Haare und verfluchten wechselseitig ihre mißrate­nen Söhne.

Die Menge lachte, drängte auf die Pier, Tücher wurden ge­schwenkt, Mützen und Kappen flogen wirbelnd in die Luft ­die Leute von Falmouth waren schier aus dem Häuschen.

Was sich darin ausdrückte, war eindeutig dies: ihre Sympa­thie für den Seewolf und seine Männer, denn längst hatte sich herumgesprochen, was diese Teufelskerle dort auf der spani­schen Beutegaleone alles angestellt hatten. Und dem verdamm­ten Philipp von Spanien hatten sie eine lange Nase gezeigt, zusammen mit dem großen Drake, der schon jetzt eine Legende war.

Das Mädchen indessen hatte rotglühende Wangen, warf einen schnellen Blick zu den beiden schimpfenden Männern an der Ecke, raffte ihre Röcke zusammen und hastete von niemandem bemerkt die Gassen und Stiegen zur Stammfeste der Killi­grews, Arwenack, hoch.

Die ›Isabella von Kastilien‹ segelte mit achterlichem Wind und prallen Segeln aus der Bucht von Falmouth.

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6.

Wieder rundeten sie Pendennis Castle. Ben Brighton stieg ü­ber den Niedergang zum Achterdeck hoch und trat zu Hasard, der an der Backbordreling lehnte und achteraus starrte. Jetzt wandte er sich zu seinem Bootsmann um und lächelte schief.

»Falmouth - ein Traum«, sagte er. »Scheint so, als seien wir mit dieser elenden Silberladung zur ewigen Wanderschaft ver­dammt.«

Ben Brighton nickte. »Bleibt nur Irland, wie?« Hasards Gesicht hellte sich auf. »Genau das wird der Alte

auch denken, wie ich ihn kenne. Und genau das werden wir nicht tun und ihm die Suppe versalzen.«

»Willst du etwa wieder zurück nach Plymouth segeln?« fragte Ben Brighton entgeistert.

Hasard grinste wie ein Faun, der hinter einer Nymphe her ist.»Ich denke gar nicht daran. Außerdem will ich meine Mutter besuchen. Wir bleiben hier, Ben. Hinter Kap Lizard kenne ich eine schmale Bucht, die von der Seeseite her nicht einzusehen ist. Dort ankern wir. Ich verwette unsere Silberladung, daß der Alte binnen zwei Stunden hinter uns her tobt - in der Annahme, daß wir uns in eine der verschwiegenen Buchten an der iri­schen Westküste verholen. Und dort kann er lange suchen Wenn er hinter der Kimm ist, gehen wir wieder ankerauf und segeln zurück nach Falmouth. Die Falmouther stehen auf unse­rer Seite, und ich will dir auch sagen, warum. Weil sie den Alten nicht ausstehen können und sogar Hurra schreien, wenn der alte Tyrann einen übergebraten kriegt.«

Ben Brighton begann zu schmunzeln. »Drei Hurras für den Seewolf, was? Kanntest du das Mädchen?«

»Nie gesehen. Ein Weib, sag ich dir, da war alles dran und noch mehr …«

»Ja, ja«, sagte Ben Brighton, »du hast ja auch am Kieker ge­hängt, als gäb’s was Nacktes im Badehaus zu sehen.«

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Hasard räusperte sich und wechselte schnell das Thema. »Ich möchte wissen, wie dieser verdammte Doughty dahin­

tergestiegen ist, daß wir Falmouth anlaufen würden.«»Ganz einfach. Aus den gleichen Überlegungen, die du auch

angestellt hast. Du hattest gedacht, in Falmouth, im Hafen der Killigrews, sei die ›Isabella‹ sicher. Genau das wird sich Doughty auch überlegt haben. Er hat sich in seine Kalesche gesetzt und nach Falmouth fahren lassen. Und dann hat er Sir John aufgesucht und ihm die Hucke vollgelogen. Wer weiß, was er ihm alles aufgetischt hat. Sir John war jedenfalls auf unsere Ladung so scharf wie ein Fuchs auf die Gans.

Übrigens …« Ben Brighton brach ab und schüttelte den Kopf. »Was?« Der Bootsmann wurde verlegen. »Ach, nichts.« »Heraus mit der Sprache, Ben. Wer einen Satz anfängt, muß

ihn auch zu Ende sprechen.« »Na ja, ich hab mich gewundert.«»Über was?« »Über deinen Vater und dich.« »Ach so. Na, jetzt hast du ihn ja kennengelernt. Hab ich über­

trieben, als ich ihn dir beschrieb?« »Keineswegs. Aber das meine ich auch nicht. Ich hab mich

über etwas anderes gewundert. Ich weiß nicht so recht, ob ich das sagen darf. Es steht mir nicht zu.«

»Spuck’s aus, Ben. Was den Alten betrifft, da kann mich nichts mehr erschüttern.«

Der Bootsmann lächelte verlegen. »Man sagt, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Wenn das stimmen sollte, dann bist du allerdings sehr weit vom Stamm entfernt heruntergefallen. Duund dein Vater, ihr unterscheidet euch voneinander wie Tag und Nacht.«

Hasard bückte ihn überrascht an. Dann grinste er.

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»Wer ist denn bei diesem Vergleich die Nacht?« »Dein Alter«, sagte Ben Brighton prompt und biß sich auf die

Zunge. »Verzeihung«, fügte er hinzu. »Ach was, du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen, Ben.

Sir John hat eine schwarze Seele, und meine drei Brüder haben sie auch. In ihren Augen bin ich allerdings das schwarze Schaf in der Sippe der Killigrews. Sie haben es mir oft genug zu ver­stehen gegeben.«

Und so erfuhr Ben Brighton die Geschichte. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr war Philip Hasard Killigrew von seinen Brüdern, die dann stets zusammenhielten, in schöner Regelmä­ßigkeit verdroschen worden, und meist hatte ihm dann Sir John abschließend den Hintern versohlt, denn einen der drei Brüder hatte er zumindest mit Blessuren versehen. Aber ab dem zwölf­ten Lebensjahr hatte Hasard zurückgezahlt. Und als er fünfzehn Lenze zählte, da kannte er sämtliche schmutzigen Tricks, dieseine Brüder anwandten, war selbst stark wie ein spanischer Kampfstier, geschmeidig wie eine Wildkatze, blitzschnell in seinen Reaktionen und von einer Härte, die sogar den alten ausgekochten Sir John ergruseln und vorsichtig werden ließ.

Aber dann hatte sich der Alte doch noch einmal aus irgendei­nem lächerlichen Grund hinreißen lassen und Hasard eine Ohr­feige verpaßt. Da war Hasard inzwischen siebzehn gewesen. Es sollte die letzte Ohrfeige sein, die er gewillt war, von Sir John einzustecken.

Er hatte gelächelt, den Alten mit der Rechten am Wams ge­packt, mühelos hochgestemmt und in das Hirschgeweih ge­hängt, das den klotzigen Kamin in der Halle von Schloß Arwe­nack zierte. Dort hatte der Alte gezappelt und gebrüllt.

Zuerst war John Malcolm, der älteste der Brüder, in die Halle gestürzt, um den Alten vom Geweih herunterzuholen.

Vorm Kamin hatte Hasard dem heranstürmenden John ein Bein gestellt, ihn am Kragen wieder hochgehievt und eine Maulschelle verpaßt. Mit dieser Maulschelle hatte sich John

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Malcolm zufrieden gegeben. Zu mehr reichte es auch gar nicht, weil er das Gefühl hatte, keinen Kopf mehr zu haben. Er suchte ihn noch, als der tückische Simon Llewelyn und der plumpe Thomas Lionel auf dem Kampfplatz erschienen und zum Sturm auf den Kamin antraten.

Die beiden waren glatt ins Kaminfeuer gerannt. Denn Hasard hatte sich mit einem Sprung an die Beine Sir Johns gehängt, seine eigenen Beine schnell hochgezogen, und so waren denn die beiden unter ihm durchgesaust - hinein in das prasselnde Feuerchen.

Sie brüllten, als würden sie am Spieß gebraten, und dieser Ver gleich war durchaus richtig. Simon Llewelyns Kopf mit dem roten Killigrewhaar hatte sich mit einem vollglühenden Buchenscheit zu schmerzhafter Berührung vereint, während Thomas Lionel, den Sturz in den Kamin abbremsend, beide Hände in die Glut gestoßen hatte.

Die Schlacht war entschieden, noch bevor sie richtig ange­fangen hatte - zwei angesengte Brüder im Kaminf euer, einer in der Halle herumtorkelnd auf der Suche nach seinem Kopf, und der Erzeuger schließlich im Hirschgeweih.

Hasard war sanft abspringend wieder am Boden gelandet, hat ­te Simon eine Felldecke über den glimmenden Kopf geworfen und dem greinenden Thomas Wasser aus einer Vase über die angesengten Hände gegossen. John Malcolm hatte er in einen Sessel gestoßen, wo er kopfwackelnd sitzen blieb und blöd stierte.

Um den Alten hatte er sich einen Dreck gekümmert, bis der ­klein wie eine Maus - sehr höflich gebeten hatte, ihn doch wie­der auf den festen Boden der Schloßhalle zu stellen. Was Ha­sard dann auch getan hatte.

Seitdem hatte er seinen Frieden gehabt, aber er hatte immerhöllisch aufpassen müssen, den Rücken frei zu haben.

Bei seiner Warnung, jedem die Knochen zu zerbrechen, der es noch einmal wagen sollte, ihn anzufassen, hatten sie wie

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Straßenköter gekuscht. Später hatten sie dann und wann ge­knurrt, eben wie Straßenköter, aber zu mehr hatte es nie ge­reicht - ein sanfter Hinweis auf die »Kaminstunde« genügte, sie verstummen zu lassen.

Wahrscheinlich hatten sie aufgeatmet, als er Arwenack ver­ließ, denn er war ihnen allen über den Kopf gewachsen.

Ben Brighton kratzte sich den Kopf, als Hasard schwieg. »Die müssen einen ganz schönen Tick auf dich haben«, sagte

er. »Wem sehen denn deine Brüder ähnlich?« »Natürlich dem Alten«, erwiderte Hasard. Ben Brighton nickte und dachte sich seinen Teil. Wenn das so

»natürlich« war, daß die drei Söhne dem Vater ähnelten, wa­rum traf das dann nicht auch bei dem vierten Sohn zu? Das fragte er sich, und er fand, daß sein Vergleich, Vater und Sohn unterschieden sich wie Tag und Nacht, noch viel zu schwach war. So verschieden wie Feuer und Wasser paßte als Vergleich besser. Aber das sagte er nicht.

»Kap Lizard steuerbord voraus!« schrie Donegal Daniel O’Flynn vom Hauptmars.

»Danke, Dan!« rief Hasard hoch. »Paß vor allem nach achtern auf.«

»Aye, aye!« tönte es zurück. Etwa zwei Stunden nach ihrem Auslaufen aus Falmouth pas­

sierten sie Kap Lizard, das wie eine Naturfestung mit granite­nen Säulen, Türmen und Zinken ins Meer hinausragte. An ihrer Steuerbordseite öffnete sich im weiten Bogen nach Westen die Mount’s Bay.

Hasard ging wieder höher an den Wind, der immer noch von Westen wehte und wendete nach etwa einer Viertelstunde auf

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den Steuerbordbug. Mit diesem Kreuzschlag segelte er genau auf sein Ziel zu - eine Felsmasse, höher noch als Kap Lizard, deren auffälligstes Merkmal fünf bizarr geformte Spitzen wa­ren. Hasard und seine Brüder hatten dieses merkwürdige Ge­bilde »Fünf Finger«, genannt, obwohl diese Finger ziemlich verkrüppelt waren. Der Mittelfinger hatte noch dazu quer auf seiner Spitze eine riesige Felsplatte, die wie ein Pilzdach wirk­te. Von weitem sah es aus, als würde diese Platte jeden Mo­ment herunterkippen, aber sie saß unverrückbar fest.

Unter ihr war es bei Regen herrlich trocken. Hasard hatte oft dort oben gehockt und auf die See hinaus geschaut - am liebstenbei Sturm, wenn die Wogen wie wilde Reiterscharen heran­stürmten, gegen die Kliffe und Felsen anbr andeten und in wir­belnder Gischt zusammenbrachen und verschäumten.

Bei südlichen stürmischen Winden war die kleine, versteckte Bucht hinter den »Fünf Fingern« ein brodelnder Hexenkessel.Dann wurde die See durch die schmale Einfahrt gepreßt und schoß mit pfeilartiger Geschwindigkeit gleich einem waage­rechten Wasserfall in die Bucht, bildete kochende Wirbel, hämmerte gegen die umgebenden Felswände, fraß sich gur­gelnd in Schründe und Risse und jagte glitzernde Wasser­schleier hoch, die dann wie feine Sprühnebel auf das felsige Gestein niederschwebten und es bestäubten.

Bei Westwind lag man in der Bucht so sicher wie in Abra­hams Schoß.

Sie war dann wie ein Binnensee, über dem am Abend die Mücken tanzten, unverdrossen, ob Hunderte ihrer Art in den zuschnappenden Mäulern gieriger Meerforellen landeten.

Hasard ließ das Ankergeschirr klarmachen. Er peilte den lin­ken Finger an, während er Pete Ballie die Kursanweisungen gab. Wenn der Wind nicht nördlicher drehte, konnte er den Eingang zur Bucht gut anliegen, ohne noch einen Zwischen­schlag segeln zu müssen.

Ben Brighton, der diese Ecke nicht kannte, starrte besorgt

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voraus. »Mann, wo soll denn da nur eine Bucht sein?« murmelte er.

»Ich hab den Eindruck, daß wir gleich die Steilküste auf die Hörner nehmen.«

Hasard lächelte. »Hier, nimm mal den Kieker. Voraus siehst du doch so ein Gebilde - meine Brüder und ich tauften es »Fünf Finger«. Hast du’s?«

»Ja.« »Jetzt geh von dem linken Finger etwa eine Daumenbreite

nach links, da hebt sich deutlich in der Felswand von oben nach unten ein dunkler Einschnitt ab. Er ist mit bloßem Augezu erkennen. Das ist die Einfahrt in die Bucht.«

»Was? Da sollen wir durch?« »Klar. Die Einfahrt sieht von weitem so schmal aus. Sie öff­

net sich sofort nach innen. Die ›Isabella‹ paßt da zweimal durch. Pete, fall etwas ab, einen Viertelstrich nach Steuerbord.«

»Aye, aye, einen Viertelstrich nach Steuerbord.« Der Bugspriet der ›Isabella‹ schwenkte etwas nach rechts. »Neuer Kurs liegt an«, meldete Pete Ballie. »Recht so?« »Recht so«, bestätigte Hasard. Ben Brighton räusperte sich. »Sag mal, wenn deine Brüder diese Bucht auch kennen, könn­

te es nicht sein, daß …« »Daß sie hier nachsehen, falls sie mit hinter uns her sind?«

Hasard schüttelte den Kopf. »Die tun nur, was der Alte sagt. Und wenn er sagt, wir seien nach Irland abgehauen, dann beißt da keine Maus den Faden ab. Die werden sich hüten, das Maul aufzureißen, um darauf hinzuweisen, daß man die Bucht kon­trollieren müsse. Und wenn« - der Seewolf lächelte grimmig -, »dann sitzen wir zwar in der Falle, aber wer auch immer in die Bucht segelt - er wird von unserer Breitseite zu Treibholz ver­arbeitet. Insofern ist die Bucht wiederum ideal.«

Ben Brighton bohrte weiter. »Und von oben? Wenn man von oben angegriffen wird?«

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»Von Land her? Du hast Sorgen. Klar, da kann man uns Steinklamotten auf die Köpfe schmeißen …«

»Und Feuertöpfe«, unterbrach ihn Ben Brighton. »Richtig, Feuertöpfe auch. Auch Nachttöpfe. Aber dagegen

gibt’s ebenfalls ein Mittel. Das Gebiet oben rund um die Bucht ist bequem von vier, fünf Männern zu halten. Nur ein Idiot würde versuchen, von da oben aus anzugreifen. Jetzt zufrie­den?«

»In Ordnung«, sagte Ben Brighton. »Du bist der Admiral.« Ein gellender Schrei Donegal Daniel O’Flynns ließ alle an

Deck zusammenzucken. »Wal - ho!« schrie er. »Dort, er bläst, backbord achteraus!« Sämtliche Köpfe fuhren herum, scharfe Augen suchten in der

bezeichneten Richtung - ja, dort stand wie ein silbernes, ausei­nanderfallendes und ständig wieder aufsteigendes Ährenbündel die Dampfsäule eines Walspautes, jene so typische Fontäne,die den Standort des Riesen anzeigte.

Sie bewegte sich auf die ›Isabella‹ zu, und zugleich mit Dan O’Flynns nächstem Schrei sahen sie noch etwas.

»Killerwale!« Schwertwale, sechs bis acht Yards lange, gefräßige Mörder

mit hohen, schwertförmigen Rückenflossen. Wie die wilde Jagd brausten sie heran, massig, mit gewalti­

gem Maul, eine Rotte unbarmherziger Killer, die den Giganten umzingelt hatten und sich schaumumbrandet auf ihn warfen. Fast in unmittelbarer Nähe der ›Isabella‹ spielte sich das schaurige Drama ab - die See war die Bühne, die Galeone der Logenplatz, von dem aus die Männer atemlos und gebannt zuschauten.

Schwärzliche, zuckende Leiber umdrängten den Riesen und verbissen sich in dem hilflos schnaubenden Tier, dessen gewal­tige Schwanzflosse das Wasser peitschte und zum Kochen brachte. Zwei Killer hingen an den mächtigen Lippen des Wals wie wütende Bulldoggen an der Wampe einer Kuh. Drei, vier

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andere fraßen sich regelrecht in den Leib und rissen große, blutende Fetzen heraus. Das riesige Tier brüllte vor Schmerz wie eine Herde Ochsen.

Es war ein Schlachtfest, das sich mit rasender Geschwindig­keit abwickelte, denn schon sank der zerrissene und zerfetzte Koloß mit den an ihm hängenden Killetn in die Tiefe, aus der es dunkelrot und dann fast purpur aufquoll - ein blutiger Tep ­pich auf dem Meer.

Und schon schossen die Mörder wieder hoch, einer nach dem anderen, im gefräßigen Rachen mächtige Blubberstücke, mit denen sie wie Diebe in der Nacht in der endlosen Weite süd­wärts verschwanden, während aus allen Richtungen die nächs­ten Fresser heranschwebten - Seevögel, die kreischend und flügelschlagend über der Mordstelle einfielen und reiche Nach­ernte hielten.

Eine halbe Stunde später würde die See wie immer sein, nichts würde mehr darauf hindeuten, daß hier einer der Großen der nördlichen Meere sein gräßliches Ende gefunden hatte ­lebendig geschlachtet.

»Verdammte Biester«, murmelte der dicke Lewis Pattern. »Ach?« Der blonde Stenmark bohrte seinen Zeigefinger in

Lewis Patterns Bauch. »Wie viele Fische hast du denn schon aufgefressen, Dicker?«

»Aber keine lebendigen«, sagte Lewis Pattern. »Na und? Wo ist da der Unterschied? Bevor du sie gefressen

hast, waren sie jedenfalls lebendig, oder?« Lewis Pattern fand keine passende Antwort. Wütend sagte er:

»Mann, wie du die Sachen wieder verdrehst.« »Ich verdrehe gar nichts. Nur du siehst die Dinge schief.

Menschen und Tiere, alle Lebewesen, müssen fressen, um zu leben. Dabei frißt der eine den anderen und wird selbst vom dritten gefressen. Das war schon immer so, und nichts wird sich daran ändern. Und da regst du dich auf, weil sich ein paar Schwertwale den Bauch vollgeschlagen haben. Schau dir mal

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deine eigene Wampe an, Dicker.« »Ich hab keine Wampe«, sagte Lewis Pattern wild. Der Schiffszimmermann fuhr dazwischen. »He! Ihr zwei da!

Ist hier ‘n Plauderstündchen, oder was ist hier? Lewis - die Ankertrosse unter Deck muß noch kontrolliert werden. Und du, Stenmark, darfst schon die Zurrings vom Dinghi lösen, wir setzen es nach dem Ankern aus. Hopp, hopp, ihr beiden.«

Die ›Isabella‹ stand jetzt etwa dreihundert Yards vor der Ein­fahrt zu der Bucht. Der Schwarm Seevögel blieb zankend und kreischend achteraus zurück.

Hasard ließ alle Segel bis auf Großmars und Fockmarssegelwegnehmen, um nicht mit zu hoher Geschwindigkeit in die Bucht zu rauschen. In der Bucht selbst würde es fast windstill sein. Das Ankermanöver dort bot keine Schwierigkeiten. Nur der Ankergrund bereitete ihm etwas Sorgen. Er war voller Ge­röll, und es war immer riskant, dort vor Anker zu gehen. Unter Umständen faßte der Anker nicht, dann konnte er allerdings immer noch Vor- und Achterleine ausfahren und mit dem Dinghi an Land bugsieren, wo sie an irgendeiner Felsnase ver­täut werden konnten.

Nur unter Großmars- und Fockmarssegel lief die ›Isabella‹ jetzt wesentlich langsamer. Der Wind war konstant geblieben und hatte auch nicht nach Norden gedreht. Hasard steuerte mit einigen Ruderkommandos die Einfahrt auf einem schrägen Kurs an. Es war fast eine Fahrrinne mit der nötigen Tiefe, wel­che die heranrollenden Seen seit Jahrhunderten oder Jahrtau­senden regelrecht ausgebaggert hatten.

Nichts behinderte die Einfahrt, keine Klippen, keine Untiefen, keine Felsen. Die Bucht war ein idealer Schlupfwinkel, das erkannte jetzt auch Ben Brighton.

Sanft glitt die ›Isabella‹ in die Einfahrt. Fast augenblicklichempfing sie eine Stille, die nach dem brausenden Wind drau­ßen um so krasser war. Nur ein paar Möwen flatterten er­schreckt hoch und beschimpften mit ihren quarrenden Schreien

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die Eindringlinge. Großmars- und Fockmarssegel killten. Die Felswände, die

ringsum bis zu vierzig und mehr Yards aufstiegen, hielten den Westwind ab.

Hasard blickte nach vorn auf die Back, wo Ben Brighton stand und auf das Ankerkommando wartete.

Noch hatte die ›Isabella‹ Fahrt. »Halte etwas nach Backbord, Pete«, befahl Hasard. »Ja, so ist

es recht.« Die ›Isabella‹ geriet in gefährliche Nähe der Wände links der

Einfahrt. »Jetzt nach Steuerbord, Pete. Wir fahren einen Halbkreis.« Pete legte wieder Ruder. Die dickbäuchige Galeone schwenk­

te wie eine träge Kuh ein, beschrieb in der Bucht eine sanfte Kurve und trieb unendlich langsam in die Nähe der gegenüber­liegenden Felsen, die bizarr und schroff nach oben stiegen. DerEingang der Bucht befand sich jetzt schräg steuerbord voraus.

»Fallen Anker!« rief Hasard über das Deck. »Aye aye!« ertönte Ben Brightons Stimme zurück. Der Anker klatschte ins Wasser und versank blubbernd. Die

Ankertrosse rauschte hinterher. Ben Brighton beugte sich vorn auf der Back über die Reling und starrte nach unten.

»Stop!« rief er. Smoky stoppte die Trosse. »Trosse steht etwas achteraus!« rief Ben Brighton. Die ›Isabella‹ hatte den Anker überlaufen. Hasard spürte

deutlich, wie die Trosse einruckte und die Fahrt der ›Isabella‹ endgültig stoppte. Sie schwoite etwas nach Land zu und sackte ganz allmählich achteraus.

»Trosse zeigt voraus!« rief Ben Brighton. »In Ordnung, Ben! Gib noch etwas Lose in die Trosse, ich

glaube, der Anker hat gefaßt.« »Aye.aye.« Smoky fierte die Trosse noch etwas weg. Der Anker hatte tat ­

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sächlich gefaßt. Die Galeone lag wie ein Klotz auf dem Wasser und rührte sich nicht mehr.

Hasard schaute zum Großmars hoch. »Na, Dan? Wie wär’s mit einem Stellungswechsel? Wir beide

pullen an Land und steigen hoch zu den »Fünf Fingern«, um ein wenig Umschau zu halten.«

Donegal Daniel O’Flynn sauste wie der Blitz an den Wanten hinunter - er sparte sich den Weg über die Webeleinen, die wie die Sprossen einer Strickleiter zwischen den Wanten nach oben zum Mars verliefen.

Hasard lächelte und klemmte sich den Kieker unter den Arm. Er sprang hinunter auf die Kuhl, wo Ferris Tucker bereits mit Batuti, Blacky, Carter und Al Conroy das Dinghi klarmachten, um es über Bord zu hieven. Der starke Stenmark hing an einer Talje, die mit einem Stropp an der Rah des Großsegels ange­schlagen war. Vom unteren Bügel der Talje verliefen zweiweitere Stroppen zum Bug und Heck des Dinghis. Mühelos hievte Stenmark das Dinghi hoch, während Ferris Tucker und seine Männer die Rah außenbords schwenkten. Als das Dinghi dicht querab der Backbordseite hing, fierte Stenmark.

»Stop!« rief Ferris Tucker. »Smoky, schlag die Vorleine an! Beeil dich, Stenmark kann nicht so lange halten. Batuti, häng dich bei Stenmark mit an die Talje!«

Hasard grinste. »Ihr hättet die Vorleine ja auch schon früher anschlagen können, ihr Holzköpfe - aber bitte, Ferris, du hast das Kommando.«

Der Schiffszimmermann wurde tatsächlich rot. Er fluchte still vor sich hin, während Smoky mit der Vorleine am Bug des Dinghis herumfummelte, wobei er halb über dem Schanzkleid hing.

»Wir sollten das wohl mal üben«, sagte Hasard in seiner sanf­ten Art - und wenn er sanft wurde, dann zogen die Männer der ›Isabella‹ ihre Köpfe ein.

Hasard drehte sich zu Ben Brighton um.

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»Ben, laß sicherheitshalber die Drehbasse auf der Back beset ­zen.« Dann schaute er zu dem schwitzenden Ferris Tucker. »Ferris, laß die alte Tante gefechtsklar machen. Und bevor du das Dinghi wegfierst, gib uns noch einen Anker mit Trosse in den Kahn. Dan und ich werden ihn als Heckanker ausbringen. Dann zieht ihr die ›Isabella‹ mit dem Heck mehr zum Land hin bis die Backbordseite schräg zur Einfahrt der Bucht zeigt. Sämtliche Kanonen auf der Backbordseite werden klar zur Breitseite gemacht - ebenfalls die Steuerbordkanonen. Ist das klar?«

»Klar«, röhrte Ferris Tucker. Er ließ einen zweiten Anker in das Dinghi verfrachten, dann

fierten Stenmark und Batuti das Dinghi nach unten, bis es auf das Wasser aufsetzte. Blacky behielt die Vorleine in der Hand. Ferris Tucker ließ noch eine Jakobsleiter ausbringen.

Hasard wandte sich noch einmal an Ben Brighton. »Dan und ich sind dort oben bei den »Fünf Fingern«. Wir können euch also rechtzeitig warnen, falls jemand von See her neugierig wird.

Auch eine Annäherung von Land würde von uns bemerkt werden. Du kannst also unbesorgt sein. Allenfalls bin ich rechtzeitig wieder an Bord. Noch Fragen?«

»Nein.« »Gut, Dan, du hast den Vortritt. Übernehme die Pinne. Ich

werde pullen.« Dan O’Flynn kletterte die Jakobsleiter hinunter und setzte

sich auf die achtere Ducht. Hasard folgte ihm und sprang in das Boot.

»Vorleine los!« rief er zu Blacky hoch. »Ferris! Bringt die Ankertrosse nach achtern und gebt uns genügend Lose!«

»Aye, aye.«Hasard stieß das Dinghi mit einem Riemen von der Bordwand

ab, legte die Riemen in die Runzeln, pullte zum Heck und von dort querab auf das felsige Ufer zu. Der Anker lag zwischen

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ihm und Dan in der Flicht, die Ankertrosse verlief an Dan vor­bei über den Spiegel zum Heck der Galeone. Sie war schwer und sperrig, und je weiter sich das Boot von der Galeone ent ­fernte, desto schwieriger wurde für Hasard das Pullen. Er muß­te sich ziemlich in die Riemen legen. Etwa drei Yards vom Felsufer entfernt warf er den Anker außenbords. Er wußte, daß an dieser Stelle sandiger Boden war, in dem der Anker ohne weiteres fassen würde.

»Klar, Ferris!« rief er zur ›Isabella‹ hinüber. »Ihr könnt das Heck jetzt herumholen.«

Ferris Tucker hob die Hand zum Zeichen, daß er verstanden hatte, und Hasard sah, wie der Schiffszimmermann mehrere Männer an die Trosse scheuchte. Mit Hauruck begannen sie, sich ins Zeug zu legen. Die Trosse straffte sich, und das Heck der Galeone schob sich mehr und mehr zum Land hin.

Hasard nickte zufrieden und trieb das Boot mit zwei Riemen­schlägen zu einer Felsnase. Er schlang die Vorleine herum und stieg an Land. In Höhe des Wasserspiegels klebten Muscheln und Algen an den Felssteinen. Der Boden war zum Teil ziem­lich schlüpfrig, oberhalb der Flutlinie aber dann trocken.

»Los, Dan! Wer ist als erster oben?« Dan O’Flynn grinste von einem Ohr zum anderen, hatte rote

Wangen und blitzende Augen. Das war ein Landgang nach seinem Geschmack. Er kletterte wie ein Affe an Hasard vorbei und arbeitete sich höher, wobei er geschickt Felsvorsprünge, Risse und Einschnitte ausnutzte.

Er ließ Dan einen Vorsprung, dennoch langte er vor ihm oben bei den »Fünf Fingern« an, weil er einen Kletterpfad benutzte, den er von früher her kannte.

Der Junge starrte ihn verdutzt an. »Du bist schon oben? Hast du gemogelt? Ich konnte dich nur

eine kurze Zeit sehen, dann warst du plötzlich verschwunden.« Hasard lächelte. »Zwanzig Yards neben unserer Landestelle

führt ein Kletterpfad hoch. Ich war als Junge viel hier. Also

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gut, ich habe gemogelt. Dafür biete ich dir einen Ausblick auf die See, wie du ihn sicher noch nie gehabt hast.«

Hasard ging vor und führte Dan O’Flynn unter das Pilzdach des Mittelfingers. Schweigend deutete er auf die unendliche See.

Dan riß Mund und Augen auf und starrte stumm. Links von ihnen ragte Kap Lizard ins Meer wie ein trotzige Burg. Rechts schwang die Küste in einem weiten Bogen westwärts.

»Dort liegt Lands End«, sagte Hasard. »Du kannst die Spitze gerade noch erkennen. Bei ganz klarer Sicht sieht man sogar Wolf Rock, das winzige Eiland vor Lands End.«

Dan O’Flynn staunte und sagte hingerissen: »Mann, ist das schön. Wie muß das erst sein, wenn bei Sturm die Brecher heranrollen.« Er beugte sich vor und schaute nach unten. »Wir hoch sind wir hier?«

»Kanpp fünfzig Yards.« Hasard setzte sich auf einen Stein und deutete auf die Granit ­

wand des Mittelfingers. Dort waren in Kopfhöhe Dans drei Buchstaben und eine Jahreszahl in den Fels gehämmert worden : P. H. K. - 1568.

»Philip Hasard Killigrew«, sagte der Seewolf und lächelte. »Das war vor acht Jahren. Ich hab Stunden gebraucht, um mit Hammer und Meißel Zahlen und Buchstaben in den Granit zu schlagen. Hinterher hatte ich Blutblasen und zerhauene Finger. Dafür weiß ich, daß die Zeichen noch sichtbar sein werden, wenn ich längst zu Staub zerfallen bin. Stell dir vor, in drei­hundert oder vierhundert Jahren steht jemand hier oben und liest die Initialen und die Jahreszahl. Und dann fängt er an, darüber nachzudenken, wer wohl dieser P. H. K. gewesen sein mochte.«

»Toll«, sagte Dan O’Flynn begeistert. »Schade, daß wir nichtHammer und Meißel dabei haben, dann würde ich meine Initia­len und die Jahreszahl 1576 unter deinen Zeichen einhäm­mern.«

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»Das kannst du ja später mal nachholen. Man kann auch über Land auf einem schmalen Fußpfad hierher. Er ist allerdings ziemlich gefährlich, und man muß ein paarmal über Felsspalten springen, die nicht gerade schmal sind. Hat es dich nie gereizt, hier mal hochzuklettern? Die »Fünf Finger« hast du doch be­stimmt schon gesehen, wenn du mit deinem Vater ‘raus zum Fischfang fuhrst.«

Dan O’Flynn nickte. »Ich wollte, aber mein Alter hat’s mir verboten. Er hat gesagt,

hier seien Wassermänner, die Jungens auffressen …« »Ach du lieber Gott«, unterbrach ihn Hasard. »Wassermänner?« Er grinste. »Hast du welche gesehen?« »Nein.« »Na also. Old O’Flynn hat dir einen ganz schönen Bären auf­

gebunden.« Dan schniefte. »Damals habe ich’s ihm geglaubt. Heute wür­

de ich ihn auslachen, den Hundesohn. Hast du gesehen, wie er auf der Pier herumgetobt ist? Mann, war der in Fahrt. Am liebsten hätte er seine Krücken vor Wut aufgefressen. Sir John war auch ziemlich in Fahrt, wie?«

»Und ob.« Hasard zeigte seine Zähne. »Was meinst du, was erst los ist, wenn er rund um Irland nach uns sucht und nichts findet. Platzen wird er, der Alte. Mir tun nur die Männer an Bord leid, an denen er dann seine Wut ausläßt. Wenn ihm mal einer einen Belegnagel auf seinen verdammten Schädel hauen würde, sollte mich das gar nicht wundern. Hier, nimm den Kieker. Paß vor allem in Richtung Kap Lizard auf. Ich schau mal, wie die ›Isabella‹ da unten in der Bucht liegt.«

»Aye, aye.« Dan O’Flynn setzte sich auf einen Stein vor demmittleren Felsen und lehnte den Rücken an. Dann nahm er den Kieker vor das rechte Auge und richtete ihn auf Kap Lizard.

Hasard kletterte über das Geröll bis an den Rand des Felsens

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und spähte hinunter in die Bucht. Die ›Isabella‹ lag so, wie er es gewünscht hatte. Die Männer hatten die Kanonen ausgefah­ren, die Ferris Tucker gerade eine nach der anderen kontrollier­te. Al Conroy und Smoky standen bei der Drehbasse vorn auf der Back, die schußklar war.

Ben Brighton marschierte mit den Händen auf dem Rücken auf dem Achterdeck hin und her.

Dan O’Flynns Ruf ließ Hasard herumfahren. »Eine Karavelle!« Hasard kletterte über das Geröll zurück zum mittleren Felsen

und blickte zum Kap Lizard hinüber. Und dann lächelte er grimmig. Es war die Karavelle seines Vaters.

Dan O’Flynn hatte den Kieker arn Auge und begann plötzlich zu kichern. Er ließ den Kieker sinken und blickte zu Hasard hoch.

»Sir John rennt auf dem Achterdeck ‘rum. Doughty ist eben­falls an Bord und Thomas Killigrew, dein jüngster Bruder. Und weißt du wer noch?«

»Sag bloß dein Alter.« »Genau.« »Was haben wir beide nur für Väter«, sagte Hasard. »Gib mir

mal das Glas. Und dann komm hier hinter den Felsen, damit sie uns von da unten aus nicht sehen. Könnte sein, daß Lionel hier hochpeilt.«

»Da! Noch eine Karavelle!« stieß Dan hervor und zeigte zum Kap.

Eine zweite Karavelle folgte im Kielwasser der anderen, die jetzt an den Wind ging und über Backbord einen Schlag in Richtung Lands End segelte.

Hasard spähte durch den Kieker zur Karavelle seines Vaters. Der Alte tobte auf dem Achterdeck herum und schrie seine Männer an, die Segel noch härter dichtzuholen, um höher an­liegen zu können. Und dann sah er, daß auch Old O’Flynn kräftig mitmischte. Er schlug einem Seemann die eine Krücke

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ins Kreuz, weil der wohl zu lahm an einer Schot zog. Hasard fluchte vor sich hin, obwohl bisher alles so lief, wie er

es sich gedacht hatte. »Dein Alter und mein Alter sind bereits jetzt schon in voller

Fahrt«, sagte er. »Sie spielen verrückt und rotzen die Männer an, daß es nur so raucht.«

»Typisch«, sagte das Bürschchen weise. »Mein Alter kann gar nicht anders.«

»Lebt deine Mutter noch?« fragte Hasard unvermittelt. Dan O’Flynn schüttelte den Kopf. »Sie ist kurz nach meiner Geburt gestorben.« Verbittert fügte

er hinzu: »Acht Kinder hat er ihr gemacht, der alte Huren­bock.«

Hasard ließ den Kieker sinken und blickte ihn erstaunt an. »Was denn, acht? Du sagtest doch, ihr seid sieben.«

»Sieben Söhne, ja. Und noch ‘ne Tochter …« Dan biß sich plötzlich auf die Lippen und schwieg.

»Eine Tochter?« fragte Hasard verblüfft. Dan nickte mürrisch. Plötzlich straffte sich sein Gesicht, und

er hob den Arm. »Da! Noch ‘ne Karavelle! Sir John bietet ‘ne ganze Flotte auf, um uns zu jagen. Mann, ist das ein Aufwand ­und nur wegen dieses Scheißsilbers, nicht wahr?«

»Das spielt wohl die größte Rolle«, erwiderte der Seewolf. »Zum anderen fuchst es den Alten aber auch, daß wir so eine prächtige Galeone gekapert haben. Na, und dann natürlich die Szene im Hafen. Daß ich nicht das tue, was er fordert, das bringt ihn zur Weißglut.«

Hasard richtete den Kieker auf die dritte Karavelle. »Sieh an«, sagte er, »Bruder Simon als Kapitän. Und wo

steckt der gute John Malcolm mit seinem Schweins gesicht?« Er suchte mit dem Kieker noch einmal das Achterdeck der zweiten Karavelle ab, konnte aber John M. nicht entdecken.

»Dann hat der Alte ihn auf Arwenack zurückgelassen«, fügte er hinzu.

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Er beobachtete weiter und hatte Simon mit seinem roten Ge­sicht und den roten Haaren genau im Kieker. Simon plustete sich auf wie ein radschlagender Pfau. Hasard grinste. Was der sich fühlte, daß er mal ein Schiff führen konnte! Hasard erin­nerte sich, daß Simon Llewelyn die Seefahrt nur kapiert hatte, weil Sir John sie ihm mit einem Tauende eingetrichtert hatte. John M. hatte etwas schneller begriffen, während Thomas Lio­nel, der jüngste der Brüder, etwas plump und dümmlich war. Aber alle drei Brüder waren gewalttätig wie Sir John - und ständig hinter irgendwelchen Weiberröcken her, wobei weder Alter noch Schönheit irgendeine Rolle bei ihnen spielte. Weibwar Weib, das hatte John Malcolm einmal großkotzig zum besten gegeben, worauf der Alte ihm eine gescheuert und dann dröhnend gelacht hatte.

Und jäh wie ein einschlagender Blitz durchzuckten hier oben auf dem Felsen der »Fünf Finger« den Seewolf eine Erkenntnisund sofort eine Frage.

Ich bin nicht so - aber warum bin ich anders? Donegal Daniel O’Flynn starrte ihn erschrocken an. »Sir! Habe ich etwas falsch gemacht? Was ist?« Hasard schüttelte den Kopf. Dan O’Flynn sah, wie das plötz ­

lich granitharte Gesicht wieder weicher wurde und die Ver­krampfung der Kiefermuskeln sich löste.

»Es ist nichts«, sagte der Seewolf. Er sagte es etwas mühsam und leise. »Es ist gar nichts, mir ist nur eben etwas eingefallen - etwas,

das mir schon längst hätte einfallen müssen.« Er erinnerte sich an das Verwundern Kapitän Drakes, als dieser erfahren hatte, daß er, der Seewolf, der Sohn Sir John Killigrews sei. Und was hatte Ben Brighton gesagt?

»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Und wenn das stim­men sollte, dann bist du allerdings sehr weit vom Stamm ent ­fernt heruntergefallen. Du und dein Vater, ihr unterscheidet euch voneinander wie Tag und Nacht.«

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Plötzlich hatten diese Worte eine neue, völlig andere Bedeu­tung.

Ein Verdacht keimte in Hasard auf, und er wußte, daß er nicht eher ruhen würde, bis er auf eine Frage eine gültige Antwort erhalten hatte.

Die Frage lautete: Wer bin ich?

Mit zusammengekniffenen Augen, in denen Härte, Trotz und so etwas wie Neugier schimmerten, verfolgte er den Kurs der drei Karavellen, die über Backbordbug westwärts steuerten. Mit bloßem Auge waren die Manner auf den Decks nicht mehr zu erkennen. Es war jetzt Nachmittag. Die Sonne stand ir­gendwo nicht sichtbar auf ihrer westwärts geneigten Bahn, der verhangene Himmel verbarg sie.

Hasard wartete noch eine Viertelstunde, bis er völlig sicher war, daß die drei Karavellen nicht mehr umkehren würden. Zu diesem Zeitpunkt waren die drei Schiffe mit ihren Segeln nur noch undeutlich zu erkennen - wie Geisterschiffe, die in ein Nichts fuhren.

Der Seewolf nickte dem Jungen zu, der ihn mit großen Augen anblickte.

»Wir segeln zurück nach Falmouth«, sagte er. Minuten später lagen die »Fünf Finger« einsam und verlassen

wie immer. Der Wind strich über ihn hin wie seit Jahrtausenden. Und wie

seit Jahrtausenden wurden Hitze und Kälte, Eis und Schnee und Regen an den granitenen Felsen arbeiten, sie polieren oderzerfressen oder zersprengen.

Vielleicht würde dann irgendwann einmal die Felsplatte über dem mittleren Finger bersten und ihn mit ihren Geröllmassen

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bedecken. Dann würde es wiederum sehr, sehr lange dauern, bis der unbarmherzig nagende Zahn der Zeit auch den mittleren Pfeiler zum Einsturz brachte.

Und vielleicht würden dann Menschen einer fernen Zukunft eines Tages rätselnd auf die Zeichen blicken, die eine Jungen­hand in ein Stuck des Felsens gemeißelt hatte:

P. H. K. 1568 Von dem blutvollen Leben des Seewolfs wurden diese Men­

schen nie etwas erfahren …

7.

In der Abenddämmerung ging die ›Isabella‹ wieder an der Außenpier von Falmouth längsseits und wurde vertäut. Hasard ließ Wachen an Bord mit schußfertigen Musketen und Pistolenaufziehen, des gleichen ließ er zwei Männer die Pier bewachen. Einer von ihnen war Tom Smith. Und der rückte denn auch bereits nach zehn Minuten, als der Seewolf sich in seiner Kammer umzog, mit dem alten Hafenmeister an, der herumze­terte und sich ziemlich aufblies.

Tatsache war, daß die ›Isabella‹ dieses Mal nicht von Pen­dennis Castle gesichtet und nach Falmouth gemeldet worden war. Und in der Abenddämmerung hatte der Hafenmeister nicht erkannt, was da für ein Schiff an die Pier ging.

Darum krakeelte er herum und verkündete lauthals, die Gale­one habe hier an der Pier nichts zu suchen und überhaupt, da könne ja jeder aufkreuzen und mir nichts dir nichts unange­meldet im Falmouther Hafen einlaufen.

Er - Mac Sullivan - sei der Hafenmeister, und er weise den einlaufenden Schiffe ihren Liegeplatz im Hafen zu. Ordnung müsse sein, verstanden?

»Ja, ja«, sagte Tom Smith, »nun halt mal die Luft an, Opa, darüber kannst du dich mit dem Kapitän unterhalten, und ich

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schätze, der hat ein gutes Recht, sich gerade dieses Plätzchen hier an der Pier auszusuchen.«

Und damit schob er den zeternden Hafenmeister einfach über die Gangway und bugsierte ihn unters Achterdeck zur Kammer des Seewolfes.

»Herein!« rief Hasard, als Tom Smith angeklopft hatte. Tom Smith riß das Schott auf. Der Hafenmeister war so rich­

tig stinkwütend und schoß in die Kammer, prallte jedoch ge­nauso schnell wieder zurück, als er Philip Hasard Killigrew erkannte.

Der Seewolf grinste. »Hallo, der alte Mac! Wie geht’s dennso, Mister Sullivan? Immer noch Ärger mit dem Zipperlein. Wärme sag ich immer. Wärme tut gut.«

Er streckte die Rechte aus, um den Hafenmeister zu begrüßen. Mac Sullivan nahm sie zögernd und wand sich verlegen. »Oh

ich wollte - ich dachte - ja, mir geht’s gut, Sir, danke. Ich wuß­te ja nicht, daß Sie …« Ihm schien etwas einzufallen, und er starrte den Seewolf entsetzt an. »Aber - aber Sir John ist doch hinter - hinter Ihnen hergesegelt. O Gott, das gibt Stunk, ganz bestimmt gibt das Stunk …«

»Nun mal langsam, Mister Sullivan«, unterbrach ihn Hasard. Er ging zu einem Wandschränkchen, schloß es auf und holte eine Flasche schottischen Whisky heraus. Als er sich umdrehte, kniff er ein Auge zu. »Erst mal sollten wir beiden zusammen einen trinken, was?«

Tom Smith schloß von draußen die Tür und grinste vor sich hin. Dieser verdammte Seewolf gefiel ihm immer besser. Jetzt kriegte der Opa einen eingeschenkt, dann noch einen und noch einen - bis der Alte einen in der Krone hatte und der Seewolf ihn um den Finger wickeln konnte. Er kehrte auf die Pier zu­rück.

Mac Sullivan saß auf Hasards Koje, das Glas in der Rechten, und schaute sich in der Kammer um. Er kannte Schiffe, denn vierzig Jahre seines Lebens war er selbst zur See gefahren, zum

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Teil auf Schiffen Sir Johns. Diese ›Isabella von Kastilien‹ hier war ein feines Schiff, alle Achtung.

»Prost, Mister Sullivan«, sagte Hasard und hob sein Glas, »das Zipperlein möge auf immer und ewig verschwinden.«

»Danke, Sir.« Sie tranken sich zu. Mac Sullivan verwittertes Gesicht ver­

klärte sich, als der Whisky seine Reise in den Magen antrat. Und als er dort anlangte und eine angenehme Wärme verbreite­te, schenkte ihm der Seewolf bereits nach.

Mac Sullivan kratzte sich das Grauhaar. »Ich - ich weiß gar nicht, ob ich das annehmen darf, ich mei­

ne …« »Wegen Sir John? Aber Mister Sullivan. Wenn der Kapitän

eines Schiffes Sie zu einem Schlückchen einlädt, dann geht das Sir John einen feuchten Staub an. Und ihr Leute von Falmouth solltet ruhig ein bißchen das Kreuz durchdrücken. Sir John istnicht der liebe Herrgott und schon gar nicht der König von England. Zum Wohl, Mister Sullivan.«

Mac Sullivan kriegte eine rote Nase und blanke Augen. Er sagte: »Wir dachten alle, Sie seien auf dem Weg nach Ir-

land, Sir. Sie müssen Sir Johns Schiffen doch begegnet sein?«Über das scharfgeschnittene Gesicht des Seewolfs huschte ein

Lächeln. »Nicht direkt. Sir John war zu versessen darauf, Kap Lizard hinter sich zu bringen und auf Irlandkurs zu gehen. Wir lagen hinter dem Kap vor Anker. Sehen Sie, Mister Sullivan, das ist auch so ein Punkt. Sir John denkt immer, man müsse so handeln, wie er sich das vorstellt. Daß jemand aber etwas ande­res tun könnte, das geht nicht in seinen Kopf. Also lassen wir ihn getrost nach Irland segeln, wenn er meint, daß ich dort sei. Er wird seine Lektion schon noch lernen. Zum Wohl, Mister Sullivan.«

Mac Sullivan kicherte und trank. Seine wasserhellen Augen funkelten.

»Hatten Sie sich versteckt, Sir?«

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»Klar.« »In der Bucht der Wassermänner bei den fünf Felsen?« »Psst!« Hasard legte verschwörerisch den Zeigefinger auf die

Lippen. Mac Sullivan machte ebenfalls »Psst!« und zwinkerte. Und

dann trank er wieder. Nach einer Viertelstunde hatte er sieben Whisky vertilgt und erzählte Hasard den letzten Hafentratsch.

Beim neunten Whisky - der Seewolf trank nur zum Schein mit und war erst bei seinem dritten Glas - steuerte Hasard sein Ziel an.

»Mister Sullivan«, sagte er, »ich brauche Proviant und Trinkwasser. Um ganz ehrlich zu sein - dieses Schiff ist eine spanische Prise, die wir auf der Reede von Cadiz gekapert ha­ben. In den Frachträumen habe ich eine sehr wertvolle Ladung, für die ich Kapitän Drake verantwortlich bin.

In Plymouth wurden bereits mehrere Anschläge auf das Schiff und auf mich verübt. Darum verließen wir Plymouth und konnten unsere Vorräte nicht mehr ergänzen. Kapitän Drake selbst ist noch nicht von einem Unternehmen bei den Azoren zurück. Solange muß ich also warten und versuchen, Schiff, Mannschaft und Ladung durchzubringen. Ich lief Falmouth an - in der Annahme, hier sicher zu sein. Leider irrte ich mich. Sir John war scharf auf die Ladung wie der Teufel auf eine arme Seele - wahrscheinlich beeinflußt von jenem Mann, den Sie sicherlich an seiner Seite gesehen haben, als wir hier anlegten. Dieser Mann ist zwar Miteigner des Schiffes, mit dem Kapitän Drake unterwegs ist, aber das gibt ihm noch lange nicht das Recht, die Ladung meines Schiffes zu beanspruchen. Diese Entscheidung hat Kapitän Drake zu treffen.« Er schwieg einen Moment und schenkte dem Hafenmeister wieder ein. Dann fuhr er fort: »Das ist in groben Zügen meine Situation. Und Sie, Mister Sullivan, täten mir einen großen Gefallen, wenn Sie mir die Lagerschuppen Sir Johns öffnen würden, um mir die Möglichkeit zu geben, meinen Proviant zu ergänzen.

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Ich erinnere mich, daß Sie immer einen Schlüssel für die Schuppen hatten.«

Mac Sullivan grinste, wobei sein Kopf beängstigend wackel­te. Dann klopfte er auf seine Brust und sagte: »Hier ist das liebe Schlüsselchen, mein Junge!«

»Oh, ein guter Platz«, sagte der Seewolf. »Hick!« sagte Mac Sullivan und legte erschrocken die Hand

auf den Mund. »Ich glaub, ich hab Schluckauf.« »Dagegen hilft nur eins«, sagte Hasard todernst. »Ein Gegenschluck!« Der Pegel in der Whiskyflasche stand auf Niedrigwasser. Ha­

sard holte eine neue Flasche, öffnete sie und schenkte erneut ein.

Mac Sullivan sah sehr glücklich aus. Und Sir Hasard war in­zwischen »mein Junge« geworden.

»Ich - hick - helf dir, mein Junge.« Er langte in seinen Kragen und zog eine Kette heraus. An der

Kette hing das »liebe Schlüsselchen« - ein Monstrum von Schlüssel, kunstvoll geschmiedet und bestimmt so schwer wie ein Belegnagel. Mac Sullivan streifte die Kette samt Schlüssel über den Kopf und reichte sie Hasard.

»Hick!« sagte er. »Danke, Mac«, sagte der Seewolf. »Du bist doch ein feiner

Kerl.« Er nahm den Schlüssel ent gegen. »Wenn Sir John später etwas merken sollte, sagst du schlicht und einfach, du wüßtest von nichts. Wenn wir uns versorgt haben, geb ich dir den Schlüssel zurück.«

»Geht klar - hick!« Hasard verschloß die Flasche und reichte sie Mac Sullivan.

Dann holte er noch eine aus dem Schränkchen, und auch sie verschwand unter Mac Sullivans Jacke.

»O Mann o Mann«, sagte Mac Sullivan glücklich. Drei Minuten später schlingerte er schaukelnd über die Pier.

Allerdings hatte er sich bei Tom Smith eingehakt. Er sang ein

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Lied eindeutigen Inhalts, das von einem Seemann handelte, der in einem Hurenhaus am Morgen aufwacht und feststellt, daß er keinen Penny mehr in der Tasche hat.

Tom Smith brachte den Hafenmeister in sein kleines Häu­schen direkt am Hafen und bewahrte Mac Sullivan zweimal davor, glatt über die Kaimauer zu marschieren und ins Wasser zu fallen.

Indessen zog Hasard mit acht Männern und Ferris Tucker los, um den Lagerschuppen Sir Johns einen Besuch abzustatten. Er wußte genau, wo der Schuppen mit den Proviantbeständen und Trinkwasserfässer lag. Dieser Schuppen stand auf steinernem Fundament und war unterkellert, so daß dort auch Speckseitenund Würste aufbewahrt werden konnten.

Als Hasard das Schuppentor aufschloß, empfing sie jener un­definierbare Duft, den er als Junge so gern geschnuppert hatte. Denn da mischten sich die Gerüche herrlicher Gewürze mit dem scharfen Geruch gepökelten Fleisches und dem herzhaften Duft der geräucherten Waren.

Die Dunkelheit der Nacht lag bereits über dem Hafen. Da und dort schimmerte Licht aus den Häusern.

Hasard leuchtete mit einer Öllampe in die weite Halle, in der Fässer, Regale, Truhen und Kisten standen. Eine Steintreppe linker Hand führte in den Kellerraum.

»Zuerst die Trinkwasserfässer«, sagte Hasard und deutete nach rechts. »Sie befinden sich dort an der Wand. Wie viele brauchen wir, Kutscher?«

»Zehn genügen.«»Gut, Ferris, laß sie an Bord bringen. Auch ein paar Fässer

Bier. Sie stehen links von den Trinkwasserfässern. Dort hinten ist ein Karren, den ihr benutzen könnt. Beeilt euch.«

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Hasard ging mit dem Kutscher die Regale ab, während die Männer aufzuladen begannen.

Im Nu stapelten sich in der Mitte der Halle: Zuckersäcke, Mehlsäcke, kleine Tonnen mit Sirup, gepökeltem Schweine­und Rindfleisch, Salz, Säckchen mit Bohnen und Erbsen, ge­trockneten Äpfeln und schließlich aus dem Kellerraum Speck­seiten und Würste.

Der Kutscher entdeckte sogar in Kisten verpackte Zitronen und wies Hasard darauf hin, daß Sir Freemont, der Arzt in Plymouth, gesagt habe, diese Früchte seien ein vorzügliches Mittel gegen Erkältungen und Zahnausfall. Außerdem sei derSaft auch durstlöschend.

»Acht Kisten«, befahl der Seewolf. Sie mußten mit dem Karren dreimal hin- und herfahren, bis

alles an Bord verstaut war. Zum Schluß ließ Hasard noch zwei riesige Weinfässer aufladen, aus deren eingebrannten Auf­schriften hervorging, daß sie spanischen Wein enthielten.

Hasard schloß sorgfältig wieder ab, und Tom Smith brachte den Schlüssel zurück zum Hafenmeister, der inzwischen auch die zweite Flasche geköpft hatte, jetzt einen Choral sang und zwischendurch Tom Smith erklärte, er fahre bei dem besten Kapitän, der jemals über die Meere gesegelt sei.

Was Tom Smith ohnehin wußte und dazu veranlaßte, seiner­seits seine Bekanntschaft mit Philip Hasard Killigrew zu schil­dern, die ja zunächst ein vorzeitiges Ende im Witwenbett Abi­gail Adelaine Drummers gefunden hatte. Das malte er in aller epischen Breite aus und sparte auch nicht mit pikanten Details.

Und Mac Sullivan lachte sich halbtot. Als Tom Smith an Bord zurückkehrte, hatte er auch Schluck­

auf, was Hasard zu der Bemerkung veranlaßte, er habe den Whisky eigentlich Mac Sullivan zugedacht. Aber da er dabeimit den Augen zwinkerte, empfand das Tom Smith durchaus nicht als Tadel. Ben Brighton erhielt den Befehl, die ›Isabella‹ um Mitternacht seeklar zu halten, da sei er, Hasard, wieder

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zurück an Bord. Und dann machte sich der Seewolf auf, um seine Mutter auf

Arwenack zu besuchen.

8.

Die Feste Arwenack lag über dem Hafen von Falmouth. Jede Generation der Killigrews hatte an dem uralten Raubsitz ge­baut. Unverändert geblieben waren die trotzige Ringmauer aus roh behauenen Granitsteinen und das klitzige quadratischeHaupthaus mit den Wehrtürmen an den vier Ecken sowie ein Turmkerker zwischen Haupthaus und Ringmauer. Im Wechsel der Generationen waren Stallungen, Schmiede und Waffen­kammer hinzugekommen, und zur Zeit wälzte Sir John waffen­technische Probleme, wie und wo er die Ringmauer mit Kano­nen bestücken könne.

Zur Hafenseite hin war die Mauer mit Zinnen versehen. Ein Laufgang innen an der Ringmauer - zu dem an verschiedenen Stellen Treppen hochführten - ermöglichte es Bogenschützen, von jedem Punkt der Mauer aus Angreifer unter einen Pfeilha­gel zu nehmen. Tatsächlich war die Feste Arwenack bisher noch nie gestürmt oder eingenommen worden.

Und sollte es passieren, daß die Ringmauer überrannt wurde, dann bildete das Haupthaus mit den vier Wehrtürmen letzte Zuflucht. Nach menschlichem Ermessen war dieser klotzige Bau uneinnehmbar.

Dennoch hatte Sir John, das alte Schlitzohr, auch diese Mög­lichkeit erwogen, und so war in einer Arbeitszeit von zwei Jahren ein unterirdischer Fluchtweg entstanden, der unter einer Steinplatte vor dem Kamin der Wohnhalle begann und durchFelsgänge knapp zweihundert Yards außerhalb der Ringmauer in einem Wacholdergestrüpp endete. Das also war Arwenack, der Familiensitz der Killigrews.

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Der Seewolf hämmerte an die schmale Tür neben dem wuch­tigen Tor im Eingang zur Feste. Abends wurde das Tor ge­schlossen. Einziger Einlaß war dann nur durch die schmale Tür.

»Wer da?« fragte eine grollende Stimme. »Rate mal«, sagte der Seewolf. Schweigen. Dann räusperte sich jemand hinter der Tür, eine

Luke im Türflügel sprang auf, ein bärtiges Gesicht zeigte sich in der Luke.

Der Seewolf grinste. »Du Lümmel!« sagte das bärtige Gesicht, und schon flog die

Tür auf. Arme wie Stahlklammern umschlossen Hasard und versuchten, ihn anzulüften. Hasard stemmte sich dagegen, um­klammerte einen urigen Leib und hob ihn an.

Das bärtige Gesicht kratzte an seiner Wange, Beine zappel­ten, und dann sagte die grollende Stimme fast zärtlich: »Daß duzurückgekehrt bist!«

»Wie spricht der Schmied von Arwenack?« sagte Hasard. Und die grollende Stimme an seiner Wange antwortete: »Wer

an die Wand pißt, kriegt nasse Hosen!« Ja, das war der Schmied auf Arwenack - ein Klotz von einem

Mannsbild, wild, verwegen, mit nackter Brust unter einer Le­derschürze, wirrem Grauhaar und Graubart, grauen Augen, runenzerfurchtem Gesicht und eisenharten Muskeln.

»Shane«, sagte Hasard, »Big Old Shane - mein großer Sha­ne.«

Er setzte den Schmied ab und boxte ihm die Rechte in die Magengrube - auch da war nur Eisen. Seine Faust prallte von der Magenwand ab, als sei da ein Katapult verborgen.

Das Gelächter des Schmiedes klang, als habe ihn jemand ge­kitzelt.

»Noch mal. Junge, zeig Old Shane, was du in den Knochen hast, oder du kriegst den Arsch versohlt!«

Hasard schlug blitzschnell und mit der Wucht eines Ramm­

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klotzes zu. Dieses Mal schnappte Old Shane nach Luft. »Hui! Du bist noch besser geworden, Junge. Ich glaub, jetzt

bist du dem alten Shane über. Darf ich mal?« »Klotz ‘ran, Shane.« Der Schmied schlug aus der Hüfte heraus, kurz, hart und

schneller als ein Gedankenblitz. Ein solcher Schlag hätte zum Beispiel Sir Thomas Doughty zum Mond befördert - oder zu­mindest auf die Zinnen der Ringmauer von Arwenack.

Nur schlug Old Shane daneben, weil dort, wo sich eben noch der flache Magen des Seewolfes gezeigt hatte, nur Luft war. Hasard stand einen Schritt rechts. Und Old Shanes fürchterli­cher Hieb zerteilte die Luft und landete im Nichts. Old Shane riß sich im Eigenschwung von den Füßen und landete in den Armen Hasards.

»Mein alter Shane«, sagte Hasard leise. »Du bringst mir bei, wie man zuschlägt und vergißt, daß der Gegner noch schnellerreagieren kann.«

Shane fluchte. »Und wer hat mich hier jung gehalten? Du haust einfach ab, lachst dir einen, und ich soll deinen Alten ertragen - ganz abgesehen von deinen dämlichen Brüdern, die seit deinem Verschwinden so breit geworden sind, daß sie kaum noch durchs Tor passen.«

»Wo steckt denn John Malcolm?« »Wieder hinter den Weibern her«, sagte Shane erbittert. »Der

wird von Tag zu Tag übler, dieser Schweinefurz. Bleibst du hier, Junge?«

»Nein.« »Verdammt. Warum nicht?« Hasards Antwort erfolgte blitzschnell: »Bin ich denn ein Kil­

ligrew?« Old Shane zuckte zurück und biß sich auf die Lippen. Aber

jäh und fast wütend sagte er dann: »Du bist der beste Killigrew, den Arwenack je gesehen hat. Schlag den Alten und seine Brut zum Tempel ‘raus …«

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»Und meine Mutter?« »Die natürlich nicht. Sie hält ja auch zu dir.« Hasard schüttelte den Kopf. »Nein, Shane, ich habe einen anderen Weg gewählt und gehe

ihn zu Ende. Ich gehöre nicht hierher. Kannst du mir sagen, wer ich bin?«

Zischende Atemluft stieß aus Old Shanes mächtigem Brust ­kasten, und grollend erwiderte er: »Ein Idiot. Piß nur ordentlich gegen die Wand, aber ich besor g dir keine trockenen Hosen mehr. Wenn du nicht kapierst, daß hier dein Platz ist, dann ist dir nicht zu helfen.«

»John Malcolm ist der Älteste von uns. Er wird Arwenack er­ben. Wenn er nicht mehr ist, wird Simon sein Nachfolger sein. Wann? In dreißig oder vierzig Jahren. Nein, Shane. Ich werde meinen Platz woanders finden, vielleicht in der Neuen Welt, in der man freier atmen kann als hier in diesem Gemäuer. Hinter Westindien liegt diese Welt - noch jenseits des Landes, das die Spanier und Portugiesen entdeckt haben. Dahinter ist ein riesi­ges Meer. Aber alle Meere haben Küsten. Dorthin möchte ich.«

Old Shanes graue Augen waren zusammengekniffen, und sehr leise sagte er: »Vielleicht hast du recht.« Und noch leiser, mehr zu sich selbst, fügte er hinzu: »Eine Insel hinter der Wol­ken …«

Hasard blickte ihn verwundert an. Eine helle Mädchenstimme vom Eingang des Haupthauses

ließ ihn zusammenzucken. »Shane? Wer ist der Fremde?« Zwei Öllampen links und rechts des torartigen Hauseingangs

flammten auf. Shane drehte den mächtigen Kopf. »Gut Freund, Gwen. Ein

Fremder ist er bestimmt nicht.« Er legte den Arm über HasardsSchulter. »Komm, Junge. Du wolltest sicherlich Lady Anne besuchen, nicht wahr?«

»Genau das.«

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Gemeinsam schritten sie quer über den Hof auf das Haupt ­haus zu - der Schmied von Arwenack, ein Riese wie aus grauer Vorzeit, und Philip Hasard Killigrew, ein ebensolcher Riese, aber jung und schmalhüftig und mit dem Gang einer Raubkat ­ze.

Shane - das war für Hasard der Inbegriff von Arwenack. Wenn er überhaupt eine Bindung - außer seiner Mutter - zu Arwenack hatte, dann verkörperte sie Shane, der sich um ihn gekümmert hatte, als sei er sein leiblicher Sohn.

Sie näherten sich der breiten Steintreppe, die den wuchtigen Eingang umrandete. Auf der obersten Stufe stand ein großes,schlankes Mädchen und sah ihnen neugierig entgegen. Ihr Ge­sicht lag im Schatten, weil sich die beiden Öllampen hinter ihr befanden.

Dann trat sie zwei Schritte zurück, und ihr Gesicht wurde plötzlich sichtbar.

Hasard blieb wie vom Donner gerührt stehen und starrte zu dem Mädchen hoch. Er packte Shanes Arm.

»Wer ist das?« Shanes Augen funkelten, das Bartgestrüpp teilte sich und

zeigte zwei Reihen weißer Zähne. Er grinste wie ein Wolf. »Das?« sagte er. »Das ist Gwendolyn Bernice O’Flynn, Tochter des alten

O’Flynn, mein Junge.« Und leise fügte er hinzu: »Ein Prachtweib, was?« Hasard fand keine Antwort. Langsam ging er weiter. An der

untersten Stufe blieb er wieder stehen. Die Hand des Mädchens fuhr zum Mund, als wolle es einen Ausruf unterdrücken - und es wurde ziemlich rot.

Hasards Gesicht überzog ein Lächeln. »Drei Hurras für den Seewolf, wie?« Er verbeugte sich leicht. »Meinen herzlichen Dank.«

»Was denn?« fuhr Shane dazwischen. »Warst du das, Gwen? Laß das nur nicht Sir John erfahren. Du weißt, wie er getobt

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hat, daß die Falmouther seinem mißratenen Sohn eine Ovation dargebracht haben.«

»Ich verrate nichts«, sagte Hasard und starrte in die grünen, jetzt funkelnden Augen Gwen O’Flynns.

»Phh«, sagte Gwen spitz. »Bilden Sie sich nur nichts ein, Sir. Sorgen Sie lieber dafür, daß mein Bruder Dan wieder an den Herd der O’Flynns zurückkehrt und ein ordentliches Handwerk lernt, statt sich auf See herumzutreiben.«

Herumzutreiben! Hasard grinste sie an. »Wie bezeichnen Sie denn das, was der

alte O’Flynn zur Zeit tut?«»Das ist etwas anderes!« fauchte sie. Hasard schüttelte den Kopf. »Nicht doch. Ich sehe da keinen

Unterschied, höchstens den, daß wir - und Dan gehört dazu ­den Spaniern eine Prise abgejagt und hergebracht haben und nun unsererseits von anderen Herumtreibern wie unseren bei­den Vätern und meinen beiden Brüdern samt Besatzung gejagt werden.«

Shane kicherte. Gwen O’Flynn stampfte mit dem Fuß auf. »Da gibt’s gar

nichts zu lachen, Shane. Der Bengel gehört nach Falmouth und in eine vernünftige Lehre, sonst wird er noch wilder.«

Aha, dachte Hasard, darum also wurde das Bürschchen oben bei den »Fünf Fingern« plötzlich so mürrisch und maulfaul, als sie über die Schwester sprachen. Er sagte: »Sie sehen Ver­schiedenes sehr falsch, Miß Gwendolyn.

Erstens achte ich den freien Entschluß eines Menschen, auch eines Jungen, seinen eigenen Weg gehen zu wollen. Dan hat sich entschieden, zur See zu fahren.

Und zweitens - was die ›vernünftige‹ Lehre betrifft. Was ver­stehen Sie darunter? Meinen Sie vielleicht, so ein Schiff segeltund steuert sich von allein? Und die Menschen, die sich auf ihm befinden, seien komplette Idioten, die nie etwas gelernt haben? Erzählen Sie das mal Kapitän Drake, zu dessen Mann­

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schaft Dan und ich gehören. Und noch etwas. Dan ist der gebo­rene Seemann. Er ist aufgeweckt, reagiert blitzschnell, ist tap ­fer - manchmal bis zur Verwegenheit, er ist hart gegen sich selbst. Was soll ich Ihnen noch aufzählen? Ich habe an ihm nur Tugenden feststellen können - bis auf seine Verfressenheit, aber ich glaube, die haben wir ihm mit einer Rizinuskur ausge­trieben. Seiner Veranlagung nach hat er das Zeug, dermal einst selbst als Kapitän zu fahren. Und England braucht gute Kapitä­ne. Dazu zwingt uns unsere Insellage. Gute Kapitäne, die uns neue Welten erschließen, die unseren Handel mit fernen Län­dern in Schwung halten und die schließlich auch befähigt seinmüssen, auf See zu kämpfen.«

»Sie sind wohl ein guter Kapitän, wie?« fragte sie etwas spöt ­tisch.

»Ich weiß es nicht.« Hasard zuckte mit den Schultern. Er leg­te den Kopf etwas schief und blinzelte sie an. »Ich nehme an,die drei Hurras auf den Seewolf galten einem guten Kapitän. Oder irre ich mich da?«

Shane kicherte wieder, und wenn Shane kicherte, klang es, als röhre ein Auerochse.

»Prächtig, mein Junge, ganz prächtig! Gib’s ihr nur ordent ­lich, dieser Wildkatze. Seit sie auf Arwenack ist, hat sie uns Männern einschließlich deiner Brüder nur die Zähne gezeigt.«

»Was meine Brüder und den Alten betrifft, höre ich das gern«, sagte Hasard, »denen muß man auch die Zähne zeigen, sonst werden sie immer unverschämter …«

»Wie alle Männer«, unterbrach ihn Gwen O’Flynn und blitzte ihn beziehungsreich an.

»Oh«, sagte Hasard und tat erschrocken. »Ich bitte um Verzeihung, wenn Sie mich als unverschämt

empfinden. Shane, mein guter alter Shane, kann bezeugen, daßUnverschämtheit nicht zu meinen Unarten gehört, nicht wahr, Shane?«

»Er hat die Seele eines sanften Lammes«, sagte Shane zu

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Gwen O’Flynn und sah dabei aus, als spreche er ein besonders frommes Gebet.

Gwen O’Flynn betrachtete ihn mißtrauisch. Fromme Spruche hatte sie von Shane noch nie gehört - eher deftige Flüche.

»Gwen! Wo steckst du denn?« rief eine Frauenstimme aus der Halle. »Haben wir Besuch?«

»Ja«, sagte Hasard mit tiefer, verstellter Stimme und zwinker­te Gwen O’Flynn zu, »ein müder Wandersmann bittet um eine milde Gabe, Mylady.«

»Gwen! Wer ist der Kerl, verdammt?« Gwen O’Flynn verbiß sich ein Lachen.Hasard sagte mit seiner verstellten Stimme: »Ich komme von

fernen Küsten, Mylady, und bitte um einen Teller Suppe und ein Stück Brot.«

Wieder ein Fluch, dann Tack-tack-tack, dazwischen Schritte. Das Tack-tack rührte von einem Spazierstock mit eiserner Zwinge her. Es klang sehr energisch und resolut. Hasard kann­te dieses Tack-tack. Jeder, der auf Arwenack wohnte, kannte es. Und wenn Leute aus dem Gesinde es nahen hörten, ergrif­fen sie entweder die Flucht oder nahmen hastig eine Arbeit auf.

Shane verzog sich. Er hatte noch eine Stunde Torwache, die er freiwillig immer um diese Zeit ging, bis einer der Pferde­knechte die Mitternachtswache übernahm.

In der Eingangstür erschien eine stämmige, blonde Frau, stützte sich auf den Stock und öffnete bereits den energischen Mund, um loszudonnern.

Gwendolyn Bernice O’Flynn stand sehr gerade und uner­schrocken seitlich neben Hasard. Sie lächelte sogar, wie Hasard mit einem schnellen Seitenblick feststellte.

Jawohl, diese verdammt hübsche Gwen O’Flynn ging nicht wie alle anderen in die Knie, wenn die Herrin auf Arwenack mit ihrem soldatischen Tack-tack heranmarschierte.

Der Mund Lady Anne Killigrews klappte wieder zu, dafür riß sie die blauen Augen auf. Sie starrte zu dem jungen, breit ­

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schultrigen Riesen hoch, ein glückliches Lächeln glitt über ihre Züge, ein kurzer scharfer Blick flog zu Gwen hinüber, den das Lächeln wieder milderte - und dann sagte sie nur ein Wort.

»Junge!« Und Lady Anne Killigrew, geborene Wolverston, aus der al-

ten Piratensippe der Wolverstons von Suffolk, schneuzte sich, hatte plötzlich feuchte Augen und fluchte, als sie merkte, wie sich zwei Tränen verselbständigten und ihren sichtbaren Weg die Wangen hinunter antraten.

Gwen O’Flynn stahl sich leise zur Seite. Und Hasard war mit einem Satz bei seiner Mutter, packte sie

um die Hüften und schwenkte sie im weiten Kreis um sich herum.

Und da kicherte und kickste die Lady, schlang ihre Arme um den Nacken des Sohnes und schmatzte ihn ab, daß es klang, als sei ein Wurf Ferkel am Werk.

»Huch!« schrie sie. »Du Zuckersohn von einem Teufelsbraten! Was ich mich

freue, du verdammter Lausejunge! Nicht doch, Hasard, mir wird ja ganz schwindlig - huch!«

Der Seewolf setzte sie vorsichtig ab. Lady Anne kicherte wieder und wischte sich die Tränen aus den Augen, während sie zu ihm hochschaute.

»Und wie du wieder aussiehst«, sagte sie und drohte mit dem Finger. »Hast du viele Mädchen verführt, mein kleiner Satan?«

Hasard legte die Hand aufs Herz. »Nicht eine, Mom, nicht ei­ne einzige, und dabei hatte ich einen ganzen Harem an Bord.«

Lady Anne zuckte zurück. »Einen - einen ganzen Harem?« Hasard grinste. »Meine Männer und ich kaperten eine spanische Galeone ­

ein Sklavenschiff, aber das wußten wir nicht. ›Barcelona‹ hieß der verdammte Kasten. Als wir die Frachtluke öffneten und in den Frachtraum schauten, quoll der von Schwarzen über. Und dann stiegen aus der Frachtluke - zweiunddreißig Neger und

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siebzehn schwarze Antilopen, jung und nur mit einem Lenden­schurz bekleidet …«

»Oh«, sagte Lady Anne erschüttert. »Meinen Männern fielen die Augen aus dem Kopf.« »Und dir?« »Mir auch, was dachtest du denn? Aber es kommt noch bes­

ser. Einer der Schwarzen - ein Prachtkerl, er heißt Batuti und gehört jetzt zu meiner Mannschaft - bot mir doch prompt eine der schwarzen Ladys aus lauter Dankbarkeit an - na, du weißt schon.«

»Na, und? Und du hast nicht mit ihr geschlafen?«»Aber Mom. Verdammt! Was meinst du wohl, was sich dann

abgespielt hätte? Zu der Zeit hatte ich fünfzehn Männer von Kapitän Drakes Mannschaft als Prisenbesatzung. Fünfzehn Männer und siebzehn schwarze Antilopen, die ständig mit ih­ren Brüsten und ihren Hintern wackelten, wenn sie über Deck gingen! O Mom, es war die Hölle …«

Ein Kichern erklang aus der Dunkelheit rechts von ihnen. »Gwen!« Lady Annes Stimme war sehr ener gisch. »Geh so­

fort in die Küche. Der faule Jack Jackson soll sofort von dem Braten, den wir heute mittag hatten, etwas zubereiten. Sofort, sagte ich, oder er kriegt was mit meinem Krückstock. Und Wein. Und Gemüse. Und kichere nicht so unverschämt, du dumme Gans!«

Gwen kicherte unbekümmert weiter, als sie an den beiden vorbei und ins Haus ging. Und Hasard runzelte nachdenklich die Stirn, als er ihr nachschaute.

»Das ist Gwen«, sagte Lady Anne. »Gwen O’Flynn - ein Prachtstück.«

»Hab ich auch schon gemerkt«, sagte Hasard und lächelte. »Untersteh dich.« Wieder erschien der Zeigefinger. »Ich hab

schon genug Ärger mit John Malcolm, der ihr ständig nach­steigt. Ich weiß gar nicht, was ich für Söhne habe.«

»Bis auf mich, nicht wahr?« Das klang fast erbittert.

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In Lady Annes Gesicht bewegte sich kein Muskel. »Was meinst du damit, Junge?« fragte sie ruhig. »Wer bin ich?« »Philip Hasard Killigrew, wer sonst? Zweifelst du daran?« »Manchmal ja.« »Und warum?« »Weil ich anders bin als die Killigrews.« Hasard schwieg ei­

nen Moment. Dann sagte er: »Wollen wir nicht in die Halle gehen?«

Lady Anne nickte. Hasard hakte sie unter und führte sie über einen kurzen Flur, an dessen Wänden rechts und links Waffen hingen, in die riesige Halle von Arwenack. In dem Kamin unter dem Hirschgeweih brannte das Feuer, Buchenscheite knackten, rote, warme Glut sprang ihnen entgegen. Es war wie immer ­Nacht über Arwenack, dem Stammsitz der Killigrews. Nur der alte Sir John und zwei seiner Söhne fehlten, um wieder einmal zu räubern. Nur war dieses Mal das Objekt ihrer Räuberei der eigene Sohn und der Bruder. Und John Malcolm räuberte unter den Mädchen. Eine namens Dorothy Monck hatte es ihm be­sonders angetan.

Hasard schüttelte den Kopf. Verrückt, dachte er und starrte zu dem Hirschgeweih hoch, in dem Sir John gezappelt hatte.

Lady Anne saß sehr gerade in einem geschnitzten Eichenstuhl mit hoher Lehne. Ihr Spazierstock, gehalten von ihrer Rechten, lehnte genauso aufrecht neben ihr. Ihre blauen Augen fixierten den jungen Riesen, der zu dem Hirschgeweih hochblickte.

»Und warum bist du anders als die Killigrews?« fragte sie. Hasard drehte sich um und schaute zu ihr hinunter. Sein Ge­

sicht hatte plötzlich ein Härte, die Lady Anne noch nie an ihm entdeckt hatte.

»Dort unten«, sagte Hasard, liegt die ›Isabella von Kastilien‹, eine Galeone, die von Westindien nach Spanien gesegelt wur­de. In ihrem Frachtraum befinden sich dreißig Tonnen Silber. Ich kaperte sie auf der Reede von Cadiz. Schiff und Ladung

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gehören der Krone und zu gewissen Teilen Kapitän Drake und jenen Eignern, die sein Schiff, die ›Marygold‹, ausrüsteten. Dieses Schiff - die ›Isabella‹ - brachte ich nach England. In Plymouth begann der Ärger - merkwürdigerweise immer in Verbindung mit einem gewissen Sir Doughty, der allerdings Miteigner an der ›Marygold‹ ist. Anschläge wurden auf mein Schiff verübt. Und auf mich. Da ist vieles undurchsichtig, was diese Anschläge betrifft. Ich habe nämlich nicht nur die Silber­ladung an Bord, sondern unter Umständen etwas viel Wertvol­leres - Seekarten von der Neuen Welt.«

»Mein Gott!« entfuhr es Lady Anne.Hasard nickte grimmig. »Und da schlägt mir mein eigener

Vater vor, ich solle mit ihm teilen - das heißt, ich solle Kapitän Drake und damit die englische Krone betrügen. Ich habe abge­lehnt und mußte Sir John mit Gewalt von Bord entfernen las­sen. Meine Auffassung von Treue und Gehorsam einem Manne gegenüber, dem ich mich verpflichtet habe und der mir ver­traut, scheint nicht mit Sir Johns Auffassung übereinzustim­men, alle Welt bestehlen und begaunern zu müssen. Das ist es, was uns unterscheidet. Und wenn ich meine Brüder betrachte, so sind die um keinen Deut besser als ihr Erzeuger. Das wäre das eine. Das andere ist die Erkenntnis, daß ich wohl ein Ku­ckucksei im Nest der Killigrews sein muß, jedenfalls unter­scheide ich mich von euch wie ein Kuckuck vom Papagei. Das fällt selbst anderen auf. Mein Bootsmann meint, Sir John und ich unterschieden sich wie Tag und Nacht. Taktvollerweise sagte er, Sir John wäre bei diesem Vergleich die Nacht.«

Lady Anne saß immer noch in ihrer kerzenger aden Haltung in dem Eichenstuhl. Ihr Mund war fest zusammengepreßt, ihre Augen starrten in das Kaminfeuer, als versuche sie, aus den zuckenden Flammen etwas herauszulesen. Sie schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein.

»Mom, hast du mir überhaupt zugehört?« Lady Anne wandte den Kopf und blickte den Sohn an.

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»Wirst du in Falmouth bleiben?« fragte sie. »Nein«, erwiderte Hasard. »Um Mitternacht laufen wir wie­

der aus.« Er lächelte. »Aber bestimmt nicht nach Irland, wie Sir John anzunehmen scheint.«

Lady Anne seufzte erleichtert. Hasard hatte ein feines Gespür für die Empfindungen seiner Mutter. Etwas bedrückte sie, aber sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als darüber zu spre­chen. Sie war nicht auf das eingegangen, was er wisse wollte. Also verbarg sie etwas.

Unvermittelt fragte sie: »Bindet dich etwas an Arwenack?«Überrascht schaute er sie an. »Ob mich etwas an Arwenack

bindet? Aber ja - du, zum Beispiel. Und mein alter Shane.« »Und sonst?« »Sonst nichts - höchstens die Erinnerung an eine Jugend, in

der ich mich gegenüber Sir John und meinen Brüdern durch­setzen mußte, um von ihnen nicht niedergetrampelt zu wer­den.«

»Ich weiß«, sagte Lady Anne. »Und heute bist du stärker und besser als sie, nur das zählt. Und so oft du nach Arwenack zu­rückkehrst, immer wirst du zu Shane und mir zurückkehren, zählt das nicht auch?«

»Ja, es zählt«, erwiderte Hasard leise. »Ihr beiden seid Arwe­nack.« Er strich sacht über die Hand, die den Krückstock hielt. »Genug von mir. Wie geht es dir, Mom?«

Lady Anne seufzte. »Wie einem alten Karrengaul. Man zieht und zieht, und mit der Zeit wird die Last schwerer und schwe­rer. Na, und deine Brüder, diese verdammten Kerle … Seit du nicht mehr da bist, werden sie immer ruppiger, lauter und rabi­ater, als gehöre ihnen die Welt. Es ist schlimm mit ihnen.«

»Nimmt sie Sir John nicht an die Zügel?« »Der ist genausso. Ich atme immer auf, wenn die Kerle mal

aus dem Haus sind und hier nicht ständig herumbrüllen. Gott sei Dank habe ich Gwen O’Flynn. Eine Tochter hat mir immer gefehlt, jetzt hab ich sie.«

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»Eine sehr hübsche Tochter. Ich habe erst jetzt erfahren, daß der alte O’Flynn auch eine Tochter hat. Seit wann ist sie bei dir?«

»Seit knapp einem Monat. Der alte O’Flynn mit seinen sieben Söhnen wußte nichts mit ihr anzufangen und gab sie noch als Kind in die Obhut einer verwitweten Tante. Sie geht mir zur Hand, hilft mir bei allem und soll hier eines Tages das Zepter in der Hauswirtschaft übernehmen, wenn ich nicht mehr so recht kann. Bei mir lernt sie, was dazu nötig ist.«

»Und bei mir lernt der Jüngste der O’Flynns - Dan O’Flynn -, wie man zur See fährt.« Hasard lächelte. »Merkwürdig, wie?Zwei O’Flynns begegnen fast zur selben Zeit zwei Killigrews und schließen sich ihnen an. Wenn dir bereits Gwen ans Herz gewachsen ist, so geht mir das mit Dan genauso. Er ist ein blitzmunteres Bürschchen. Seine Schwester meint allerdings, er solle etwas Vernünftiges lernen. Wir hatten vor dem Eingangvorhin darüber einen kleinen Disput. Von der Seefahrt scheint sie nicht allzuviel zu halten.«

»Vergiß nicht, daß ihr Vater dabei sein Bein verloren hat, mein Junge. Wo bleibt denn das gute Stück?« Sie klopfte meh­rere Male mit der Stockzwinge auf den Steinboden.

»Gleich!« schrie Gwen O’Flynn aus einem Trakt hinter der Halle, wo sich die Küchenräume von Arwenack befanden.

Dann marschierten sie auf: voran Gwen O’Flynn mit einem Weintablett, hinter ihr zwei Küchenmädchen und Jack Jackson, der Küchenchef, mit übervollen Tabletts, auf denen sich Schüs­seln, Pfannen, Teller und Besteck befanden.

»Und ich wollte nur eine Suppe und ein Stück Brot«, sagte Hasard entgeistert.

Die Küchenmädchen knicksten und hatten verliebte Augen. Na ja, der Schwarm von Arwenack war wieder da, braunge­

brannt und noch männlicher als sonst. Und dem alten Ekel Sir John hatte er gezeigt, was ein richtiger Mann ist. Das Gesche­hen unten im Hafen hatte schnell die Runde gemacht, und jeder

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hatte noch etwas hinzugedichtet. Und vergessen war auch noch nicht jene Kunde vom Oktober aus Plymouth, wo die Legende von dem wilden Seewolf entstanden war, der es mit über hun­dert Männern aufgenommen haben sollte, die ihm ans Leder gewollt hatten. Hundert Männer! Man stelle sich das vor!

Die braunhaarige Noreen kriegte das Zittern und glühende Wangen. Und die blonde Jenny hatte plötzlich merkwürdig weiche Knie und verspürte wohlige Schauer. Das Geschirr auf ihren Tabletts begann vernehmlich zu klirren und zu schep ­pern.

»Was ist denn mit euch los?« fuhr Gwen O’Flynn die beidenerbost an. »Noreen! Paß doch auf, du hältst das Tablett ganz schief. Was ist denn in euch gefahren?«

Lady Anne senkte den Kopf, und Hasard bemerkte, daß sie Mühe hatte, ihr Lachen nicht zu zeigen.

»Willkommen auf Arwenack, Sir«, sagte Jack Jackson undverbeugte sich. »Sie mochten doch immer so gern Rehbraten, nicht wahr? Ich habe ihn extra zubereitet, als ich hörte, daß Sie hier sind.« Er wandte sich zu Lady Anne um. »Entschuldigung, Mylady, der Braten von heute mittag war mir nicht gut genug für Sir Hasard. Ich meine, schließlich soll er doch wirklich etwas Gutes serviert erhalten. Das sagte auch Miß Gwen, nicht wahr, Miß Gwen?«

Jetzt kriegte Gwen O’Flynn einen roten Kopf und weiche Knie.

»Vorsicht, die Flasche rutscht«, sagte Hasard und sprang schnell auf. Er nahm ihr das Tablett ab und stellte es vorsichtig auf den Tisch.

»Oh«, sagte Gwen und war ziemlich verbiestert. Hasard strahlte den Küchenmeister an. »Vielen Dank, Mister Jackson - Rehbraten, mein Leibgericht.

Das haben Sie also nicht vergessen. Erinnern Sie sich noch, wie Sie einmal eine Rehkeule suchten, die in meinem Magen verschwunden war? Sie hatten die Keulen genau gezählt, aber

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eine fehlte. Ganz unglücklich waren Sie. Da gestand ich Ihnen, daß ich sie gemaust hätte -und was taten Sie? Sie gaben mir noch eine Keule, weil ich den Mut gehabt hätte, es zu sagen.«

»Ja, Mut hatten Sie immer, Sir Hasard. Im Gegensatz zu Ihren drei Brüdern …«

»Jackson«, sagte Lady Anne streng. »Verzeihung, Mylady. Also, dann wünsche ich auch guten

Appetit, Sir Hasard.« Jack Jackson verbeugte sich. »Meinen herzlichsten Dank, Mister Jackson. Sie sind ein En­

gel. Und Appetit habe ich ganz bestimmt. Herzlichen Dank, Jenny, herzlichen Dank, Noreen, und ganz herzlichen Dank auch, Miß Gwen.«

Da war er wieder, dieser Charme, der alle bestrickte. Lady Anne blickte zu dem schwarzhaarigen, blauäugigen Riesen hoch, der dort so lässig und dennoch gespannt wie eine Feder stand, ein leises Lächeln im Gesicht, ein mutwilliges Blitzen inden scharfen Augen.

Mit ein paar Griffen war der Tisch vor dem Kamin gedeckt, und die drei Mädchen verließen mit Jack Jackson die Halle.

»Sie lieben dich alle«, sagte Lady Anne. »Fast könnte ich ei­fersüchtig werden.«

»Na, na«, sagte Hasard. »Hast du eine gute Besatzung?« »Ich glaube die beste, die ein Kapitän je gehabt hat.« »Das kann ich mir denken. Setz dich und lang zu, mein Jun­

ge. Laß es dir schmecken.« »Danke, Mom.« Hasard setzte sich. »Kriegst du nicht auch

Appetit?« Lady Anne lachte. »Schau dir mal meine Figur an! Ich muß

schleunigst abnehmen.« »Auch kein Gläschen Wein?« »Also, da sag ich nicht nein.« »Na, siehst du!« Hasard stand wieder auf, nahm die Weinflasche, schenkte

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sich etwas ein, probierte, nickte anerkennend, schenkte ein zweites Glas voll und reichte es seiner Mutter. Dann schenkte er sich nach.

»Auf dein Wohl, mein Junge«, sagte Lady Anne. »Danke, Mom, auf dein Wohl und deine Gesundheit.« Sie tranken sich zu, und dann fiel Hasard wie ein verhunger­

ter Wolf über den Braten und die Speisen her. Und zwischendurch erzählte er: vom andalusischen Schlaf­

trunk und dem Kätzchen Nathaniel Plymsons, von der Schlacht vor der ›Bloody Mary‹ in Plymouth, von Donegal Daniel O’Flynn, von Kapitän Drake und der ›Marygold‹, von der »Santa Barbara« und der »Barcelona«, von seinem »Harem«, von den Azoren, von dem tollkühnen Durchbruch auf der Ree­de von Cadiz …

Und Lady Anne lauschte hingerissen.

9.

Zwanzig Minuten vor Mitternacht stand der Seewolf vor der Seitentür der Ringmauer. Lady Anne war todmüde, aber glück­lich und ein wenig beschwipst ins Bett gesunken.

Auf Arwenack kroch man sonst um diese Zeit früh unter die Federn. Ein milchiger, flacher Mond warf bizarre Lichter und Schatten über den dunklen Hof.

Verdutzt blickte sich Hasard um. Wo war der Wachtposten? Er rüttelte an der Seitentür. Sie war verschlossen. Hasard überlegte. Vielleicht sollte er noch zu Shane gehen.

Auch, um sich von ihm zu verabschieden. Oder sollte er - wie früher so oft - über die Mauer steigen? Hasard grinste vor sich hin, jungenhaft, fröhlich. Ja, das würde er tun. Der alte Shane brauchte seinen Schlaf.

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Hasard pfiff vor sich hin und wandte sich nach links, wo eine der Treppen zum Wehrgang hochführte.

Er passierte eine Mauernische und blieb erstarrt stehen. Als er herumwirbelte, was es bereits zu spät. Er stoppte den Sprung und lauerte.

Die Gestalt vor ihm hob die Pistole ein wenig an. »Na los, du Bastard«, sagte John Malcolm Killigrew, »spring

nur, damit ich dir ein Loch in deinen verdammten Wanst schießen kann.« John Malcolms Stimme zitterte vor Wut und Haß, sein Ferkelgesicht mit den auf geworfenen Lippen war verzerrt, Mordlust glitzerte in seinen blaßblauen Augen. Aberdie Pistole lag ruhig in seiner Hand.

Hasard wußte seine Chancen genau einzuschätzen, dieses Mal standen sie mehr als schlecht. Und er kannte seinen gewalttäti­gen Bruder, der würde bei der geringsten Bewegung mit Genuß und Bedacht schießen. Und wohin er schießen würde, war Ha­sard ebenso klar: in den Unterleib. Auf diese drei Schritte Dis­tanz würde John M. sein Ziel treffen, das war mal so sicher wie das Amen in der Kirche.

»Amen«, sagte Hasard laut. »Wie bitte?« »Ich sagte ›amen‹.« »Das nutzt dir auch nichts, zur Hölle fährst du so oder so.

Und unser Alter wird dir dazu ein Präludium vorgeigen, daß dir Hören und Sehen ver geht.«

»Nett von ihm«, sagte Hasard. »Und was soll das Ganze?« »Das will ich dir genau sagen, du stinkige Wanze von einem

Kapitän - ha-ha-ha - Kapitän! Eine Witzfigur von Kapitän! Verläßt sein Schiff, um groß vor seiner Mutter anzugeben und

um sie herumzuscharwenzeln - ha-ha-ha …« »Zur Sache«, sagte Hasard kalt.John Malcolm stieß den bulligen Kopf vor. »Ich werde dein

Schiff hoppnehmen, großer Kapitän. Und ich weiß auch schon, wie.

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Eine todsichere Methode. Du wirst sehen, wie hervorragend sie klappt.«

»Spuck’s aus und red nicht soviel.« »Morgen bei Tag wirst du vor meiner Pistole durch Falmouth

zum Hafen marschieren - natürlich mit einem Strick um den Hals. Und ich werde reiten und mit der Peitsche dafür sorgen, daß du auch schön in Trab bleibst. Vielleicht sollten wir dir auch ein Büßergewand anziehen …«

»Oder nur ne Zipfelmütze«, schlug Hasard vor, »und sonst nackt.«

Trotz des diffusen Lichtes sah Hasard, wie John Malcolms Gesicht dunkelrot anlief.

»Dir werden die Sprüche schon noch vergehen, du Mist ­stück!« fauchte John. »Hör schön zu, damit du kapierst, wer hier den Ton angibt. Vor deinem Schiff werde ich diese Pistole an deine Schläfe halten und deine Kerle auffordern, waffenlos einer nach dem anderen das Schiff zu verlassen. Wenn nicht ­puff! Und du wirst ohne Köpfchen ‘rumrennen.«

»Könnte klappen«, sagte Hasard ruhig. »Du bist genial, Bru­derherz. Und wie kommst du dann mit der englischen Krone klar? Und mit Kapitän Drake?«

»Leck mich doch am Arsch.« »Ach, lieber nicht, denn du Drecksau warst noch nie sehr

sauber. Aber im Ernst. Als großer Stratege solltest du doch bedenken, daß man heute nicht mehr wie früher mal so eben ein Schiff hoppnehmen kann, das der Königin von England gehört. Selbst ein Vizeadmiral von Cornwall kann da nicht mehr so schalten und walten, wie es ihm paßt. Er ist Untertan der englischen Krone und ihr auf seinen Eid verpflichtet. Ihr landet alle am Galgen, Bruderherz.«

»Spar dir deine frommen Sprüche. Wir Leute von Cornwallpfeifen auf die Krone. Das Schiff gehört uns und damit basta.«

»Paß nur auf, daß meine Männer deinen schönen Plan nicht durchkreuzen, mein Guter. So leicht sind die nicht zu leimen.«

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Hasard wollte etwas erfahren, und er erhielt auch prompt die Antwort.

»Deine M änner? Von denen kommt keiner mehr von Bord. Ich hab die Pier abgeriegelt.«

»Oh, sehr aufmerksam. Hoffentlich mit einem starken Aufge­bot, oder?«

John Malcolm grinste verächtlich und überheblich. »Starkes Aufgebot? Für deine paar müden Schiffsknechte werden ja wohl zwei Männer genügen nicht wahr?«

Hasard tat sehr erschüttert und sagte zustimmend: »Da muß ich dir leider beipflichten.«

John Malcolm schmatzte mit seinen Ferkellippen und winkte mit der Pistole. »Vorwärts, großer Kapitän. Der Turmkerker wartet auf dich. Und, sei schön vorsichtig. Falls mir etwas an deinen Bewegungen nicht paßt, hast du ein Loch im Kreuz. Geh vor mir her, hebe deine Hände und falte sie hinter deinem Nacken.«

Hasard tat es, drehte sich um und marschierte los. Hinter sich hörte er die Schritte seines Bruders.

Er ging quer über den Hof auf den Turmkerker zu. Und da sah er aus den Augenwinkeln nur Bruchteile von Sekunden eine Bewegung neben dem vorderen Eckturm des Haupthauses. Er beherrschte sich, den Kopf weiter zu wenden, und trottetet scheinbar in sein Schicksal ergeben, auf die Eisentür des Turmkerkers zu.

Hatte John Malcolm die Bewegung auch gesehen? Nein, dessen Schritte blieben unverändert. Wer oder was hat ­

te diese Bewegung verursacht. Shane? Hasard atmete tief durch. Wenn es Shane war, und dieser Dreckskerl von John Malcolm schoß auf ihn, dann würde er den Bruder erwürgen, und wenn es das letzte war, was er in diesem Leben noch tun würde.

»Halt!« sagte John Malcolm. »Gehe drei Schritte weiter und öffne die Eisentür. Sie ist unverschlossen. Aber sei sehr behut ­

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sam. Ich habe meine Pistole angeschlagen und ziele genau dorthin, wo dein Kreuz zu Ende ist und deine Arschfalte an­fängt. Was meinst du wohl, was das für ein Schuß wird, wenn ich da die Kugel hinsetze, he?«

Hasard zuckte mit den breiten Schultern. »Ich möchte an der Stelle noch eine Weile heil bleiben, Bru­

derherz. Und wenn, dann habe ich lieber meine Wunden auf der Brust. Wenn man seinen Gegner sieht, ist das würdevol­ler.«

»Ha-ha-ha!« röhrte John Malcolm. »Immer der alte Hasard, wie?«

»Genau. Immer der alte Hasard. Und vergiß nie die Maul­schelle, die ich dir vorm Kamin verpaßte, als der Alte im Hirschgeweih hing. Das nächstemal wird’s nicht bei einer Maulschelle bleiben.«

John Malcolm fluchte wild. Hasard tat die drei Schr itte und öffnete die Eisentür. Muffiger

Geruch schlug ihm entgegen - und Grabeskälte. Und Licht ­schein! Verdammt, John M. mußte sich seiner Sache sehr si­cher gewesen sein. Er hatte vorgesorgt. Rechts hinter dem Ein­gang hing eine brennende Ölfunzel, die ein trübes Licht spendete. Links führte eine eiserne Wendeltreppe nach oben zu einer Plattform, von der aus der Turm verteidigt werden konn­te. Da oben waren im Rund der Mauer schmale, hochschlitzige Schießscharten angebracht worden. Als Jungen hatten sie oft genug ausprobiert, wie wirkungsvoll von dort oben ein Pfeil­schuß auf den Hof war.

Rechts, in Höhe der Ölfunzel, führten Steintreppen zu einem Keller gewölbe hinunter, das hinter einem riesigen Eisengitter lag. In dem Eisengitter befand sich eine Tür - ebenfalls aus Eisenstäben -, die bereits offenstand.

»Vorwärts!« befahl John Malcolm. »Du weißt ja, wohin.« Hasard betrat den Turmkerker, wandte sich nach rechts und

stieg die Stufen hinunter.

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»Ich empfehle dir, bis nach ganz hinten durchzugehen«, sagte John höhnisch, »bis zur Wand.«

Hasard trat durch die geöffnete Tür, durchquerte den Keller­raum bis zur Außenmauer und blieb stehen.

Hinter sich hörte er die hastigen Schritte John Malcolms, dann quietschten Angeln, rasselnd schlug die Gittertür zu. John Malcolm hakte das wuchtige Schloß in die Krampen und schloß ab.

Sein widerliches Lachen dröhnte durch das Gemäuer. Hasard drehte sich langsam um und nahm die Hände herunter. Er lehn­te sich gegen die kalte Mauer und starrte seinen Bruder an.

Der eisblaue Blick! Abrupt brach das Lachen ab. Und wieder glitzerte Haß in den blaßblauen Augen John Malcolms.

»Wie fühlst du dich, Bastard?« »Gut. Ich habe vorhin einen vorzüglichen Rehbraten gegessen

und einen ausgezeichneten Wein getrunken. Ich hätte nichts dagegen, jetzt ein paar Stunden zu schlafen.«

Er gähnte. »Verschwinde, du rothaarige Laus.« John M. knurrte vor Wut. Daß dieser Bastard völlig uner­

schüttert tat und ihn auch noch verhöhnte, das reizte ihn bis zur Weißglut. Er deutete auf eine Bohlentür neben der Steintreppe zum Keller gewölbe.

»Du hast wohl Sehnsucht nach der Folterkammer des Alten, wie? Nach der Streckbank zum Beispiel, wo wir dich noch ein bißchen in die Länge ziehen könnten. Die spanische Halskrau­se mit den Nägeln wäre auch zu empfehlen, oder die Daumen­presse, aus der das Blut so schön herausspritzt - ha-ha-ha!«

Angewidert betrachtete Hasard seinen Bruder. John Malcolm hatte von jeher einen Hang zum Sadismus gehabt. Er quälte Tiere, er quälte Menschen - aber immer nur Wesen, die sich seiner nicht erwehren konnten, weil sie schwächer waren.

Er war tückisch und boshaft und konnte Stunden damit zu­bringen, immer neue Gemeinheiten auszuhecken.

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Dabei war er selbstherrlich, pochte auf sein Recht des Erstge­borenen und zukünftigen Erben von Arwenack und war alles in allem nur ein mieser Abklatsch seines Vaters. Sir John war ein Ekel, aber bei allen seinen schlechten Eigenschaften hatte er ein Format, das keiner seiner Söhne - mit Ausnahme Hasards ­je erreichen würde.

Unter der äußeren Stabilität Arwenacks schlummerten Span­nungen, die im Laufe der Jahre entstanden und nie abgebaut worden waren. Ein zu starker Druck würde sie reißen lassen, und dann würde die Hölle los sein.

Hasard hatte unbewußt gespürt, daß er im Zentrum dieserSpannungen stand, und darum hatte er Arwenack verlassen. Nicht, daß er eine Auseinandersetzung scheute, aber sie er­schien ihm sinnlos.

Verächtlich sagte er: »Versuch’s doch mal. Aber vergiß nicht, daß ich dir nicht mehr den Rücken zuwende. Von hinten er­wischst du mich nicht mehr.« Er bückte sich und zog ein Mes­ser aus dem Stiefelschaft. »Los, schließ auf und komm her! Du wolltest mich foltern? Los doch!«

John junior wich von dem Gitter zurück. »Schmeiß sofort das Messer weg!« schrie er. »Nein.« »Ich schieße!« »Tu’s doch.« Hasard wog das Messer in der Hand. John Malcolm hob abwehrend die Hände und stolperte die

Stufen hoch. Sekunden später sprang er nach draußen und knallte die Ei­

sentür zu. Hastig schloß er ab und steckte den Schlüssel in sei­nen Wams. Nein, da konnte er herausfallen, zusammen mit dem Schlüssel für die Gittertür. Er zerrte beide Schlüssel wie­der hervor, fluchte, weil sich einer im Stoff verhakte, riß an ihm, bis er sich samt einem Stoffetzen löste, fädelte seine Halskette durch die beiden oberen Ringe und stopfte die beiden Schlüssel in seinen Halsausschnitt.

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Dabei keuchte er, als habe er einen steilen Ber g erstiegen.

Als er die leisen Schritte hinter sich hörte, fuhr er entsetzt herum.

»Oh, Sir John! Habe ich Sie erschreckt? Entschuldigen Sie bitte.« Gwendolyn Bernice O’Flynns Stimme war zuckersüß. »Es ist eine so schöne Nacht« - die Nacht war alles andere als schön -, »und da wollte ich noch einmal etwas Luft schnap ­pen.«

»Eh?« John Malcolm sah reichlich blöd aus. »Ja, und da entdeckte ich Sie, Sir John. Oh, erst dachte ich,

Sie seien ein Geist.« Sie kicherte. »Aber Sie sind Fleisch und Blut.

Sicherlich wollten Sie auch noch einmal an die reine, klare Nachtluft, nicht wahr? Nein, was für ein Zufall, daß wir uns hier beide treffen. Ich bin ganz verwirrt! Puh, ist mir warm!« Ungeniert knöpfte sie das Oberteil ihres Kleides auf und fä­chelte sich mit den beiden Teilen Luft zu.

Welch ein Anblick! John M., das Ferkel, grunzte und schmatzte und starrte lüstern

auf zwei paradiesische Rundungen, die zur Hälfte sichtbar wurden und prall gegen den Leinenstoff stießen.

Nach dem Ausdruck seines Ferkelgesichts zu schließen, war er bereit, Gwen O’Flynn auf der Stelle zu ver gewaltigen. Er stöhnte brünstig und tappte auf Gwen zu.

Sie kicherte und wich zurück. »Darf ich Ihnen noch ein Glä­schen Wein kredenzen, Sir John? Von dem schweren spani­schen? Er geht so ins Blut. Ich würde ja auch gern einmal da­von nippen.«

Er grunzte zustimmend und leckte sich über die Ferkellippen.

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Ah, das versprach eine Nacht zu werden, die er bis zur Neige auskosten würde. Er zitterte vor Begierde und malte sich be­reits aus, wie er es mit ihr treiben würde. Seit sie auf Arwenack weilte, war er verrückt nach ihr. Und jetzt schien sie endlich bereit zu sein. Vor seinen Augen wallten rote Nebel, das Blut jagte hämmernd durch seine Adern.

Wer John Malcolm Killigrew jetzt sah, könnte meinen, er stünde dicht vor einem Schlaganf all, und tatsächlich war er gar nicht weit davon entfernt. Sein Herz pumpte das Blut in hek­tisch pulsierenden Stößen durch seinen Körper, so daß er das Gefühl hatte, zu platzen. Der Schweiß lief ihm in Strömen vomGesicht und am Körper hinunter.

»Wohin?« keuchte er. Sie tanzte vor ihm her. »Wohin? In die Trinkstube natürlich.« »Und dann?« »Oh!« Sie girrte aufreizend. »Das müssen Sie doch wissen,

Sir John. Ich kenne mich da nicht so aus.« »In dein Bett!« sagte er brutal. »In mein Bett! Aber niemand darf etwas merken. Oh, ist das

aufregend!« Er stolperte hinter ihr her, keuchend, schnaufend, grunzend,

schmatzend, ein verfetteter Bulle mit einem gierig verzerrten Ferkelgesicht.

Gwendolyn Bernice O’Flynn spielte ein verdammt gefahrli­ches Spiel mit fast zu hohem Einsatz. Sie hatte alles gehört und gesehen. Sie hatte ihn noch einmal sehen wollen, bevor er ging, und hinter dem Eckturm gewartet. Aber da war plötzlich dieser widerliche John Malcolm aufgetaucht, hatte den Wachtposten weggeschickt, die Seitentür geschlossen, war zum Turmkerker gehastet, hatte ihn aufgeschlossen, war in ihm verschwunden,hatte dort eine Lampe angezündet, die Tür wieder geschlossen und sich in der Mauernische verborgen.

Entsetzt hatte sie alles beobachtet, und dann war es zu spät

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gewesen, Hasard noch zu warnen. Aber es war noch nicht zu spät, ihn wieder zu befreien, bevor der Morgen graute und John Malcolm seinen Plan in die Tat umsetzen konnte.

Die Trinkstube lag seitlich der Halle von Arwenack in einem Keller gewölbe, zu dem eine Treppe hinunterführte. Gwen durchquerte die Halle und hüpfte leichtfüßig die Stufen hinun­ter. Ohne daß er es merkte, knöpfte Gwen ihr Kleid wieder zu. Jetzt mußte sie vorsichtig sein und durfte ihn nicht zu sehr rei­zen. Ihr war keineswegs entgangen, daß John Malcolms Zu­stand bereits an Raserei grenzte.

John Malcolm polterte wie eine Steinlawine die Stufen hinun­ter.

»Psst!« flüsterte Gwen. »Nicht so laut, Sir John. Die Lady hat sehr scharfe Ohren.«

John M. grunzte etwas Unverstandliches und schlich auf Gwen zu. Sein Schweißgeruch war unerträglich.

»Hinsetzen!« befahl Gwen scharf und wies herrisch auf einen geschnitzten Eichenstuhl.

Seltsamerweise gehorchte John Malcolm. Fast erschöpft sank er in den Stuhl und wischte sich über die nasse Stirn.

Von der Halle f iel Licht herunter. Gwen entzündete ein paar Kerzen, holte von einem Wandbord einen Zinnhumpen, ging zu einem großen Faß und zapfte öligen, dunkelroten Wein ab.

John Malcolm trank wie ein Verdurstender, rülpste, trank und trank. Der Humpen war leer, als er ihn absetzte.

»Uaaah!« Mit dem rechten Handrücken fuhr er sich über die Ferkellippen. »Das tat gut. Schenk nach, du kleine Hure, schenk dir auch was ein, damit du schön geil wirst.« Er lachte meckernd und klopfte sich auf die dicken Schenkel.

Was du mich anwiderst, du Scheusal, dachte Gwen und lä­chelte süß, während sie einschenkte und ihm den Humpen reichte. Sauf dir die Hucke voll, je eher, desto besser.

Das tat er wirklich. Unbeherrscht, wie er war, soff er drauflos, denn jetzt wollte er den Rausch, dessen Krönung dann das

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Weib sein würde. Ah, dieses Weib mit den prallen Brüsten und den straffen Schenkeln!

Sie drehte sich vor ihm in den Hüften, und er fing an zu schielen.

»Ko-komm her, d-du s-süßes L-luder«, lallte er und wackelte mit dem Kopf. »W-will mal s-sehen, w-was du unterm Ro-rock hast.«

»Hasch mich doch«, girrte Gwen und tanzte durch die Trink­stube.

»Hierher!« brüllte John Malcolm, stemmte sich ächzend hoch und sank wieder zurück. Seine Augen wurden glasig.

Gwen beobachtete ihn. John Malcolm wedelte mit der Hand. »Will was saufen - hmmpps!« Er rülpste und schmatzte.

»Verdammte Weiber - al-alles Hu-huren. Zieh-zieh d-dich aus, du-du Hexe …« Er ließ den Kopf sinken, bewegte ihn hin undher, riß ihn plötzlich wieder hoch und brüllte: »Saufen!«

Gwen nahm den Humpem, schenkte ihn wieder voll ein und stellte ihn vor John Malcolm auf den Tisch. Sie hielt sich in vorsichtiger Distanz.

Es grenzte an ein Wunder, daß er den Humpen nicht umstieß, als er nach ihm mit fahriger Hand angelte. Aber dann hatte er ihn und goß sich den schweren Wein in die Kehle. Als er ihn absetzte, quollen seine Augen hervor. Sie waren blutunterlau­fen, stier und anscheinend nicht mehr unter seiner Kontrolle, weil er überkreuz starrte.

»Wie-weiberpisse«, murmelte er. Der Humpen klirrte zu Bo­den, ein Rest floß über die Fliesen - rot wie Blut.

Er beugte sich vor und stierte auf den Humpen. Sein ganzer Körper wackelte.

Nun kipp schon hinterher, dachte Gwen, denn viel fehlte nichtmehr.

Aber er riß sich wieder zurück und murmelte: »Däm-däm­licher Hu-humpen, la-la-la, gibt’s hier no-noch was zu sausau­

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fen, verda-dammte Scheiße, oder-oder wa-was ist los?« Er hieb die Faust auf den Tisch. Gwen biß die Zähne zusammen. Wenn der Wein ihn nicht

schaffte, mußte es der Whisky tun. Sie goß einen Zinnbecher voll und stellte ihn vor seine rechte Hand. John Malcolm griff zu und stürzte das scharfe Zeug hinunter …

10.

Mitternacht war vorüber. Ben Brighton wurde immer unruhi­ger. Die ›Isabella‹ war seeklar, die Männer warteten an Deck.

Ferris Tucker enterte auf das Achterdeck und trat zu ihm. »Wir müssen etwas unternehmen, Ben«, sagte er. »Das ist

nicht die Art des Seewolfes, unpünktlich zu sein. Da ist was passiert, bestimmt ist da was passiert, wetten?«

»Mann, mach mich nicht verrückt. Ich denk doch schon dar­über nach, was wir tun sollen!« fauchte Ben Brighton.

»So? Dann denk nicht zu lange. Dan O’Flynn kennt doch si­cherlich die Feste da oben. Ihn sollten wir hinaufschicken, ihn und Batuti.«

»Wieso Batuti?« Ferris Tucker grinste. »Weil er ein schwarzer Hundesohn ist. Schwarz sieht man in

der Nacht schlechter als weiß, begreifst du das, oder bist du dafür zu dämlich?«

»Halt’s Maul!« sagte Ben Brighton gereizt. »Du machst mich ganz verrückt mit deinem Gesabbel.«

»Das sagtest du bereits. Du bist nervös, Ben, und das ist nicht gut. Soll ich Dan und Batuti holen?« »Ja.« Sekunden spater standen die beiden auf dem Achterdeck - der

riesige, dunkle Mann und der schlanke, sehnige Junge. Batuti überragte das Bürschchen um zweieinhalb Kopfe.

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Ferris Tucker mußte ein Lächeln unterdrücken. Die beiden nebeneinander wirkten wie David und Goliath.

»Der Seewolf ist noch nicht zurück …« begann Ben Brigh­ton.

»Weiß ich doch«, sagte Dan O’Flynn ungeduldig. »Wir war­ten ja alle auf ihn. Soll ich ihn holen?«

»Ja. Kennst du dich auf der Feste aus?« Das Bürschchen nickte. »Ich war zweimal oben und hab

Fisch ‘raufgebracht. Da hab ich mich genau umgesehen.« »Vielleicht müßt ihr über die Mauer steigen. Verdammt, Dan,

ich will keinen Ärger mit den Killigrews. Also seht euch vor.verstanden?«

»Ha!« Das Bürschchen deutete mit dem Daumen auf Batuti. »Soll der lange Lulatsch etwa mit?«

»Das soll er«, sagte der Bootsmann wütend. »Meinst du, ich laß dich allein da oben herumschleichen?«

»Ich auf kleines O’Flynn aufpassen«, sagte Batuti und klopfte auf seine breite Brust. Dazu rollte er wild mit den Augen und fletschte die Zähne.

»O Jesus«, sagte Dan O’Flynn und faltete die Hände. »Als wenn ich nicht allein auf mich aufpassen könnte.«

»Batuti wird dich begleiten, basta. Nehmt ein Seil mit, Mes­ser und jeder eine Pistole. Falls ihr mit den Dingern schießt, wissen wir, daß da oben etwas schief gelaufen ist. Benutzt die Pistolen also nur im äußersten Notfall. Seid ihr innerhalb von zwei Stunden nicht zurück, müssen wir annehmen, daß ihr in eine Falle gelaufen seid, ohne uns noch warnen zu können.«

»Und dann?« fragte Dan. »Hauen wir euch heraus«, sagte Ben Brighton. »Was denn

sonst? Und wenn wir die Mauer da oben sprengen mußten.« »Das hat noch keiner geschafft«, sagte Dan O’Flynn.»Dann wird’s höchste Zeit, daß es mal einer schafft«, sagte

Ben Brighton grimmig. Fünf Minuten später zogen der große Mann und der Junge

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los. Batuti hatte eine Seilrolle über der Schulter hängen. In ihren Gürteln steckten Pistolen.

Sie gelangten nicht weit. Ben Brighton, Ferris Tucker und alle Männer der ›Isabella‹, die ihnen nachschauten, sahen es be­stürzt. Aber sie brauchten nicht einzugreifen.

Batuti und Dan hatten das Ende der Pier erreicht, da traten ih­nen aus dem Dunkel heraus zwei Männer entgegen - unzwei­felhaft Kriegsleute. Sie trugen Helm, Brustharnisch und Mus­kete.

»Halt!« sagte der eine. »Zurück an Bord, oder ihr werdet mit Blei gefüttert.«

»Nicht freundliches Mann«, sagte Batuti und trat näher. Dan folgte ihm. Der Mann, der gesprochen hatte, starrte zu Batuti hoch. »Ein Nigger!« ächzte er. »Hast du so was schon mal gesehen,

Mick?« Mick schüttelte den Kopf. »Den hamse aus fernen Landen

mitgebracht.« Jetzt trat er selbst heran, um das Exemplar aus Afrika näher

zu betrachten. Der andere, ebenso neugierig, folgte ihm, und damit war ihr Sicherheitsabstand zum Teufel.

Dan stieß Batuti an, ziemlich erregt. Er zeigte mit dem Arm hinter die beiden Kriegsleute. »He! Was fliegt denn da durch die Luft?«

Die beiden Männer schauten sich an und fuhren herum. Batuti grinste und schlug einmal links und einmal rechts zu.

Wo Batuti hinschlug, wuchs kein Gras mehr. Das waren Häm­mer, diese beiden Schläge, und so wirkten sie auch. Denn Ba­tuti hatte ihnen die Helme über die Ohren, Stirn und Augen getrieben und sogar über die Nase gerammt.

So war denn Nacht für die beiden. Sie waren blind und halb betäubt von Batutis Hammerschlägen.

Dan O’Flynn kicherte und sammelte die Musketen auf. Und Batuti schnappte sich die beiden Herumtorkelnden, packte sie

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links und rechts am Genick über dem Harnisch, lüftete die Zappelnden an und trug sie über die Pier zurück zur ›Isabella‹.

Dan O’Flynn fielen vor Lachen fast die Musketen aus den Armen. Batuti balancierte über die schwankende Gangway. Krach! flog der eine Kriegsmann auf die Kuhl. Krach! Der andere flog hinterher.

Sie krochen wie verstörte Ameisen über die Planken und ver­suchten, die Helme loszuwerden.

Smoky, Blacky, Ferris Tucker und Stenmark sprangen hinzu. »Smoky und Blacky, ihr an die Beine!« befahl Ferris Tucker.

»Stenmark und ich an ihre Blechhüte, klar?« »Aye, aye«, echoten die drei. »Hau ruck!« befahl Ferris Tucker und zog mit aller Kraft an

dem Helm von Mick, während Blacky an dessen Beinen zerrte. Mit dem anderen passierte das gleiche. Sie brauchten vier »Haurucks«, um die brüllenden Kerle von

ihren Helmen zu befreien. Die ganze Besatzung stand im Kreis herum und amüsierte sich wie auf einem Rummelplatz, wo eine Artistengruppe einen halsbrecherischen Akt zeigt.

Denn halsbrecherisch und verrückt sah das Ganze auch aus ­und ir gendwie komisch. Als die Helme auf die Decksplanken kollerten, blieben die beiden ächzend und stöhnend liegen. Wahrscheinlich hatten sie das Gefühl, um einen halben Fuß länger geworden zu sein.

»Kommt hoch, ihr Säcke!« sagte Ferris Tucker grollend. »Tut bloß nicht so!«

Ächzen, Stöhnen - die beiden blieben liegen. »Ein paar Pützen Wasser!« befahl Ferris Tucker. Segeltucheimer flogen an langen Tampen ins Wasser, wurden

hochgeholt und über den beiden aus geschüttet. Sie fuhren hoch, als habe sie jemand mit der Nadel gepiekt.

»Na also«, sagte Ferris Tucker zufrieden. »Mit Wasser schafft man alles. Ben! Willst du sie verhören?«

»Klar.« Ben Brighton stieg vom Achterdeck und trat hinzu.

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Finster musterte er die beiden Männer, bei denen die Nasen zerschrammt waren und auf der Stirn blaurote Ringe aufquol­len.

»Warum habt ihr unsere beiden Männer aufgehalten?« fragte er.

»Befehl«, sagte Mick. »Wessen Befehl?« »Sir John Malcolm Killigrews.« Ben Brighton und Ferris Tucker wechselten einen schnellen

Blick. »Schau einer an«, sagte Ben Brighton, »Sir John Malcolm

Killigrew. Und wie lautet der genaue Bef ehl von ihm?« Mick öffnete den Mund, da erhielt er von dem anderen einen

Rippenstoß. »Halt’s Maul, du Idiot!« zischte der. Ferris Tucker trat vor und hielt ihm die riesige Faust unter die

Nase. »Riech mal dran, Kumpel, bevor du sie zu kosten kriegst und dann deine Zähne aufsammelst. Riecht gut, wie?«

Der Mann preßte die Lippen zusammen und schielte Ferris Tucker tückisch an. Allem Anschein nach war er härter gesot ­ten als sein Kumpan.

»Schone deine Faust, Ferris«, sagte Ben Brighton. »Wir schlagen einen Tampen an seinem Blechkostüm an und f ieren ihn außenbords. Was meinst du, der geht ab wie ein Stein. Un­ter Wasser fällt ihm vielleicht ein, ob er uns noch was zu sagen hat. Der andere begleitet ihn natürlich. Los, Männer, holt zwei Tampen!«

Sie machten kurzen Prozeß, die Männer von der ›Isabella‹. Schließlich ging es um ihren Seewolf, und da konnten sie so wild und biestig werden wie gereizte Hornissen. Und wenn die beiden Kriegsleute gedacht hatten, an Bord der ›Isabella‹ sei man zu freundlichen Scherzen aufgelegt, dann sahen sie sich getäuscht. Im Handumdrehen waren Tampen hinten an ihren Brustharnischen befestigt, und bevor sie noch Luft holen oder

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protestieren konnten, flogen sie von kräftigen Fäusten angelüf­tet über das Schanzkleid und außenbords.

Ben Brighton hatte recht gehabt. Sie gingen wie Steine auf Tiefe. Blubbernde Blasen stiegen hoch.

»Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vier­undzwanzig …« zählte Ferris Tucker in aller Gemütsruhe. Bei »dreißig« winkte er und fügte hinzu: »Holt auf die Säcke!«

Hand über Hand mit je vier Männern an einem Tampen wur­den die beiden Kerle wieder hochgezogen. Gurgelnd, spuckend und hustend durchbrachen sie die Wasseroberfläche und hin­gen wie ersäufte Katzen - alle viere von sich gestreckt - an ihren Tampen.

»Tunkt sie noch mal kräftig ein«, befahl Ben Brighton. Die beiden klatschten wieder ins Wasser, dieses Mal nicht

ganz so tief, aber Wasser war Wasser und kalt war es oben­drein. Dann wurden sie sinnig hochgeholt und zurück an Deckbefördert. Sie kipppten um und wurden nur noch von ihren Brustharnischen zusammengehalten. Röchelnd rangen sie nach Luft mit schnappenden Mäulern - wie Fische auf dem Trocke­nen.

»Wie lautete John Malcom Killigrews Befehl?« fragte Ben Brighton hart. »Heraus mit der Sprache, uns reicht’s nämlich jetzt.«

»Kein - keinen an Land zu lassen«, stieß Mick hervor. »Das hat doch einen Grund«, sagte der Bootsmann. Mick nickte mühsam und spie Wasser aus. »Sir John Mal­

colm wollte euren Kapitän oben auf Arwenack festsetzen und ­und …«

»Was ›und‹?« fuhr ihn Ben Br ighton an. Mick stöhnte. »Und ihn morgen mit vorgehaltener Pistole zu

eurem Schiff führen.« Der Bootsmann starrte ihn verblüfft an. »Wozu das denn?« »Als Geisel«, sagte Mick. »Mit eurem Kapitän hat er ein

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Druckmittel, euch zu zwingen, das Schiff zu verlassen. Tut ihr das nicht, erschießt er den Kapitän vor euren Augen.«

Ferris Tucker knurrte vor Wut »Dieser Drecksack - seinen ei­genen Bruder erschießen! Ist das noch zu fassen?«

»Ein feiner Plan«, sagte Ben Brighton. »Nur sind wir auch noch da und werden ihm in die Suppe spucken.« Er wandte sich wieder Mick zu. »Wollte Malcolm Killigrew unseren Ka­pitän da oben auf der Feste allein überwältigen, oder hat er noch ein paar von eurer Sorte dabei?«

»Allein, soviel ich weiß.« »Da muß er sich aber verdammt anstrengen«, sagte Ferris Tu­

cker. »Wie ich meinen Hasard kenne, stößt er diesen John Mal­colm mit dem kleinen Finger aus dem Hemd.«

»Er wollte ihn überraschen«, sagte Mick. »Von hinten.« »Das scheint er auch geschafft zu haben«, sagte Ben Brighton

verbissen. »Natürlich von hinten. Aber eins versteh ich nicht. Meinte John Malcolm Killigrew, ihr zwei Kerle würdet ausrei­chen, uns hier auf dem Schiff festzuhalten? Oder sind da noch mehr irgendwo hinten bei der Pier aufgezogen?«

»Nein. Die sollten erst morgen aufziehen. Wir beide waren allein. Sir John Malcolm Killigrew meinte, auf eurem Schiff seien nur müde Schiffsknechte.«

Ferris Tucker hatte Mühe, sich zu beherrschen. »Müde Schiffsknechte! Dieser Hurensohn!« »Ruhe, Ferris«, mahnte Ben Brighton. »Noch eins. Falls un­

ser Kapitän überrumpelt wurde, wo würde er dann gefangen­gehalten?«

»Im Turmkerker natürlich«, erwiderte Mick. »Natürlich.« Ben Brighton nickte voller Grimm. »Zieht den

beiden Kerlen ihr Blechkostüm aus, durchsucht sie nach Waf­fen, fesselt sie und sperrt sie zu den anderen in die Vorpiek,vorwärts!«

Innerhalb zwei Minuten waren die beiden verschwunden. Wütend warf Ferris Tucker die beiden Helme und Brustharni­

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sche über Bord. Ben Brighton nagte an seiner Unterlippe und dachte nach. Dan O’Flynn sagte: »Ich kenne den Turmkerker. Er hat »ne

Eisentür. Die ist kaum zu knacken. Aber der Schmied von Ar­wenack, der alte Shane, der hilft uns bestimmt, der liebt den Seewolf wie seinen eigenen Sohn. Wo die Schmiede ist, weiß ich auch.«

Ben Brighton grinste. »Du weißt wohl alles, wie?« »Klar.« Dan O’Flynn drückte unternehmungslustig die Brust

heraus. »Bitte, Ben. Ich hol jetzt den Seewolf da oben aus der Feste heraus. Zusammen mit meinem Freund Batuti. Mann, hat der einen Schlag. Habt ihr das vorhin gesehen? Boing! Boing!«

Dan O’Flynn hieb seine Fäuste links und rechts nach unten. »So hat er denen auf die Hüte geklopft!« Er fuhr zu Ferris Tu­cker herum. »Ferris! Ihr habt die Dinger doch kaum von deren Rüben ‘runtergekriegt, nicht wahr?«

»War ziemlich schwer«, sagte Ferris Tucker und grinste. »Siehst du, Ben.« Das Bürschchen geriet so richtig in Fahrt.

»Also, mein Freund Batuti und ich, wir ziehen jetzt los und lüften die da oben an. Und ihr paßt auf die alte Tante ›Isabella‹ auf. Mein Freund Batuti und ich, wir schaffen das allein. Und der alte Shane ist ja auch noch da. Der zwingt mit einer Hand zwei Ochsen in die Knie, so einer ist das.«

»Darf ich auch mal was sagen?« fragte Ben Brighton ruhig. »Bitte«, sagte das Bürschchen. »Dann rede nicht soviel, wenn ihr beiden, Batuti und du, da

ober herumschleicht. Es bleibt, wie vorhin besprochen. Und jetzt ab. Paßt auf! Wenn ihr euch erwischen laßt, das garantiere ich euch, dann laß ich euch kielholen …«

»Verdammt und zugenäht«, sagte das Bürschchen. »Gottverdammich«, sagte Batuti.Und weg waren die beiden.

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11.

John Malcolm Killigrew war voll wie tausend Landsknechte. Er schwitzte, dampfte, rülpste, schwankte - und soff. Whisky! Und irgendwo setzte sich ein Gedanke fest, der ihm manchmal entglitt, wiederkehrte, bohrte, wieder entschwand, aber sich doch irgendwie festkrallte.

Daß er im Bett Gwendolyn Bernice O’Flynns Kunststücke hatte vollbringen wollen, war ihm längst entfallen.

Daß immer wieder ein voller Becher vor ihm stand - wie von geheimnisvoller Hand hingezaubert -, hatte ihn zuerst verwun­dert, aber dann hatten sich seine krausen Gedanken darüber auch verflüchtigt und dem einen einzigen Gedanken den Platz gelassen.

»Bastard, du stinkiger, stinkender Bastard.« John Malcolm Killigrew brabbelte vor sich hin, volltrunken, aber zäh daranweiterspinnend, was er jetzt tun wollte.

Qwen O’Flynn hütete sich, in sein Blickfeld zu geraten. Sie hatte begriffen, daß er ihre Anwesenheit vergessen hatte.

Immer wenn sein Kopf auf die Brust sackte, stellte sie ihm rasch einen vollen Becher hin. Sonst hielt sie sich seitlich hin­ter ihm. Irgendwann mußte er lang hinschlagen, und dann wür­de sie sich die Schlüssel holen und Sir Hasard befreien.

Aber er schlug nicht hin. Er soff, brabbelte unverständliches Zeug und wischte plötzlich den Becher mit einer einzigen Be­wegung vom Tisch. Lange starrte er auf den Fleck, wo sich eben noch ein Becher befunden hatte.

Gwen O’Flynn huschte hinter das Faß mit dem spanischen Wein. Es bot ihr einigermaßen Deckung. John Malcolm um­klammerte mit beiden Händen die Tischkanten links und rechts und wuchtete sich schwankend aus dem Eichenstuhl hoch. Der Tisch kippte etwas an, aber nicht um.

John Malcolm stand. Zwar wankend, aber er stand. Er glotzte zu Boden, und Gwen sah, wie er pumpte und schluckte An­

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scheinend stieg ihm der Alkohol die Kehle hoch. Aber dann entließ er nur einen donnernden Rülpser, dem eine

ebenso laute Blähung folgte. Es war wider lich und abstoßend. Gwen wurde es fast schlecht.

Der Gestank in der Trinkstube war unerträglich - Schweiß, die Ausdünstungen eines ungewaschenen Körpers, der Geruch abgestandenen Alkohols und der üble Duft seiner Blähungen, die jetzt eine nach der anderen folgten, es war zuviel.

Gwen biß die Zähne in die Lippen, um nicht aufzuschreien. John Malcolm stieß gegen den Tisch, der krachend umkippte.

Und schon schoß er quer zur gegenüberliegenden Wand, pralltedagegen und schüttelte benommen den Kopf.

Und wieder Rülpser und Blähungen. Gwen duckte sich hinter dem Faß zusammen. Wenn er jetzt

aufblickte, mußte er sie sehen. Sie hörte seinen keuchenden Atem und lauschte, ob er sich wieder in Bewegung setzte.

Ja, etwas scharrte an der Wand entlang. Sie hörte das Tappen seiner Schritte. Der Stuhl, der ihm im Weg stand, flog durch die Trinkstube und landete splitternd in einer Ecke.

»Ho-ho!« röhrte John Malcolm. »Ho-ho-ho!« Vorsichtig lugte Gwen hinter dem Faß hervor. John Malcolm

schob sich, mit der linken Schulter an die Wand gestützt, be­reits die Kellertreppe hoch. Er hielt ein mühsames Gleichge­wicht und erklomm Stufe für Stufe. Wenn er jetzt die Balance verlor und zurückkippte, würde er sich todsicher das Genick brechen.

O Gott, dachte Gwen erschüttert. Und sie würde an seinem Tod schuldig sein. Nein, nur das nicht.

John Malcolm Killigrew krampfte sich mit der Verbissenheit des Betrunkenen die Kellertreppe hoch. Als er oben war, stol­perte er, aber nach vorn. Er schlug hin, blieb eine Weile liegen,fluchte, und schaffte es dann tatsächlich, wieder auf die Füße zu kommen.

Jetzt stand er schwankend in der Halle und schien sich auf

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den Ausgang zum Flur zu konzentrieren. Er schaffte ihn in einem Anlauf, wobei er quer durch die Halle steuerte - wie ein Hund, der mit dem so typisch schiefen Hinterteil auf einen bestimmten Punkt losrennt.

Gwen folgte ihm und schlich geduckt Stufe um Stufe hoch. Sie preßte sich flach an die Wand. Aber John Malcolm dachte gar nicht daran, noch einmal zurückzuschauen. Er dachte an etwas ganz anderes, das jetzt voll von ihm Besitz ergriffen hatte und wonach er fieberte wie nach einer Frau.

Er würde es dem Bastard zeigen, jawohl, das würde er. »Ho-ho!« Er landete im Flur und blieb torkelnd stehen. Er hob den Kopf

und suchte nach ihr. Ja, da war sie, lang, sehr sehr lang, schimmernder tödlicher Stahl, der Schaft mit dem Handschutz, die schmale Spitze!

Die Lanze derer auf Arwenack. Die Lanze der Killigrews, drei- oder vierhundert Jahre alt, turniererprobt, die Waffe der Ritter, die Waffe der Killigrews, mit der sie so manchen Geg­ner aus dem Sattel gestochen hatten.

»Ho-ho-ho!« Jetzt würde er, John Malcolm Killigrew, stechen, immerzu

stechen! Durch das Gitter hindurch würde er den Bastard auf­spießen, an die Wand würde er ihn nageln, noch einmal und noch einmal, immer wieder - ah, das Blut würde fließen, und er würde um Gnade winseln, dieser schwarze Teufel …

John Malcolm Killigrew tropfte der Speichel aus den Mund­winkeln und lief in Schlieren über sein Wams.

Torkelnd stellte er sich auf die Fußspitzen und langte nach der Lanze, die über ihm auf zwei schmiedeeisernen Halterun­gen entlang der Wand lag. Er hob sie heraus, schwankte und klemmte sie sich hastig unter den Arm - so, als säße er im Sat ­tel und ritte zum ritterlichen Zweikampf an.

Er umklammerte den Schaft und preßte ihn an seine rechte Seite. Seine Hand rutschte etwas vor bis zu dem gewölbten,

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tellerartigen Schutz. Fast erstaunt merkte er, wie ausgewogen die Waff e war. Und leicht, leichter, als er gedacht hatte.

Nur einmal, als Junge, hatte er die Lanze von der Wand ge­nommen, und da hatte ihn der Alte erwischt und ihm eine ge­feuert, daß er erst an der Tür wieder zu sich gekommen war.

»Du Arschloch«, sagte er laut. Dieses Mal meinte er den Va­ter.

Gwen O’Flynn verbarg sich hinter einem wuchtigen Eichen­schrank und schaute ihm zu. Fiel dieser furchtbare Mensch denn nicht endlich um? Nein, er schwankte sogar weniger. Und jetzt hatte er sogar noch eine Lanze unter dem Arm, die ihnnach vorn abstützte, wenn er sie senkte.

Was wollte er mit der Lanze? Mit der Frage blitzte auch die Antwort in ihr auf. Nein, nein! John Malcolm war verrückt. Nur ein Verrückter konnte mit einer Lanze auf seinen eigenen Bruder losgehen. Aber hatte er ihn nicht auch erschießen wol­len?

Ihre Finger verkrampften sich zu Fäusten. Sie würde diesen Verrückten niederschlagen müssen! Dort unter der Hellebarde im Flur hing ein Morgenstern, den einer der Killigrews von den Kreuzzügen zurückgebracht hatte. Den würde sie ihm über den Schädel schlagen.

John Malcolm Killigrew war indessen noch nicht zum Tur­nier bereit. Jetzt angelte er sich einen Langschild von der Wand und fuhr mit dem linken Arm durch die beiden ledernen Schlaufen.

Er stand da, wackelte ein bißchen - und rannte los. Rumms! Die Lanzenspitze steckte in der Eichentür, und John

Malcolm rutschte über den Handschutz weg. Er fluchte und zerrte mit beiden Händen, nachdem er den Langschild abge­streift hatte, an der Lanze. Sie glitt aus dem Holz, und John Malcolm setzte sich abrupt auf den Hintern.

Wäre das Ganze nicht bitterer Ernst gewesen, Gwen hätte ge­schrien vor Lachen. Dieser Mann dort mit der Lanze und dem

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Langschild war eine Witzfigur, aber eine bitterböse Witzfigur, ein Mann, der morden wollte, ein Brudermörder, der nicht mehr seine fünf Sinne beisammen hatte.

John Malcolm dachte wieder folgerichtig. Wenn man durch eine Tür wollte, mußte man sie erst mal öffnen. Also öffnete er sie. Und dann legte er seine Waffen wieder an - rechts die Lan­ze unter dem Arm, links der Langschild, der seinen Körper fast bis zu den Schultern abschirmte.

So raste er aus dem Haupthaus und die steinernen Treppen hinunter.

Und hinter ihm huschte Gwen O’Flynn mit dem Morgenstern aus dem Haus.

»He!« wisperte eine Stimme aus dem Gebüsch. Gwen bremste erschreckt und fuhr herum. Ein Arm erschien aus dem Gebüsch und zog sie heran, bis sie

fast in das Gebüsch fiel. »Was ist denn mit dir los, du dumme Gans«, sagte Dan

O’Flynn sachlich. »Bist du auf dem Kreuzzug? Das war doch eben John Malcolm, der hier wie ein Irrer mit Lanze und Schild vorbeitobte, oder?«

»Ja, ja«, keuchte Gwen, »du mußt mir helfen, Dan, er will ihn ermorden, mit der Lanze ermorden …«

»Quark, das schafft dieser Idiot nie. Er ist betrunken, wie?« »Ja, doch. Ich hab ihn betrunken gemacht, um Sir Hasard be­

freien zu können, aber es hat anscheinend nicht gereicht. Er hat die Schlüssel zum Turmkerker um seinen Hals hängen, bitte, bitte, Dan, hilf mir.«

Dan O’Flynn äugte zum Turmkerker. »Langsam, Schwesterherz, noch fummelt er an den Schlüs­

seln ‘rum. Und bis er die im Schloß hat, vergeht noch ‘ne Wei­le. Schleichen hier noch Kriegsleute durchs Gelände?«

»Nein, um Gottes willen, Dan, so beeil dich doch!« »Mann, sei doch nicht so nervös. Batuti regelt das alles. Der

klopft John M. ein bißchen auf den Kopf, und dann holen wir

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den Seewolf heraus.« »Batuti? Wer ist das denn? Der mit dem Harem?« Batuti wuchs aus dem Gestrüpp hoch. »Ich Batuti, schönes

Miß.« »Hu!« Gwen starrte entsetzt zu ihm auf. »Ein schwarzer

Mann!« »Mein Freund«, sagte Dan großartig. »Stell dich nicht so an.

Und jetzt verzupf dich, damit du nicht in Verdacht gerätst, Ha­sard befreit zu haben. Das ist unsere Sache, klar?«

»Du - du … Hast du vorhin ›dumme Gans‹ zu mir gesagt?« »Hab ich.« Peng! Dan O’Flynn hielt sich die Wange und fluchte verhalten. Gwen O’Flynn huschte wie ein Schemen davon und ver­

schwand wieder im Haus. »Armes kleines O’Flynn«, sagte Batuti, »wird einfach von

Schwester gehaut.« »Gehauen!« sagte Dan erbittert. »Gehauen, heißt das, ver­

dammt, diese Weiber, diese verdammten Weiber!« »Böser John Malcolm hat Tür offen«, sagte Batuti. Dan O’Flynn ruckte herum. »Los, Batuti, ‘ran an den Kerl«, sagte er energisch.

Die Ölfunzel brannte noch und warf ihren gelblichen Schein in das Kellergewölbe des Turmkerkers. Die Schatten des Git ­ters warfen vergrößerte Vierecke an die gegenüberliegende Mauer - dorthin, wo Hasard aufrecht an der Wand lehnte. Er stand mitten in diesem Muster, das senkrecht und waagerechtüber seinen ganzen Körper verlief. Seine Augen weiteten sich, als er den Bruder erkannte. Dann kniff er sie zusammen.

Fast spöttisch sagte er: »Ritter John, angetreten zum Turnier,

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na bitte. Paß auf, daß du nicht im Gitter hängen bleibst, du lächerlicher Furz!«

John Malcolm brüllte auf vor Wut. Mit eingelegter Lanze stürzte er die Stufen hinunter und stach die Lanze zwischen zwei Gitterstäben hindurch auf den verhaßten Bruder zu.

Der Seewolf lachte und glitt elegant zur Seite. Dann packte er die Lanze mit einem Griff und hielt sie fest.

John Malcolm knirschte mit den Zähnen. Er umklammerte den Schaft und zerrte. Der Langschild schlug scheppernd zu Boden.

»Laß los, du verdammter Hund!« brüllte John Malcolm. »Bitte, wie’s beliebt.« Blitzschnell ließ Hasard los. John Malcolm krachte rücklings auf die Steinstufen und ver­

renkte sich das Kreuz. Und dann strahlte Hasard. Hinter John Malcolm beugte sich die riesige Gestalt Batutis

hinunter und tippte ihm auf die Schulter. John Malcolms Kopf fuhr herum, er ruckte hoch. »Wa-was? Wa-was? Teu-teufel-Hiiilfe!« Batuti ließ seine Augen rollen, sein weißes Raubtiergebiß

öffnete sich wie eine Falle mit stählernen Zacken. Ganz langsam langte er zu, ganz langsam zog er den zittern-

den John M. von den Stufen hoch und hielt ihn so eine Weile von sich ab - lange genug, daß der stinkende, zitternde Mann sein Bild in sich aufnehmen konnte, das Bild eines grinsenden, schwarzen Dämons.

John Malcolms Pupillen kippten über. Und da schlug Batuti zu. Seine Faust landete mit einem tro­

ckenen Laut unter dem Kinn John Malcolms. Gleichzeitig ließ er los.

John Malcolm Killigrew überschlug sich in der Luft und krachte oberhalb der Stufen auf die Steinplatten.

Dan O’Flynn tauchte hinter Batuti auf und grinste von einem Ohr zum anderen.

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»War das ein Schlag? Sag, Hasard, war das ein Schlag?« »Ihr Höllenhunde«, sagte Hasard und trat an das Gitter. »Ihr

verdammten Höllenhunde.« Er schnüffelte. »Habt ihr getrunken?« »Das ist John Malcolm«, sagte Dan empört. »Meine Schwes­

ter hat ihn unter Alkohol gesetzt. Pfui Deibel, der stinkt wie zehn Whiskyfässer.«

»Deine Schwester?« fragte Hasard verdutzt. ,.Die dumme Gans wollte dich auch befreien«, erklärte das

Bürschchen. »Aber schließlich ist das ja Männersache, nichtwahr?«

»Jawohl.« Hasard lächelte. »Das ist Männersache. Und wird ich nun befreit, oder wie ist das?«

Batuti glitt die Stufen hoch und bückte sich über den bewußt ­losen John Malcolm. Mit einem Griff zog er ihm die Kette überden Kopf, stieg die Stufen wieder hinunter und schloß die Git ­tertür auf.

»Danke Batuti. Du hast einen prächtigen Schlag.« Hasard trat aus dem Gewölbe und klopfte ihm auf die Schulter.

»Böses Bruder jetzt hinein?« fragte Batuti und strahlte. »Gute Idee. Und die Schlüssel nehmen wir mit.« Hasard hob

die Lanze auf und betrachtete sie. Und in jäh aufflammendem Zorn zerschmetterte er die Lanze mit einem fürchterlichen Hieb auf dem Steinboden. Sie zerbrach in zwei Teile. Er warf sie samt Langschild in den Kellerraum.

Batuti schleppte John Malcolm hinterher, grinste und deckte ihn mit dem Langschild zu.

»Damit böses Bruder nicht friert«, sagte er. Hasards Zorn verebbte. Er wischte sich über die Stirn und

schüttelte den Kopf. Da hatte er sich dazu hinreißen lassen,eine alte, wunderbare Waffe zu zerstören. Aber John Malcolm hatte viel, viel mehr zerstört. Er war betrunken gewesen, den­noch, er hatte etwas ausführen wollen, was tief in ihm veran­

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kert war. Der Alkohol hatte seine Hemmungen beseitigt - er hatte seinen mörderischen Haß freigelegt. Er hatte morden wollen.

Und das war der Bruch mit Arwenack. Hasards Gesicht wurde härter als jemals zuvor. Dan O’Flynn

sah es und schwieg. Er konnte sich vorstellen, welche Gedan­ken dem Seewolf jetzt durch den Kopf gingen.

Ein grollenden Räuspern ließ die drei herumfahren. Shanes klotzige Gestalt füllte den Eingang zum Turmkerker

aus. In seiner Rechten hing eine riesige, alte Streitaxt. Seine grauen Augen waren zusammengekniffen und wanderten voneinem zum anderen. Zuletzt blieben sie auf dem Mann unter dem Langschild hängen.

Er nickte befriedigt. »Gut, sehr gut.« Und ganz ruhig, ohne jede Gemütsbewegung, fügte er hinzu: »Er ist tot, wie?«

»Nein, Shane. Nur bewußtlos und total betrunken«, erwiderte Hasard.

»Schade.« Shane reckte sich. »Schätze, ich bin um ein paar Minuten zu spät gekommen. Ich hätte ihn erschlagen. Gwen hat mich alarmiert. Sie dachte, deine Männer schaffen es nicht allein.«

Hasard konnte wieder lächeln. »Diese Männer wiegen hun­dert Arwenacks auf.«

»Mich ausgenommen«, sagte Shane grollend. »Dich ausgenommen«, sagte Hasard. »Am liebsten würde ich

dich mitnehmen, alter Shane.« »Nein.« Shane schüttelte den mächtigen Kopf. »Ich bleibe

hier. Ich muß hierbleiben. Eines Tages werde ich den dort wie einen tollen Hund erschlagen, damit Arwenack wieder sauber wird.«

Hasard biß die Zähne zusammen. Er rammte die Gittertür zu und verschloß sie. Den Schlüssel steckte er ein.

»Laß ihn seinen Rausch dort ausschlafen, Shane«, sagte er. »Wir schließen auch den Eingang ab. Irgendwann am Tag wird

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er zu brüllen anfangen. Dann holt ihn ‘raus. Du und Gwen O’Flynn dürfen mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Hal­tet euch da ‘raus. Ich wurde von meinen Männern befreit, ist das klar, Shane?« Dieses »ist das klar?« sagte Hasard scharf und akzentuiert.

Shane neigte den mächtigen Kopf. »Wie du meinst, mein Junge.« Als er den Kopf wieder hob, war sein runenzerfurchtes Gesicht ausdruckslos, aber versteckte Traurigkeit lag in seinen grauen Augen. »Lauft ihr jetzt aus?«

»Ja, Shane.« Shane hob die Hand. »Leb« wohl, mein Junge. Ich werde

immer auf dich warten. Eines Tages wirst du wieder vor mir stehen, dann werde ich dir sagen, wer du bist.«

Hasard zuckte zusammen und wollte etwas sagen. Aber da wandte sich Shane schweigend um und ging davon. Zum ersten Male sah Hasard, daß Shanes Rücken gebeugt war.

Drei Stunden nach Mitternacht löste sich die ›Isabella von Kastilien‹ von der Außenpier im Hafen von Falmouth. Eine halbe Stunde zuvor hatte Hasard die fünf Galgenvögel, die er im Hafen von Plymouth an Bord erwischt hatte, vom Schiff gejagt Sie waren wie gehetzte Hasen davongestoben und in den Hafengassen verschwunden.

Die beiden Kriegsmänner hingegen hatte Hasard als ver­schnürte und geknebelte Bündel kurz vor dem Auslaufen mit ­ten auf der Pier zurückgelassen. Sie würden am Vormittag ge­funden werden - Zeugen eines mißlungenen Anschlags

»Welchen Kurs ?« hatte Ben Brighton knapp gefragt.»Exter, Kapitän Thomas«, hatte der Seewolf ebenso knapp

erwidert. Mit vollen Segeln glitt die ›Isabella‹ aus der Bucht von Fal­

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mouth und verschwand im Dunst. Auf dem einen Eckturm von Arwenack stand ein Mädchen

und starrte dem Schiff nach. Es hatte brennende Augen. Der alte Mann neben ihr legte seine Rechte über ihre Schulter ­behutsam, als befürchte er, etwas zu zerbrechen. Vor kurzem hatte diese Rechte noch eine Streitaxt umklammert. Der alte Mann und das Mädchen mit den grünen Augen standen noch dort, als Nebelschwaden über die Bucht zogen.

Gwendolyn O’Flynn würde noch oft dort oben stehen ...

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In 14 Tagen erscheint SEEWOLFE Band 18

Küstenhaie

von John Curtis

Philip Hasard Killigrew hat das Geheimnis der spanischen Seekarten bisher noch keinem M ann seiner Crew erzählt, nicht einmal Ben Brighton, der sonst beinahe alles vom See-wolf weiß.

Doch die beiden spanischen Agenten, die Hasard auf Schritt und T ritt verfolgen, kennen die B edeutung dieser Karten.

Sie wollen sie für Spanien zurückholen - um jeden Preis. Und dann gelingt es ihnen,

Dan O’Flynn in ihre Gewalt zu bringen. Unter grausamen Foltern soll er sein Wissen ausplaudern.

O’Flynn weiß nichts, und für den Seewolf aus Arwenack läßt er sich notfalls in Stücke reißen.

Als Hasard erfährt, was geschehen ist, läuft er Amok …