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Einleitung Ovid (43 v. Chr. bis 17 n. Chr.) Pyramus und Thisbe ist eine Geschichte aus den Metamorphosen von Ovid. Der Verfasser war schon zu Lebzeiten in Rom sehr erfolgreich und beliebt. Kaiser Augustus war aber der Meinung, dass Ovids Texte zu obszön seien, und verbannte ihn deswegen im Jahre 8 n. Chr. an das Schwarze Meer. Dort entstanden Ovids bekannteste Schriftwerke, darunter auch die anderen Teile der Metamorphosen (dt.: „Verwandlungen“), wie etwa Europa und der Stier oder Daedalus und Icarus. In diesen Geschichten geht es meistens um verschiedene Götter, die Menschengestalt annehmen und dadurch in das Schicksal der Erdbewohner eingreifen, oder um Menschen, die auf Grund ihres Schicksals von den Göttern verwandelt werden. In diesem Auszug aber verwandeln sich die sonst weißen Früchte eines Maulbeerbaumes in mit Blut überzogene Zeugen des Geschehens.

fertige Fassung des Fotoromans Pyramus und Thisbe · Talia diversa nequiquam sede locuti sub noctem dixere „vale“ partique dedere oscula quisque suae non pervenientia ... depositura

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Einleitung

Ovid (43 v. Chr. bis 17 n. Chr.) Pyramus und Thisbe ist eine Geschichte aus den Metamorphosen von Ovid. Der Verfasser war schon zu Lebzeiten in Rom sehr erfolgreich und beliebt. Kaiser Augustus war aber der Meinung, dass Ovids Texte zu obszön seien, und verbannte ihn deswegen im Jahre 8 n. Chr. an das Schwarze Meer. Dort entstanden Ovids bekannteste Schriftwerke, darunter auch die anderen Teile der Metamorphosen (dt.: „Verwandlungen“), wie etwa Europa und der Stier oder Daedalus und Icarus. In diesen Geschichten geht es meistens um verschiedene Götter, die Menschengestalt annehmen und dadurch in das Schicksal der Erdbewohner eingreifen, oder um Menschen, die auf Grund ihres Schicksals von den Göttern verwandelt werden. In diesem Auszug aber verwandeln sich die sonst weißen Früchte eines Maulbeerbaumes in mit Blut überzogene Zeugen des Geschehens.

Wer ist wer? – dramatis personae

Pyramus Thisbe (Kurosch Khashaman) (Maren Köhler) Pyramus’ Vater Thisbes Vater der Löwe (Daniel Morschhausen) (Stefan Czernik) (Alexander Mehren)

Pyramus et Thisbe, iuvenum pulcherrimus alter, altera, quas oriens habuit, praelata puellis, contiguas tenuere domos, [...] Notitiam primosque gradus vicinia fecit, tempore crevit armor; [...]

Pyramus und Thisbe, der eine der schönste der jungen Männer, die andere die schönste unter den jungen Mädchen, die der Orient hatte, bewohnten benachbarte Häuser, [...] Aus der Nachbarschaft enstand Bekanntschaft und die ersten Schritte der Liebe, die mit der Zeit wuchs; [...]

[...] taedae quoque iure coissent, sed vetuere patres; quod non potuere vetare: ex aequo captis ardebant mentibus ambo.

[...] sie hätten auch geheiratet, aber die Väter haben es verboten, was sie jedoch nicht verbieten konnten: Beide entbrannten in gleicher Weise vor Liebe, nachdem ihre Leidenschaft erfasst worden war.

Fissus erat tenui rima, quam duxerat olim, cum fieret, paries domui communis utrique. Saepe, ubi constiterant hinc Thisbe, Pyramus illinc, inque vices fuerat captatus anhelitus oris, „invide“ dicebant „paries, quid amantibus obstas?“

Die gemeinsame Wand der beiden Häuser ist durch einen dünnen Riss gespalten, den sie einst bekam, als sie gebaut wurde. Sobald sie dort standen, Thisbe auf der einen Seite der Wand und Pyramus auf der anderen, den gegenseitigen Atemhauch spürend, sagten sie oft: „Oh neidische Wand, warum stehst du uns Liebenden im Weg?“

Talia diversa nequiquam sede locuti sub noctem dixere „vale“ partique dedere oscula quisque suae non pervenientia contra.

So saßen sie an verschiedenen Orten und sagten sich nachts: „Lebe wohl“, und jeder gaben sie ihrer Seite der Wand Küsse, die nicht auf die andere Seite der Mauer gelangten.

[...] statuunt, ut nocte silenti fallere custodes foribusque excedere temptent, cumque domo exierint, urbis quoque tecta relinquant, neve sit errandum lato spatiantibus arvo, conveniant ad busta Nini lateantque sub umbra arboris. Sie beschließen, dass sie versuchen, die Wächter in der stillen Nacht zu täuschen und aus der Tür zu treten, dass sie die Dächer der Stadt zurücklassen, nicht auf dem Acker umherirren, während sie dort entlangstreichen, und sich unter dem Schatten des Baumes am Grab des Ninus treffen.

Pacta placent; et lux tarde discedere visa praecipitatur aquis, et aquis nox exit ab isdem: callida per tenebras versato cardine Thisbe egreditur fallitque suos adopertaque vultum pervenit ad tumulum dictaque sub arbore sedit: audacem faciebat amor.

Sie schließen den Pakt und die Sonne, die allmählich zu schwinden scheint, senkt sich dem Wasser zu und von selbigem Wasser steigt die Nacht empor: Die kluge Thisbe schleicht durch die Dunkelheit.

Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hat, täuscht sie ihre Wächter; sie kommt verschleiert an besagtem Grab an und setzt sich, wie verabredet, unter den Baum: Die Liebe macht sie kühn.

Venit ecce recenti caede leaena boum spumantes oblita rictus, depositura sitim vicini fontis in unda; quam procul ad lunae radios Babylonia Thisbe vidit et obscurum timido pede fugit in antrum dumque fugit, tergo velamina lapsa reliquit.

Siehe, da kommt eine Löwin, mit schäumendem, blutbeschmiertem Maul, da sie soeben Rinder erlegt hat. Sie legt sich nieder, um den Durst am Wasser der benachbarten Quelle zu löschen;

Thisbe von Babylon sah sie von fern im Mondschein und floh furchtsamen Fußes in eine finstere Höhle. Während sie floh, ließ sie ihr Tuch zurück, das von ihrem Rücken herabgeglitten war.

Serius egressus vestigia vidit in alto pulvere certa ferae totoque expalluit ore Pyramus; ut vero vestem quoque sanguine tinctam repperit, „una duos“, inquit „nox perdet amantes, e quibus illa fuit longa dignissima vita.“ ... Als Pyramus wenig später aufbrach, sah er im tiefen

Sand bestimmte Spuren eines wilden Tieres und erblasste im Gesicht.

Als er aber das Gewand fand, das in Blut getränkt war, sagte er: „Eine Nacht wird zwei Liebende vernichten, von denen jene Thisbe eines langen Lebens würdig war.“

... „Nostra nocens anima est! Ego te, miseranda, peremi, in loca plena metus qui iussi nocte venires, nec prior huc veni. Nostrum divellite corpus et scelerata fero consumite viscera morsu, o quicumque sub hac habitatis rupe, leones! Sed timidi est optare necem.“

... „Meine Seele aber ist schuldig! Ich habe dich vernichtet, Beklagenswerte, weil ich dich aufgefordert habe, nachts an diesen Ort, der voll von Furcht ist, zu kommen, aber ich kam zu spät hierhin. Zerreißt meinen Körper und verzehrt die Eingeweide des Schuldigen mit wildem Biss, ihr Löwen, die ihr unter diesem Felsen wohnt! Aber es ist feige, den Tod zu wünschen.“

Quoque erat accinctus, demisit

in ilia ferrum.

Und den Dolch, den er bei sich

trug, stieß er sich in den Unterleib.

Sed postquam remorata suos cognovit amores, percutit indignos claro plangore lacertos et laniata comas amplexaque corpus amatum. Nachdem Thisbe aus der Höhle zurückgekehrt war...: Aber nachdem sie nach kurzem Verweilen ihren Geliebten erkannt hatte, schlug sie ihre unschuldigen Arme mit lautem Wehklagen vor die Brust, zerraufte sich das Haar und umarmte den Körper des Geliebten.

Est et mihi fortis in unum hoc manus, est et amor: dabit hic in vulnera vires. Auch ich habe eine Hand, die stark für dieses Eine ist, und besitze die Liebe. Das wird mir die Kraft geben, mich zu verwunden.

Aptato pectus mucrone sub imum incubuit ferro, quod adhuc a caede tepebat. Sie setzte das Schwert, das noch immer warm von Blut war, direkt unter der Brust an und stürzte sich hinein.

Vota tamen tetigere deos, tetigere parentes: Color in pomo est, ubi permaturuit, ater,

quodque rogis superest, una requiescit in urna.

Doch ihre Bitten berührten die Götter und beider Eltern: Die Farbe der Frucht ist nach dem Reifen dunkel, und das,

was von den Liebenden vom Scheiterhaufen übrig blieb, ruht gemeinsam in einer Urne.