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Neue Soziale Bewegungen FORSCHUNGSJOURNAL KAMPAGNEN Inszenierte Öffentlichkeit als Instrument politischer Kommunikation Heft 3 – September 2007 14,-

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Neue Soziale

BewegungenF O R S C H U N G S J O U R N A L

KAMPAGNENInszenierte Öffentlichkeit als Instrumentpolitischer Kommunikation

Heft 3 – September 2007 € 14,-

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1InhaltInhalt

EDITORIAL....................................................................................................................................

2 Kampagnen aller Orten

AKTUELLE ANALYSEN....................................................................................................................................

5 Gesine SchwanMedienfreiheit als Voraussetzung fürDemokratieentwicklung?

12 Jens SiegertDie Zivilgesellschaft in Putins Russland

THEMENSCHWERPUNKT....................................................................................................................................

18 Rudolf SpethÜber die Inszenierung von Öffentlichkeitdurch Kampagnen

26 Fabian Friedrich/Michael Buchner/Dino KunkelStrategisches Kampagnenmanagementvon NGOs

33 Frauke BanseGlobale Kampagnenarbeit

40 Manuel ReißKampagnen von Umwelt-NGOs zwischenKooperation und Konfrontation

49 Sigrid Baringhorst/Veronika Kneip/Johanna NiesytoAnti-Corporate Campaigns im Netz:Techniken und Praxen

61 Hans-Jürgen ArltEine läuft immer, mindestens eine sogenannteÜber Kampagnen und Gewerkschaften

70 Katja PrescherSozialkampagnen

78 Jens Tenscher/Judith LauxGrenzen der Reformkommunikation

89 Hans Hütt/Nikolaus Huss/Annette RogallaAchtung, Gesundheitsreform!

95 Hans-H. LangguthMit Campaigning von der Relevanz zurResonanz zur Revolution

PULSSCHLAG....................................................................................................................................

104 Dieter Rucht/Simon TeuneDie G8-Proteste im Spiegel der Presse

115 Manfred RedelfsErfahrungen mit dem Informationsfreiheits-gesetz: Transparenz für Hartnäckige

121 Anne VechtelBewegungsarchiveim elektronischen Zeitalter

125 Christiane Toyka-SeidPolitische Bildung für bildungsferneJugendliche

131 Wissenschaftlicher Beirat von AttacGegen eine Kriminalisierungkritischer Wissenschaft

132 Erik RahnBBE-Netzwerk als Kampagnenplattform

TREIBGUT....................................................................................................................................

135 Materialien, Notizen, Hinweise

LITERATUR....................................................................................................................................

140 PR-, Ziel- und NGO-Kampagnen alsstrategische Kommunikation(Johanna Niesyto)

144 Wie exzellent ist die Öffentlichkeitsarbeitvon NGOs? (Karin Urich)

147 Neue Akteure der nationalen undinternationalen Politik (Heike Walk)

149 Wie demokratisch ist direkte Demokratie?(Jan Rohwerder)

152 ANNOTATIONEN

....................................................................................................................................

154 AKTUELLE BIBLIOGRAPHIE

....................................................................................................................................

158 ABSTRACTS....................................................................................................................................

164 IMPRESSUM....................................................................................................................................

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2 Editorial

Kampagnen aller OrtenDie Inszenierungsstile von NGOs,Politik und Wirtschaft gleichen sich an

In den letzten Jahren mehren sich die Diagno-sen, wonach wir uns in Richtung einer „Insze-nierungsgesellschaft“1 bewegen. In der Politikund in der Gesellschaft würde immer mehr aufdie Instrumente des Theaters und des Schau-spiels zurückgegriffen. Das darstellende Mo-ment gewinnt an Bedeutung und drängt die Ent-scheidungs- und Sachdimension in den Hinter-grund. Ulrich Sarcinelli sieht hier einen Sche-reneffekt am Werk, der bewirkt, dass die Ver-bindung zwischen dem „Legitimationsgewer-be“ und der Sachebene immer lockerer wird2.Während erstere mit den Mitteln der Vereinfa-chung arbeitet und auf die Massenmedien setzt,geht es auf der politischen Sachebene um dieunspektakuläre Fachlichkeit der Problemlösungund -entscheidung.

Diese gesellschaftskritischen Diagnosenentstammen vor allem dem Bereich der For-schung zur politischen Kommunikation. Dieinszenatorischen Effekte lassen sich aber auchim Bereich der Wirtschaft feststellen. Unterneh-men investieren verstärkt in Public Relations(PR) und wollen sich durch großen kommuni-kativen Aufwand als ‚gute‘ Corporate Citizensdarstellen. Politik wie Unternehmen werden sichbewusst, dass sie mehr Vertrauen in und Legiti-mation für ihr Handeln benötigen und investie-ren mehr in die Kommunikation.

Das Schlüsselwort für diesen Trend heißtCampaigning, denn es geht nicht einfach um einMehr an Kommunikation, sondern darum, sichauf bestimmte Themen zu konzentrieren. Er-reicht werden soll in dem einen wie in dem an-deren Fall die Aufmerksamkeit der Bürgerinnenund Bürger – einmal in der Rolle des Wählers,das andere Mal als Konsument. Nicht nur Poli-tik und Wirtschaft investieren mehr in Kampag-nen. Der Trend ist auch bei Organisationen desDritten Sektors und dort ganz besonders bei

NGOs zu beobachten. Öffentlichkeit war seitjeher die wichtigste Ressource dieser Organisa-tionen. Und sie sind diejenigen, von denen Par-teien und Unternehmen am meisten lernen kön-nen.

Die Entwicklung hin zu größeren Inves-titionen in die Kommunikation und spekta-kuläreren Kampagnen hat mit gesellschaftli-chen Entwicklungen zu tun. In einer sich in-dividualisierenden Gesellschaft sinkt dasVertrauen in politische Institutionen undGroßorganisationen wie Parteien, Gewerk-schaften und Verbände. Parallel dazu lockernsich die Bindungen und erodiert die Bin-dungsfähigkeit von Organisationen. Dies giltinzwischen auch für NGOs, die im Umwelt-bereich bislang immer darauf vertrauen konn-ten, ihre Mitglieder mobilisieren zu können.Es gilt aber auch für die Unternehmen, dieMenschen dazu bringen wollen, ihre Pro-dukte zu kaufen und letztlich, auch sich mitdem Unternehmen zu identifizieren oder eswenigstens zu respektieren. Unternehmenversuchen heute durch zahlreiche Sozialkam-pagnen gesellschaftlich drängende Themenaufzugreifen und sich als verantwortlich han-delnde Akteure darzustellen.

Der Schwerpunkt dieses Heftes widmet sichdem Thema Kampagnen und den Auswirkun-gen dieser besonderen Art der Kommunikationauf unser Verständnis von politischer Öffent-lichkeit. Denn der Inszenierungsdruck verän-dert nicht nur unsere Wahrnehmungsweise, son-dern auch unser Verständnis von politischemHandeln. Gleichwohl ist zu bedenken, dass esKampagnen gibt, solange es Politik gibt. DasTheatralische, die Visualisierung, die Darstel-lung war der Politik schon immer zu eigen. Undnicht zuletzt ist das Protesthandeln, die wich-tigste Aktionsform sozialer Bewegungen, meistkampagnenförmig organisiert und eine sozialeBewegung umso stärker, je kampagnenfähigersie ist. Dennoch ist von einer Transformationdes Politischen die Rede, die durch die profes-

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3Editorial

sionalisierte Kampagnenkommunikation inGang gesetzt wird.

Die verstärkten Investitionen allgemein inPR und im Besonderen in Kampagnen lassensich im Campaigning der letzten Jahre gut beo-bachten. Während sich das Campaigning vonGreenpeace, das im Umweltbereich Maßstäbesetzte, allmählich abnutzt, treten andere Organi-sationen und Akteure hervor. Im Umweltbereichist es die Deutsche Umwelthilfe (DUH), derWWF und der BUND, die unterschiedlicheKampagnenkonzepte und Mischungen vonCampaining und Lobbying verfolgen.

Auch die Wirtschaftsakteure versuchen, mitKampagnen auf ihre Themen aufmerksam zumachen und damit ihre Ziele durchzusetzen.Die Kampagnen Du bist Deutschland undDeutschland – Land der Ideen vor der Fuß-ballweltmeisterschaft 2006 zeigen, wie Wirt-schaftsakteure gesellschaftliche Verhaltenswei-

sen verändern und Stimmungen stimulierenwollen.

Der Themenschwerpunkt beginnt mit demeinleitenden Beitrag von Rudolf Speth, in demdie Veränderungen des Campaignings und derzunehmende Inszenierungsdruck beschriebenwerden. Das Handwerk des Campaignings be-herrschen nach wie vor die NGOs und dieUmweltgruppen am besten – auch wenn in-zwischen andere Akteure aufgeholt haben. Fa-bian Friedrich, Michael Buchner und Dino Kun-kel geben Hinweise, wie sich das Kampagnen-management von NGOs optimieren lässt. Ma-nuel Reiß vergleicht dagegen die Kampagnen-modelle der verschiedenen Umwelt-NGOs undkommt zum Ergebnis, dass die konfrontativenund kooperativen Elemente doch unterschiedli-ches Gewicht haben. Mehr Konfrontationwünscht sich Frauke Banse von den internatio-nal tätigen NGOs. Bei ihnen ist die Gefahr

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4 Editorial

besonders groß, sich als Experten und Lobby-isten anzupassen. Kampagnen von sozialenBewegungen nutzen heute zunehmend das In-ternet als neuen Kommunikationsraum. SigridBaringhorst, Veronika Kneip und Johanna Nie-syto untersuchen anhand von Kampagnenweb-sites von Anti Corporate Campaigns, mit wel-chen Mitteln diese transnationale Öffentlichkeitherstellen. Auch bei den Gewerkschaften wer-den mehr Kampagnen geführt – „Eine läuftimmer“ –, doch Hans-Jürgen Arlt sieht darinkeine Lösung für die Probleme der Gewerk-schaften. Sie müssen sich vielmehr den gesell-schaftlichen Veränderungen stellen und die Er-wartungen und Erfahrungen der Menschen auf-nehmen. Erst dann ist verstärktes Campaigningsinnvoll.

Die Konvergenz in der Art der Kampagneng-führung und bei den Themen lässt sich besondersgut bei den Sozialkampagnen beobachten. Kat-ja Prescher zeigt, wie Non Profit-Organisatio-nen Instrumente des Profit-Marketings über-nehmen und Unternehmen gesellschaftlicheThemen in ihrem Campaigning aufgreifen. Wieschwer sich Wirtschaftsinitiativen tun, bei ih-ren Adressaten als unabhängig und gemeinwohl-orientiert wahrgenommen zu werden, zeigenJens Tescher und Judith Laux in ihrem Beitragam Beispiel einer empirischen Analyse des Kom-munikationsmanagements der Initiative NeueSoziale Marktwirtschaft.

Zwei Berichte aus der Campaigner-Praxisrunden den Schwerpunkt ab. Hans Hütt, Niko-laus Huss und Annette Rogalla berichten überdie Dialog-Kampagne der Bundesvereinigung

Deutscher Apothekerverbände anlässlich derGesundheitsreform 2006, bei der es darum ging,Sonderlasten, die den Apothekern auferlegtwerden sollten, abzuwehren. Der Dialog ist ei-nes der Elemente, welches Kampagnen der Wirt-schaft und der Politik verbindet. Hans H. Lang-guth plädiert dafür, dass Unternehmen mehr vonder Wahlkampfführung der Parteien und vonden NGOs lernen können, als diese wahrhabenwollen.

Die aktuellen Analysen des Heftes beschäf-tigen sich mit den Transformationsstaaten Ost-europas. Gesine Schwan begründet ihre These,dass Medienfreiheit die Voraussetzung von De-mokratieentwicklung ist. Die Entwicklung derDemokratie in Russland hat unter Putin starkgelitten, doch ist die russische Gesellschaft einStück ziviler geworden. Dies sei auch ein Ver-dienst der NGOs. Diese hätten sich, so JensSiegert, widerständiger als angenommen ge-zeigt.

Das Thema Campaigning wird auch in derRubrik Pulsschlag und mit Buchbesprechun-gen in der Rubrik Literatur aufgegriffen.

Rudolf Speth, Berlin

Anmerkungen1Willems, Herbert/Jurga, Martin (Hg.) 1998:

Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendesHandbuch, Opladen.

2Sarcinelli Ulrich 1992: Massenmedien undPolitikvermittlung. Eine Problem- und For-schungsskizze. In: Wittkämper, Gerhard W.(Hg.), Medien und Politik, Darmstadt, 37-62.

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5Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

1 Einleitung

Vor einigen Wochen teilte ich mit einigen Jour-nalisten eine Taxi-Fahrt vom Flughafen zu ei-ner Konferenz. Ihr lebhaftes Gespräch – siewaren alle in so genannten kritischen Medientätig – drehte sich durchweg um Quoten undAufmacher. Dabei ging es durchaus differen-ziert um ästhetische Fragen und um den Zu-sammenhang zwischen Aufmacher und Quote– und je höher sie war, desto mehr leuchtetendie Augen und desto mehr wuchs der kollegi-ale Respekt. Das Gespräch wirkte sehr pro-fessionell, und man bezog sich auf einen brei-ten Fächer empirischer Veranschaulichungen.Die Frage nach dem Zusammenhang zwischender Priorität der Quote und der demokratischenVerantwortung der Medien stellten sich dieJournalisten nicht, sie hätte auch in diesem Zu-sammenhang ziemlich deplatziert gewirkt – zugrundsätzlich, abstrakt, theoretisch abgehoben.Die Diskrepanz zwischen dem, was diese ganzund gar sympathischen Journalisten offensicht-lich vorrangig bewegte und was mich selbstumtrieb, die Diskrepanz nämlich zwischen denBedingungen des täglichen Erfolgs, der zumindividuell-professionellen wie zum instituti-onellen Überleben der Medien notwendig ist,und dem, was ich als die zentrale und überauswichtige Verantwortung der Medien in der De-mokratie halte, beschäftigt mich nicht erst seitdieser Flughafenfahrt.

Denn kein Mensch würde bestreiten, dassdie Medien in der Demokratie eine überaus wich-tige Rolle spielen. Aber können sie sich darumangesichts der harten Konkurrenz auf dem Marktüberhaupt noch kümmern? Müssen sie nicht inerster Linie eben auf jene Quoten und Absatz-

Gesine Schwan

Medienfreiheit als Voraussetzung für Demokratieentwicklung?1

zahlen achten, um sich zu behaupten? Sind dazunicht alle Mittel, die wir im Kampf der Medienbeobachten, erforderlich? Kann man infolge-dessen die Kluft zwischen der allgemein akzep-tierten Grundannahme ihrer demokratischenVerantwortung und den Bedingungen des Ge-schäfts überhaupt noch überwinden? Oder soll-ten wir das schöne demokratische Postulat ein-fach beiseite legen und uns stattdessen auf dieinsbesondere ökonomisch erfolgreiche Bewäl-tigung des Medienalltags konzentrieren?

Jedenfalls geht das nicht, wenn man danachfragt, ob Medienfreiheit als Voraussetzung vonDemokratieentwicklung zu begreifen ist – unddies im Kontext der Erfahrungen in den so ge-nannten Transformationsländern Mittelosteur-opas. Diese Frage aber habe ich als thematischeAufgabe aufgetragen bekommen. Ich will ver-suchen, sie zu beantworten, indem ich zunächstden normativen demokratietheoretischen Maß-stab zeichne, anhand dessen ich argumentierenmöchte. In einem nächsten Schritt skizziere ichdie wesentlichen Gefahren, gegen die sich De-mokratie fördernde Medien behaupten müssen,um schließlich mit einigen Schlussfolgerungenzu enden.

2 DemokratietheoretischeÜberlegungen

Die moderne Demokratie entstand – auf derGrundlage eines vorher entwickelten Rechts-staates – nicht als direkte Demokratie, sondernbedurfte seit dem 19. und erst recht im 20. Jahr-hundert der Vermittlung durch Medien, die füreine breitere Öffentlichkeit Informationen undDiskussionen von politischen Vorstellungen undParteien aufbereiteten und verbreiteten. Das hat

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einen technisch-erkenntnistheoretischen und ei-nen demokratietheoretischen Aspekt.

Der technische liegt in der Notwendigkeit,Kommunikation auch zwischen den Bürgernherzustellen, die sich nicht direkt miteinanderaustauschen können. Vermittlung ist also ausrein praktisch-empirischen Gründen notwendig.Solche Vermittlung ist aber nicht als neutral-transparente Übergabe denkbar, sondern wirktnotwendig auf den Inhalt und die Art der Kom-munikation ein. Denn genauso wie es keine Er-kenntnis als so genannten objektive Wiederga-be einer so genannten objektiven Wirklichkeitgibt – die Lenin’sche Widerspiegelungstheorie,die verbal immer noch in manchen Köpfen spukt,gehörte zu den erkenntnistheoretisch vielleichtnaiven, aber jedenfalls philosophisch unhaltba-ren Elementen eines totalitären Kommunis-mus –, genauso gibt es keine ‚objektive‘Kommunikation, Mitteilung, Weitergabe vonNachrichten oder Meinungen. Eine Auswahl ausder prinzipiell unendlichen Zahl von Nachrich-ten und eine damit einhergehende Perspektivitätmit wertenden Implikationen über ihre Wichtig-keit bzw. Bedeutung ist unvermeidbar.

Dieses Dilemma kann in einer modernenpluralistischen Demokratie, die nicht nur fak-tisch eine Vielfalt von Interessen enthält, son-dern sie auch als legitim akzeptiert, nicht prinzi-piell überwunden, sondern nur demokratiekon-form gestaltet werden. Die Grundmaxime dafürliegt in der Forderung, das Spektrum der Inter-essen breit zu halten, ihr Gewicht vor Einseitig-keit zu schützen und den Raum für eine kontro-verse Diskussion zu sichern. Sie bietet die Chan-ce, die einzelnen Interessen und Prioritäten mitKriterien des Gemeinwohls zu vergleichen, etwagemäß dem Habermas’schen Kriterium der Ver-allgemeinerbarkeit der Interessen, und damitzugleich argumentativ die Vielfalt der Lösungs-möglichkeiten und gewollten bzw. ungewolltenFolgen und Implikation möglicher Entscheidun-gen auszuloten, was der Solidität und der Ge-meinwohlorientierung der Entscheidung zugute

kommen soll. Damit führt bereits der techni-sche Aspekt der Vermittlungsaufgabe von Me-dien zum zweiten demokratietheoretischen, d.h.zur demokratischen Verantwortung der Medi-en.

Denn wenn Demokratie die gleichberech-tigte Teilhabe aller Bürger an der Politik bedeu-tet und Politik im wesentlichen die Vorberei-tung und Durchführung von Entscheidungen –oder auch Nicht-Entscheidungen bzw. Blocka-den – in Bezug auf Angelegenheiten meint, diekontrovers beurteilt werden und alle Bürger be-treffen und binden, dann haben gemeinwohl-orientierte Ziele nur eine Chance, wenn sich dieBürger darüber verständigen, wenn sie möglichsterschöpfend darüber argumentieren und dieImplikationen von Entscheidungen offen legenkönnen. Öffentlichkeit wurde so Jahrzehnte langdemokratietheoretisch als eine Art Filter ange-sehen, der partikularistische oder willkürlichePolitik herauszufinden hilft und das demokrati-sche Gemeinwohl befördert. Immanuel Kant hates ganz im gleichen Sinne als eine Art Test fürdie Gerechtigkeit von Entscheidungen bezeich-net, wenn sie zu ihrer Verwirklichung der Öf-fentlichkeit bedürfen, wozu gehört, dass dieÖffentlichkeit dem zustimmen und eine gerech-te Interessenabwägung durchführen kann. Wennman dagegen im Dunkeln munkelt, bleibt dieGerechtigkeit leicht auf der Strecke.

Damit ist zugleich gesagt, dass Demokratie,wie ich sie hier verstehe, nicht einfach ein wert-mäßig neutrales Entscheidungsverfahren meint.Vielmehr begreife ich sie als eine normativ ge-staltete politische Verfassung und Lebensform.Entsprechend ihrer ideengeschichtlichen wiegrundgesetzlichen Bestimmung dient sie demZiel, die gleiche Würde aller Menschen im Sin-ne ihres gleichen Rechts und ihrer gleichenPflicht zur Freiheit, d.h. zur selbstbestimmtenund verantworteten Lebensführung und solida-rischen Teilhabe am Gemeinwesen, zu verwirk-lichen. Zu ihrer Realisierung und Festigungbraucht es nicht nur Gesetze und organisierte

Gesine Schwan

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Institutionen, sondern auch eine politische Kul-tur, die die angemessene Handhabung der Insti-tutionen unterstützt. Wir kennen die Maxime,dass Gesetze ihrem Geiste und Buchstaben ge-mäß angewendet werden sollen. Wir wissenauch, dass man sie immer missbrauchen oderpervertieren kann, weil sich die Wirklichkeit,auf die sie angewendet werden sollen, in keinGesetz ganz einfangen lässt. In Bezug auf dieGerechtigkeit hat Aristoteles deswegen in sei-ner berühmten Nikomachischen Ethik am Endeseiner Ausführungen zur Gerechtigkeit das ‚Gü-tige‘ als ihren Gipfel gerühmt. Es besteht darin,auf ein eigenes Recht zu verzichten, wenn seineEinforderung eine größere Ungerechtigkeit nachsich ziehen würde. Das Gütige als Grundhal-tung brauchen wir, so Aristoteles, in einem frei-heitlichen Gemeinwesen, weil sich die Gerech-tigkeit nie ganz in eine Gesetzesregelung um-setzen lässt.

Wenn Demokratie also auf kulturelle Unter-stützung angewiesen ist, dann betrifft daseinerseits die Grundhaltung der Bürger. Autori-täre Persönlichkeiten, die ihr individuelles Ur-teilsvermögen unbefragten Autoritäten unterord-nen, die ihren Mitbürgern eher misstrauischbegegnen und nicht leicht mit ihnen kooperie-ren, die also – das gehört ins Bild – weder Fremd-noch Selbstvertrauen und infolgedessen auchkeine Zukunftszuversicht aufbringen, Bürger,die ungeniert ihre partikularen Interessen ver-fechten, ihre Macht ausnutzen und sich um Fair-ness nicht scheren, Menschen, die sich abge-wöhnt haben, zwischen Wahrheit und Lüge zuunterscheiden oder die die Lüge für ein vertret-bares Mittel halten, Gegner auszuschalten –können eine Demokratie nicht aufbauen oderbewahren. Sie zerstören das Grundvertrauen,das Menschen sowohl für die mutige Gestal-tung ihres privaten Lebens als auch für das Ge-lingen eines freiheitlichen Gemeinwesens, daseben grundsätzlich auf freiwilligen Gehorsamund freiwillige Kooperation baut, brauchen.Vertrauen ist die kulturelle Nahrung, ohne die

eine Demokratie verkümmert, ohne die sich dieBürger und Interessengruppen gegenseitig imWege stehen und blockieren, anstatt die Kraftzur Gemeinsamkeit aufzubringen und etwas zuihrem gemeinsamen Wohl aufzubauen.

Diese Grundhaltung ihrerseits wird aber –und dies ist das zweite – nicht gedeihen –, wenndie Medien ihr zuwiderhandeln, anstatt sie ih-rerseits zu fördern. Wenn Bürger einseitig in-formiert werden, dann fördert dies Misstrauen,weil es der Komplexität der Wirklichkeit undder gesellschaftlichen Wahrnehmungen, An-sprüche und Interessen nicht gerecht wird. WennMedien jenseits der oben kurz skizzierten grund-sätzlich-philosophischen Schwierigkeit, ange-messen, d.h. in pluralistischer Breite zu kom-munizieren, einer ganz anderen Logik folgen,wenn sie um ihres Überleben willen vor allemauf Gewinn aus sein müssen und deswegenverzerrende Kampagnen betreiben, anstatt auf-zuklären, dann werden sie ihrer demokratischenGrundverantwortung, an einer gemeinwohlori-entierten Öffentlichkeit mitzuarbeiten und da-mit das gesellschaftliche Vertrauen, das die De-mokratie braucht, mitzuschaffen, nicht gerecht.

Den zentralen Begriff ‚Medienfreiheit‘ inmeinem Thema verstehe ich also nicht als indi-viduell beliebige Willkür, als unbegrenzte ‚Frei-heit von‘, sondern als konstitutionell demokra-tisch geordneten Raum, der Medien vor Will-kür und Machtmissbrauch schützt und sie zu-gleich ihrerseits in ihrer ‚Freiheit für‘ ange-messenes Handeln zu dessen Schutz verpflich-tet. Welchen Gefahren ist die Medienfreiheit,insbesondere in den Transformationsländernausgesetzt und wie kann sie zur Demokratieent-wicklung in ihnen beitragen?

3 Institutionelle und kulturelleGefahren für die Medienfreiheit

Als erstes liegt die Gefahr jeglicher politischerMachtkonzentration auf der Hand. Die traditio-nell bekannte in Diktaturen – gar totalitären

Medienfreiheit als Voraussetzung für Demokratieentwicklung?

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Diktaturen – muss ich wahrscheinlich nicht nä-her beschreiben. Es ist klar, dass das ursprüng-lich marxistische Argument, die Macht des ‚Ka-pitals‘ durch die geballte politische Macht desVolkes bzw. seiner Avantgarde zugunsten derwahren Volksherrschaft zu ersetzen, nicht dieseletztere, sondern selbsternannte Eliten gegen dasVolk privilegiert hat. Diese Gefahr institutio-nell, auf dem Wege von Verfassungs- und Ge-setzesänderungen zu überwinden, gehörte inallen Transformationsländern zu den vorrangi-gen Aufgaben.

Freilich stand sie vor einer besonders kom-plexen Herausforderung: die alten Institutionenmit ihren Kadern und kulturellen Gewohnhei-ten zu überwinden und zugleich den neuen Ge-fahren wirtschaftlicher Machtkonzentration undder Verabsolutierung kapitalistischen Profitlo-gik zu wehren. Das Ganze unter Bedingungeneines neuen heftigen Schubs ökonomischer Glo-balisierung, die durch nationalstaatliche Geset-ze kaum zu beeinflussen ist und die den Trans-formationsländern mehrheitlich ausländischeMedieneigentümer beschert hat, mit komplizier-ten Folgen für das gerade gewonnene Selbstbe-stimmungsrecht der vom Kommunismus be-freiten Gesellschaften. Dabei zeigt sich, dass‚Freiheit von‘ leichter zu bewerkstelligen ist als‚Freiheit für‘.

Wo liegen die gefährlichen Folgen der wirt-schaftlichen Machtkonzentration und der Ver-absolutierung kapitalistischer Gewinnlogik? Ausden öffentlichen Diskussionen der etabliertenDemokratien sind sie bekannt, wenn auch inder letzten Zeit meines Erachtens nicht genü-gend prägnant erörtert. Das Problem liegt wohlweniger im Einfluss der Eigentümer auf die Jour-nalisten als im Zwang des Wettbewerbs, so preis-günstig wie möglich zu produzieren und so er-folgreich wie möglich die Medienprodukte ab-zusetzen. Die Einsparung von Personal, vonfest angestellten Journalisten hat schon seit län-gerem zu einem klar erkennbaren Qualitätsver-lust in Recherche und Analyse geführt. Wenn

nicht genügend Zeit und kompetente Personenzur Verfügung stehen, solide informiert undanalytisch reflektiert über Sachverhalte und Zu-sammenhänge zu berichten und sie zu kommen-tieren, wenn darüber hinaus – auch aus Grün-den der Kostenersparnis – die inhaltlich selbenProdukte in verschiedener Aufmachung erschei-nen, dann leiden darunter die Gründlichkeit derRecherche und die Vielfalt der Aspekte und Ar-gumente, die eine demokratische Öffentlichkeitund mit ihr die handelnden Politikerinnen undPolitiker brauchen, um solide und vertrauener-weckende Entscheidungen zu fällen bzw. kri-tisch zu rezipieren.

Darüber hinaus wächst die Versuchung zurSkandalisierung, um die Auflagenhöhe zu stei-gern, und zur Banalisierung, um den Stoff mund-gerecht zu servieren. Hier glaube ich übrigens,dass die Gesellschaft auch in ihren sehr unter-schiedlichen Schichten bereiter ist als generellangenommen wird, komplizierte Sachverhaltezu verstehen, wenn sie Vertrauen in Personenund Institutionen gefasst hat, die dies zu ver-mitteln suchen.

Mit Skandalisierung und Banalisierung ent-steht eine Verzerrung von Wirklichkeit, die überdie unausweichliche Perspektivität weit hinausgeht, eine Unterscheidung zwischen Wahrheitund Lüge scheinbar (nicht wirklich!) überflüs-sig macht und das Vertrauen nicht nur zwischenPolitik und Gesellschaft, sondern auch inner-halb der Gesellschaft beschädigt, ja zerstört,weil mit dem Verlust der Wahrheitsbindung auchdie Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt.

Die Verabsolutierung der Markt- und Wett-bewerbslogik unterminiert auch die zur Demo-kratie erforderliche Verantwortung der Men-schen als politischer Bürger, als ‚Citoyens‘ imUnterschied zum ‚Bourgeois‘, weil sie als Kon-sumenten, nicht als mitverantwortliche Akteureangesprochen werden. Sie können dann bequemim Sessel sitzen und sich den Mund über all dieTorheit, die Gewinnsucht, die Lächerlichkeit derhandelnden Politik zerfetzen, ohne sich der Ver-

Gesine Schwan

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pflichtung zu unterziehen, sich an deren Stellezu setzen, was heißt: unter Bedingungen derunvermeidlichen Ungewissheit in der Sache unddes vielfachen Interessendrucks zu entscheiden,und ohne die Verpflichtung, sich für konstruk-tive Alternativen verantwortlich zu fühlen.

Damit sind wir schon bei den kulturellenFolgen der institutionellen Markt- und Gewinn-logik. Hier sind Hindernisse auf Seiten der Jour-nalisten zu nennen. Ein völlig verständlicherEhrgeiz, in dieser Logik zu bestehen, bekräftigtden Wunsch, im Wettbewerb aufzufallen, Punktezu machen, von anderen zitiert zu werden, auchwenn dies zu Unsachlichkeit und einer Verzer-rung führt, die an Lüge grenzt. Denn der Zu-sammenhang, in den Fakten gebracht werden(die ihrerseits natürlich stimmen müssen), kon-stituiert deren jeweilige Wahrheit, die nicht ab-solut zu erreichen, aber durchaus absolut zuverfehlen ist, wenn man z.B. erkennbare Ge-genargumente oder widersprechende andereFakten verschweigt. Und wenn man sich, z. Bunter Zeitdruck, nicht an die Verpflichtung hält,Behauptungen anhand unabhängiger alternati-ver Quellen zu prüfen.

Angesichts eines Wettbewerbs, der einenKampf aller gegen alle nahe legt und damit auswirtschaftlichen Gründen eine Situation wie inHobbes’ politischer Welt der Wölfe herauf führt,reagieren viele Journalisten ausgesprochen all-ergisch, wenn man sie ihrerseits kritisiert, be-greifen sie sich doch als Wächter der Öffent-lichkeit, deren Autorität und Unparteilichkeitaußer Frage steht. Die Medien dürfen, sollen,müssen die Politik nicht nur kritisieren – was jaim genauen Wortsinn ‚sondern‘ heißt, also un-terscheiden, zwischen gut und schlecht, falschund richtig etc. und was der Demokratie völligangemessen wäre. Sie dürfen sie auch vielfachhöhnend oder ironisch-überlegen attackieren,aber wehe, die Politik zahlt mit gleicher Münzeheim! Dagegen hält die Zunft dann oft wie Pechund Schwefel zusammen, ohne zu begreifen,dass sie der Wahrheit und den ethischen Gebo-

ten der Demokratie genauso zu dienen hat wiedie Politik. Blind machender Ehrgeiz, Korrum-pierbarkeit, Trägheit und mangelnde Moral sindkein Privileg der Politik, sondern Verführun-gen, denen wir alle ausgesetzt sind und gegendie nur gegenseitige Korrektur und Kritikof-fenheit hilft.

4 Die besondere Situation derTransformationsländer

Dies alles gilt bereits für etablierte Demokrati-en. In Transformationsländern kommt hinzu,dass weder die neuen politischen Institutionennoch erst recht eine demokratische politischeKultur Zeit hatten, sich zu festigen, so dass dieGefahren des kapitalistischen Marktes sich leichtund oft schwer durchdringbar mit denen derüberkommenen undemokratischen Traditionenund Eliten der überwundenen Diktaturen ver-knüpfen und sich dadurch gegenseitig verstär-ken. Wenn ein vermachteter Medienmarkt miteiner autoritär-diktatorischen Tradition politi-scher Kultur und unzureichenden Medienge-setzen zusammen kommt, hat es die Demokra-tieentwicklung schwer. Überdies machen wirimmer wieder die Erfahrung, dass die überkom-menen Eliten von ihren sozialen Netzen profi-tieren und von ausländischen Investoren gernwegen ihrer Gewinn bringenden Effektivitätgehalten werden.

Wir haben bisher auf die innere Situationder Transformationsländer geblickt. Aber wiein Westeuropa nach 1945 hängt das Gelingender Demokratisierung vom europäischen Kon-text ab. Die demokratiepolitische Chance derwestdeutschen Bundesrepublik lag – neben derTradition demokratisch-politischer Parteitradi-tionen von CDU/CSU, SPD und den nichtdeutsch-nationalen Liberalen in ihrer Einbettungin die westeuropäische Integration und in dieNATO. Mit denselben Argumenten ist für dierasche Aufnahme der postkommunistischenLänder in die Europäische Union plädiert wor-

Medienfreiheit als Voraussetzung für Demokratieentwicklung?

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den. Die Stabilisierung ihrer Demokratien durchdie europäische Integration und die Einsparungeiner nationalen Verteidigung, die kostspieligergeworden wäre als die Eingliederung in dieNATO, waren wichtige politische Gesichts-punkte in der politischen Diskussion.

Umfragen etwa in Polen haben auch gezeigt,dass die mittelosteuropäischen Gesellschaftenvon der Integration in die Europäische Uniondurchaus eine überzeugendere Qualität ihrerDemokratien erwartet haben und erwarten. InBezug auf die Medien zeigt sich allerdings hierein besonderes Problem. Denn die Berichter-stattung westeuropäischer Journalisten in de-ren Heimatländern ist nicht immer hilfreich,wenn sie denn überhaupt in nennenswertemMaße stattfindet. Angesichts des historischenInformations- und Interessengefälles von Ostnach West und tief verwurzelter negativer Vor-urteile gegenüber dem Osten, war und ist esauch unter demokratiepolitischem Aspekt wich-tig, die Befestigung dieser Vorurteile zu vermei-den. Sie geschieht aber leicht, wenn man dieneuen Demokratien paternalistisch als defizien-te Nachzügler in Sachen Demokratie beschreibt,ohne ihre jeweiligen historischen und kulturel-len Voraussetzungen und Besonderheiten zu er-läutern und ohne die generellen Probleme einerrasanten Modernisierung unter den besonderenBedingungen der ökonomischen Globalisierungmit ihren – auch im Westen – gravierenden sozi-alen Umbrüchen und Verwerfungen zureichendin Rechnung zu stellen.

In Bezug auf Polen zum Beispiel entstehtdann leicht ein Eindruck sozialer Rückständig-keit, religiöser Borniertheit und politischer Stur-heit, der sich mit den traditionellen Vorurteilen(sie sind ja fast immer negativ!) verbindet undsie bekräftigt. Wenn die Berichterstattung sichdann zusätzlich auf die Hauptstadt konzentriertund das Land de facto mit seiner jeweiligenRegierung identifiziert und die gesellschaftli-che Vielfalt auf einige Skurrilitäten zusammenschnurren lässt, dann weckt und stärkt das ne-

gative Einstellungen auf beiden Seiten und dientweder der Entwicklung der nationalen Demo-kratien noch der demokratischen europäischenEinigung, die ihrerseits die Demokratien stabi-lisieren könnte.

5 Chancen der Demokratieentwick-lung durch die Medien

Aus den bisherigen Überlegungen lassen sichzehn zusammenfassende Forderungen ableiten.Wie immer, wenn es um Demokratisierung geht,müssen wir an institutionelle und an kulturelleWege denken.

Zu den wichtigsten institutionellen gehörtdie kluge Verankerung der Medienfreiheit in denneuen demokratischen Verfassungen. Dies istin der Regel der Fall.

Dazu gehören allerdings auch Mediengeset-ze, die die Erfahrungen der westlichen Länderebenso berücksichtigen wie die neue Mischungvon diktatorisch-politischen und kapitalistisch-ökonomischen Gefahren. Diese dürfen nichtdurch andere Vorschriften (z.B. im Strafrechtoder in Sicherheitsgesetzen oder staatliche In-tervention ausgehebelt werden.)

Zentral bedeutend ist dabei die Einschrän-kung von wirtschaftlicher und politischer Macht-konzentration und eine reflektierte Verbindungvon öffentlichen und privaten Medien, wobeidie öffentlichen sowohl den parteipolitischenMissbrauch als auch die Blockade einer über-triebenen gesellschaftlichen ‚Ausgewogenheit‘von Aufsichtsräten vermeiden müssen, weilsonst originelle und unabhängige Kritik ‚weg-nivelliert‘ wird.

Für die Öffentlichen muss genug Raum blei-ben, weil die privaten Medien erfahrungsgemäßInformation, Analyse und Kultur zu kurz kom-men lassen, auf die eine lebendige Demokratieaber angewiesen ist.

An die Journalisten richtet sich vielleicht diewichtigste Anregung: Etablieren Sie medienin-terne Jurys, die Missbrauch verfolgen und pro-

Gesine Schwan

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fessionelle Kritik mit wirksamen Sanktionen an-wenden. Das wichtigste Konstruktionsprinzipder Institutionen ist die Transparenz. Denn esgibt keine Interessenneutralität und auch keineObjektivität der Medien. Transparenz aber hilftam besten, Interessen zu verfolgen und derenmöglichen negativen Konsequenzen entgegen-zuwirken.

Die institutionellen Regelungen müssen sichmit der Festlegung und immer erneuten öffent-lichen Reflexion demokratischer kulturellerStandards verbinden, die bis in die Journalis-tenausbildung reichen sollten.

Auch dies möchte ich an dieser Stelle ganzdeutlich hervorheben: Debatten zwischen un-terschiedlichen medialen Positionen halte ich fürüberaus wichtig, eine Wagenburg-Mentalitätunter Kollegen nach dem Motto ‚right or wrongmy colleague‘ für disfunktional. Die Diskredi-tierung von solchen Debatten als ‚Zerstritten-heit‘ dient der Demokratie nicht, die auf denAustrag der Pluralität von Aspekten zugunstendes Gemeinwohls angewiesen ist. Auch Politi-kerbeschimpfung, ebenso wie die simple Mo-ralisierung von Konflikten anstelle ihrer sorg-fältigen Analyse macht es sich zu leicht undgeht an den Erfordernissen einer demokratischenKultur vorbei.

Ganz entscheidend ist meines Erachtens zurStärkung der Demokratieentwicklung in denTransformationsländern die Europäisierungder öffentlichen Debatten. Dass Polen inDeutschland kritisch über Politik und Gesell-schaft ihres Landes urteilen ebenso wie Deut-sche in Polen hilft der europäischen Verständi-gung und Integration und darf nicht zugunsten

einer nationalen Regression verunglimpft wer-den. ‚Wir Deutsche‘ oder: ‚Wir Journalisten‘oder: ‚Wir Politiker‘ müssen zusammenhalten!– das ist die falsche Devise. Wir müssen allemiteinander fair umgehen, aber zugleich eigen-ständig und zivilcouragiert. Demokratieentwick-lung gelingt nicht mehr rein national, sondernnur noch mindestens europäisch, eigentlich nurnoch global.

Die letzte und beste Instanz für das Gelin-gen von Demokratieentwicklung in unsererökonomisch und kulturell globalisierten ge-schichtlichen Situation ist eine wache, kriti-sche in eigener politischer Aktivität (auch etwader organisierten Zivilgesellschaft) erfahreneÖffentlichkeit, so wie schon die berühmten‚Federalist Papers‘ in der Diskussion um dieamerikanische Verfassung darauf hingewiesenhaben, dass gegen allen Missbrauch institutio-neller Regelungen allein der ‚manly spirit‘ derAmerikaner eine Garantie zu bieten vermag.Heute gehören allerdings auch, vielleicht ganzbesonders die Frauen dazu. Und das ist gutso!

Gesine Schwan ist Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.

Anmerkung

1Der Text geht zurück auf einen Vortrag an-lässlich der netzwerk recherche – und n-ost-Konferenz am 15. Juni 2007 in Hamburg. Wirdanken der Autorin und dem netzwerk recher-che für den Abdruck des Vortrags im For-schungsjournal NSB.

Medienfreiheit als Voraussetzung für Demokratieentwicklung?

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Zwei Jahrzehnte nach Beginn der Perestroikascheint Russland den steinigen und verschlun-genen Weg zu einer demokratischen und zivilenGesellschaft auf Dauer, zumindest aber für dienahe Zukunft verlassen zu haben. Im Rückblicklässt sich die Präsidentschaft Wladimir Putinsdurchaus als Abfolge systematischer Einschrän-kungen bürgerlicher Freiheits- und Beteiligungs-rechte darstellen. Zwar bleibt Russland formalein demokratisches Land mit einer im Großenund Ganzen liberalen Verfassung und allen At-tributen eines modernen demokratischen Staats-wesens, aber schon ein etwas genauerer Blickgenügt, um festzustellen, dass diese Institutio-nen fast all ihrer Sinn gebenden Inhalte und ih-rer ethischen wie moralischen Grundlagen be-raubt sind. Die Attribute ,gelenkt‘ oder ,souve-rän‘, mit denen Präsident Putin und seine Um-gebung diesen Demokratieabbau als besonde-ren russischen Weg (um nicht zu sagen, russi-schen Sonderweg) zur Demokratie zu rechtfer-tigen versuchen, bestätigen nur den bewusstenCharakter dieser Einschränkungen.

Die wichtigsten Einschränkungen seien kurzgenannt:• Die seit 2004 radikal veränderte Parteien- und

Wahlgesetzgebung verhindert einen freienWettbewerb politischer Parteien und Interes-sen um Wählerstimmen und monopolisiertdie Entscheidung, welche Parteien gegrün-det werden oder weiter existieren dürfen zu-gunsten der Exekutive;

• die faktische Ernennung der Gouverneureund (Teil-) Republikpräsidenten durch denPräsidenten anstelle ihrer bis Ende 2004 not-wendigen Direktwahl durch das Volk machtdie Regionalverwaltungen vom politischenZentrum im Kreml abhängig und nicht den

Jens Siegert

Die Zivilgesellschaft in Putins Russland

Menschen der jeweiligen Region gegenüberrechenschaftspflichtig;

• ein großer Teil der Massenmedien, darunterdie landesweiten Fernsehkanäle, die für 80Prozent der Bevölkerung das einzige Infor-mationsmedium sind, wurden unter Putinentweder direkt dem Staat unterstellt oderwerden durch in Staatsbesitz befindliche Me-dienholdings und durch kremlloyale Unter-nehmer kontrolliert;

• die Verhaftung und Verurteilung des Besit-zers des einstmals größten russischen Öl-konzerns JuKOS, Michail Chodorkowskij,hat allen Unternehmern und Konzernführerngezeigt, wie gefährlich es sein kann, sichpolitisch gegen den Kreml zu stellen. Inlän-dische Finanzierungsquellen für oppositio-nelle politische Gruppen gibt es seither kaumnoch. Ausländische Finanzierung politischerArbeit ist per Gesetz verboten.

Die russische Zivilgesellschaft hat sich in denJahren der Putinschen Präsidentschaft, wennauch auf im internationalen Vergleich niedrigenNiveau, teilweise trotz, teilweise wegen der zu-nehmenden Autoritarisierung staatlichen Han-dels munter weiterentwickelt. Dabei waren ihresichtbarsten Träger, die Nichtregierungsorga-nisationen (NGOs)1 zu großen Teilen von fi-nanzieller Unterstützung aus dem Ausland ab-hängig und ständigen Formierungsversuchenvon Seiten des Staates ausgesetzt.

1 NGOs in der gelenkten Demokratie

Bei den meisten Vertretern korporativer Inter-essen (etwa Gewerkschaften oder Invalidenver-bände) gelang es dem Staat relativ leicht, sie indas System der gelenkten Demokratie einzufü-

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gen. Versuche, NGOs zu disziplinieren oderkorporativ einzubinden, gab es von Anbeginnder Präsidentschaft Wladimir Putins. Sie blie-ben aber lange Zeit weitgehend erfolglos.

Allein die Erwähnung des Tschetschenien-kriegs genügt, um zu verstehen, warum Men-schenrechtsgruppen wenig Zuneigung aus demKreml zu erwarten haben und sie umgekehrtdem neuen Präsidenten von Beginn an skep-tisch bis kritisch gegenüber standen. Die rest-riktive, bis an den Rand der Zensur (undmanchmal auch darüber hinaus) gehende Medi-enpolitik des Kremls hat inzwischen zu einerweitgehenden Kontrolle vor allem der elektro-nischen Massenmedien geführt. Sie erklärt dieBesorgnis jener NGOs, die im Bereich Mei-nungsfreiheit, freie Medien engagiert sind. Um-weltschutzgruppen kritisieren die insbesondereauf den Export von Öl, Gas und anderen Roh-stoffen orientierte Wirtschaftspolitik Putins undden fortgesetzten Abbau oder die systematischeMissachtung ökologischer Schutzrechte.

Erste staatliche Formierungsversuche,darunter vor allem das ‚Bürgerforum‘ im Kreml(Herbst 2001), führten eher zu einer Stärkungals zu einer Schwächung der NGOs. Zu ihrerAbwehr bildeten NGOs regionale und überre-gionale Koalitionen, auch jenseits der bis dahinoft undurchlässigen inhaltlichen Sektorengren-zen, um so den staatlichen Vertretern als politi-sche Subjekte entgegen zu treten. Auch staatli-che Versuche, die NGOs in ,konstruktive‘ und,unkonstruktive‘ zu trennen, die einen korpora-tiv in das politische Herrschaftssystem einzu-binden und die anderen zu marginalisieren,schlugen weitgehend fehl. Im Gegenteil: Dieneu gewachsenen Zusammenschlüsse entwi-ckelten neben ihren ursprünglichen inhaltlichenAnliegen politische Forderungen zur Verbesse-rung der Existenz- und Arbeitsbedingungen vonNGOs, so etwa im Bereich des Steuerrechts.Sowohl auf regionaler als auch auf Bundesebe-ne erlangten einige dieser Zusammenschlüsseerhebliche Verhandlungsmacht.

2 Staat vs. Zivilgesellschaft

Das Verhältnis zwischen Staat und zivilgesell-schaftlichen Organisationen ist ambivalent.Während es regional und mit der Regierungdurchaus in einzelnen Fällen gelang, dauerhafteArbeitsbeziehungen zu entwickeln (so zum Bei-spiel in den Bereichen Bildung, Zivildienst,teilweise Flüchtlinge), wurde das Handeln derPräsidentenadministration weitgehend von tak-tischen und strategischen Überlegungen be-stimmt. Diese Konstellation ist Resultat wider-sprüchlicher Handlungsnotwendigkeiten, diesich aus der grundsätzlichen politischen Ziel-vorgabe der Regierung Putin ergeben. Pauschalgesagt besteht die erklärte Politik Putins darin,Russland aus der tiefen, Mitte der 1980er Jahrebegonnenen Krise zu führen, damit das Landwieder seinen ihm ,natürlicherweise‘ zustehen-den Platz als Großmacht im internationalen Ge-füge einnehmen kann. Dies ist freilich nur beieiner umfassenden Modernisierung der Wirt-schaft möglich. Dazu – und aufgrund der grund-sätzlich veränderten internationalen Sicherheits-lage – ist eine zumindest minimale Zusammen-arbeit mit den wichtigsten Industriestaaten (imrussischen Sprachgebrauch zusammengefasst:,dem Westen‘) notwendig. Zugleich hat sich dassowjetische Wirtschaftssystem gegenübermarktwirtschaftlichen Systemen als nicht kon-kurrenzfähig erwiesen.

Marktwirtschaftliche Systeme erfordern einbestimmtes Mindestmaß an Handlungsautono-mie und Eigeninitiative. Das Problem der russi-schen Herrschaftselite ist es, auszutarieren, wiesich die damit verbundenen Freiheitselementeauf die Wirtschaft beschränken und aus der po-litischen und gesellschaftlichen Sphäre weitge-hend heraushalten lassen. Der zivilgesellschaft-liche Sektor hat sich dabei als am widerstän-digsten herausgestellt. Dafür lassen sich vierGründe angeben: Zum einen führte die zuneh-mende Verengung des politisches Feldes unddie Gleichschaltung der Massenmedien zu ei-

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nem Informationsdefizit des Kreml über dieLage im Land. Die NGO-Zusammenschlüssewurden zu durchaus effektiven Informations-kanälen in die Gesellschaft, ohne aber aus Staats-sicht eine Bedrohung als Machtalternative dar-zustellen.

Zum zweiten ist die Modernisierung derGesellschaft als Grundlage der angestrebten‚Wiedergeburt‘ des russischen Staates alsGroßmacht nicht virtuell, sondern nur realmöglich. Die NGOs verfügten und verfügenüber inhaltliche Kompetenzen in Bereichen, ausdenen der Staat sich zurückgezogen hatte oderdie er aufgrund ihrer Modernität nicht odernoch nicht erreichte und erreicht. Zusammen-arbeit mit den NGOs war also auch aus dieserSicht relativ Erfolg versprechend und relativungefährlich.

Zum dritten vermochten die NGOs wäh-rend der ersten Präsidentschaft Putins bis 2004innere Widersprüche der politischen Macht-elite zu nutzen, die ideologisch weit wenigerkonsolidiert war als sie das heute ist. Umge-kehrt sah ein Teil der Machtelite die NGOs alsInstrumente und mehr unfreiwillige als frei-willige Verbündete im Kremlinternen Macht-kampf. Zu guter Letzt boten die relativ frei agie-renden NGOs eine gute Argumentationsbasisgegenüber Kritik aus dem Westen an den Ein-schränkungen demokratischer Freiheiten inRussland. Die partielle, oft eher als notwendigdenn als gewünscht empfundene Zusammen-arbeit mit dem Westen beinhaltet eine mehr oderweniger starke, zumindest formale Beachtungdemokratischer Mindeststandards. Russlandversucht sich diesen Mindeststandards (etwadenen in den 1990er Jahren durch den Beitrittzum Europarat übernommenen Verpflichtun-gen) angesichts des eigenen wirtschaftlichenAufschwungs wieder zu entledigen. In Bezugauf die NGOs im eigenen Lande änderte sichdas sehr unvermittelt mit den (in Russland sogenannten) ‚bunten Revolutionen‘ in Georgi-en und der Ukraine und der tatsächlich oder

vermeintlich entscheidenden Rolle, die dort ausdem Westen finanzierte NGOs gespielt haben.

3 Die Macht des Kremls

Die gegenwärtige Machtelite kämpft darum, ander Macht zu bleiben. Dies ist in einem formaldemokratischen Rahmen, in dem die Regeln in-stitutionell abgesicherter Machtteilung weitest-gehend außer Kraft gesetzt sind, eine besondersschwierige Aufgabe. Alle Macht geht heute inRussland vom Präsidenten aus, der, einem Lehn-herrn gleich, seine Gefolgschaft sowohl mit in-stitutioneller (Teil-)Macht und so gleichzeitigmit materiellen Ressourcen ausstattet. Beidesaber, sowohl die institutionelle Macht als auchdie Ressourcen bleiben an die Loyalität zumPräsidenten gebunden. Die präsidentielle Macht,auch wenn sie sich auf ein zwischen einer gan-zen Reihe von nicht immer leicht zu identifizie-renden Gruppen austariertes Gleichgewichtstützt, ist nicht teilbar. Zweifellos ein Dilemma,wenn diese Macht – wie Anfang 2008 vorgese-hen – im formal demokratischen Rahmen, deneinzuhalten wiederum aus anderen, übergeord-neten Gründen für notwendig erachtet wird,übergeben werden soll.

Zur Absicherung seiner Macht hat ‚derKreml‘, sprich: eine kleine, kaum genau abzu-grenzende Machtgruppe mit dem Präsidentenan der Spitze, ein zwar nicht erklärtes, aber defacto lange angestrebtes Monopol auf Politik inRussland durchgesetzt. Das Parteiensystemdominieren vom Kreml geschaffene Surrogat-parteien wie Einiges Russland und GerechtesRussland. Die verbliebenen liberalen ParteienJabloko oder Union der Rechten Kräfte sindmarginalisiert. Andere Parteien wurden mit Hil-fe des verschärften Parteiengesetzes aufgelöst.Neue Parteien werden gar nicht erst zugelassen.Die Chancen, dass einer oder mehreren libera-len Parteien bei den Wahlen im Dezember 2007aus polittechnologisch begründeter Gnade derEinzug in die Staatsduma gestattet wird, ist an-

Jens Siegert

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gesichts ihrer Nichtzulassung zu vielen Regio-nalwahlen Anfang März 2007 und dem Auf-tauchen einer dritten, sich liberal positionie-renden Kremlpartei unter der Bezeichnung „Zi-vilgesellschaftliche Kraft“ fast völlig ge-schwunden.

Der Einfachheit halber wurde bis dato von,dem Kreml‘ und ,der Opposition‘ gesprochen.Beides erzeugt ein verzerrtes Bild einer kompli-zierten Gemengelage. Es fällt zusehends schwer,die inneren Auseinandersetzungen in der politi-schen Machtelite um die besten Ausgangsposi-tionen für die Putinnachfolge nicht in gewohnteKategorien zu fassen wie etwa ‚Modernisierer‘oder ‚Hardliner‘. Da es jedoch keine Politik imSinne öffentlicher Auseinandersetzung um po-litische Macht in einem institutionellen Rahmenmit für alle Bewerber möglichst gleichen undfairen Ausgangsbedingungen gibt, versagenauch die politischen Kategorien. So wenig mansicher sein kann, dass ein möglicher PräsidentDmitrij Medwedjew mehr oder weniger demo-kratisch und mehr oder weniger sozialmarkt-wirtschaftlich regieren wird, so wenig ist es si-cher, dass ein möglicher Präsident Sergej Iwa-now die Schrauben weiter anziehen und dieAutorisierungstendenzen vorantreiben wird.Keiner der möglichen Putinnachfolger, findigeSpezialisten kommen auf mehr als zehn – unddie beiden genannten sind nur die gegenwärtigmeistgehandelten –, hat je eine politische Prü-fung überstehen müssen, die belastbare Schlüs-se auf tiefe und feste Überzeugungen zuließe.Das System Putin verhindert die Entwicklungneuer ‚öffentlicher‘ Politiker. Das gilt auch fürdie Opposition.

4 NGOs in der Falle?

Das Verhältnis NGO – Staat speist sich wesent-lich aus einem Widerspruch. Einerseits werdenNGOs zur Modernisierung des Landes und alsdemokratisches Aushängeschild nach außen ,ge-braucht‘. Andererseits sind sie aufgrund ihrer

prinzipiellen Unabhängigkeit eine subjetiv emp-fundene und – wie die Ereignisse in Serbien,Georgien oder der Ukraine gezeigt haben –, un-ter Umständen auch tatsächliche Bedrohung fürden Machterhalt der herrschenden politischenElite. Die konkurrierenden Gruppen innerhalbder Machtelite versuchen sich der NGOs auchin internen Machtauseinandersetzungen zu be-dienen. Es ist den NGOs allerdings auch immerwieder gelungen, diese Widersprüche zurDurchsetzung zumindest von Teilen ihrer For-derungen nutzen. Die Anpassungen in der Steu-ergesetzgebung im Herbst 2004 und auch dieerreichten Änderungen am neuen NGO-GesetzEnde 2005 sind Belege dafür.

Eine zunehmende Einengung des politischenFeldes, die inzwischen zur fast vollständigenAbwesenheit von öffentlicher Politik geführthat, hat die russischen NGOs in den Jahren derPutin-Präsidentschaft insgesamt in die Rolle vonsurrogaten politischen Organisationen gedrängt.Oft mussten sie gleichzeitig die Rolle von Op-position, Kommunikationskanal und Interessen-vertretung einnehmen. Als eine Folge haben sichintermediäre Organisationstypen entwickelt, diein westeuropäischen und nordamerikanischenDemokratien fast unbekannt sind und die stän-dig zwischen dem Staat und der Bevölkerungvermitteln.

Insbesondere der Zeitraum 2002 bis 2005war durch das oben beschriebene, ständig zwi-schen Kooperation und Nicht-Kooperationwechselnde Verhältnis Staat – NGO geprägt.Teilweise wurden die Kommunikationskanäleinstitutionalisiert, wie etwa mit der 2002 ge-schaffenen Kommission für Menschenrechtebeim Präsidenten. Anfang 2004 ging diese ineinen ,Rat zur Mitwirkung an der Förderungder Institute von Zivilgesellschaft und Men-schenrechten beim Präsidenten der RussischenFöderation‘ (der nach seiner Vorsitzenden sogenannte ‚Pamfilowa-Rat‘) über. Dem Rat ge-hören bis heute eine Reihe wichtiger oppositio-neller NGO-Führungspersonen an. Etwa einmal

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jährlich kommt es zu einem direkten Treffen mitPräsident Putin.

Noch einmal verschärft hat sich die Aufmerk-samkeit des Kremls gegenüber zivilgesellschaft-lichen Organisationen nach den Umstürzen inGeorgien und vor allem in der Ukraine zumJahreswechsel 2004/2005. Nach Kremllesartwaren an diesen als gegen Russland gerichte-ten, perzepierten Machtwechseln vom Westenausgebildete und finanzierte NGOs maßgeblichbeteiligt. Direkte Folge war das im April 2006in Kraft getretene neue NGO-Gesetz. Dies gibtdem Staat gegenüber russischen NGOs und inRussland registrierten und tätigen ausländischenNGOs eine ganze Reihe neuer Kontroll- undSanktionsinstrumente an die Hand. Zuvor wur-de bereits in 2005 die seit dem Bürgerforum2001 gehegte Idee verwirklicht und per Gesetzeine ,Gesellschaftskammer‘ geschaffen, die alseine Art Zivilgesellschaftsparlament weitreichen-de Mitwirkungsrechte am Gesetzgebungsver-fahren hat und – so steht es zumindest im Ge-setz – die Exekutive kontrollieren soll. DieseFunktion steht allerdings in direktem Wider-spruch zur Art, wie die Mitglieder der Gesell-schaftskammer ausgewählt werden: Ein Drittelwird vom Präsidenten ernannt, das zweite Drit-tel von der Ersternannten kooptiert und ein wei-teres Drittel in sieben in den so genannten Fö-deralbezirken einzuberufenden Konferenzen‚gewählt‘, ohne dass die Exekutive durch dasGesetz an bestimmte Verfahren gebunden ist.Viele NGOs beteiligen sich deshalb aus prinzi-piellen Gründen und weil sie ‚die Zivilgesell-schaft‘ grundsätzlich nicht für repräsentativ ver-tretbar halten, nicht an der Gesellschaftskam-mer.

5 Fazit

Zusammengefasst haben die staatlichen For-mierungsversuche die zivilgesellschaftlichenOrganisationen durch den damit einhergehen-den Zwang zur Professionalisierung und zur

Politisierung zumindest bis zur Verabschie-dung des neuen NGO-Gesetzes Ende 2005 ehergestärkt als geschwächt. Dieses allgemeineUrteil schließt natürlich mit ein, dass es gegen-über einzelnen Organisationen und Personenauch vorher durchaus zu staatlichen Repressi-onen gekommen ist.

Die direkten Auswirkungen des NGO-Ge-setzes von 2006 sind noch schwer zu beurtei-len. Soweit erkennbar, scheinen sie eher in Aus-nahmefällen zu direkten staatlichen Repressio-nen gegen aktuell oder langfristig unbotmäßigeNGOs zu führen, wenngleich es solche Fällegibt und sie berechtigterweise in der Öffent-lichkeit besondere Beachtung finden. Problemebereitet bisher vor allem die mit dem Gesetzerzeugte erhöhte Aufmerksamkeit unterschied-licher Behörden gegenüber NGOs: Behörden-aufmerksamkeit bedeutet in einer hochkorrum-pierten Gesellschaft wie der russischen vor al-lem erhöhten administrativen Aufwand, den sichbei weitem nicht alle NGOs leisten können.

Einer im Frühjahr 2007 vorgelegte Unter-suchung der Staatlichen Hochschule für Wirt-schaft in Moskau zufolge liegen die Kostenzur Gründung einer NGO im Landesdurch-schnitt inzwischen zu einem Drittel über denKosten zur Gründung eines Wirtschaftsunter-nehmens. Damit wurde eine erhebliche Barrie-re aufgebaut, die voraussichtlich Neugründun-gen verhindern und zur Schließung bestehen-der NGOs führen wird. Ob das die angestreb-te, bessere staatliche Kontrolle zur Folge ha-ben wird, muss bezweifelt werden. Es zeich-net sich ab, dass Initiativen künftig vermehrtauf die formale Registrierung verzichten, weilsie entweder zu aufwändig und zu teuer istoder sie sich der staatlichen Kontrolle dadurchentziehen wollen, dass sie eben informell blei-ben. Außerdem erwarten die Experten derMoskauer Staatlichen Hochschule für Wirt-schaft, dass verstärkte staatliche Kontrollrech-te – immer wieder bei Kontrollen von Wirt-schaftsunternehmen beobachtet – durch höhe-

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re Schmiergeldzahlungen umgangen werden.Signifikante Untersuchungsergebnisse gibt esaber wegen der verhältnismäßig kurzen Gel-tungsdauer des NGO-Gesetzes noch nicht.

Eine Entwicklung ist aber bereits absehbar:Die Registrierungsbehörden setzen nun ebenso,wie bisher bereits gegenüber Wirtschaftsunter-nehmen, darauf, die Einhaltung von Bestimmun-gen etwa des Arbeitsrechts, des Steuerrechts,der Arbeitsschutzbestimmungen oder desBrandschutzes zu überprüfen. Mit Beanstan-dungen in diesem Bereich lassen sich politischeHintergründe staatlichen Vorgehens gegenNGOs zumindest teilweise kaschieren. So wurdeMemorial schon 2005 ein halbes Jahr langgleichzeitig drei verschiedenen Steuerprüfun-gen unterzogen und konnte sich erst nach lang-wierigen gerichtlichen Auseinandersetzungengegenüber dem Finanzamt von horrenden Steu-ernachforderungen befreien. Anfang 2006 nahmdie neue Registrierungsbehörde Rosregistrazijadie ,planmäßige‘ Überprüfung von NGOs auf.Wiederum bei Memorial will Rosregistrazija eineVerletzung der Satzung entdeckt haben, weilkostenlose Rechtsberatung als ‚humanitäre Hil-fe‘ deklariert wird, humanitäre Hilfe aber nachBehördenauffassung nur das Verteilen materi-eller Güter sei. Im Vorfeld der Präsidentenwah-len 2008 ist, bei zunehmender Nervosität imKreml, eher mit einer weiteren Verschärfungder Situation zu rechnen.

In den vergangenen 20 Jahren seit der Pe-restroika hat sich die russische Gesellschafttrotz vieler politischer und wirtschaftlicher Er-schütterungen kontinuierlich weiter differen-ziert und ist in diesem Sinn ziviler geworden.Selbst die zweite – in vielem restaurative Amt-zeit Putins – hat daran grundsätzlich nichtsgeändert. Wohin die Reise weiter geht, wird

wohl erst nach der Präsidentenwahl im nächs-ten März langsam sichtbar werden. Gelingt derjetzigen Machtelite die Staffelübergabe ohneallzu krisenhafte Einbrüche, wird viel daraufankommen, wer neuer Präsident wird und aufwen er sich stützen wird. Dann gibt es einegute Chance für die weitere Zivilisierung derrussischen Gesellschaft, auch wenn das kaumein gradliniger Weg sein wird. Kommt es, wasniemand ausschließen kann, zu einer größerenpolitischen Krise – und es gibt Teile der ge-genwärtigen Herrschaftselite, die daran einInteresse haben –, ist als Folge eine Verschär-fung des autoritären und nationalistischen bishin zu einer völkischen Wendung möglich.Eine neue Liberalisierungswelle, von Teilen derheutigen demokratischen Opposition erhofft,bleibt unwahrscheinlich. In diesem Fall dürftees die noch zarte Pflanze russische Zivilgesell-schaft schwer haben den dann kommendenFrost unbeschadet zu überleben.

Jens Siegert ist Leiter des Moskauer Bürosder Heinrich Böll Stiftung.

Anmerkung

1Ich behandele hier in erster Linie diejenigenNGOs, die als intermediäre Akteure zwischenStaat und Gesellschaft agieren, die gesellschaft-liche Interessen und Anliegen formulieren, mar-ginalisierten Gruppen eine öffentliche Stimmegeben und Bürger vor unrechtmäßigen Über-griffen des Staates zu schützen versuchen.Daneben gibt es natürlich zahlreiche Selbsthil-fegruppen, Veteranenverbände, Kulturvereine.Auch zahlreiche nichtstaatliche Sozialdienstlei-ster haben sich seit dem Ende der Sowjetunionentwickelt.

Die Zivilgesellschaft in Putins Russland

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Wer heute noch einfach auf die Straße geht,um zu demonstrieren, hat die Zeichen der Zeitnicht erkannt. Heute führen alle Kampagnen,um bestimmte Ziele zu erreichen und die poli-tische Agenda zu beeinflussen. Es sind nichtmehr die Massen von Menschen, die auf dieStraße zu bringen sind und mit deren physi-scher Präsenz politisches Gewicht erzeugtwerden kann. Selbst die größte Demonstrati-on bekommt heute nur die entsprechende Auf-merksamkeit, wenn über sie in den Medienberichtet wird. Zudem sind die Menschen de-monstrationsmüde geworden. Die Gegenver-anstaltungen zum G8-Gipfel in Heiligendammim Juni 2007 haben dies bestätigt: Es kamenweniger Demonstranten als von den Organi-satoren erhofft. Auch für die Umweltverbändeist die veränderte Lage längst klar: Umweltpo-litik muss heute ohne Massendemonstrationengemacht werden.

Das Thema Kampagnen hat deshalb einewachsende Bedeutung, weil für alle Organisa-tionen die massenmedial vermittelte Kommuni-kation in einem veränderten Umfeld wichtigergeworden ist. Mediale Wahrnehmbarkeit unddamit politisches Gewicht wird heute durchKampagnen erzeugt. Dies hat mit gesellschaft-lichen Veränderungen zu tun, die sich auf dieMedien und die Art, wie heute Öffentlichkeithergestellt wird, auswirken. Öffentlichkeit wirdzunehmend inszeniert, um Aufmerksamkeit undpolitische Macht zu erreichen. Die Inszenie-rungslogik hat auch Schattenseiten, weil sichnicht alles zur Inszenierung gleichermaßen eig-net und immer mehr investiert und Spektakulä-reres geboten werden muss, um im Aufmerk-samkeitswettbewerb die Gunst des Publikumszu gewinnen.

Rudolf Speth

Über die Inszenierung von Öffentlichkeit durch Kampagnen

Diese Entwicklung hat mit gesellschaftlichenVeränderungen zu tun. Der säkulare Trend derIndividualisierung schwächt die Bindungen derIndividuen an Organisationen. Alle großen Or-ganisationen (Gewerkschaften, Parteien, Ver-bände, Kirchen) verlieren Mitglieder und Enga-gement wird immer stärker einem Kosten-Nut-zen-Kalkül unterworfen. Boykott-Handeln imRahmen einer Kampagne erweist sich häufigals preiswerter als dauerhaftes Engagement.

Organisationen stellen sich auf diese Verän-derungen ein. Sie professionalisieren ihre Kom-munikation, indem sie mehr finanzielle Mittel indie Kommunikation stecken und Personal ein-stellen, das zum einen besser ausgebildet ist undzum anderen Wissen und Praktiken aus der Wirt-schaftskommunikation, der Werbung und der PRin die Politik trägt. Tendenziell nähern sich poli-tische Kommunikation und Konsumgütermar-keting einander an. Politisches Marketing ist hierdas Stichwort, mit dem die marktorientiertenAustauschprozesse zwischen Parteien, Politikern,Interessenverbänden, Protestgruppen und denBürgerinnen und Bürgern beschrieben werden.Politische Kommunikation wird zum Marketing(Kreyher 2004).

In diesem Zusammenhang wird das darstel-lende oder inszenatorische Element von Politikimmer bedeutsamer – und zwar für alle Akteu-re, für Regierungen wie Protestgruppen. DerAufwand für Politikdarstellung (Sarcinelli 1998)steigt und kaum ein Akteur kann es sich heutenoch leisten, hier nicht zu investieren. Die Ins-zenierung von Politik gibt es zwar schon solange wie diese selbst, doch gewinnt der insze-natorische Charakter von Politik in einer demo-kratischen Gesellschaft besondere Bedeutung.Zudem nimmt heute die Inszenierung von Poli-

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tik den Charakter von Kampagnen an. DieseTendenz ist bei allen Akteuren zu beobachtenund beinahe scheint es, dass kleine Akteure wieNGOs und Interessengruppen kampagnenfähi-ger sind als große Akteure wie Regierungenund Verbände.

Kampagnen zu führen ist nun auch nichtganz neu. Es gibt zahlreiche Akteure, die zumeistaus dem linken Spektrum kommen, das traditi-onell sehr kampagnenstark ist. Gewerkschaftenund soziale Bewegungen verstehen es seit Jahr-zehnten sehr gut, die Kampagnenform für sichzu nutzen. Ein qualitativer Sprung in der Kam-pagnenführung wurde durch Greenpeace undandere Umwelt-NGOs erreicht. Inzwischenhaben diese Gruppen viele Nachahmer gefun-den und kaum eine Interessengruppe kann essich heute noch leisten, nicht kampagnenförmigzu kommunizieren.

Zu den traditionellen sind neue Akteure hin-zu gekommen: Unternehmen und andere Ak-teure aus dem Wirtschaftsbereich (Speth 2006).Es ist eine Konvergenz in der Kampagnenfüh-rung festzustellen, in der Art und Weise, wie dieForm Kampagne professionell genutzt wird.Allerdings zeigt ein genauerer Blick, dass sichdie anderen Akteure das Wissen und die Formder Kampagnenführung von den sozialen Be-wegungen angeeignet haben und ein Austausch-und Aneignungsprozess überkreuz stattfindet:Unternehmen und Wirtschaftsakteure eignensich die Formen der sozialen Bewegungen anund diese und andere Akteure adaptieren Mar-ketingmethoden für die Politik. Diese Konver-genz zeigt aber auch, dass sich die Akteure imNon Profit-Bereich immer stärker professiona-lisieren und sich in dieser Hinsicht nicht mehrfundamental von den kommerziellen Akteurenunterscheiden.

1 Was sind Kampagnen?

Gerade weil Kampagnen von vielen Akteurengeführt werden und alle diesen Begriff benut-

zen, gibt es keine eindeutige Definition. DennKampagnen in der Werbung und Wahlkämpfe,die auch als Kampagnen begriffen werden (Alt-haus/Cecere 2003), sind doch unterschiedlichangelegt, haben unterschiedliche Zielgruppenund auch divergierende Strategien. Trotzdemhat Ulrike Röttger eine Definition für PR-Kam-pagnen vorgelegt, die auch für Kampagnen ausdem Politikbereich zu passen scheint: Kampag-nen sind „dramaturgisch angelegte, thematischbegrenzte, zeitlich befristete kommunikative Stra-tegien zur Erzeugung öffentlicher Aufmerksam-keit, die auf ein Set unterschiedlicher kommu-nikativer Instrumente und Techniken – werbli-che und marketingspezifische Mittel und klas-sische PR-Maßnahmen – zurückgreifen. Zielevon Kommunikation sind: Aufmerksamkeit er-zeugen, Vertrauen in die Glaubwürdigkeit schaf-fen und Zustimmung zu den eigenen Intentio-nen und/oder Anschlusshandeln erzeugen“(Röttger 2006: 9).

Kampagnen sind kommunikative Feldzüge,das heißt, in ihnen ist das Element des Kampfeswesentlich. Die rhetorischen Anleihen bei derMilitär- und Kriegssprache verweisen darauf,dass Kampagnen eine Strategie haben müssen.Es muss für diese Art der Kommunikation ei-nen Plan geben, in dem der Ablauf, die Mittelund die Ziele festgehalten sind. Strategie be-deutet aber auch, dass man die sich veränderndeUmwelt in die Verfolgung der eigenen Ziele miteinbezieht.

Kampagnen haben daher eine Dramaturgie:Sie haben einen Anfangspunkt, einen Höhe-punkt und einen Endpunkt, die alle durch dasNarrativ, die Story, so verbunden sind, dass sicheine Spannung ergibt. Daraus folgt, dass Kam-pagnen thematisch begrenzt sind. Wer eine Kam-pagne führen will, muss sich für ein Themaentscheiden und kann nicht gleichzeitig mehre-re Themen in den Mittelpunkt stellen. Eine Kam-pagne bedeutet die Konzentration auf ein The-ma und die Festlegung auf einen ausgewähltenZeitraum, in dem die Kampagne durchgeführt

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wird. Die zeitliche Befristung ist wesentlich,auch wenn in jüngster Zeit häufig von ‚perma-nent campaigning‘ die Rede ist.

Je professioneller eine Kampagne arbeitetund je größer die finanziellen Mittel sind, destosouveräner kann sie aus dem Methodenset aus-wählen: Werbung, Marketing, Public Relations.Allerdings müssen diese Methoden auch zureigenen Organisation passen. Greenpeace wirdkeine Kampagne mit großen Hochglanzanzei-gen in Massenmedien machen, sondern auf daseigene Markenzeichen – spektakuläre Aktionen,die es in die Nachrichtensendungen schaffen –nicht verzichten.

In allen Fällen geht es aber darum, Aufmerk-samkeit für das eigene Anliegen zu erzeugenund Vertrauen und Glaubwürdigkeit in die eige-ne Organisation herzustellen. Kampagnen wol-len Zustimmung zu den eigenen Intentionen er-zielen und Unterstützer gewinnen. Nach Rött-ger verfolgen Kampagnen eine „kommunikati-ve Doppelstrategie“ (2006: 10), indem sie eineMedienorientierung und eine direkte Publikums-orientierung gleichzeitig ausbilden. Sie sind aufdie Massenmedien und ihre Gesetze hin ausge-richtet, weil sie nur dadurch die nötige Reich-weite gewinnen können. Sie benötigen aber auchden direkten Kontakt des Publikums, weil esdarum geht, zu mobilisieren, eine Änderung desVerhaltens herbeizuführen oder einen Boykottins Leben zu rufen. Politische Kampagnen wol-len nicht nur überzeugen, sie wollen auch Hand-lungen auslösen.

2 Sozialkampagnen

In den vergangenen beiden Jahrzehnten häuftensich Kampagnen von Wirtschaftsunternehmen,die gesellschaftliche Probleme aufgreifen: Ab-holzung des Regenwaldes, AIDS, Schutz derUmwelt, Kinderarbeit etc. Ein solcher Bezugauf public goods (Umwelt, Gesundheit, Bil-dung) hat Greenpeace als Moralproduzent er-folgreich gemacht. Heute sind es moralisch ar-

gumentierende Kampagnen von Unternehmen,die für sich gesellschaftliche Verantwortung re-klamieren. Bei Sozialkampagnen werden gesell-schaftliche Anliegen in den Mittelpunkt gestellt– und dies heute nicht mehr nur bei Non Profit-Organisationen, sondern von Wirtschaftsakteu-ren, die sich dadurch moralischen Mehrwertversprechen.

Für die Adressaten einer solchen Kampagneist es vielfach nicht möglich herauszufinden,wie ernst ein solches Bekenntnis zu gesellschaft-lichen Anliegen oder öffentlichen Gütern ist.Denn eine Sozialkampagne ist nach wie vor einInstrument, um die Unternehmensziele zu errei-chen. Und viele Unternehmen spüren, dass siedurch die Politisierung der Ökonomie und desKonsums einerseits anfälliger für Boykottauf-rufe geworden sind, andererseits durch Einhal-tung moralischer Standards den Unternehmens-wert steigern können.

Die Sozialkampagnen arbeiten mit Solidari-tätsappellen, die auf die Bürgerinnen und Bür-ger der Konkurrenzgesellschaft niedergehen.Allerdings sind diese Appelle durch eine ,dün-ne Solidarität‘ – so Sigrid Baringhorst im An-schluss an Michael Walzer – gekennzeichnet.Diese Kampagnen haben heute „die radikal ge-sellschaftskritische und utopische Dimensionder Solidarität der sozialen Bewegungen der60er, 70er und frühen 80er Jahre“ (Baringhorst2006: 263) verloren. Übrig geblieben in dermoralischen Aufladung heutiger Kampagnen istein ‚dünner’ und entpolitisierter Bezug zur Hu-manität und ein inflationärer Appell, die Natur,die Tiere, die Menschenrechte zu achten.

3 Trend zurKampagnenkommunikation

Die zahlreichen Kampagnen bestätigen einenTrend, der schon länger zu beobachten ist: Eswird mehr in PR investiert und die Bedeutungder Auftragskommunikation steigt. Nicht nurUnternehmen bauen ihre PR-Abteilungen aus,

Rudolf Speth

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auch politische Organisationen rüsten auf, dennder Repräsentations- und Kommunikationsbe-darf nimmt zu. Kampagnen sind hierbei nur einespezielle Form der Öffentlichkeitsarbeit, die aberimmer häufiger genutzt wird. Im Zuge der Her-ausbildung der Mediengesellschaft professio-nalisieren sich die Kommunikationsaktivitätender Organisationen im intermediären Bereich,aber auch des Staates und der Verwaltungen(Jarren/Röttger 2005: 30). Vielfach wird dieserTrend als Professionalisierung der Politikver-mittlung aufgefasst, wobei deutlich wird, dassin diesem Feld immer mehr PR-Praktiker arbei-ten und immer mehr Agenturen Spezialwissenfür Kampagnenkommunikation anbieten (Ten-scher/Esser 2005).

Die Kampagnenkommunikation nimmt auchdeshalb zu, weil es in einer individualisiertenGesellschaft schwieriger wird, für Themen Auf-merksamkeit zu schaffen, für OrganisationenVertrauen zu erzeugen und für Programme Zu-stimmung zu erhalten. Hinzu kommt ein weite-res Antriebsmoment für eine intensivierte Kam-pagnenkommunikation. In postmodernen Ge-sellschaften mit ihren pluralen Wertesystemennimmt die Moralisierung von Kampagnenkom-munikation deshalb so stark zu, weil viel mehrin die Harmonisierung von Normsystemen vonAuftraggebern und (Teil-)Öffentlichkeiten in-vestiert werden muss. Erst wenn ein gewissesMaß an ‚Normenharmonisierung‘ erreicht wor-den ist, hat der Auftraggeber die Chance, mitseinen PR-Botschaften durchzudringen (Saxer2005:33). Viele Kampagnen unternehmen da-her große Anstrengungen, die divergierendenNormsysteme einigermaßen kompatibel zu ma-chen, weil ansonsten die Gefahr besteht, anein-ander vorbei zu kommunizieren.

In dieser Lage befinden sich immer mehrOrganisationen aus dem intermediären Bereich.Die Mitgliedschaftsbeziehungen lockern sich,es kommt verstärkt zu Austritten und großeOrganisationen erreichen ihre Mitglieder kaummehr über die organisationseigenen Kanäle und

Medien. Parteien, Gewerkschaften und Verbän-de kommunizieren heute mit ihren Mitgliedernverstärkt über die Massenmedien. Die Adres-sierung der eigenen Mitglieder gelingt aber nichtmehr über normale Öffentlichkeitsarbeit, son-dern sie nimmt Kampagnenform an.

Kampagnen dienen heute Großorganisatio-nen dazu, ihre Mitglieder zu mobilisieren. Siewerden zur „vorherrschenden Form politischerMobilisierung“ (Leggewie 2005: 108). Diesverändert auch die Organisationen, denn Kam-pagnenkommunikation erfordert eine starke stra-tegische Ausrichtung. Diese gelingt umso bes-ser, je hierarchischer die Organisation geglie-dert ist, beziehungsweise je unabhängiger dieAbteilung ist, die die Kampagnen führt. DieserTrend zeigt sich auch darin, dass die Kampag-nenführung oft in ein externes Kampagnenbüroausgelagert oder ganz nach außen delegiert wird.Die Kampagnenführung wird damit von der ei-genen Organisation, ihrer Politik und ihrenWerten tendenziell entkoppelt und ordnet sichden Erfordernissen der massenmedialen Kom-munikation unter.

Ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Aufmerk-samkeit ist ein knappes Gut und um die Auf-merksamkeit der Adressaten bemühen sich alleKampagnen. Der Trend zur Kampagnenkom-munikation ist bereits selbst die Konsequenzaus der Tatsache, dass heute eine ,normale‘ Öf-fentlichkeitsarbeit nicht mehr ausreicht, um mitden eigenen Themen durchzudringen. Weil aufdie Adressaten immer mehr Botschaften ein-wirken, werden die Erfolgsbedingungen fürKampagnen immer härter. Investitionen steigen,Themen werden immer zugespitzter formuliert,Aktionen müssen an spektakulären Gehaltenimmer wieder überboten werden. Es werdenimmer drastischere Mittel gewählt. Es gibt eineSpirale nach oben bei den investierten Mittelnund eine Spirale nach unten in den Effekten beiden Adressaten. Sich vor Unternehmenseingän-gen anzuketten, wie dies Greenpeace früher ge-macht hat, muss heute durch spektakulärere

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Aktionen wie beim G8-Gipfel in Heiligendammüberboten werden. Die Häufung von Solidari-tätsappellen durch Sozialkampagnen führt zurInflationierung und schließlich zu Gleichgül-tigkeit. Saxer spricht deshalb von einem„schrumpfenden Grenznutzen von PR-Kampa-gnen“ (2006: 32). Es gibt einen ,natürlichen‘Endpunkt der wachsenden Kampagnenkommu-nikation, wenn sich die Investitionen nicht mehrlohnen. Der Verschleiß von Themen und Auf-merksamkeit wird größer und jede neue Kam-pagne steht vor dem Problem, wie sie mit nochdrastischeren Mitteln auf ihr Anliegen aufmerk-sam machen will.

4 Auswirkungen auf die Demokratie

Kampagnen gibt es zwar schon so lange wie esPolitik gibt. Es gibt jedoch Anzeichen dafür,dass sich mit der vermehrten Kampagnenfüh-rung wenn nicht eine Transformation des Poli-tischen (Röttger 2006), so doch eine Verände-rung in unserer Auffassung und Praxis vonDemokratie ergibt. Die Professionalisierung inder politischen Kommunikation und der zuneh-mende Einsatz von PR-Akteuren bleiben nichtohne Folgen für die öffentliche Kommunikati-on.

Die vermehrten und verstärkt professionellgeführten Kampagnen haben Auswirkungen aufdie demokratische Praxis. Die Öffentlichkeitwird zum Schlachtfeld. Durch den Inszenie-rungsdruck verändern sich die Wahrnehmungs-und Handlungsweisen. Es ist zu beobachten,dass sich Kampagnenführung und strategischepolitische Kommunikation zunehmend vompolitischen Prozess entfernen und eine eigeneWirklichkeit kreieren. Herstellung und Darstel-lung von Politik driften immer weiter ausein-ander. Sarcinelli und Hoffmann vertreten daherdie ,Scherenthese‘, die besagt, dass sich diepolitischen, sachorientierten Entscheidungs- undProblembewältigungsprozesse und die Welt derpublizistischen Vermittlung und Legitimations-

beschaffung immer weiter auseinander entwi-ckeln (Sarcinelli/Hoffmann 2006: 234). Meyerkennzeichnet diese Darstellungspolitik, die sichimmer mehr von der Entscheidungspolitik ent-fernt, als ,Theatralisierung der Politik‘ (Meyer2001). Die Symbolpolitik wird wichtiger undder Inszenierungsdruck nimmt zu. Kampagnenleben von der thematischen Fokussierung undder kommunikativen Vereinfachung und tragendamit zu dieser beklagten Auseinanderentwick-lung bei.

Der These von Leggewie von der Koloni-sierung der politischen Sphäre durch kommer-zielle Agenturen (Leggewie 2006: 112) ist all-gemein zuzustimmen. Allerdings hatten die Par-teien nie ein Monopol auf die politische Mei-nungsbildung. Sie haben in den letzten Jahr-zehnten ihre Kompetenz im Agenda-Settingimmer mehr an soziale Bewegungen, Non Pro-fit-Akteure, Think Tanks, die Medien und Kam-pagnenagenturen verloren.

Im Gefolge dieser Entwicklung ist nicht voneiner Kolonisierung, sondern von einer Entdif-ferenzierung und Vermischung zu sprechen.Kampagnen befördern diese Entdifferenzierung,indem sie komplexe Sachverhalte auf plakativeBotschaften zuspitzen, politische Konfliktemoralisieren und Sachverhalte, die eine diffe-renzierende Argumentation erfordern, im Zwei-felsfall links liegen lassen.

Durch den verstärkten Trend zu PR undKampagnen vermischen sich vor allem die Sphä-ren von Politik und Wirtschaft. Elemente undFormen der Kampagnenkommunikation wan-dern von der Wirtschaftskommunikation in diePolitik ein. Politik-Marketing lautet der neueBegriff für diese Instrumente, denen sich auchdie Non Profit-Organisationen nicht verschlie-ßen. Diese übernehmen die Verhaltensweisenvon Profit-Akteuren. Der Markt gibt die Impe-rative vor und politisches Marketing bedeutetdaher nichts anders, als sich an den Erwartun-gen der Medien und des Publikums auszurich-ten.

Rudolf Speth

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Kontrovers werden die Auswirkungen vonKampagnen auf die politische Partizipation be-urteilt. Kampagnen sind heute ein wichtigesMittel der Mobilisierung von Mitgliedern undUnterstützern und werden auch von sozialenBewegungen und anderen Protestakteuren ge-nutzt. Greven sieht aber eine Gefahr für diepolitische Partizipation, weil mit „einer immerdominanter werdenden Kampagnenpolitik (…)langfristig der gesellschaftliche Humus bür-gerlicher politischer Partizipation ausgetrock-net und die vielfältigen Formen des politischenund sozialen Engagements auch in diesen Be-reichen durch professionelles und kommerzi-ell vermarktetes Handeln“ (Greven 1995: 54)ersetzt werden.

Gegen diese Niedergangs- und Verdrän-gungsthese ist einzuwenden, dass es nicht dieKampagnenkommunikation ist, die den Nieder-gang der politischen Partizipation – der als sol-cher gar nicht zu beobachten ist – bewirkt. Dievermehrte Kampagnenkommunikation ist viel-mehr die Folge von strukturellen gesellschaftli-chen und medialen Veränderungen. Dadurchverändern sich das Bindungs- und das Engage-mentverhalten. Es gibt nicht weniger Engage-ment, nur eine Verlagerung weg von den traditi-onellen Großorganisationen. Es ist vielmehr zubeobachten, wie politische Akteure aus dem in-termediären Bereich an Bedeutung gewinnen,weil sie die neuen Formen der Kampagnenkom-munikation besser nutzen als andere.

Allerdings sind auch hier Differenzerfahrun-gen festzustellen. Die Realität, die die Medienentwerfen, entfernt sich immer mehr von derpolitischen Alltagserfahrung der Bürgerinnenund Bürger. Dies ist nach Saxer ein Grunddafür, dass die „kommunikative Gestaltungs-macht von Öffentlichkeitsarbeit bzw. PR-Kam-pagnen und ihr Einfluss auf die politische Mei-nungsbildung zunehmen“ (Saxer 2006: 47).Denn jedes politische System muss vermehrtÖffentlichkeitsarbeit betreiben und Legitimati-on beschaffen und kann dabei aber nicht ein-

fach aus den etablierten Kommunikationsmus-tern herausspringen.

Eine Veränderung oder Transformation desPolitischen zeigt sich da, wo sich die Sphärenvon Wirtschaft und Politik vermischen undKampagnen aus beiden Sphären die gleichenMittel nutzen. Wir können eine Konvergenzvon NGO- und Unternehmenskampagnen(Public Interest sowie private und public inte-rest-groups) beobachten. Markt und Moral glei-chen sich an.

Kampagnen sind für Parteien eigentlich einaltbekanntes Thema, denn jeder Wahlkampfwird als eine Kampagne geführt (Althaus 2002;Althaus/Cecere 2003). Die amerikanischenPräsidentschaftswahlkämpfe scheinen nichtnur Maßstäbe für den finanziellen Aufwand zusetzen. Sie setzen auch Benchmarks für dieKampagnenführung kontinentaler Parteien undwerden entsprechend intensiv beobachtet.

Parteien sind aber außerhalb des Wahlkamp-fes wenig kampagnenfähig. Das liegt daran,dass sie die Hauptakteure sind, die den politi-schen Problemlösungs- und Entscheidungs-prozess betreiben. In diesen sind – je nach po-litischem System – mehr oder weniger vieleAkteure miteinbezogen. Die daraus resultie-rende Kompromiss- und Verhandlungskulturist denkbar ungeeignet für Kampagnen, da die-se meist straff geführt und außerhalb der hier-archischen politischen Apparate organisiertwerden.

Zudem ist zu bezweifeln, ob Parteien alleihre Probleme und ihre Aufgaben durch ver-stärktes Campaigning lösen können. DennParteien sind nicht nur für die Artikulationzuständig, sie haben daneben auch noch an-dere Funktionen – Aggregation, Formulierungvon politischen Programmen, Personalaus-wahl, Rekrutierung. Kampagnen sind eherMittel der Problemartikulation und können amBeginn eines politischen Prozesses stehen,für die sachorientierte Arbeit sind sie nichttauglich.

Über die Inszenierung von Öffentlichkeit durch Kampagnen

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5 Grassroots-Campaigning

Kampagnen stehen heute vor einem weiterenProblem. Sie nähern sich nicht nur ihrem Grenz-nutzen an, sie sind auch in der Regel zu sta-tisch angelegt, um damit etwas zu bewirken.Viele Kampagnen sind heute als reine Medien-kampagnen konzipiert. Ziel ist die Präsenz inden Medien, um ein Thema zu platzieren oderdie Adressaten zu einem bestimmten Verhaltenzu bringen, zu spenden oder Zustimmung aufdie eine oder andere Weise zum Ausdruck zubringen. In der Regel haben solche Kampag-nen ein mögliches Anschlusshandeln, nach-dem Aufmerksamkeit bei den Adressaten er-zeugt wurde, nicht ernsthaft im Blick. Nachdem herkömmlichen Kampagnenmuster gehtes um Kommunikation in eine Richtung, vonder Kampagnenorganisation an das Publikum,aber nicht in die Gegenrichtung. Eine ernst-hafte, in beide Richtungen laufende Kommu-nikation wird häufig nicht gewünscht. Ganzselten haben Kampagnen Rückkanäle einge-baut, mit denen die Stimmen der Unterstützergesammelt werden und mit ihnen dann in ei-nen Dialog getreten wird.

Viele Kampagnen kommen ohne Rückka-nal aus: Die Initiative Neue Soziale Marktwirt-schaft (INSM) hat erst später unter dem Druckder Kritik einen Förderverein aufgebaut, deroffensichtlich eine Feigenblattfunktion erfüllt.Auch die Kampagnen ,Du bist Deutschland‘,,Deine Stimme gegen Armut‘ und ,Land derIdeen‘ haben aktive Unterstützer, die mit denKampagnenmachern in einen Dialog tretenwollen, nicht eingeplant (Speth 2006). Es gibtlediglich kleine Bereiche, in denen die Unter-stützer ihre Bilder auf die Kampagnenwebsitehochladen, ihre Unterschriften leisten oder sichWerbematerial zur Weiterverbreitung der Kam-pagne verschaffen können. Vom Adressatenwird nur erwartet, dass er in eine bestimmtenRichtung handelt: eine bestimmte Partei wählt,Geldzahlungen leistet, Empörung in Richtung

Politik äußert und gewünschte Konsument-scheidungen trifft.

Grassroots-Campaigning ist der neue Be-griff für eine Kampagnenform, mit der das Pro-blem des Anschlusshandelns gelöst werden soll.Ziel von Grassroots ist es, die Mitglieder undUnterstützer zu aktivieren und mit ihnen in ei-nen Dialog zu treten. Nicht zuletzt ist hier dasaus der Wirtschaft bekannte Dialog-MarketingVorbild, das auf den öffentlichen Bereich über-tragen werden soll.

Grassroots Campaigning ist eine, wenn nichtdie anspruchsvollste Form des Campaignings,bei der es darum geht, Mitglieder und Unter-stützer zu aktivieren und zu mobilisieren. EineUnterstützerbewegung wird aufgebaut, indemdie Mobilisierten ihren Namen und ihr Gesicht– und damit ihre Stimme – der Organisation zurVerfügung stellen und für ihre Ziele aktiv wer-den; eine Bürgerinitiative, ein Förderverein, eineBürgerlobby wird gegründet. Mit den Grass-roots-Elementen entsteht ein direkter und aufdas Thema bezogener Kontakt zwischen Kam-pagnen-Organisation und Bürgerinnen undBürgern.

Grassroots-Campaigning rechnet mit akti-ven Adressaten, die sich für die Kampagnenzie-le einsetzen und sie weitertragen. Allerdings be-deutet Grassroots auch, dass mit aktiviertenUnterstützern kommuniziert werden muss. Die-se können nicht einfach zu Instrumenten degra-diert werden, sie stellen Ansprüche und erwar-ten Antworten.

Soziale Bewegungen kennen die Aktivierungder Basis seit langem als bewährtes Instrument.Doch sind die neuen Grassrootsformen nichtunumstritten, denn Grassroots kann auch alsLobbyinstrument eingesetzt werden. Viel be-deutsamer ist allerdings, dass Grassroots heute– angeleitet durch amerikanische Wahlkämpfe –mit Micro-Targeting betrieben wird. Dabei wer-den zahlreiche Daten von Bürgerinnen und Bür-gern gesammelt, um sie möglichst individuellansprechen und um Unterstützung bitten zu

Rudolf Speth

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können. Micro-Targeting ist ein technologischesInstrument, das heute bereits vielfach verwen-det wird, weil Bürgerinnen und Bürger überallihre Datenspuren hinterlassen.

Rudolf Speth ist Privatdozent am Fachbe-reich Politik- und Sozialwissenschaften der FUBerlin und publizistisch tätig. E-mail:[email protected]

Literatur

Althaus, Marco (Hg.) 2002: Kampagne!Neue Strategien für Wahlkampf, PR und Lob-bying, Münster.

Althaus, Marco/Cecere, Vito (Hg.) 2003:Kampagne! 2. Neue Strategien für Wahlkampf,PR und Lobbying, Münster.

Baringhorst, Sigrid 2006: Sweet Charity.Zum moralischen Ethos zeitgenössischer Sozi-alkampagnen. In: Röttger, Ulrike (Hg.), PR-Kampagnen. Über die Inszenierung der Öffent-lichkeit, 3. überarb. und erw. Aufl., Wiesbaden,247-266.

Donges Patrick 2006: Politische Kampag-nen. In: Röttger, Ulrike (Hg.), PR-Kampagnen.Über die Inszenierung der Öffentlichkeit, 3.überarb. und erw. Aufl., Wiesbaden, 123-138.

Greven, Michael T. 1995: Kampagnenpoli-tik. In: Vorgänge 34, H. 4, 40-54.

Jarren Otfried/Röttger, Ulrike 2005: PublicRelations aus kommunikationswissenschaftli-cher Sicht. In: Bentele, Günter/Fröhlich, Romy/Szyska, Peter (Hg.), Handbuch der Public Re-lations. Wissenschaftliche Grundlagen und be-rufliches Handeln, Wiesbaden, 19-36.

Kreyher, Volker J. 2004: Politisches Marke-ting als Konzept für eine aktive Politik. In: Krey-her, Volker J. (Hg.), Handbuch Politisches Mar-keting. Impulse und Strategien für Politik, Wirt-schaft und Gesellschaft, Baden-Baden, 13-31.

Leggewie, Claus 2006: Kampagnenpolitik.Eine nicht ganz neue Form der Mobilisierung.In: Röttger, Ulrike (Hg.), PR-Kampagnen. Überdie Inszenierung der Öffentlichkeit, 3. überarb.und erw. Aufl., Wiesbaden, 105-122.

Meyer, Thomas 2001: Inszenierte Politik undpolitische Rationalität. In: Korte, Karl-Rudolf/Weidenfeld, Werner (Hg.), Deutschland-TrendBuch. Fakten und Orientierungen, Bonn, 547-570.

Röttger, Ulrike 2006: Campaigns (f)or a bet-ter world? In: Röttger, Ulrike (Hg.), PR-Kam-pagnen. Über die Inszenierung der Öffentlich-keit, 3. überarb. und erw. Aufl., Wiesbaden, 9-24.

Sarcinelli, Ulrich/Hoffmann, Jochen 2006:Öffentlichkeitsarbeit zwischen Ideal und Ideo-logie. Wie viel Moral verträgt PR und wie vielPR verträgt Moral? In: Röttger, Ulrike (Hg.),PR-Kampagnen. Über die Inszenierung derÖffentlichkeit, 3. überarb. und erw. Aufl., Wies-baden, 231-245.

Sarcinelli, Ulrich (Hg.) 1998: Politikvermitt-lung und Demokratie in der Mediengesellschaft,Bonn.

Saxer, Ulrich 2006: PR-Kampagnen, Medi-enöffentlichkeit und politischer Entscheidungs-prozess. Eine Fallstudie zur schweizerischenAbstimmung über den EWR. In: Röttger, Ulri-ke (Hg.), PR-Kampagnen. Über die Inszenie-rung der Öffentlichkeit, 3. überarb. und erw.Aufl., Wiesbaden, 27-49.

Speth, Rudolf 2006: Die zweite Welle derWirtschaftskampagnen. Von „Du bist Deutsch-land“ bis zur „Stiftung Marktwirtschaft“, Düs-seldorf.

Tenscher, Jens/Esser, Frank 2005: Berufs-feld Politik. In: Bentele, Günter/Fröhlich, Romy/Szyska, Peter (Hg.), Handbuch der Public Re-lations. Wissenschaftliche Grundlagen und be-rufliches Handeln, Wiesbaden, 455-464.

Über die Inszenierung von Öffentlichkeit durch Kampagnen

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Kampagnen wurden bereits vor tausenden Jah-ren durchgeführt. So sind bereits aus dem altenRom und Griechenland immer wieder gezielteBemühungen zur Sklavenbefreiung überliefert.Zur Zeit der industriellen Revolution in Europasind Kampagnen zum Frauenwahlrecht oder zurAbschaffung der Kinderarbeit dokumentiert.Heute werden Kampagnen in den verschiedens-ten Bereichen durchgeführt:• Gesundheitswesen (z.B. Antistigma-Kampa-

gnen im Bereich der Psychiatrie, Kampag-nen gegen das Rauchen, Impfkampagnen)

• Umweltbereich (Klimawandel, Regenwald,Tierschutz)

• Wirtschaft (z.B. Produktkampagnen, Quali-fizierungskampagnen)

• Politik (z.B. Wahlkampf-Kampagnen, Bil-dungsreformen)

• Entwicklungszusammenarbeit• MenschenrechteKampagnen im NGO-Bereich (NGO = Non-governmental Organisation) unterscheiden sichin einigen wesentlichen Aspekten von Kampag-nen in anderen Sektoren. So haben politischeParteien von der Organisationsstruktur (z.B.Strukturen auf regionaler, Landes und Bundese-bene) und vom Gesellschaftskontext her andereVoraussetzungen als NGOs. Wirtschaftsunter-nehmen haben milliardenschwere Kampagnen-budgets und damit einen breiteren finanziellenSpielraum bei der Durchsetzung ihrer Interes-sen. Auch in der Zielsetzung unterscheiden sichKampagnen im NGO-Bereich von solchen inanderen Sektoren. So zielen Kampagnen vonGroßkonzernen meist auf eine Gewinnmaximie-rung ab, Kampagnen im NGO-Bereich bemü-hen sich um gesellschaftliche Veränderungen.Durch den effizienten Einsatz der zur Verfügungstehenden Mittel gelingt es NGOs immer wieder,

Fabian Friedrich/Michael Buchner/Dino Kunkel

Strategisches Kampagnenmanagement von NGOs

auch nachhaltige Veränderungsprozesse herbei-zuführen – auch gegen den Widerstand mächti-ger Interessensverbände. Gegenstand dieses Bei-trags ist es, anhand von konkreten praktischenBeispielen aus erfolgreichen internationalen Kam-pagnen, einen Überblick über spezifische Cha-rakteristika von Kampagnen und Kampagnen-Tools im NGO-Bereich zu geben.

1 Begriffsdefinitionen1.1 NGO

Der Begriff NGO steht für Non-governmental-Organisation und bezeichnet Organisationen,die formal strukturiert sind, organisatorisch vomStaat unabhängig und nicht gewinnorientiertarbeiten. Das heißt, NGOs sind weder demMarkt noch dem Staat zuzuordnen. Oft wirdauch der Begriff NPO (=Non-profit-Organisa-tion) verwendet, wobei Badelt (2002), Rektorder Wiener Wirtschaftsuniversität, die beidenBegriffe weitgehend deckungsgleich sieht. Indiesem Sinne werden auch die Begriffe in die-ser Arbeit verwendet.

1.2 Was ist eine Kampagne

Der erfolgreiche Kampf von Greenpeace gegendie Versenkung der Ölbohrinsel Brent Spar inder Nordsee oder der weltweite Kampf vonamnesty international gegen die Todesstrafe ha-ben eines gemeinsam: Eine langfristige Kon-zeption und sorgfältig ausgearbeitete Kampag-nenpläne, um letztendlich klar definierte Zielezu erreichen. Grundlage für diese Arbeit sindalso Kampagnenkonzepte, die eine exakte Dra-maturgie-, Struktur- und Ressourcenplanunginkludieren, um schnell und effizient ans Zielzu gelangen.

Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

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Philip Kotler definiert eine Kampagne als„von einer Gruppe (Mittler des Wandels) be-triebenes systematisches Bemühen mit dem Ziel,andere (die Zielgruppe) zur Annahme, Ände-rung oder Aufgabe bestimmter Vorstellungen,Einstellungen, Gewohnheiten und Verhaltens-weisen zu bewegen“ (1991: 18). Speziell fürden NGO-Bereich führten Buchner et al. (2005:41) den Begriff der „Zielkampagne“ ein unddefinieren diese als ein systematisches und effi-zient geführtes kommunikatives Bemühen umeinen Veränderungsprozess, dessen Richtungund Entwicklung durch ein klar definiertes Zielvorgegeben wird. Im Folgenden wird der Be-griff der Zielkampagne für Kampagnen imNGO-Bereich verwendet.

2 Struktur von Zielkampagnen

Erfolgreiche Kampagnen von NGOs, sowohlauf nationaler als auch auf internationaler Ebe-ne, weisen einige wesentliche Gemeinsamkei-ten auf, die im Folgenden beleuchtet werdensollen (siehe Abbildung 1). Es sei an dieserStelle angemerkt, dass nur ausgewählte Kam-pagnenbausteine dargestellt werden, da einevollständige Analyse den Umfang dieses Bei-trags sprengen würde. Diesbezüglich weiter-führende Literatur ist im Quellenverzeichnisangeführt.

2.1Themenfindung

Meist beginnt eine Kampagne mit einer Idee,doch eine gute Idee ist noch lange keine guteKampagne. Einige Punkte sollten bei der Aus-wahl von Kampagnenthemen berücksichtigtwerden.

So sollte eine Kampagne sowohl thematischals auch in Bezug auf das Kampagnenziel imEinklang mit dem Leitbild, der Mission und derVision der Organisation stehen. Die Wichtig-keit eines Leitbildes für eine NGO unterstreichtBadelt: „Das Leitbild/Mission ist das alles be-einflussende Oberziel, dem sich das restlicheZielsystem unterzuordnen hat. Eine NGO, diekeine ausgeprägte Mission/Leitbild formulierthat, weiß auf lange Sicht nicht, in welche Rich-tung sie sich bewegen und welchen Zweck sieeigentlich erfüllen soll. Alle Aktivitäten einerNGO müssen auf diese Mission ausgerichtetsein. Eine NGO, die sich nicht aktiv mit derEntwicklung einer Mission auseinandersetzt, hatin vielen Fällen Probleme mit der Fokussierungauf den eigentlichen Sinn und Zweck“ (2002:198).

Für den Erfolg einer NGO-Kampagne istdas Überprüfen des Kampagnenthemas aufMarketingrelevanz, Medienrelevanz, gesell-schaftliche, politische bzw. wirtschaftliche Zie-le und Erreichbarkeit der Kampagnenziele

Abbildung 1: Bausteine einer Zielkampagne

Strategisches Kampagnenmanagement von NGOs

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beinahe unumgänglich. Die beste Kampagnekann jedoch auch am falschen Timing schei-tern. Herauszufinden, wann ein Kampagnen-thema ‚reif‘ für die ausgewählte Zielgruppe ist,bedarf gründlicher Analysen.

2.2 Recherche

Die Recherche bildet eines der Kernelementeeiner Zielkampagne und kann definiert werdenals breit angelegte Informationsbeschaffung, diezur Durchführung einer Kampagne notwendigist. Dies beinhaltet zum Beispiel die Analyseund Auswertung von Literatur, Datenbankenund Statistiken, das Erstellen von Bild- und Vi-deomaterial bis hin zu ausführlichen persönli-chen Gesprächen mit Zeugen und Involvierten.

Die investigative Aufarbeitung eines The-mas bedarf eines großen Erfahrungspotentials.Zum Teil sind Spezialrecherchen notwendig unddie gewonnenen Daten müssen belegbar, aktu-ell, und wenn möglich exklusiv sein. Viele NGOshaben eigene Rechercheabteilungen aufgebaut,um an unabhängige Information zu gelangen.

Die Recherche ist nicht nur wichtig für denErfolg einer Kampagne, sondern untermauertauch die Seriosität einer Organisation. Sorgfäl-tig aufgearbeitete Themen sind ein wichtigerBestandteil für den langfristigen Erfolg imNGO-Sektor. Sie betonen die Glaubwürdig-keit und sichern so auch die Grundlagen fürFundraising, Public Relations und Lobbying,aber auch für Öffentlichkeitsarbeit. Das Ver-trauen in NGOs ist in der Bevölkerung sehrhoch. Im Umweltbereich liegen die Umwelt-NGOs laut Eurobarometer sogar vor der Wis-senschaft und den Medien (Eurobarometer:2005: 20). Interessantes Beispiel für gründli-che Recherchen ist die Organisation amnestyinternational. Etwa 400 Rechercheure arbeitenim Londoner Büro, geschult mit Spezialtrai-nings für die weltweite Recherchearbeit. Fürdie Recherche gelten klare Regeln: Die Re-chercheure dürfen nicht aus dem Land kom-

men, in dem sie recherchieren; sie dürfen nichtmit diesem Land verfeindet sein und zumSchutz der Researcher werden keine Fotos vonihnen veröffentlicht.

Ein weiteres wichtiges Gebiet der Recher-che ist die Umfeldanalyse. Ziel einer Umfeld-analyse ist das Erkennen und Erfassen allerRahmenbedingungen und Faktoren des Pro-blembereiches. Darunter fallen auch die Erfas-sung aller involvierten Interessensgruppen unddie Bewertung ihrer Interessen und möglichenStrategien im Rahmen des künftigen Kampag-nengeschehens. Die Umfeldanalyse kann als Teilder Recherchearbeit angesehen werden, bedarfjedoch in der Folge einer separaten Ausarbei-tung und bildet auf diese Weise eine weitereGrundlage der Kampagnenzieldefinition undStrategieentwicklung.

2.3 Zieldefinition

Die Entwicklung von Zielen ist essentiell beider strategischen Kampagnendurchführung.Ziele geben Leitgedanken auf der strategischenEbene vor und definieren, welche Arbeits-schwerpunkte eine NGO in Zukunft verfolgensoll. Auf der operativen Ebene sind Ziele dieVoraussetzung, um den Erfolg einer Leistungfeststellen zu können. Planungs-, Kontroll- undEntscheidungsprozesse können in einer NGOnur mit einem klar definierten Ziel durchgeführtwerden. Bei fehlender Zielformulierung ist einsinnvolles Steuern einer Zielkampagne, aberauch der gesamten Organisation, nicht mehrmöglich.

Bei der Definition von Kampagnenzielenmüssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein.Sie müssen in einer Weise formuliert sein, dieeine Überprüfbarkeit und Messbarkeit ermögli-chen. Sie müssen zeitlich begrenzt sein, und esist auf eine Ausgeglichenheit zwischen wirt-schaftlichen und fachlichen Zielinhalten zu ach-ten. Auch muss das Ziel im Einklang mit derMission und dem Leitbild der NGO stehen. Es

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ist notwendig, das Ziel einer Kampagne inner-halb der Organisation transparent zu machen.Fatal sind Prozesse, in denen diverse Organisa-tionseinheiten unterschiedliche Ziele verfolgen,oder die Geschäftsführung eine andere Zielvor-stellung hat als der Rest der Organisation.

Das Definieren von Zwischenzielen imKampagnenprozess erlaubt eine fortlaufendeEvaluationsmöglichkeit des Kampagnengesche-hens. Dies ist ein wichtiger Punkt, um heraus-zufinden, ob die Kampagne die gewünschtenEffekte erzielt. Das Kampagnenziel muss aberin die Öffentlichkeit kommuniziert werden kön-nen, und sollte damit auch im Sinne der Unter-stützer emotionalisierbar sein.

Die Zielformulierung hat aber auch mit Hin-dernissen zu rechnen. Jede NGO-Kampagnebenötigt eine Vision, diese darf jedoch nicht miteinem Kampagnenziel verwechselt werden. Ver-schiedene Kampagnen können die gleiche Visi-on teilen, meist verankert im Leitbild der Orga-nisation. Jede Kampagne sollte jedoch ihre spe-zifische überprüfbare Zielformulierung besitzen.Auch sollten im Rahmen von Kampagnen Ziel-definitionen vermieden werden, die außerhalbdes eigenen Einflussbereiches liegen oder schonim Vorhinein als unerreichbar eingestuft wer-den können.

Mit der Definition eines Kampagnenzielesist ein wichtiger Schritt im Rahmen des Kampa-gnenmanagements gemacht. Ein Kampagnen-ziel ist unveränderbar. Eine neue Zielformulie-rung bedingt neue Konzeption oder eine Nach-besserung bei den Faktoren Zeit und Kosten.Alle nachfolgenden Schritte im Kampagnenpro-zess sind der Zielerreichung unterzuordnen. Allevorhandenen Ressourcen sind auf die Zielerrei-chung zu fokussieren.

Paradebeispiel für eine gelungene Zielkam-pagne ist die ‚Burma-Kampagne‘ der weltweitorganisierten Clean Clothes Campaign (CCC).Die CCC setzt sich global für bessere Arbeits-bedingungen in der Textilindustrie ein undthematisiert die gravierenden Missstände der

Sport- und Bekleidungsfabrikation. Arbeitswo-chen von über 80 Stunden, Entlassungen auf-grund von Gewerkschaftsangehörigkeit undgefährliche Arbeitsbedingungen sind vielerortsgang und gäbe. Dass von 100 Euro, die füreinen Sportschuh bezahlt werden, nur 40 Centals Lohn für die Arbeiter ausbezahlt werden, istvielerorts noch nicht bekannt. Im Januar 2001forderte CCC gemeinsam mit der burmesischenOpposition den Rückzug des UnternehmensTriumph aus Burma, das trotz wirtschaftlicherSanktionen der EU und der dort herrschendenZwangsarbeit eine Niederlassung auf einemMilitärgelände unterhielt. Berichte dokumentier-ten unmenschliche Arbeitsbedingungen undTageslöhne von 1,10 Euro. Nach nur einem JahrKampagnenarbeit beugte sich das Unternehmendem weltweiten Druck und beschloss, sich ausBurma zurückzuziehen. In einer Pressemittei-lung hieß es: „die Entscheidung erfolgt aufgrundder öffentlichen Debatte in Europa über die po-litische Situation in Burma. Diese Debatte, diezunehmend emotional geworden ist, führte zuUnsicherheiten in der geschäftlichen Planung,die für Triumph nicht mehr akzeptabel sind“(www.cleanclothes.org).

2.4 Strategie

Althaus definiert treffend: „Wer mit bescheide-nen Mitteln die richtigen Dinge tut, erreicht mehrals der, der mit aller Kraft an falschen Aufgabenarbeitet. Die Kunst, diese Einsicht in die Tatumzusetzen, nennt man Strategie“ (Althaus2002: 12). Schlechte NGO-Kampagnen sindhäufig durch das Fehlen einer Strategie gekenn-zeichnet. Aktionen und Maßnahmen werdenmehr oder weniger planlos gesetzt, und der Er-folg dieser Maßnahmen ist vor allem von äuße-ren Faktoren abhängig. Es treten oft unvorher-gesehene Ereignisse ein, die sehr häufig dasEnde der Kampagne bedeuten. Nicht nur, dassder gewünschte Erfolg ausbleibt, es werden auchfinanzielle Ressourcen vergeudet, und durch den

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Misserfolg leidet auch die Motivation aller In-volvierten.

Strategien sind nicht nur gute Ideen, siemüssen exakt formuliert, mess- und kontrol-lierbar sein. Der Begriff des strategischen Kam-pagnenmanagements umfasst also alle Aufga-ben, die sich mit der Erstellung und Durchfüh-rung von Strategien ergeben.

Zur Formulierung einer NGO-Kampagnen-strategie ist eine detaillierte Situationsanalyse,eine genaue Budgetplanung, eine exakte Ziel-formulierung, eine Umfeldanalyse sowie dasAnalysieren der eigenen Stärken und Schwä-chen im Kampagnengeschehen und andererBeteiligter notwendig. Je genauer diese Analy-sen sind, umso leichter gelingt die Strategiepla-nung. Es gilt, präzise Kampagnenszenarien zuentwickeln, diese immer auf das Kampagnen-ziel abzustimmen und sich eine aktive Positionim Kampagnengeschehen zu sichern. Strategiehat auch oft mit Tempovorgabe zu tun, im Ideal-fall geben NGOs das Thema und die Agendavor.

Die zuvor genannte Clean Clothes Cam-paign setzte in ihrer Kampagne gegen die FirmaTriumph in Burma voll auf den Faktor Imageund Ansehen, welches das Unternehmen in derbreiten Öffentlichkeit genoss, und versuchte,dieses zu beschädigen. Das leitende Kampag-nenteam in der Schweiz schaltete als Kampag-nenauftakt eine ganzseitige Anzeige in einemrenommierten Wirtschaftsblatt, in der die er-schreckenden Praktiken des Unternehmens anden Pranger gestellt wurden. Diese äußerst un-gewöhnliche Maßnahme brachte sehr schnelleine breite Diskussion und damit den erstengewünschten Effekt.

Unternehmen, die wegen ihrer Praktiken oftvon NGOs kritisiert werden, haben reagiert undneue Strategien entwickelt. Seitens der transna-tionalen Konzerne wird versucht, sich einer neu-en Sprache zu bedienen und so ein neues Imagein der Öffentlichkeit zu entwickeln. Als Bei-spiel sei hier Gentechnik in der Lebensmittelin-

dustrie genannt, die von der Öffentlichkeit hef-tig abgelehnt wurde. Mit Hilfe der PR-AgenturBurson-Marsteller wurde eine detaillierte Stra-tegie ausgearbeitet, die sich über einige Jahreerstreckte. Als einer der ersten Schritte wurdedas Label ‚Europa Bio‘ kreiert, hinter dem Che-miekonzerne wie Bayer, Hoechst, Monsantooder Nestlé.

2.5 Targeting

Nach der Definition eines Ziels für die Kampa-gne kristallisiert sich jene Gruppe von Akteu-ren heraus, mit denen zur Erreichung des Zielsspeziell kommuniziert werden muss. Wichtigan dieser Stelle ist, dass die Zielgruppe einerKampagne nicht identisch ist mit der Zielgrup-pe der Organisation, also den Förderern undUnterstützern.

Für die Zielkampagne sind zwei Zielgrup-pen relevant: die Sympathisanten und die Un-entschlossenen. Es sollten keine finanziellenMittel für sogenannte ,Unüberzeugbare‘ aufge-wendet werden. Gerade NGOs haben limitierteBudgets und daher ist eine genaue Kenntnis derZielgruppe ein essentieller Schritt in der Konzi-pierung einer Kampagne. Das sogenannte Tar-geting ermöglicht eine zielgerichtete Ausrich-tung der Kampagnenkommunikation. Auch dieWahl von Multiplikatoren, also der Personen-gruppen, die das gewählte Kampagnenthemaselbst in einer gewünschten Öffentlichkeit ver-breiten, ist bei der Kampagnenplanung zu be-rücksichtigen.

2.6 Lobbying

Quellen geben an, dass in Brüssel etwa 15.000Lobbyisten arbeiten, 2600 Interessensgruppenein Büro in der belgischen Hauptstadt unterhal-ten und etwa 60 bis 90 Millionen Euro jährlichin Lobbying-Aktivitäten investiert werden. ImVergleich dazu liegt in den USA der Umsatzvon professionellen Interessensvertretungen bei

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ca. 1,5 Milliarden Dollar alleine in der Haupt-stadt Washington D.C. Bekannte Interessens-vertretungen sind CEFIC, ein weltweit arbei-tendes Lobbying-Netzwerk der Chemieindus-trie mit etwa 20 nationalen Chemieverbändenund etwa 40 Chemiekonzernen; das COPA-COGECA, ein Lobbying-Netzwerk der Agrar-industrie mit etwa 70 nationalen Mitgliedsorga-nisationen aus 25 EU-Ländern, 11 Millionenlandwirtschaftlichen Betrieben und 30.000 Ge-nossenschaften. All jene Netzwerke versuchenihre Interessen im Bereich der Politik durchzu-setzen. Die gewaltigen Finanzsummen, die Ab-satzmärkte und die dahinter stehenden Arbeits-plätze verleihen den Konzernen und Interessens-vertretern eine Machtstellung und sind somiteine Herausforderung für das Lobbying vonNGOs.

Über NGO-Lobbying gibt es vergleichsweisewenig Literatur, doch bildet es einen wichtigenBaustein in der Entwicklung einer Zielkampag-ne. Es bedarf einer vorausschauenden Planungauf nationaler wie auch auf internationaler Ebe-ne, seriöser Unterlagen und Fakten, guter Kon-takte in verschiedene gesellschaftspolitisch re-levante Bereiche, professioneller Mitarbeiter undvor allem der Unterstützung und des Drucksder Öffentlichkeit.

Viele NGOs betrachten Lobbying als einzweischneidiges Schwert. Denn diese Tätigkeitlässt sich in der Öffentlichkeit schlecht verkau-fen und kann auch unter bestimmten Umstän-den im konfrontativen Vorgehen hinderlich sein.Oft fehlen finanzielle Ressourcen für langfristi-ges NGO-Lobbying, es kollidieren inhaltlicheZielsetzungen mit finanziellen Fragen. Aus die-ser Situation heraus gilt es einen Weg zu finden,der effizientes Arbeiten weiterhin ermöglicht.Ein möglicher Ansatz liegt im Zusammenschlusszu politisch aktiven Netzwerken (z.B. Friendsof the Earth Europe, Climate Network Europe),um gemeinsame Forderungen zu formulierenund die Chancen ihrer Durchsetzung zu erhö-hen. Weltweit operierende NGOs haben bereits

eigene Lobbyingbüros etabliert (z.B. Greenpeaceund amnesty international), um ihre Arbeit auchpolitisch effizient durchführen zu können.

3 Zusammenfassung und Ausblick

Zielkampagnen haben besondere Anforderun-gen, wenn sie erfolgreich durchgeführt werdensollen. Es gilt, eine exakte Zielbestimmung zuformulieren, eine spezifische Dramaturgie imKampagnenablauf zu konzipieren, eine strate-gische Verzahnung von politischem Lobbyingund Öffentlichkeitsarbeit herbeizuführen undeine Nutzung aller Kommunikationsinstrumen-te zu gewährleisten. Vor allem aber kommt esauf den unbedingten Willen zur Veränderungseitens der federführenden NGO an.

Kampagnenarbeit bedarf eines professionel-len Zuganges, bestehend aus einer interdiszipli-nären Vernetzung involvierter Berufsgruppen,die es ermöglicht, effizient an der Zielerreichungzu arbeiten. Neben der Presse- und Öffentlich-keitsarbeit müssen Lobbying, Recherche undstrategische Überlegungen immer wieder her-angezogen werden, um das Kampagnenziel auchzu erreichen.

Heinz Patzelt, Generalsekretär von amnestyinternational Österreich, sagt über die Zukunftdes NGO-Campaignings: „Was kann langwei-liger und mehr Ressourcenverschwendung sein,als eine ganze Stadt oder ein Land mit Plakatenzuzukleistern, wenn für NGOs zumindest zweiwesentlich wirksamere Faktoren zur Verfügungstehen: Das unbestreitbar ‚richtige‘ Anliegenund Menschen, die bereit sind, sich dafür ein-zusetzen. In NGO-Gesprächsrunden wird oftbeklagt, dass Menschen sich heute nicht mehrlangfristig an Organisationen binden. Wir müs-sen lernen, diesen scheinbaren Nachteil derflüchtigen Bindung in einen Vorteil zu verwan-deln. Wem Kontinuität kein wichtiges Anliegenist, der oder die ist umso leichter spontan für einThema zu begeistern. Diese Person wird es unsauch weniger übel nehmen, wenn ‚ihr‘ Thema

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nicht jahrelang weiter betrieben wird, weil esim nächsten Jahr nicht mehr ‚ihr‘ Thema seinwird. Freuen wir uns, dass die Menschen end-lich flexibel geworden sind – wenn unser The-menangebot stimmt, das Kampagnenziel nach-vollziehbar und in überschaubarer Zeit erreich-bar ist, wird es zukünftig immer leichter wer-den, spontane Unterstützung von vielen Men-schen zu bekommen.“

Gut geplantes strategisches Kampagnenma-nagement gibt NGOs die Möglichkeit, auch inZukunft aktiv Veränderungsprozesse herbeizu-führen. Mit ausdauerndem Engagement undprofessionellem Zugang werden auch weiterhinProblembereiche und Missstände der breitenÖffentlichkeit zugänglich gemacht werden kön-nen.

Fabian Friedrich, derzeit in Ausbildung zumFacharzt der Psychiatrie, davor langjährigerCampaigner im NGO Bereich. Email:[email protected]

Michael Buchner, Pressesprecher ForumMobilkommunikation, davor langjährigerNGO-Campaigner und Aufdecker des Schwei-nemastskandals 2001 in Deutschland, Öster-reich und der Schweiz. Email: [email protected]

Dino Kunkel, Inhaber der Werbeagentur sput-nik kommunikations.satellit und langjährigerMitarbeiter in NGOs. Email: [email protected]

Literatur

Althaus, Marco 2002: Strategien für Kam-pagnen. Klassische Lektionen und modernesTargeting. In: Althaus, Marco (Hg.), Kampag-ne! Neue Strategien für Wahlkampf, PR undLobbying. Münster..

Althaus, Marco/Cecere Vito 2003: Kampag-ne! Neue Strategien für Wahlkampf, PR undLobbying. Band 2. Münster: Lit Verlag.

Badelt, Christoph 2002: Handbuch der Non-profit Organisationen: Strukturen und Manage-ment. Stuttgart: Schäfer-Poeschel.

Buchner, Michael/Friedrich, Fabian/Kunkel,Dino 2005: Zielkampagnen für NGO: strategi-sche Kommunikation und Kampagnenmanage-ment im Dritten Sektor. Münster: Lit Verlag.

Eurobarometer 2005: The attitudes of Eu-ropean citizens towards environment“ EuropeanCommission 2005, Special Eurobarometer 217/Wave 62.1.

Kotler, Philip/Roberto, Eduardo 1991: So-cial Marketing. Düsseldorf, Wien, New York:ECON.

Metzinger, Peter 2004: Business Campaig-ning. Was Unternehmen von Greenpeace undamerikanischen Wahlkämpfen lernen können.Berlin, Heidelberg, New York: Springer Ver-lag.

Fabian Friedrich/Michael Buchner/Dino Kunkel

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Kampagnen zu entwicklungs- oder umweltpo-litischen Zielen gibt es zahlreiche: gegen Kin-derarbeit, für das Menschenrecht auf Wasser,gegen Landminen, gegen die Versenkung vonÖlplattformen, gegen den Handel mit ,Konf-liktdiamanten‘, für einen gerechten Welthandel,für ‚Saubere Kleidung‘, für ein Senken derTreibhausgase.

Viele dieser Kampagnen werden maßgeb-lich von Nichtregierungsorganisationen (NGOs)getragen. Selten wird das Ziel ganz erreicht, aberTeilsiege sind des Öfteren errungen worden: Eskam zu einem Verbot der Antipersonenminen,die Privatisierung der städtischen Wasserver-sorgungen in den Ländern des Südens istzumindest teilweise durch Kampagnenarbeit indie Krise geraten, ein Abkommen zur Zertifizie-rung von ,Konfliktdiamanten‘ ist in Szene ge-setzt, es gibt ein Verbot zum Versenken vonÖlplattformen, es gibt Kodizes für ‚SaubereKleidung‘.

Das Handeln von kampagnenförmig arbei-tenden NGOs zeigt also Wirkung. NGOs ste-hen mit ihrer Arbeit jedoch nicht außerhalb despolitischen Geschehens, sondern sind ein Teilvon ihm. Sie sind Teil einer ‚Global Gover-nance‘, ob sie es wollen oder nicht. Viele vonihnen streben es direkt an, demokratisches Kor-rektiv innerhalb eines Systems globaler Steue-rung zu sein; eines Systems, das sich selbst,wenn überhaupt, nur sehr unzureichend legiti-miert.

Was sind die Dilemmata, die aus dieser ge-wollten oder ungewollten Einbindung resultie-ren? Wie sind die Effekte globaler Kampagnen-arbeit zu bewerten, wie sind diese in Verbin-dung zu setzen mit dem Kontext einer kapitalis-tischen Globalisierung? Welche Spannungen

Frauke Banse

Globale Kampagnenarbeit

gibt es in globalen Kampagnen und woran rich-ten sie sich aus? Was sind ihre strategischenEngpässe und Auswege? Entsprechen die Er-folge von internationaler Kampagnenarbeit denAusgangszielen oder sind sie vielleicht ganz ausdem Blick geraten und ‚der Realität‘ angepasstworden?

Diese Fragen dienen als Leitlinien für diefolgenden Überlegungen zur globalen Kampa-gnenarbeit.

1 Adressaten der Kampagnenarbeit

Kampagnen brauchen einen Adressaten: Sei esdie nationale oder internationale Öffentlichkeit,seien es Unternehmen, Nationalstaaten und ihreInstitutionen, seien es Parlamente oder multila-terale Institutionen wie die UN oder die WHO,immer muss ein Gegner oder Adressat vorhan-den sein.

Über das Kampagnenthema zu informierenist die Grundlage jeder weiteren Kampagnenar-beit. Mit Ausnahme von Konsumentenkampa-gnen soll die Öffentlichkeit zunächst einmalaufgeklärt werden. Von allen anderen Akteurenverlangt eine Kampagne meist eine politischeVerhaltensänderung. Zu jedem dieser Adressa-ten wird unterschiedlich ‚gesprochen‘. AufGrund grundsätzlicher globaler und nationalerInteressensgegensätze braucht gesellschaftlicheVeränderung jedoch weit mehr als den Dialogin der Hoffnung darauf, dass der politischeGegner aus normativen Gründen Einsicht zeigt.Es braucht politischen Druck. Gewerkschaftenhaben dafür das Mittel des Streiks. Das einzigeDruckmittel, über das NGOs verfügen, ist dasder Öffentlichkeit. Öffentlichkeit herzustellenist wichtig, weil damit das Handeln von Kam-

Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

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pagnenadressaten transparent gemacht werdenkann. Sie ist aber mehr als nur ein Medium derAufklärung und Information. Die Kampagnen-akteure üben damit auch Kontrolle aus und kön-nen die Adressaten zur Rechenschaft zwingen.

2 Öffentliche Kontrolle: Account-ability versus Responsibility

In Zeiten, in denen Einzelstaaten immer weni-ger Entscheidungsbefugnisse zu haben schei-nen, viele öffentliche Einrichtungen privatisiertund staatliche Tätigkeiten dereguliert sowie zahl-reiche Regelungen auf eine multilaterale Ebeneverlagert werden, wird die Einforderung derRechenschaftspflicht (Accountability) und dar-an anschließend die Sanktionierung von Regel-verstößen zu einem zentralen Problem vonKampagnenarbeit. Denn statt die weiterhin sehrwohl bestehenden Befugnisse von Staaten inmultilateralen Institutionen zu nutzen – hier sit-zen schließlich Vertretungen der Einzelstaaten –oder für eine Rückholung öffentlicher Rege-lungskompetenzen einzutreten, leiden auchNGOs unter dem TINA-Syndrom (There Is NoAlternative) – gerade dann, wenn es um schnel-le und öffentlichkeitswirksame Kampagnen geht.

Mangels sichtbarer Alternativen wendet sichglobale Kampagnenarbeit deswegen vermehrtan jene, die scheinbar schnell, weil direkt han-delnd, etwas bewirken könnten: an global agie-rende Unternehmen. Sie werden zum ‚verant-wortlichen Handeln‘, zur Corporate Social Re-sponsibility (CSR), aufgerufen.

In der Bundesrepublik Deutschland beganndie Auseinandersetzung um die Unternehmens-verantwortung mit der geplanten Versenkungder Ölplattform Brent Spar durch den Ölkon-zern Shell und der Kampagne, die Greenpeaceim Jahr 1995 lancierte. Nach diesem „PR-De-saster des Jahrhunderts“ (Managermagazin)wurden in vielen Unternehmen Public-Relati-ons-Abteilungen gegründet, mit denen ein ‚ver-antwortliches Handeln‘ des Unternehmens pro-

klamiert wurde. Und viele NGOs stimmten die-sem Trend zu. Mangels anderer strategischerÜberlegungen forderten sie nun verantwortli-ches Verhalten von Unternehmen ein. Im Zen-trum der Argumentation stand die Aufforderungzum moralischen Handeln. Denn bekannt istsehr wohl, dass kapitalistische Unternehmensich nach Profit richten und nicht nach der Mo-ral. Das Druckmittel einer unternehmensorien-tierten Kampagne ist daher der gute Ruf desKonzerns. Doch dieses Druckmittel istletztendlich schwach. Die meisten NGOs sindmit der Überprüfung der umfangreichen CSR-Berichte personell überfordert, außerdem kön-nen sie mit ihren Kampagnen nur auf die ,gro-ßen Fische‘, auf Unternehmen mit bekanntemNamen zielen, denn nur diese haben ein Image.Aber auch diese Unternehmen beziehen ihreProdukte von anderen, namenlosen Firmen.‚Subcontracting‘ oder unklare ‚Supplychaines‘sind schließlich in der kapitalistischen Globali-sierung gang und gäbe. Unternehmen wie KraftFoods geben selbst zu, dass sie den RohstoffKakao nur am Hafen in der Elfenbeinküste kon-trollieren können –, wer ihn unter welchen Ver-trägen und Bedingungen produziert hat, ist nichtmehr nachvollziehbar.

Wenden sich Kampagnen also ausschließ-lich an Unternehmen und nicht auch an eineregelungskompetente Staatlichkeit, drohen dieEffekte dieser Kampagnen eine Verbesserungnur vorzutäuschen. Damit verschaffen die Kam-pagnen der kapitalistischen Globalisierung Le-gitimation. Schließlich müssen Kampagnen nacheiner Bekanntgabe einer ‚bad practice‘ auch ver-künden, wenn sich diese verbessert hat. Aufdiese Weise drohen NGOs schließlich zu Wer-beagenturen für Adidas, Puma, H&M, Star-bucks und Co. zu werden. Am besten lassen siesich auch noch von ihnen finanzieren.

Indem NGOs die moralischen Versprechender Unternehmen überprüfen, übernehmenNGOs zudem Aufgaben, für die bis dato staat-liche Stellen zuständig waren. Sie kontrollie-

Frauke Banse

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ren, ob sich Unternehmen an ,Gesetze‘ (es sindja eben meist keine Gesetze, sondern CSR-Ver-einbarungen) halten und sorgen ggf. für ihre‚Bestrafung‘ durch eine Skandalisierung in derÖffentlichkeit. Damit tragen sie zu einer Priva-tisierung des Politischen bei, anstatt ihr entgegenzu wirken.

3 NGOs und soziale Bewegungen

NGOs verstärken mit bestimmten Kampagnen-formen die Krise der Accountability und wir-ken ungewollt auf ihre Verstetigung hin. Einweiteres Problem ist jedoch noch schwierigerzu lösen: die schwache Basisanbindung.

NGOs sind aus den sozialen Bewegungender 1970er und 1980er Jahre hervorgegangen,sie sind eine Form ihrer Institutionalisierungund Professionalisierung. Damit sind zwei Pro-zesse zu verzeichnen: Erstens die Entwicklungvon Expertenkulturen in den NGOs, um kom-plizierte Vertragstexte oder Politikentwürfe ent-schlüsseln und bewerten zu können. Zweitenswurde durch diesen Elitenbildungsprozess viel-fach eine Entfremdung von sozialen Bewegun-gen hervorgerufen. Experten tendieren dazu,sich auf das Lobbying zu fokussieren, hier kön-nen sie ihr Detailwissen anbringen und sich the-matisch mit den Experten aus den Unterneh-men und internationalen Organisationen aufeiner Ebene bewegen. Die Gefahr besteht je-doch, dass die eigentliche Ressource vonNGOs, die Öffentlichkeit, aus den Augen ver-loren wird und nur noch der ‚Dialog‘ mit Ent-scheidungsträgern gesucht wird. Wenn danndennoch in Kategorien der Öffentlichkeit ge-dacht wird, kommt sie häufig nicht mehr alsAkteur, sondern lediglich als Spender oderRezipient von Informationen in der Kampag-nenplanung vor; vielleicht noch als Konsumentim Rahmen eines verantwortungsvollen Ein-kaufens, wodurch die Partizipationsanforde-rung ein weiteres Mal entpolitisiert zu werdendroht1.

Eine Zusammenarbeit von NGOs mit sozia-len Bewegungen und ihren Aktionsformen hin-gegen ist selten. Ein Argument für die Tren-nung von ‚Straße‘ und leisem ‚Lobbygespräch‘lautet, dass Lobbying und eine Bewegungs-Mobilisierung mit klaren, meist radikaleren For-derungen nicht zu vereinbaren sind.

Selbstverständlich gibt es auch Lobbying,um z.B. gleichgesinnte Abgeordnete über einenMißstand aufzuklären und zur Kooperation zubewegen. Spricht man aber mit Akteuren, vondenen eine klare Gegnerschaft zum eigenenAnliegen angenommen werden kann, hat dieser‚Dialog‘ nur dann durchschlagenden Erfolg,wenn er vorher und parallel durch einen deutli-chen Druck der Öffentlichkeit – im Fall der so-zialen Bewegungen von der Strasse – flankiertwird. In der oben erwähnten Auseinanderset-zung treffen zwei verschiedene Vorstellungenvon gesellschaftlicher Veränderung aufeinander:Wandel über Dialog oder Veränderung durchKonflikt und Druck. In der Idee des Dialogsstecken die Annahme der normativen Einsichts-fähigkeit des politischen Gegners und die Hoff-nung, dass dieser von den besseren Argumen-ten überzeugt werden kann. Selbst dann, wennes vorher keinen Anlass für diese Annahme gab,beginnt man ein Gespräch, obwohl es eigent-lich nichts zu besprechen gibt. Wenn an diesenGesprächen darüber hinaus lediglich privateAkteure wie NGOs und Unternehmen teilneh-men, trägt das Lobbying auch noch zur weite-ren Privatisierung des Politischen bei.

Die Entwicklung zum Expertentum bei denNGOs droht einen weiteren Effekt zu haben: denVerlust der Vision für tief greifende gesellschaft-liche Veränderungen. Auf den Dialog mit denEntscheidungsträgern ausgerichtet, geht es nurnoch um das ‚Machbare‘. Das Machbare ist hierwohlgemerkt eingeschränkt auf die Einsichtsfä-higkeit des Gegenübers, der vormals der Gegnerwar. Öffentliche Mobilisierung, die den Gegnerzum Einlenken zwingt, wird nicht mehr mitge-dacht oder als zweitrangig wahrgenommen.

Globale Kampagnenarbeit

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Diese Beschränkung auf das Machbare – imSinne des Verstehens des Gegenübers – lässtdie globalen Macht- und Herrschaftsverhältnis-se aus dem Blickfeld verschwinden. Ein Bei-spiel: In der Kampagne gegen ein Freihandels-abkommen, den so genannten Economic Part-nership Agreements (EPAs) zwischen der EUund ihren früheren Kolonialstaaten Afrikas, desPazifiks und der Karibik (AKP-Staaten) wurdelange Zeit von europäischer Seite schwerpunkt-mäßig versucht, die Europäische Kommissionund die jeweiligen Regierungen europäischerEinzelstaaten davon zu überzeugen, dass es sichhierbei um entwicklungs- und demokratiefeind-liche Abkommen handelt. Dabei wird vollkom-men aus dem Blick verloren, dass die Europäi-sche Kommission wie die Einzelstaaten im Rah-men der kapitalistischen Globalisierung ein tiefgreifendes Interesse an weiterer Deregulierungund Privatisierung haben – nichts anderes ver-treten sie seit Jahren in der WTO, im IWF oderin der Weltbank. Ohne Druck von Außen wirdsich hier nicht viel ändern.

Ein positives Beispiel für den Druck der Stra-ße und eine gemeinsame Mobilisierung gegenEntscheidungen der Europäischen Kommissi-on ist sicherlich der Widerstand gegen dieDienstleistungsrichtlinie des EU-Binnenmarkt-Kommissars Frits Bolkestein. Hier kam es zueinem breiten Bündnis zwischen NGOs, Ge-werkschaften und sozialen Bewegungen, mitdem Ergebnis, dass die Richtlinie modifiziertwurde.

Allerdings konnte die Mobilisierung gegendie Bolkestein-Richtlinie nur deswegen Erfol-ge verzeichnen, weil es hier zu einem breitenBündnis verschiedener ,Stakeholder‘ und sozu einer breiten Beteiligung der Gewerkschaf-ten kam.

Das ist bei entwicklungspolitischen Themenwie den EPAs leider kaum zu erwarten. Dennhier sitzen die betroffenen Akteure in Afrika,der Karibik und dem Pazifikraum – und nicht inder Europäischen Union.

Letztendlich sind es die AKP-Staaten, diediese Verträge ablehnen können. Wenn es nunaber von Seiten der europäischen NGOs eherauf eine Lobbystrategie hinausläuft, die auf eineReform der EPAs zielt, und gleichzeitig auf derAKP-Seite der Kampagne eine Ablehnung derAbkommen formuliert wird, dann erzeugt diesSpannungen: Die ursprünglich gemeinsameKampagne verliert an Schlagkraft und wider-spricht sich in den ursprünglichen Forderun-gen.

4 Nord-Süd-Spannungen

An diesem Beispiel macht sich ein weiteres Pro-blem globaler Kampagnenarbeit deutlich: dasspannungsreiche Verhältnis zwischen Nord- undSüdorganisationen.

Bei vergangenen und laufenden Kampag-nen ist es immer wieder zu Konflikten zwischenNord- und Südorganisationen gekommen. Amdeutlichsten war dies bei der Entschuldungs-kampagne Jubilee 2000 zu beobachten, hier kames sogar zu einem offenen Bruch. Dieser voll-zog sich, wie jetzt auch wieder bei der StopEPAs Kampagne, an der Radikalität der Forde-rungen: die Nordorganisationen traten für Ent-schuldung ein, die mit bestimmten Entwick-lungsauflagen verbunden ist. Die Südorganisa-tionen hingegen forderten eine hundertprozen-tige Entschuldung. Die Konditionalitäten seiennur dann akzeptabel, wenn sie ‚von unten’, alsovon den Südgesellschaften selbst, bestimmt sei-en. Die Nord-NGOs richteten ihre Position anden Kommunikationsstrategien in ihren Heimat-ländern aus, sowohl hinsichtlich des Lobbyingwie auch der Vermittlung in die europäischeÖffentlichkeit. Den Südorganisationen ging eshingegen um die Rückgewinnung der demo-kratischen Spielräume in ihren jeweiligen Län-dern und um eine Unabhängigkeit von den in-ternationalen Finanzinstitutionen (Young 2000).

Ein weiteres Beispiel für die Spannungenzwischen Nord- und Südorganisationen zeigt

Frauke Banse

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eine Kampagne gegen Kinderarbeit in Bangla-desh. Eine groß angelegte US-amerikanischeKampagne trat gegen die Kinderarbeit in bang-ladeschischen Textilunternehmen an und gewanndabei unter anderem die Internationale Arbeits-organisation (ILO) als Partner. Die Kampagneund die Implementierung ihrer Forderungenübersah aber die sonstigen unmenschlichen Ar-beitsbedingungen in den Fabriken und vor al-lem, dass nur ein Bruchteil der Kinder in derTextilindustrie arbeitete, der Großteil hingegenin informellen Jobs. Das Hauptbudget der ILOzu Kinderarbeit in Bangladesh ist nun aber alsResultat der Kampagne in der Textilindustrieverortet (mehrere Millionen Dollar), währendfür den weit umfänglicheren Teil der arbeiten-den Kinder in Bangladesh insgesamt 600.000Dollar verbleiben. Mit der Kampagne wurdenach Ethel Brooks vor allem das Konsumen-tengewissen in den USA beruhigt (Brooks2005).

Die Beispiele verdeutlichen: Die strategischeAusrichtung von Nord- und Südkampagnenorientiert sich an unterschiedlichen gesellschaft-lichen Realitäten und führt deswegen häufig zuSpannungen. Zumal, und das ist entscheidendfür das Verhältnis insgesamt, die Nord-NGOsmeist die Süd-NGOs und damit auch derenKampagnen finanzieren. Organisationen in denIndustrieländern können ganz anders auf po-tenzielle SpenderInnen zurückgreifen und ha-ben Zugang zu öffentlichen Geldern. Beideswird an die Südorganisationen weitergeleitet unddamit entscheidend Einfluss genommen.

Die Kampagne gegen Kinderarbeit in Bang-ladesh illustriert zudem, dass eine Ausrichtungan der Öffentlichkeit der Industrieländer dazuführen kann, die Kampagne zu unterkomplexanzulegen. Die Empörung in der Öffentlichkeitüber Kinderarbeit ist größer als die über dieEffekte eines ungerechten Weltmarktes insge-samt. Das Beispiel zeigt auch, dass als Wirkungvon Kampagnenarbeit politische Verbesserun-gen nicht immer da stattfinden, wo sie am drin-

gendsten gebraucht werden, sondern dort, woder Druck und das moralische Gewissen derNordöffentlichkeit am größten ist.

5 Komplexität im Campaigning

Eine Kampagne in den Kontext globaler Macht-verhältnisse zu stellen ist nicht immer einfach,schließlich möchte man nicht dicke Bücher, son-dern Broschüren oder Infoblätter produzieren.Darüber hinaus gilt es zunächst punktuelle undsymbolische Verbesserungen zu erzielen. EinBeispiel für dieses Dilemma ist die Kampagnegegen den Handel mit Konfliktdiamanten (Fa-tal Transactions). Die Kampagne reagierte 1999auf Recherchen, die die Verwicklung des Dia-mantenmonopolisten De Beers in den Bürger-krieg in Angola dokumentierten: Die Rebellen-gruppe UNITA finanzierte sich maßgeblich ausdem Edelsteinhandel mit De Beers. Derdaraufhin gestarteten europaweiten Kampagnegelang es in ihrer Öffentlichkeitsarbeit, der bisdahin vorherrschenden Interpretation von afri-kanischen Bürgerkriegen als ethnische Konflik-te eine materielle Erklärung entgegen zu setzten– die der ‚Ökonomie der Bürgerkriege‘. Daswar ein wichtiger Verdienst. Weitere Effekte derKampagne sind jedoch zwiespältiger. Schon amersten Tag der Kampagne reagierte De Beersund kündigte eine Änderung seines Geschäfts-gebahrens an – der drohende Imageschaden warzu groß. Der Konzern beteiligte sich auch sofortan der Entwicklung eines Zertifizierungssys-tems, das 2002 in Kraft trat: das Kimberley Cer-tification Process Scheme (KPCS). Zahllose in-terne Mängel der Kontrolle und fehlende Sank-tionsmöglichkeiten machen das KPCS an sichschon sehr fragwürdig. Das Abkommen beziehtsich darüber hinaus lediglich auf den Handelmit Diamanten und nicht auf deren Förderbe-dingungen. Damit werden die sozialen Verhält-nisse und Effekte des Diamantenabbaus völligaußer Acht gelassen. Die Tatsachen, dass in An-gola riesige Diamantenregionen rechtsfreie Räu-

Globale Kampagnenarbeit

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me sind, in denen private Sicherheitsfirmen dieSchürfer foltern (Marques/Campos 2005), oderdass Diamantenfirmen in Sierra Leone Gemein-deland verwüsten, Häuser zerstören und Men-schen vertreiben, lässt das KPCS außer Acht.Und damit auch eine der wesentlichen Ursa-chen der Bürgerkriege: in Sierra Leone ist derKrieg unter anderem wegen der massiven sozi-al-ökonomischen Ungleichheit ausgebrochen.In den Diamantenregionen war die Wut darüberbesonders hoch. Koloniales Erbe und Struktur-anpassungsmaßnahmen hatten an dieser Situa-tion ihren wesentlichen Anteil. Diamanten sindnicht Kriegsursache, sondern Schmiermittel ei-nes Krieges, in Sierra Leone haben sie den Kriegverlängert, aber nicht verursacht. Die Macht-verhältnisse des Weltmarktes als Kriegsursachelässt sowohl das KPCS außer Acht wie auchgroße Teile der Kampagne Fatal Transactions.Im Falle von Sierra Leone müsste eine Kampa-gne zu Konfliktdiamanten zum Beispiel drin-gend mit der in den EPAs angelegten Liberali-sierung von ausländischen Direktinvestitionenverbunden werden. Die Kriegsproblematik lässtsich jedoch öffentlich besser über die Gier nachRohstoffen als über eine Position eines Landesin der kapitalistischen Globalisierung vermit-teln. Damit hat sich die Kampagne selbst ge-schwächt, denn der ‚Zwischenerfolg‘ Kimber-ley hat ein weiteres öffentlichkeitswirksamesCampaigning wesentlich erschwert.

Zudem beteiligte sich Global Witness, in denAnfangsjahren zentrale Rechercheorganisationvon Fatal Transactions, an der Ausarbeitungund Beratung zum KPCS und tritt heute alsPartner von De Beers bei PR-wirksamen Ent-wicklungsprojekten auf; eine kritische Distanzzu KPCS und zu De Beers aufzubauen wirddamit umso schwerer.

Das Kimberleyabkommen steht zudem ineiner Reihe mit anderen Zertifizierungsabkom-men, mit denen NGOs letztendlich, wie auchbei den CSR-Berichten, überfordert sind: Siemüssen von innen kontrollieren und von außen

Kampagnenarbeit machen, um den Druck auf-recht zu erhalten. Diese Doppelstrategie kannsie schnell personell und strategisch überfor-dern.

6 Fazit

NGOs und ihre Kampagnen sind Teil des Sys-tems globaler Steuerung geworden. Dies be-deutet, mit den Schwächen in der altbekanntenliberal-demokratischen Ordnung umgehen zumüssen. Mit dem globalisierten Kapitalismusentstand eine Krise der liberal-demokratischenRechenschaftspflicht, und damit einhergehendoffenbarten sich die Schwierigkeiten von Sank-tionen. Dennoch sind es immer noch Staaten,die die Entscheidungen – auch auf globaler Ebe-ne – treffen und sich in bestimmten Regulie-rungsbereichen immer weiter selbst entmach-ten. Es scheint einfach, auf die entstandenenRechenschaftslücken mit dem Appell an die ge-sellschaftliche Verantwortung der Akteure zureagieren; an Stelle der demokratischen Rechen-schaftspflicht die Moral als Regulierungsme-chanismus von (globaler) Gesellschaft zu set-zen. Doch dies vergrößert die Risse in der de-mokratischen Kontrolle und privatisiert dasPolitische.

NGOs müssen sich in ihren Kampagnen inihrer Rolle als ebenfalls private Organisationenkritisch reflektieren und ihre Ressource Öffent-lichkeit ernst nehmen. Das heißt, dass sie sichnicht in ‚expert rounds’ und ‚lobby talks’ ein-richten dürfen und meinen, damit allein die Weltverändern zu können. Ähnliches gilt für denalleinigen Focus auf eine Medienöffentlichkeit.Es gilt, die Öffentlichkeit nicht nur als Empfän-ger von Informationen zu verstehen, sondernals Ort von politischen Subjekten, die zum Han-deln aufgerufen werden können. Dies bedeutet,dass NGOs ihre Kapazitäten und Kenntnisseeinsetzen müssen, um produktiv in Bündnissenmit sozialen Bewegungen und Gewerkschaftenzusammenzuarbeiten – um den Druck für ge-

Frauke Banse

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sellschaftliche Veränderung, gegen eine neoli-berale, konzerngeleitete Globalisierung gemein-sam aufzubauen und Demokratie einzufordern.

Das heißt auch, Kampagnen innerhalb glo-baler Macht- und Herrschaftsverhältnisse zureflektieren und die Funktionslogiken der ver-schiedenen globalen Adressaten sowie derenmögliche Reaktionen und Umarmungsstrategi-en zu beachten. Kampagnen dürfen dann nichtauf den kurzfristigen, einfach zu vermarkten-den Erfolg ausgerichtet werden. In der globalenKampagnenarbeit heißt das, sich trotz der Not-wendigkeit der Spendenakquise nicht zur Gei-ßel einer ‚gutmenschlichen‘ Nord-Öffentlich-keit zu machen, deren Protagonisten, um einBeispiel zu nennen, bei Bildern kleiner schwar-zer großäugiger Kinder stärkere Gehirnströmedes Mitleids produzieren als bei Erwachsenen,die für ihre Lage selbst verantwortlich gemachtwerden. Dies ist übertragbar auf die Themen-auswahl und Strategie von Kampagnenarbeit.Es geht nicht um die Produktion weiterer mora-lischer Diskurse, die Mitleid erzeugen und Für-sorge einfordern, sondern um das Einklagenvon globalen sozialen Rechten.

Frauke Banse arbeitete bis zum Dezember2006 drei Jahre lang bei medico internationalund wirkte hier u.a. an der Konferenz „Wastun? Kritische Kampagnenarbeit in Zeiten der

Globalisierung“ mit. Die Dokumentation dieserKonferenz kann unter www.medico-international.de bestellt werden.

Literatur

Yang, Mungo 2000: Einflussstrategien trans-nationaler Kampagnen. Die Entschuldungskam-pagne Jubilee 2000 und die Kampagne zumVerbot von Landminen im Vergleich. Diplom-arbeit. Berlin.

Brooks, Ethel 2005: Transnational Cam-paigns against Child Labor: the Garment Indus-try in Bangladesh, In: Joe Brandy/Jackie Smith(Hg): Coalitions across Boarders: Transnatio-nal Protest and the Neoliberal Order, Oxford.

Marques, Rafael/Campos, Rui Falcâo de2005: Lundas – The Stones of Death, AngolasDeadly Diamonds: Human Rights abuses in theLunda provinces, 2004. http://www.niza.nl/docs/200503141357095990.pdf

Anmerkung

1Dies ist keine Zwangsläufigkeit, wie derwirkungsvolle Boykott z.B. von Früchten ausdem Apartheid-Südafrika zeigt. Hier ging esaber nicht um das Verhalten eines Unterneh-mens, sondern um die rassistische Politik undStruktur eines Staates.

Globale Kampagnenarbeit

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NGOs können im Wettkampf um Einfluss aufdas politische System nicht wie Wirtschafts-verbände mit Arbeitsplatzabbau drohen. Siehaben nur eine Ressource: ihre Glaubwürdig-keit in öffentlichen Druck auf die Entscheidungs-träger zu übersetzen. Das Bild der Aktivistenim Schlauchboot gegen die Wirtschaftslobbyim Zweireiher hat sich in viele Köpfe gebrannt,die reine Wirklichkeit zeigt es nicht. NGOs undihre Expertise sitzen längst mit am Verhand-lungstisch – und sind nicht mehr nur protestie-rend auf der Straße. Doch das bringt die NGOsauch in ein strategisches Dilemma: Sie könnenam Verhandlungstisch direkten Einfluss aufEntscheidungsträger nehmen, müssen abergleichzeitig konfrontative Instrumente anwen-den und damit das Risiko der Verschreckungpotenzieller Verhandlungspartner eingehen. Nurso erhalten sie ihre Chance auf die notwendi-gen Unterstützungsleistungen durch die Öffent-lichkeit und damit eine starke Verhandlungspo-sition. Diese Unterstützungsleistungen sindzum einen finanzieller Natur und zum anderendie Sympathien der Menschen, um die Rolledes Stellvertreters dieser Menschen glaubhaftvertreten zu können.

Die NGOs haben im Laufe ihrer Entwick-lung gegensätzliche Handlungsrationalitätenausgebildet, die ich mit dem Begriffpaar Er-folg- und Wertorientierung beschreiben will.Diese Unterscheidung ist für diesen Aufsatzeine zentrale Kategorie: Erfolgsorientierungmeint eine Fokussierung auf die Realisierbar-keit der Ziele, die Kompromisslösungen ermög-licht. Wertorientierung steht dem gegenüber, dahier die Organisationen Werte und Grundsätzedurchsetzen wollen. Dies erschwert Kompro-misse (Take 2002: 44). Dieses Dilemma zwingt

die NGOs, ihr Instrumentarium zwischen lei-sem Lobbying und lautem Protest stetig auszu-tarieren. Daher müssen in Kampagnen1 alleSchritte sorgfältig geplant sein. Kampagnen sindgut, wenn sie besser sind als die Summe ihrerEinzelteile. Das können sie aber nur sein, wennsie Einzelinstrumente klug vernetzen. Wie dasgeschieht, soll dieser Beitrag anhand eines Ver-gleiches der vier größten und teilweise sehr un-terschiedlichen deutschen Umweltschutzorga-nisationen – der so genannten „Big 4“ – zeigen.„Big 4“ ist ein Name, den sich BUND, Green-peace, NABU und WWF für informelle undpunktuelle Zusammenschlüsse gegeben haben(Rosenkranz 2006). Der Beitrag soll aber auchdie Frage dahinter beantworten: Warum geradeso? – oder anders: In wie weit sind die Kampa-gnenkonzeptionen Spiegelbilder des Selbstver-ständnisses?2

1 Entstehungsgeschichte der „Big 4“

Der Bereich der NGOs im Umweltschutz inDeutschland ist nach einer Schätzung von Die-ter Rucht und Jochen Roose Ende der 1990erJahre quantitativ mit rund 9200 Organisationenkaum überschaubar (Roose 2006: 273). Wennman genau hinschaut, zeigt sich innerhalb desBereichs eine „ausgeprägte Pluralität“ (Kaczor1992: 339; Roose, 2006: 273). Die vier hierausgewählten NGOs sind von der Größe hervergleichbar, durch die teilweise große Unter-schiede in Selbstverständnis und Organisations-struktur bilden sie die Pluralität des NGO-Spek-trums aber zumindest weitgehend ab.

Im Jahr 1975 schloss sich die ‚Gruppe Öko-logie‘ mit einzelnen Landesnaturschutzverbän-den zum Bund für Umwelt und Naturschutz

Manuel Reiß

Kampagnen von Umwelt-NGOs zwischen Kooperation und Konfrontation

Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

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(BUND) zusammen, um die Politisierung desUmweltthemas auf Bundesebene zu repräsen-tieren (Cornelsen, 1991: 21ff.). Der BUND hatdaher zwei Wurzeln: die Naturschutzarbeit sei-ner Gründerverbände und die Protestbewegungim Deutschland der 1970er Jahre mit dem Zieleiner grundsätzlichen Ökologisierung des Wirt-schaftssystems. BUND-Geschäftsführer Dr.Gerhard Timm stellt fest: „Das prägt noch heutedas Selbstverständnis“ (Timm 2005). Ingo Takeordnet dem BUND eine wertorientierte Aus-richtung zu und spricht von einer „institutionel-len Form der Umweltbewegung“ (Take 2002:52). 2005 hatte der BUND 391.931 Mitgliederund Förderer3. Die Zahl der Förderer der Orga-nisation ist in den letzten Jahren kontinuierlichgestiegen, was die Einnahmestruktur des BUNDaber auch volatiler gemacht hat (BUND 2006:25). Die Umweltschutzorganisation ist föderalin Landesverbände in allen Bundesländern ge-gliedert und hat mehr als 2000 lokale Gruppen.Sie ist darüber hinaus die deutsche Sektion desinternationalen Dachverbandes Friends of theEarth (BUND 2006: 3).

Greenpeace Deutschland gründete sich 1980als Sektion von Greenpeace International, dieaus der Protestbewegung der 1968er Jahre ent-standen war (Aune/Praschma 1996: 16f.). DieNGO verfolgt ihre Ziele ausgeprägt wertorien-tiert und stützt ihr Selbstverständnis drauf, öf-fentliche Debatten nach dem Grundsatz „kom-plexer werdende Umweltthemen für die Men-schen verständlich zu machen“ zu verändern(Behrens 2005; Münchmeyer 2005). Sie ist mitrund 550.000 Förderern die größte Umwelt-schutzorganisation in Deutschland (Greenpeace2006: 2). Greenpeace Deutschland betont seineAblehnung von Industriesponsoring und staat-lichen Zuschüssen und stützt sein Budget zurund 7 Prozent auf Spenden von unter 100 Euro(Greenpeace 2006: 8). Die Organisation agiertmit einem Top-Down-Modell. Greenpeace In-ternational steckt den Rahmen aller Handlun-gen ab, die von Greenpeace Deutschland eigen-

ständig ausgeführt werden (Greenpeace 2005a:4; Behrens 2005). Die Geschäftsführung trifftweitgehend die Entscheidungen, lässt mehrheit-lich professionelle Aktivisten agieren und gibtder NGO so eine Stellvertreterfunktion für ihreFörderer (Bergstedt 2002: 77f.).

Der NABU gründete sich 1899 als Bundfür Vogelschutz (BfV) (Cornelsen 1991: 64f.)und ist heute die älteste Umweltschutzorganisa-tion Deutschlands mit mehr als 400.000 Mit-gliedern. Diese machen mit ihren Mitgliedsbei-trägen mehr als zwei Drittel der Einnahmen aus,die ansonsten durch Einbindung von Industrie-sponsoring und staatlichen Zuschüssen sehrstark diversifiziert sind (NABU 2006a: 22ff.).Die einflussreiche Basis ist vielfach sehr natur-schutzorientiert und wenig politisch (Bergstedt2002: 61), weshalb sich der NABU erst Mitteder 1980er Jahre vom reinen Naturschutz auchder Umweltpolitik öffnete (Cornelsen 1991:64f.). Roose nennt den NABU eine „moderatauftretenden Organisationen“ (2006: 273). DerSchwerpunkt liegt weiterhin beim praktischenNatur- und Artenschutz, der durch eine engeVerbindung zu Staat und Wirtschaft erfolgsori-entiert und mit kooperativem Selbstverständnisverfolgt wird (Cornelsen 1991: 65f.). DerNABU arbeitet horizontal organisiert auf Kreis-,Landes- und Bundesebene sowie global in derDachorganisation BirdLife International(NABU 2004b: 1).

Der World Wide Fund For Nature (WWF)wurde 1961 gegründet und kam 1963 nachDeutschland mit der noch heute prägende Grund-idee: Geldsammeln unter Reichen und Einfluss-reichen für den Naturschutz (Cornelsen 1991:98ff.). So war der WWF immer nah dran an denpolitischen Entscheidungsträgern, hatte frühzei-tig feste Einflusskanäle und konnte seine Zieledabei erfolgsorientiert verfolgen. Er wird daherauch als moderater Verein gesehen (Roose 2006:273). 2005 hatte die Stiftung WWF Deutsch-land 307.000 Fördermitglieder. Die breit ange-legte Einnahmebasis wird neben Firmenspen-

Kampagnen von Umwelt-NGOs zwischen Kooperation und Konfrontation

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den, Projektzuschüssen und Erträgen des Stif-tungskapitals zu 62,1 Prozent von diesen För-derern gebildet. Diese geben mit ihrer Zahlungaber die einzige relevante Willensäußerung ab(WWF 2006: 20). Der WWF wird durch Stif-tungsrat, Vorstand und Geschäftsführung „wieeine Firma geleitet“ (Cornelsen, 1991: 103).Zentral für den WWF ist seine Internationalität,die schwerpunktmäßig auf der täglichen Arten-und Naturschutzarbeit aus Deutschland für Re-gionen auf der ganzen Welt liegt (WWF 2007a).

2 Vergleich der Kampagnen-strategien der „Big 4“

Für die Konzeptionierung von Kampagnen ste-hen den NGOs verschiedene Instrumente zurVerfügung – von leise bis laut oder kooperativbis konfrontativ. Diese Instrumente sind in un-

terschiedlicher Form mit der Expertise der NGOsvernetzt (Raustiala 1997: 726f.). Auf der ‚lei-sen‘ Seite des Kontinuums stehen kooperativeGespräche mit den Entscheidungsträgern imMittelpunkt: Lobbying ist die weniger formali-sierte und direkte Kommunikation mit dem Ent-scheidungsträger, während die Mitarbeit in Gre-mien einen eher formalisierten Zugang zum po-litischen System etwa durch formelle Stellung-nahmen und Hearings darstellt (Köppl 2003:118ff). Die Instrumente auf der ‚lauten‘ Seitesollen über die Öffentlichkeit Druck auf dieEntscheidungsträger aufbauen: Bei der Öffent-licharbeit nutzen die NGOs direkte Wege derDarstellung über Mitgliederzeitschriften oder in-direkte über die Medien etwa durch Pressemit-teilungen (Bammerlin 1998: 105; Brunnengrä-ber/Walk 2000: 157). Bei (Protest-)Aktionenwerden die Organisationen selbst aktiv, um Pro-

Manuel Reiß

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bleme möglichst simplifiziert und leicht für dieMedien visualisierbar darzustellen. NGOs tre-ten so symbolisch als Stellvertreter in Aktion(Bammerlin 1998: 105; Take 2002: 71ff.).

2.1 Der BUND

„Die wichtigste Abteilung ist die Kampagnen-Abteilung“ (Cornelsen 1991: 26; Bergstedt2002: 51). Der BUND agiert zwar auch starkmit praktischer Naturschutzarbeit, Kampagnenstehen aber im Zentrum seiner Arbeit. Die Or-ganisation schreibt im Rückblick auf 30 JahreBUND 2005 von „unzähligen Aktionen undKampagnen auf regionaler, nationaler und in-ternationaler Ebene“ (BUND 2005: 1) und be-tont die Bedeutung von Kampagnen. Die natio-nale Ebene steht dabei im Vordergrund, die Lan-des- oder Kommunalebene sowie die internati-onale Ebene werden gezielt miteinbezogen. Aufallen Ebenen spielen die ehrenamtlichen Mitar-beiter in der Durchführung der Kampagnen einezentrale Rolle (Cornelsen 1991: 27).

Die leisen Instrumente sind beim BUNDetabliert. Die Mitarbeit in Gremien wird alsinstitutionalisierter Zugang zu Entscheidungs-trägern gesehen (Timm 2005), während dieExpertise des BUND – obwohl selbst vonKritikern gelobt (vgl. Bergstedt 2002: 48) –eher untergeordnet gesehen und als Türöff-ner zu Gesprächspartnern (ebd.) benutzt wird.Lobbying wiederum wird als „ein Instrumentneben anderen“ gesehen, dass „parallel“ zuden konfrontativen Instrumenten eingesetztwerde (ebd.). Geschäftsführer Gerhard Timmspricht auch von einem „Dreiklang aus Ge-sprächen, Aktionen und begleitender Öffent-lichkeitsarbeit“ (ebd.). Grundsätzlich fühlensich die Entscheidungsträger und Mitgliederdes BUND aber immer noch den konfrontati-ven Instrumenten aus den Anfangsjahren derprotestorientierten Umweltbewegung ver-pflichtet und die Mitglieder nutzen ihre Mit-spracherechte auch, um die Tendenz zur Kon-

frontation beizubehalten (ebd.; auch Cornel-sen 1991: 54).

Der BUND legt im skizzierten Dreiklangbei seiner Kampagnenkonzeption den Schwer-punkt auf die lauten Instrumente und dabeiinsbesondere auf die (Protest-)Aktionen. Eineforcierte Öffentlichkeitsarbeit ist hier unabding-bar notwendig. Doch noch 1991 kritisierte Cor-nelsen die Öffentlichkeitsarbeit des BUND als„unzureichend“ (Cornelsen 1991: 55) und ausder Aussage von Timm wird auch das Grund-verständnis von Öffentlichkeit als begleitenderMaßnahme deutlich. Im Vordergrund steht, wasHey/Brendle einen „kritisch-pragmatischemAnsatz und expressive Instrumente“ (Hey/Brendle 1994: 150) nennen. Die (Protest-)Ak-tion soll die Forderungen des BUND für einebreite Öffentlichkeit deutlich machen und überihre mediale Darstellung zu den Menschen trans-portieren. Die mediale Aufmerksamkeit wird garals lebensnotwendig gesehen, da zum einen diehohe Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung alszentrales Kapital zur Generierung von Druckauf die Entscheidungsträger gesehen wird, zumanderen um Mitglieder zu rekrutieren und zubinden (Timm 2005). Diese Schwerpunktset-zung sieht Timm auch für die Zukunft gegeben.Er wertet die konfrontativen Instrumente als Re-aktion der NGOs auf sich verschlechternde Zu-gänge zum politischen System in Zeiten einerGroßen Koalition und prognostiziert: „Ohnetagesaktuellen Druck wird es nie gehen“ (ebd.).

2.2 Greenpeace Deutschland

Greenpeace ist ein „Kampagnenverein“ (Berg-stedt 2002: 76) und sieht sich auch selbst als„Kampagnenorganisation“ (Münchmeyer2006). Anders formuliert: Greenpeace machtkeinen praktischen Naturschutz, sondern inves-tiert alle Ressourcen in Kampagnen. Die Orga-nisation hatte 2005 mit Roland Hipp einen „Kam-pagnen-Geschäftsführer“. Referenten werdenauch Campaigner genannt (Greenpeace 2006:

Kampagnen von Umwelt-NGOs zwischen Kooperation und Konfrontation

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6). Kampagnenkonzeption und ihre Koordina-tion für die nationalen Sektionen sind die zen-tralen Aufgaben der Dachorganisation Green-peace International (Greenpeace 2006: 4; Beh-rens 2005).

Laute und leise Instrumente werden in einelangfristige Kampagnenplanung einbezogen(Krug 2005). Während die Mitarbeit in Gremi-en wird als „winziger Ausschnitt, der keinesfallsüber zu bewerten ist“bezeichnet (Münchmeyer2006), wird Lobbying als unerlässlich zur Um-setzung des generierten öffentlichen Drucks inGesetze oder rechtsverbindliche Konventionengesehen. Nur unter dieser Voraussetzung hättendie eigenen Kampagnen auch „einen Sinn“ (Beh-rens 2005).

Allerdings geht Greenpeace in der öffentli-chen Darstellung seiner Arbeit mit den leisenInstrumenten recht ,stumm‘ um: In den Jahres-rückblicken 1998 bis 2005 findet sich nur einmalein direkter Verweis auf Lobbying. Nach Außenwird vor allem das lauteste und gleichzeitig fürGreenpeace Identität stiftende Instrument der(Protest-)Aktionen genannt. Für das Selbstver-ständnis der Organisation werden leise Instru-mente als „nicht so passend“ (Münchmeyer2006) angesehen. Greenpeace steht in hoherAbhängigkeit von seinen Unterstützern. Öffent-lichkeit bleibe die zentrale Ressource (ebd.). Da-her ist die Organisationsstruktur exakt daraufzugeschnitten, ein schnelles und flexibles Agie-ren als Voraussetzung für die traditionellschwerpunktmäßigen (Protest-)Aktionen zu er-möglichen (Kaczor 1992: 349). Selbst seineThemen wählt Greenpeace gezielt nach Medi-enkompatibilität aus (Heins 2002: 148).

Die mediengerechte ‚Skandalisierung‘ wirdals Ursprungspunkt einer jeden Greenpeace-Kampagne gesehen (Greenpeace 1996: 171).Dabei setzt die Umweltschutzorganisation ihre(Protest-)Aktionen unabhängig davon ein, obman auch am Verhandlungstisch involviert ist.Die Akteure des politischen Systems werdenvon Greenpeace schon vor der (Protest-)Akti-

on schriftlich unterrichtet und „auf diese Artführen wir dann schon oft vor unseren Aktio-nen die zentralen Gespräche.“ (Behrens 2005).Die (Protest-)Aktionen werden aber alleine ausGlaubwürdigkeitsgründen in jedem Fall ,durch-gezogen‘ und mit Öffentlichkeitsarbeit verbun-den, um die eigene Verhandlungsposition zu stär-ken (Münchmeyer 2006). Das „Spiel mit demDrohpotential“ (Münchmeyer 2005) ist dabeinicht nur Ansatzpunkt, sondern auch UltimoRatio.

2.3 NABU

„Alles was der NABU macht ist Teil einer gro-ßen Kampagne“ (Billen 2005). Dabei agiert derNABU mit allen Instrumenten. er versucht auchsein ausgeprägtes Engagement in der praktischenNaturschutzarbeit bewusst nach außen zu stel-len und damit strategisch zur Steigerung derGlaubwürdigkeit beizutragen (Krüger/Klin-kusch 2005). Die professionell besetzte Bun-desebene wird als Dienstleister für die weitge-hend eigenständigen Akteure auf den anderenPolitikebenen verstanden. Der NABU versuchtauf allen diesen Ebenen zu agieren (NABU1999: 14; Krüger/Klinkusch 2005).

Die systematische Kampagnenarbeit begannschon 1971 mit der Kampagne Vogel des Jah-res. Diese hatte einen deutlichen Akzent auf In-formation und war sehr moderat ausgelegt (Cor-nelsen 1991: 97). Der NABU versucht bis heu-te eher zu informieren als zu provozieren (Krü-ger/Klinkusch 2005). Die Öffentlichkeitsarbeitwurde lange vernachlässigt und beispielsweiseerst 1990 der erste Pressesprecher eingestellt.Auch (Protest-)Aktionen haben sich nur lang-sam etabliert. Diese nutzt der NABU, um diekomplexen Problematiken der Umweltpolitikeiner breiten Öffentlichkeit näher zu bringen undso eine stärkere Verhandlungsposition zu errei-chen (Billen 2005). Sie sind aber „kein Selbst-zweck“. Im Gegenteil: Da die eigenen Themen-schwerpunkte als oftmals nicht für (Protest-)Ak-

Manuel Reiß

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tionen geeignet angesehen und konfrontativeInstrumente von der relativ konservativ gepräg-ten Mitgliedschaft kaum goutiert werden (Krü-ger/Klinkusch 2005), gelten (Protest-)Aktionenals Ultimo Ratio: „Wenn man gute Kontakte indie Parteien hat, braucht man keine spektakulä-ren Aktionen“ (Billen 2005).

Doch selbst innerhalb der leisen Instrumen-te sind Mittel und Zweck aufgeteilt. Die Mitar-beit in Gremien wird zwar wie bei behördlichenNaturschutzverfahren (NABU 2006b) und An-hörungen durchaus weitreichend genutzt, kannaber – wie die konfrontativen Instrumente – auchnur als Türöffner für die zentralen Lobbyge-spräche verstanden werden. Für diese Türöff-nerfunktion hat der NABU zudem sogar gezielteigene Konzepte zur Durchführung von Kon-taktveranstaltungen wie den NABU-Talk oderden NABU-Salon entwickelt (Krüger/Klin-kusch 2005). Im Kern steht aber das kooperati-ve Verständnis des NABU, wenn es um politi-sche Einflussnahme geht: „Wir sind ein Lobby-verband“ (Krüger/Klinkusch 2005). Hier siehtder NABU seine größten Stärken zur politi-schen Einflussnahme, da er seine als verläss-lich geltende Expertise direkt einbringen kannund über die Jahre in enge Vertrauensnetzwerkeeingebunden wurde. Dies wird organisations-intern auch als ein Ergebnis der kooperativenStrategie gesehen.

2.4 WWF Deutschland

Was heute bei WWF Deutschland selbstver-ständlich ist, hat die Organisation erst 1993mit ihrer „ersten großen Kampagne“ (WWF2007b) begonnen: „Kampagnenarbeit nachdem Vorbild Greenpeace“ (Groth 2005). Dabeikonzentriert sich der WWF neben der prakti-schen Naturschutzarbeit auf Schwerpunktkam-pagnen mit einer Dauer von bis zu einem Jahr.In den letzten drei Jahren standen die Rettungder Lebensräume der Sumatra-Tiger (2004),der Orang-Utans (2005) und der Flachlandgo-

rillas ganz oben auf der Tagesordnung. Daranlässt sich auch die Internationalität von WWFDeutschland erkennen, denn zumindest dieseKampagnen stellen den Naturschutz auf ande-ren Kontinenten in den Mittelpunkt. Mit sei-nen Kampagnen will der WWF aber vor allemeinem Ansatz im Selbstverständnis mit mehrals 40-jähriger Gültigkeit gerecht werden: „Ko-operation statt Konfrontation“ (WWF 2007a).

Kampagnen werden als Mittel verstanden,„möglichst viele Menschen über ein sehr drin-gendes Thema des Naturschutzes zu informie-ren (WWF 2007b). Laute und leise Instrumentewerden als integrative Teile der Kampagnengesehen und ihre richtige Mischung als wichtigfür eine Spendenorganisation bewertet. EineGewichtung ist eher von der Qualität als vonder Quantität her zu erkennen. Die Erkenntnisder Notwendigkeiten des Medienzeitalters ha-ben den WWF zur Nutzung von (Protest-)Akti-onen gezwungen – der Schwerpunkt beim Na-tur- und Artenschutz und die Kooperativität sindgeblieben: „Wir müssen heute für die MedienBilder schaffen (…), um Botschaften zu trans-portieren. So was hat der WWF in den 70erJahren nicht gemacht“. Bilder werden geschaf-fen, um zu informieren. Das Blockieren über-nehmen andere. „Sich an Werkstore zu ketten,sind Dinge, die typisch sind für andere Um-weltschutzorganisationen. Bei uns passen sienicht“. Die Öffentlichkeitsarbeit ist von hoherProfessionalität geprägt und wird sehr koope-rativ eingesetzt: Lob für Wohlverhalten statt Ta-del für Missetaten (Cornelsen 191: 108).

Auch weil der WWF über enge Netzwerkeverfügt, sieht man Mitarbeitsformen in Gre-mien auch als „Farce“ an (Groth 2005). Aufder Seite der leisen Instrumente ist „kein Ver-band so eng an Regierungen und staatlichenInstitutionen“ (Bergstedt, 2002: 70) gebundenwie der WWF. Die Organisation setzt nach ei-genem Bekunden auf die Kraft der Argumenteim Dialog (WWF 2007a), bei der wissenschaft-liche Fundierung auch durch eigene Institute,

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wie das Aueninstitut, als „Fundament für Lob-bying“ (Groth 2005) gesehen wird. Die Hier-archie der Instrumente lässt sich bei Politik-und Kommunikationschef Klaus-HenningGroth erkennen: „Natürlich dringen wir mitunserer Position nicht überall durch, aber dannbleiben wir dran und kommentieren den Ent-wurf (von Gesetzesvorhaben, M.R) in derÖffentlichkeit“ (Groth 2005). Der Öffentlich-keit wird Druckpotenzial zugesprochen, aberes wird erst nach dem Lobbying eingesetzt.Hiersieht Groth die Zukunft: „Deshalb müssen wirin Zukunft noch stärker auf Politik (…) einge-hen“ (ebd.).

3 Fazit: Kampagnen als Spiegelbilddes Selbstverständnisses

Vier NGOs, vier Kampagnenmodelle. Wennman die Unterschiede grob zusammenfasst,dann könnte man sagen: Während BUND undGreenpeace die Betonung auf konfrontative In-strumente legen, betonen NABU und WWFdie kooperativen Wege zur Beeinflussung despolitischen Systems und wissen dabei beideum ihre engen Kontaktnetze. Bei genauerer Be-trachtung lassen sich feinere Konturen in denDifferenzen zwischen den vier Umweltschutz-organisationen erkennen. Da unterscheiden sichBUND und Greenpeace sehr deutlich in ihrerSchwerpunktsetzung auf den Politikebenen undin der Machtausgestaltung der „Basis“ – wäh-rend die Mitglieder des BUND direkten Ein-fluss auf die Organisationsstrategie nehmen,üben die Förderer von Greenpeace nur indi-rekt, aber auch unkalkulierbarer, ihre Machtüber den Spendenzahlschein aus. Auf der an-deren Seite stehen WWF und NABU – mit zuweiten Teilen ähnlichen, aber spiegelverkehr-ten Differenzen. Hier trifft der internationalausgerichtete WWF Deutschland mit seinenmitspracherechtslosen Förderern auf denNABU, der auf den nationalen Politikebenenseine Schwerpunkte setzt und diese Schwer-

punkte auf allen Ebenen von den Mitgliedernmit gestalten lässt.

Trotz dieser Unterschiede überwiegen aberdie Gemeinsamkeiten. Allen vier NGOs ist klar,dass sie nur über ein Zusammenspiel aller In-strumente ihre Ziele erreichen können. Dabeiverfügen alle vier über ein hohes Maß an Ex-pertise. Diese Ressource wird aber noch zu de-fensiv genutzt – auch teilweise aus Rücksichtauf das Selbstverständnis. Bei den „Big 4“ lässtsich aber einheitlich und eindeutig erkennen:Die jeweilige Orientierung auf dem Kontinuumder Instrumente hat weniger mit der Organisati-onsstruktur zu tun. Wäre das so, würden BUNDund NABU sowie Greenpeace und WWF diePaare bilden. Vielmehr lässt sich an diesem kur-zen Vergleich darstellen, dass die Gewichtungder unterschiedlichen Instrumente innerhalb derKampagnen und damit die Kampagnen an sichin der Tat Spiegelbilder des Selbstverständnis-ses der NGOs sind. Sie bleiben pfadabhängiginnerhalb der Tradition der Instrumentarien unddamit ihrem Selbstverständnis treu. Und wennGreenpeace lobbyiert oder der NABU konfron-tative (Protest-)Aktionen nutzt, versuchen siein der Außendarstellung dem Spiegelbild ihresSelbstverständnisses doch gerecht zu werdenund verkaufen die Anwendung dieser Instru-mente bewusst zurückhaltend.

Hierfür gibt es zumindest eine zentrale Ur-sache, die für die gesamte Pfadabhängigkeit giltund welche die „BIG 4“ vielleicht am meistenverbindet: die Abhängigkeit von der Unterstüt-zung des Zielpublikums. Verlieren die Unter-stützer den Glauben an die NGOs, verlieren dieNGOs die Unterstützer. Je unabhängiger dieOrganisationen von den Spenden ihrer Unter-stützer sind, desto flexibler können sie agieren.Dieses Problem könnte sich noch verschärfen.Die Menschen haben immer weniger Geld inden Taschen. Die Hoffnung auf die Vernunftder Menschen stirbt insbesondere in Zeiten desKlimawandels zuletzt, aber frei nach Brecht: Erstkommt das Fressen, dann der Umweltschutz.

Manuel Reiß

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Industriesponsoring könnte eine Möglich-keit dafür sein. Die NGOs sollten aber nicht zulange zögern, denn auch ihr Image könnte ir-gendwann seinen schillernden Glanz und damitseine Anziehungskraft verlieren. Und nur dankdieser Anziehungskraft können sie Wirtschafts-akteure als Geldgeber gewinnen, bei denen dieNGOs nicht sich selbst verkaufen, sondern nurihr gutes Image verleihen. Die grundsätzlichenUmweltschutzziele müssen allerdings unantast-bar im Mittelpunkt stehen, sonst bewegen sichdie NGOs selbst ins Abseits der Irrelevanz.

Manuel Reiß hat bis 2006 in Duisburg, Ports-mouth und Berlin Politikwissenschaft studiertund arbeitet seitdem als Wissenschaftlicher Mit-arbeiter eines Bundestagsabgeordneten.

Anmerkungen

1Zum Begriff und zur Arbeitsweise vonKampagnen siehe den Beitrag von Speth (Überdie Inszenierung von Öffentlichkeit durch Kam-pagnen) in diesem Heft.

2Die Daten entstammen meiner Diplomar-beit „NGO-Lobbying“ – ein Vergleich von Stra-tegien, Stellenwerten und Sichtweisen der Ent-wicklungspotenziale bei Umweltschutzorgani-sationen in Deutschland“ vom August 2006 ander Freien Universität Berlin.

3Während Mitglieder für ihren Vereinsbei-trag auch Mitspracherechte zugesprochen wer-den, treten Förderer oftmals nur einmalig alsSpender auf.

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Manuel Reiß

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Da Protestakteure von relevanten politischenEntscheidungsprozessen ausgeschlossen sind,sind sie mehr noch als die Angehörigen derpolitischen Klasse gezwungen, andere auf ihreAnliegen aufmerksam zu machen und von ih-ren Forderungen zu überzeugen. Protestierenist somit zwangsläufig stets kommunikatives,auf politische Öffentlichkeit gerichtetes Han-deln (Baringhorst 1998: 327f.). Dies gilt in be-sonderem Maße für strategisch geplante trans-nationale Protestkampagnen, welche zur Durch-setzung ihrer Forderungen auf die Erzeugungöffentlichen Drucks sowie eines öffentlichenBewusstseins für bestimmte Themen oder is-sues angewiesen sind (Lahusen 1996). Anti-Corporate Campaigns eignen sich besondersals Gegenstand der Analyse medialer Techni-ken und sozialer Praxen kampagnenförmigerProtestmobilisierung, weil sie an die Sichtbar-keit und symbolische Bedeutung von Unter-nehmens- und/oder Produktmarken im öffent-lichen Raum anknüpfen und versuchen, übervorhandenes, von Unternehmen kampagnen-förmig erzeugtes Markenbewusstsein eine brei-te Anschlusskommunikation herzustellen.Beispielsweise antwortet die Künstlergruppe0100101110101101.ORG, welche die Kampa-gne Nikeground1 mitgestaltet hat, auf die Frage,warum das Unternehmen Nike ausgewähltwurde: „We could have used any other brand,we just chose the most visible one. Nike is aperfect subject for a work of art: its logo, theSwoosh, is probably the most ,viewed‘ bandon earth, more than any political or religioussymbol“ (0100101110101101.ORG zit. in Bie-ber 2004).

Der Trend zur Institutionalisierung und Pro-fessionalisierung von Protestkommunikation

Sigrid Baringhorst/Veronika Kneip/Johanna Niesyto

Anti-Corporate Campaigns im Netz: Techniken und Praxen

ging in den 1980er und 1990er Jahren mit einerzunehmenden Anpassung an die Selektionsfil-ter der kommerziellen Massenmedien einher undbegünstigte eine Selbstinszenierung von Pro-testakteuren als Marke wie aber auch die Erzeu-gung von massenmedialer Öffentlichkeit fürProtestanliegen durch die Skandalisierung be-kannter Marken. Knüpfen Protestakteure an dieBekanntheit einzelner Produkt- und Unterneh-mensmarken an, so gewinnen sie zwar eine re-lativ hohe Aufmerksamkeit für ihre Anliegen,laufen jedoch zugleich Gefahr, die nicht diskur-sive, top-down geführte und primär auf dieGenerierung massenmedialer Resonanz ausge-richtete Struktur kampagnenförmiger Unterneh-menskommunikation zu reproduzieren. Zu fra-gen ist nun, inwiefern durch die Einführungund Verbreitung der digitalen Medien, insbe-sondere des Internets, dieser Trend zur Kampa-gnenpolitik, d.h. die strategische Ausrichtungvon Protestkommunikation an single issues, dieKonzentration auf zeitlich begrenzte Mobilisie-rungsphasen und die Generierung massenme-dialer Resonanz, umgekehrt werden kann bzw.umgekehrt wird. Das Netz, so eine häufige An-nahme der politischen Kommunikations- undsozialen Bewegungsforschung, biete insbe-sondere ressourcenarmen Akteuren – und diessind Protestakteure in der Regel – die Möglich-keit, die Selektionsfilter massenmedialer Gate-keeper zu umgehen. Die technische Struktur desInternets begünstige eine Desintermediation2 derKommunikation und schaffe deshalb neue An-reize, die Konsumentenhaltung von Medienre-zipienten aufzubrechen. Sie fördere zudem in-novative Formen einer autonomen und selbst-bestimmten Medienproduktion. Wikis und Blogssowie unabhängige Nachrichtenportale wie In-

Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

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dymedia sind häufig zitierte Varianten für Netz-öffentlichkeiten, die an Konzepte der alternati-ven Öffentlichkeit anknüpfen:

„Internet itself has undergone significanttransformations during this time toward beco-ming a more participatory and democratic medi-um. Innovative forms of communicative design,such as blogs, wikis and social networking por-tals have emerged as central developments ofthe Net’s hypertextual architecture, and onlinephenomena such as hacker culture and web mi-litancy are no longer the elite and marginal tech-nocultures of a decade ago.“ (Kahn /Kellner2005: 81)

Lassen sich auch im Rahmen von Anti-Cor-porate Campaigns solche Tendenzen zur Desin-termediation im Sinne individueller Teilhabe ander Erzeugung von Öffentlichkeit finden? In-wieweit agieren Protestakteure über ihre Web-sites selbst als neue Intermediäre und lassen soTendenzen eines Reintermediationsprozesses imInternet erkennen? Oder kommt traditionellenIntermediären des massenmedialen Systemsauch in der Internetkommunikation der Kampa-gnen eine besondere Bedeutung zu?

Der vorliegende Beitrag stellt eine empiri-sche Analyse von Kampagnen-Websites vor,die von der Frage ausgeht, auf welche Art undWeise diese versuchen, Öffentlichkeit zu gene-rieren. Als Grundlage der Analyse dient eine ander Universität Siegen durchgeführte Untersu-chung von transnationalen Anti-Corporate Cam-paigns im deutschsprachigen Raum.

1 Ziele und Methoden

Im Rahmen des Forschungsprojektes Protest-und Medienkulturen im Umbruch, welches vonJuli 2005 bis Juli 2009 angelegt ist, wurden ineiner ersten Phase insgesamt 109 Kampagnenim Zeitraum von 1995 bis 2005 identifiziert3,von denen zurzeit zehn ausgewählte Kampag-nen aus verschiedenen thematischen Bereichenin einer tiefer gehenden Analyse (,in-depth-ana-

lysis‘) untersucht werden. Die Datenerhebungerfolgt dabei auf der Grundlage von Inhaltsana-lysen der Websites, qualitativen Interviews mitProtestakteuren und Unternehmensvertreternsowie Online-Befragungen mit mobilisiertenBasisakteuren.4

Zurückgreifend auf die Unterscheidung vonRössler und Wirth (2001) in angebots- undnutzerzentrierte Inhaltsanalysen im World WideWeb, konzentrierte sich die Analyse des ge-samten Datenkorpus auf eine Untersuchungdes Angebots von Partizipations- und Vernet-zungsmöglichkeiten auf den Websites derKampagnen. Im Rahmen der Tiefenanalysebzw. in Leitfadeninterviews und Online-Be-fragungen wurde deren Nutzung und Bedeu-tung für Kampagnenunterstützer wie Konflikt-adressaten (angegriffene Unternehmen) erho-ben. Die vorgefundenen Angebote wurden ineinem weiteren Schritt systematisiert. Damitsollen Fragen nach den Rückwirkungen netz-spezifischer Techniken der Kommunikationund Interaktion auf grundlegende, für den Er-folg transnationaler Protestkampagnen wesent-liche soziale Praxen beantwortet werden. AlsAusgangspunkt der Systematisierung dienteeine Studie von Foot und Schneider (2006) zuUS-Wahlkampagnen, die in Bezug auf Pro-testkampagnen modifiziert wurde. In der Stu-die werden Kampagnen als soziotechnischeNetzwerke konzipiert, um so die Wechselbe-ziehungen zwischen sozialen und technischenAspekten von Handlungen und Kommunika-tionen, die auf die Erreichung eines gemeinsa-mes Zieles ausgerichtet sind, zu betonen (Foot/Schneider: 14f.). Mit Bezug auf Giddens Struk-turationstheorie und auf Orlikowskis Struktu-rationsmodell verweist die analytische Unter-scheidung zwischen Techniken und Praxen aufdie Dynamiken zwischen Kampagnenorgani-sationen und deren Webartefakten: „We con-tend that campaigns’ act of making on the Webreflect the electoral [resp. protest] arena, exis-ting organizational structures, and prior

Sigrid Baringhorst/Veronika Kneip/Johanna Niesyto

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practices, and result in particular organizatio-nal and online strucures“ (Foot/Schneider: 18).

Da Foot und Schneider ihre Analyse aufWahlkampfkampagnen im Netz beziehen, wur-den die von den Autoren identifizierten sozialenPraxen in Bezug auf Protestkampagnen modifi-ziert. Ausgangspunkt dieser Modifikation bil-deten folgende von Lahusen (1996) beschrie-bene Aufgaben transnationaler Protestkampag-nen: Entwicklung organisierter Handlungspro-gramme; thematische Fokussierung auf be-stimmte Themen oder Issues; Erzeugung öf-fentlicher Aufmerksamkeit und öffentlichenDrucks; Erzeugung und Stabilisierung von Netz-werken; Koordination und Verknüpfung unter-schiedlicher räumlicher Handlungsebenen undAkteure sowie Kooperation mit Akteuren. Die-se Aufgaben können zu folgenden sozialen Pra-xen zusammengefasst werden:• Framing: Fokussierung auf bestimmte The-

men im Kontext der Setzung von Deutungs-rahmen als auch die damit verbundene Ent-wicklung von Handlungsprogrammen;

• Identität stiften: Aufbau und Stabilisierungder eigenen Kampagnenorganisation überRessourcenmobilisierung, Partizipationsan-gebote hinsichtlich der Beteiligung am inter-nen Diskursen sowie Versuche zur Erzeu-gung einer kollektiven Identität;

• Netzwerken: Kooperation von Akteuren un-terschiedlicher gesellschaftlicher Subsyste-me sowie anderer zivilgesellschaftlicher Ak-teure (sektorale Vernetzung) und der Koor-dination unterschiedlicher räumlicher Ebe-nen der Protestkommunikation (räumlicheVernetzung);

• Mobilisieren: Partizipationsangebote, welcheauf die Erzeugung öffentlichen Drucks zie-len.

In der netzbasierten Kampagnenkommunikati-on werden diese sozialen Praxen durch unter-schiedliche Techniken realisiert. In Anlehnungan Foot und Schneider werden folgende Tech-niken des Webcampaignings unterschieden:

Produktion, Koproduktion, Online-Vernetzungund Online-Offline-Vernetzung.5

• Produktion: Herstellung und Bereitstellungvon Netzartefakten durch die Kampagnen-träger selbst;

• Koproduktion: Beteiligung sowie eigenstän-dige Produktion von Netzartefakten durchUser der Kampagnenwebsite;

• Online-Vernetzung: Vernetzung innerhalbdes Online-Raums via Hyperlinks;

• Online-Offline-Vernetzung: Einbindung vonOffline-Kommunikation auf der Kampag-nen-Website.

Im Folgenden wird gezeigt, inwieweit Kam-pagnenakteure – in der Regel einzelne NROsoder Netzwerke von NROs – im Rahmen vonAnti-Corporate Campaigns im deutschsprachi-gen Raum bestimmte netzspezifische Techni-ken für die oben genannten sozialen Praxennutzen.

2 Ergebnisse der Analyse2.1 Produktion

a) Framing: Die analysierten Kampagnen-Web-sites offenbaren eine Fülle unterschiedlicherMöglichkeiten, ihre Anhänger sowie eine brei-tere Öffentlichkeit über die eigene Website mitHintergrundinformationen zu versorgen und dieeigenen Deutungsrahmen zu vermitteln.6 Fast70 Prozent aller untersuchten Kampagnen stel-len auf ihrer Website Publikationen (z.B. Grund-lagenpapiere, Studien, Statistiken) zur Verfü-gung, die über die Verfehlungen des angegriffe-nen Unternehmens aufklären oder die Verlaut-barungen des Gegners in Frage stellen. In die-sem Sinne veröffentlichte beispielsweise derDachverband der Kritischen AktionärInnenDaimler-Chrysler im Rahmen der KampagneDaimler-Minen stoppen! regelmäßig alternati-ve Geschäftsberichte. Vielfach wurde und wirddigitale Technik genutzt, um Informationen zustrukturieren oder aufzubereiten. So bietet dieInternational Campaign to Ban Landmines mit

Anti-Corporate Campaigns im Netz: Techniken und Praxen

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dem Index on Landmines eine umfangreicheDatenbank an und die WWF-Kampagne PowerSwitch visualisiert durch eine interaktive Kartedie klimaschädlichsten Kraftwerke. Über Dia-shows, Power-Point- und Flash-Präsentationensowie selbst produzierte Audiobeiträge und Fil-me unterstützen zahlreiche Kampagnen multi-medial die kommunikative Rahmung ihrer An-liegen. Zudem wird beispielsweise mit monatli-chen bzw. wöchentlichen Newslettern oder mittagesaktuellen Newstickern wie im Fall des In-ternational Action Network on Small Arms dieSchnelligkeit des Internet genutzt.

Überdies bietet die Bereitstellung von Ad-bustings (entfremdete Werbelogos und/oder -anzeigen) visuelle Protestartefakte an, welchein Anlehnung an globale unternehmerische Mar-ketingstrategien sprachliche und kulturelle Bar-rieren überwinden können. Auch die Mehrspra-chigkeit vieler Websites weist darauf hin, dassAnti-Corporate Campaigns sich in einem glo-balen Kontext sehen.

b) Identität stiften: Auf der Ebene der Identi-tätsstiftung werden ebenfalls die Möglichkeitender visuellen und audiovisuellen Kommunika-tion eingesetzt, um die Gemeinschaftsbildungauch außerhalb des physischen Raums voran-zutreiben. So werden eigene Kampagnenslo-gans und -logos entwickelt, die von den Kam-pagnenunterstützern heruntergeladen und in ei-genen Kontexten verwendet werden können.Ebenso können in manchen Fällen Kampag-nensongs online gehört oder heruntergeladenwerden oder es werden Online-Spiele zur Ver-fügung gestellt – wie beispielsweise Switch’emoff bei dem Anhänger der Kampagne PowerSwitch den Globus virtuell von schädlichenKraftwerken befreien können. Neben der Ent-wicklung eigener ‚Markenzeichen‘ knüpfenzahlreiche Anti-Corporate Campaigns ihre Iden-titätsbildung an die Verfremdung und Umdeu-tung der Markenkommunikation des angegrif-fenen Unternehmens im Sinne von Culture Jam-ming7.

Grafik 1: Culture Jamming im Kontext derKampagne Mit ‚Tempo‘ in die ArmutQuelle: http://www.umwelt.org/robin-wood/german/trowa/urwaldpapier/index-tempo.htm[23.04.2007]

Zentral für die Identitätsbildung im virtuel-len Raum sind darüber hinaus Fotogalerien vonKampagnenunterstützern. Mit ihnen kann derAnonymität des Mediums entgegenwirkt wer-den und können Unterstützer sich selbst verge-wissern, indem beispielsweise Angaben über

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die Besucherfrequenz oder die Nutzung der aufder Website angebotenen Partizipationsmöglich-keiten veröffentlicht werden.

c) Netzwerken: Kampagnenträger nutzenzudem netzspezifische Strukturen, um den di-rekten Kontakt zu ihren Unterstützern und Ko-operationspartnern herzustellen oder den Kon-takt zwischen ihnen zu erleichtern. Hier kannzunächst die Bereitstellung von Bannern, But-tons oder Bildern für die eigenen Websites derUnterstützer genannt werden, die dadurch dieMöglichkeit erhalten, von Mobilisierten zuMobilisierern zu werden. Einen ähnlichen An-satz verfolgen E-Mail-Tools, durch die Websi-te-Besucher andere auf die Kampagne aufmerk-sam machen oder ihnen direkt ausgewählte Ar-tikel, Bilder oder Videos weiterleiten können.Eine besondere Bedeutung für die soziale Ver-netzung von Kampagnenakteuren im virtuellenRaum können Foren, Chats oder Weblogs ein-nehmen. Allerdings bieten nur gut 20 Prozentder untersuchten Kampagnen ihren Anhängerndiese Möglichkeit. Vor allem im Kontext res-sourcenstarker Kampagnenträger finden sichsowohl passwortgeschützte Mitgliederbereicheals auch offene Foren. Hier können unter ande-rem der Schwarzbuch-Weblog der Ver.di Lidl-Kampagne oder das Greenpeace-Cybercenter,in dem zu verschiedenen Themen und Kampag-nen diskutiert wird, angeführt werden. ErsteErgebnisse der Tiefenanalyse lassen vermuten,dass diese Funktion bei Kampagnen ressour-censchwächerer Akteure durch Mailinglistenübernommen werden kann.

d) Mobilisieren: Schließlich setzen Kampa-gnenträger netzbasierte Techniken ein, um An-hänger zu mobilisieren und ihnen Partizipati-onsmöglichkeiten zu eröffnen. So erleichtert dasInternet ein mehrsprachiges Kampagnenange-bot. Mehr als die Hälfte aller untersuchten Kam-pagnen bietet ihre gesamte Website oder einzel-ne Dokumente in verschiedenen Sprachen anund schafft damit die Voraussetzung für dieMobilisierung nichtdeutschsprachiger Akteure.

Auch vereinfacht das Internet passive oder stan-dardisierte Unterstützungsleistungen: Im Fall derKampagne Stop Killer Coke kann so eine Spen-de über das gängige Online-Transaktionssys-tem PayPal vorgenommen werden. Ebenso kön-nen Unterschriftenlisten oder (vorformulierte)Protestschreiben im Netz mittels so genannterMailomaten effizient eingesetzt werden. EinGroßteil der analysierten Kampagnen ruft zuderartigen Unterstützungsleistungen auf, nur gutzehn Prozent bieten dagegen innovative Onli-ne-Partizipationsformen wie virtuelle SitIns oderOnline-Demonstrationen an. Beispielhaft kön-nen hier die Blockade der Lufthansa-Websitedurch die Kampagne Deportation Class oderdas MSBC IError Program der Microsoft Boy-cott Campaign genannt werden.

2.2 Koproduktion

a) Framing: Was Hintergrundinformationen zurKampagne oder inhaltliche Deutungsrahmenbetrifft, so spielt im Hinblick auf die Beteili-gung der User vor allem die Veröffentlichungvon Erfahrungsberichten auf der Website einewichtige Rolle. So kommen in der KampagneRyan Be Fair in einem Forum Mitarbeiter desUnternehmens Ryanair anonym zu Wort. Desweiteren bieten Kampagnen unterschiedlicheFeedback-Möglichkeiten wie Online-Formula-re an, mit denen Fragen oder Anregungen an dieKampagnenträger formuliert werden können,so dass hier ebenfalls – wenn auch indirekt –auf das Kampagnenframing Einfluss genom-men werden kann.

b) Identität stiften: Im Hinblick auf Gemein-schaftsbildung und Bindung an die Kampagnekönnen Kampagnenunterstützer im Netzebenfalls zu Koproduzenten werden. Sie kön-nen etwa durch Online-Spenden ihre Verbun-denheit mit der Kampagne ausdrücken, zur Ent-wicklung von Kampagnenlogos bzw. zur Ver-fremdung von Markenzeichen beitragen oder insonstiger Form auf der Website kollektiv und

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kreativ tätig werden. Die Kampagne BlackspotShoes der Abbusters Media Foundation sam-melt und veröffentlicht beispielsweise Ideen vonUnterstützern, die ihre eigenen Schuhe im Sin-ne der Kampagne von Markenzeichen ‚befreit’haben.

c) Netzwerken: Die Koproduktion im Sinneeiner sozialen Integration der Kampagnenun-terstützer durch internetspezifische Technikenist in erster Linie auf technische Infrastrukturenwie Foren und Weblogs oder Netzartefakte wieBanner oder Bilder angewiesen. Hier wird deut-lich, dass Produktion und Koproduktion wech-selseitig aufeinander verweisen. Ebenso wieBasisakteure auf die Vorleistung der Kampag-neninitiatoren angewiesen sind, um zu Kopro-duzenten werden zu können, können Infrastruk-turen wie Weblogs nur dann zum Aufbau undzur Stabilisierung von sozialen Netzwerken bei-

tragen, wenn Basisakteure ihre Rolle als Ko-produzenten annehmen.

d) Mobilisieren: Schließlich können Kam-pagnenunterstützer als Koproduzenten zur Mo-bilisierung beitragen, indem sie Online-Aktio-nen wie virtuelle Demonstrationen umsetzenoder – wie im Fall der Kampagne Lidl ist nichtzu billigen – eigenständige Aktionsideen auf derKampagnenwebsite veröffentlichen.

2.3 Online-Vernetzung

a) Framing: Hyperlinks zur technischen Vernet-zung unterschiedlicher Online-Räume werdenim Zuge der Informationsvermittlung und kom-munikativen Rahmung vor allem eingesetzt, umzu externen Experteninformationen zu verlin-ken. Die Coordination gegen Bayer Gefahren,Träger verschiedener Kampagnen gegen das

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Chemieunternehmen, verweist in diesem Sinneauf verschiedene Watchdogs wie das Corpora-te Europe Observatory oder Corporate Watch.

b) Identität stiften: Auf der Grundlage einerWebsiteanalyse lässt sich nur schwer die Fragebeantworten, welche Verlinkungen der Einbin-dung von Akteuren in Kampagnen dienen. Qua-litative Interviews im Rahmen der bisher durch-geführten Einzelfallanalysen lassen vermuten,dass der Technik der Online-Vernetzung in Be-zug auf die Praxis der Identitätsstiftung im Ver-gleich zu einerseits direkten Kontakten im rea-len Raum und andererseits multimedialen Netz-artefakten eine eher untergeordnete Bedeutungzukommt. Dennoch kann vermutet werden, dassbestimmte Kategorien von Hyperlinks zumin-dest einen Beitrag zur Herausbildung einer kol-lektiven Identität leisten. Dies sind zunächstVerlinkungen zu unterschiedlichen nationalenUnterkampagnen oder anderen Kampagnen derTrägerorganisation. Daneben verweisen Kam-pagnen durch Verlinkungen darauf, Teil einesübergreifenden – häufig transnationalen – Netz-werks zu sein. Generell bieten Hyperlinks dieMöglichkeit, sogar sehr große Netzwerke sicht-bar zu machen, wie im Fall der InternationalCampaign to Ban Landmines, die von 1400Nichtregierungsorganisationen in 90 Länderngetragen wird.

c) Netzwerken: Die Praxis der sozialen undvor allem organisationalen Integration liegt inder Technik der Online-Vernetzung begründet,weshalb sich in Bezug auf diese Praxis be-sonders viele Möglichkeiten für Kampagnenergeben. Auch die zuvor genannten Verlinkun-gen können nicht nur dem Aufbau kollektiverIdentität, sondern ebenso der horizontalen undvertikalen organisationalen Vernetzung dienen.Darüber hinaus sind verschiedene Ebenen desHyperlinking für die Vernetzung der Kampag-nenwebsite mit Dritten relevant. Hier kann zumeinen der Verweis auf Kampagnen oder Akteu-re aus dem gleichen Themenspektrum genanntwerden. So verlinkt die Foodwatch-Kampagne

Burgerbewegung auf Greenpeace-Kampagnenzum Thema Genfood und die Kampagne De-portation Class ist mit Flüchtlingsräten vernetzt.Zum anderen verdeutlichen zahlreiche Kampa-gnen ihre Anschlussfähigkeit an verschiedeneübergreifende Wertvorstellungen, indem sie zudiversen Akteuren mit unterschiedlichen The-menspektren verlinken. In diesem Sinne ver-weist die Kampagne für saubere Kleidung so-wohl auf kirchliche und gewerkschaftlicheNROs als auch auf Verbraucherorganisationenund Label-Informationsseiten. Generell ermög-lichen Verlinkungen, diskursive Vernetzungenaufzubauen, die zur Defragmentierung von Tei-löffentlichkeiten beitragen, obwohl sie nichtzwangsläufig von einer direkten Kooperationverschiedener Organisationen begleitet seinmüssen. Derartige Vernetzungen sind vor allemim transnationalen Bereich relevant, wo inter-organisationale Vernetzungen häufig an Res-sourcengrenzen stoßen.

d) Mobilisieren: Schließlich kann die Ver-netzung der Kampagnen-Website mit anderenSeiten im Kontext von Mobilisierungsbestre-bungen genutzt werden, indem zu Online-Pro-testen anderer Akteure verlinkt wird. Auf derWebsite der österreichischen Burma Campaignfindet sich zum Beispiel ein Link zu einer Un-terschriftenaktion der britischen Unterkampag-ne und die BUKO-Kampagne Stoppt die Biopi-raten! verlinkt zu einem E-Mail-Formular einerbrasilianischen Initiative.

2.4 Online-Offline-Vernetzung

a) Framing: Mit Blick auf die Defragmentie-rung von Öffentlichkeit und die Vernetzung ver-schiedener Teilöffentlichkeiten spielt nicht nurdie Verlinkung innerhalb des Internets, sondernauch die Nutzung netzspezifischer Technikender Verknüpfung zwischen Online- und Off-line-Kommunikation eine wichtige Rolle. Einederartige Verknüpfung wird beispielsweise her-gestellt, indem eigene Alternativmedien der

Anti-Corporate Campaigns im Netz: Techniken und Praxen

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Kampagne (z.B. Kampagnenzeitungen) onlineund in Printform publiziert werden. Darüberhinaus stellen Kampagnen Medienberichte aufihrer Website gebündelt zur Verfügung8 oderverweisen auf ausgewählte Medienberichte imKampagnenkontext. Netzöffentlichkeit findet soAnschluss an massenmediale Öffentlichkeit unddie massenmediale Berichterstattung wird überdie Grenzen des Mediums hinaus sichtbar. Diebisher im Rahmen der Einzelfallanalysen durch-geführten Tiefeninterviews bestätigen, dassmassenmediale Resonanz nach wie als ein wich-tiger Erfolgsfaktor für Kampagnen angesehenwird und internetbasierte Kampagnen somitkeineswegs losgelöst von einer breiteren Medi-enöffentlichkeit agieren.

b) Identität stiften: Im Hinblick auf die Ein-bindung von Unterstützern in die Kampagnekommt der Verknüpfung zwischen Online- undOffline-Räumen ebenfalls eine hohe Bedeutungzu. Hier geht es insbesondere darum, die für dieHerausbildung einer kollektiven Identität zen-

tralen gemeinsamen Erlebnisse auch im Netzsichtbar und das gemeinschaftliche Ereignis soüber den Kreis der unmittelbaren Teilnehmerhinaus zugänglich zu machen. In einer Vielzahlvon Kampagnen werden auf der Website Off-line-Aktionen wie Demonstrationen, die Arbeitan Informationsständen oder Unterschriften-sammlungen ausführlich beschrieben und durchFotos oder Videos veranschaulicht (s. Bildunten).

c) Netzwerken: Neben ihrer Funktion fürdie Gemeinschaftsbildung spielt die Dokumen-tation und Kommentierung von Kampagnenak-tionen auch mit Blick auf die individuelle undorganisationale Integration und Vernetzung vonKampagnenunterstützern eine wichtige Rolle.Kampagnenmitglieder oder auch Repräsentan-ten potentieller Kooperationspartner erfahrenso, in welchen Regionen die Kampagne aktivist, können sich über Ansprechpartner und Ter-mine informieren und von bereits gemachtenErfahrungen profitieren.

Sigrid Baringhorst/Veronika Kneip/Johanna Niesyto

Bild 1: ‚Aktion vor Ort‘ im Rahmen der Kampagne Lidl ist nicht zu billigenQuelle: http://www.attac.de/lidl-kampagne/index.php?id=340 [23.04.2007]

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d) Mobilisieren: Solche Informationen sindeine wichtige Vorstufe für die nach außen ge-richtete Partizipation von Kampagnenunterstütz-ern. In Bezug auf Mobilisierungserfolge kommtder Online-Offline-Vernetzung dabei aus meh-reren Gründen hohe Bedeutung zu. So werdennicht nur zentrale Termine für Offline-Aktionenauf der Website oder im Newsletter veröffent-licht, die einzelnen Aktionen werden onlinedurch verschiedene In-strumente intensiv vor-bereitet. Kampagnenma-terialien wie Flugblätteroder Plakate können her-untergeladen werden,teilweise bieten Kampa-gnen ganze toolkits fürOffline-Aktionen zumDownload an. Darüberhinaus werden im NetzHandreichungen zurDurchführung von Ak-tionen gegeben, die so-wohl organisatorischeHinweise als auch Argu-mentationshilfen – wieim Fall der KampagneJobkiller Elektrolux –enthalten können. Nichtzuletzt werden die fürAnti-Corporate Cam-paigns zentralen Boy-oder Buykottaufrufehäufig im Netz gestartet.In diesem Sinne nenntdie BananenkampagneVerkaufsorte fair gehan-delter Bananen und dieKampagne eoff ruft on-line zum Boykott desStromanbieters E.ONauf.

Es wird deutlich, dassmit einzelnen Internetan-

wendungen verschiedene Techniken und Pra-xen einhergehen können. So ermöglichenbeispielsweise Weblogs alle vier Techniken undkönnen alle vier Praxen reflektieren. Hyperlinkskönnen dagegen nur der Technik der Online-Vernetzung zugeordnet werden (vgl. Tabelle 1).

Die untenstehende Tabelle stellt die Syste-matisierung nach Kampagnenpraxen und -tech-niken exemplarisch dar.

Anti-Corporate Campaigns im Netz: Techniken und Praxen

Tabelle 1: Soziale Praxen und Techniken von KampagnenwebsitesQuelle: eigene Darstellung

Techniken

Praxen

Produktion Kopro-duktion

Online-Vernetzung

Online-Offline-Vernetzung

Framing z.B. Diditale(multimedialaufbereitete)H i n t e r -grundinfor-mationen

z.B. Feed-b a c k - F o r -mulare

z.B. Links zuexternen Ex-perteninfor-mationen

z.B. Verwei-se auf mas-senmedialeBer ichter-stattung aufder Kampa-gnenwebsite

Indentitätstiften

z.B. Photo-galerien zurEntanonymi-sierung

z.B. Veröf-fentlichungvon User-B e i t r ä g e nzum CultureJaming

z.B. Verlin-kungen zwi-schen ver-schiedenennationalenUnterkampa-gnen

z.B. Doku-m en t a t i onvon Offline-Aktionen imNetz

Netzwerke z.B. Weblogs z.B. Chats z.B. Verlin-kung zu an-deren Kam-pagnen desg l e i c h e nT h e m e n -spektrums

z.B. Veröf-fentlichungvon Kon-taktdaten

Mobilisie-rung

z.B. Online-Unterschrift

z.B. Verlin-kung mitOnlinepro-testen ande-rer Akteure

z.B. Veröf-fentlichungvon Boy-und Buy-kottaufrufen

z.B. Online-Demo

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3 Kampagnenwebsites alsIntermediäre

In der Zusammenschau zeigt sich, dass die Tech-nik der Produktion im Rahmen der Online-Auf-tritte von Anti-Corporate Campaigns überwiegt.Framing und affektive Einbindung der Kampa-gnenunterstützer sollen durch die von den Trä-gern erzeugten und bereitgestellten Angebotegeschaffen werden. Vor diesem Hintergrundlässt sich festhalten, dass Kampagnenwebsitesselbst Intermediärfunktionen im Netz überneh-men und somit zu einem Reintermediationspro-zess beitragen. Die Websites sammeln, prüfenund ordnen Informationen und stellen diese inden Kontext eigener Deutungsrahmen. AuchHyperlinks werden vor allem genutzt, um Kam-pagnen in einer bestimmten web sphere1 zu plat-zieren und ihre Bedeutung als Knotenpunkt derjeweiligen Teilöffentlichkeit hervorzuheben.

Die interaktive Einbeziehung von Usern istdagegen eher nachgeordnet und/oder wird, wieim Fall von Erfahrungsberichten, zur eigenenInformationsaggregation genutzt. Desinterme-diation im Sinne der individuellen Teilhabe ander Erzeugung von (dialogischer) Öffentlich-keit findet im Rahmen von Anti-Corporate Cam-paigns zwar statt, wird allerdings eher zur Un-terstützung der von der jeweiligen Organisationverfolgten Strategie in die Kampagnenkommu-nikation eingebunden.

Insbesondere die Anwendung der Technikder Online-Offline-Vernetzung zeigt, dass zi-vilgesellschaftliche Akteure im Rahmen vonAnti-Corporate Campaigns das Internet nichtzur ausschließlichen Herstellung autonomerGegenöffentlichkeiten nutzen. Im Verweis auftraditionelle Gatekeeper auf der kampagnenei-genen Website lässt sich ein Strategiemix aus‚adaptation‘ und ‚alternatives‘ ablesen (Rucht2004).

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Leis-tungen von Kampagnenwebsites vor allem inder Schaffung kritischer Räume im Sinne von

Themenöffentlichkeiten liegen. Dieses Ergeb-nis steht im Einklang mit der These von Auto-ren wie z.B. Polat (2005), welche die Erzeu-gung von Themenöffentlichkeiten generell alsbesonderes Potential des Internet hervorheben(Polat 2005: 454). Aus verschiedenen Gründensieht Bohman (2004) in diesem Kontext zivil-gesellschaftliche Organisationen für die Rollevon Netz-Intermediären als äußerst geeignet an:

„Given that what is needed are alternatives tothe current set of intermediaries rather than theabsence of them, civil society organizations havedistinct advantages in taking on such responsibi-lity for publicness in cyberspace. They have or-ganizational identities, so they are no longer ano-nymous; they also take over the responsibilityfor responsiveness, which remains indetermina-te in many-to-many communication. Most of all,they employ the Internet, but not as ,users‘: theycreate their own spaces, promote interactions,conduct deliberation, make information availab-le, and so on.“ (Bohman 2004: 55)

Während Bohman hier die deliberative, dia-logische Qualität zivilgesellschaftlicher Inter-netnutzung hervorhebt, weist die in diesem Bei-trag vorgestellte Bestandsaufnahme netzbasier-ter Anti-Corporate Campaigns darauf hin, dassdiese weniger einzelne netizens in öffentlicheDiskurse aktiv miteinbeziehen. Vielmehr liegtihre nicht zu unterschätzende Leistung in derBündelung verschiedener Protestöffentlichkei-ten und in der Bereitstellung vielfältiger Infor-mationen zu bestimmten issues. Dabei wirkt diein sämtlichen Anti-Corporate Websites genutzteTechnik der Online-Offline-Vernetzung einer inden Anfängen des Internet befürchteten Frag-mentierung von Öffentlichkeit entgegen.

4 Ausblick

Der eingangs erwähnte Zusammenhang zwi-schen sozialen Praxen und Internetnutzung zeigtsich im Rahmen netzbasierter Anti-CorporateCampaigns darin, dass zivilgesellschaftliche

Sigrid Baringhorst/Veronika Kneip/Johanna Niesyto

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Protestakteure Kampagnenwebsites primär zurAußenkommunikation, zur Herstellung vonÖffentlichkeit für „practices of the formattingand re-formatting of issues“ (Maares 2003)nutzen. Im Beitrag sollte deutlich geworden sein,dass Kampagnenwebsites als komplexe sozio-technische Kommunikationsräume verstandenwerden sollten, um die vielschichtigen Leistun-gen solcher Websites zu einer transnationalenpublic of publics – im Sinne eines sich auf ver-schiedenen territorialen Ebenen und in verschie-denen sektoralen Bereichen erstreckenden Netz-werks transnationaler Öffentlichkeit(en) – ana-lysieren zu können. Da unser Siegener Projektprimär Kampagnen von relativ gut organisier-ten NROs und NRO-Netzwerken untersucht,sollten vergleichende Analysen mit weniger in-stitutionalisierten zivilgesellschaftlichen Akteu-ren unter Rückgriff auf die vorgestellte Syste-matisierung von Techniken und Praxen folgen,um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, inwie-fern lose, länderübergreifende Protestnetzwer-ke die diskursiven Kommunikationspotentialedes Internet (Stichwort: Web 2.0) stärker nut-zen als große transnationale NROs.

Sigrid Baringhorst ist Professorin für Poli-tikwissenschaft an der Universität Siegen undLeiterin des Forschungsprojektes „Protest- undMedienkulturen im Umbruch“ am kulturwis-senschaftlichen Forschungskolleg „Medienum-brüche“. Email: [email protected]

Veronika Kneip ist wissenschaftliche Mitar-beiterin im o.g. Forschungsprojekt und promo-viert zum Thema Bürgerschaft als Dimensionder wirtschaftlichen Sphäre (Corporate Citizen-ship und Consumer Citizenship). (Email:[email protected]

Johanna Niesyto ist wissenschaftliche Mit-arbeiterin im o.g. Forschungsprojekt und be-schäftigt sich im Rahmen ihrer Promotion mitdem Thema europäischer Öffentlichkeit. Email:[email protected]

Anmerkungen

1Die Webpräsenz der Kampagne ist unterhttp://www.nikeground.com abrufbar.

2Mit dem Begriff der Desintermediationwird in Bezug auf die Herstellung von Öffent-lichkeit der Wegfall bzw. Bedeutungsverlustprofessioneller Kommunikationsagenten (In-termediäre) wie beispielsweise Journalisten be-zeichnet.

3Die Zusammenstellung des Gesamtsamp-les erfolgte auf Grundlage der Suche nach aus-gewählten Schlagwörtern wie „Boykott“ oder„Protest + Unternehmen“ in der SuchmaschineGoogle sowie der Prüfung von Websites markt-kritischer, zivilgesellschaftlicher Akteure (z.B.Corporate Watch, Kritische Aktionäre) bzw.bewegungsnaher Onlinemedien wie „JungeWelt“. Zudem wurde die Schlagwortsuche auchin den Archiven der überregionalen Zeitungen„taz“, „FAZ“ und „SZ“ durchgeführt. Kampag-nen wurden in das Gesamtsample aufgenom-men, wenn sie einen Unternehmens- oder Bran-chenbezug, eine Beteiligung deutschsprachigerAkteure als Träger und/oder Adressaten derKampagne sowie eine transnationale Ausrich-tung bezüglich ihrer Akteure, ihrer Adressatenund/oder ihres Diskurses aufweisen konnten.Weitere Informationen zum Forschungsdesignfinden sich unter http://www.protest-cultures.uni-siegen.de.

4Die im Folgenden dargestellten Ergebnissebeziehen sich weitgehend auf die Website-Ana-lyse des Gesamtsamples von 109 Kampagnenund integrieren erste Ergebnisse der Tiefenana-lyse.

5Foot und Schneider (2006) unterscheidenhier Koproduktion, Linking und Konvergenz(dies.: 24). Diese Systematisierung wurde umdie Technik der Produktion ergänzt, da das In-ternet nicht ausschließlich kollaborative Kom-munikationsformen ermöglicht.

6Dass diese Form der Produktion von Netz-artefakten auch für die mobilisierten Basisak-

Anti-Corporate Campaigns im Netz: Techniken und Praxen

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teure von großer Bedeutung ist, zeigen diebisher durchgeführten Online-Befragungen vonKampagnenunterstützern. Hier werden News-letter und Kampagnenwebsite als zentrale In-formationsquellen genannt.

7„Culture Jamming is the artistic strategy ofcivil disobedience: Fakes, Adbusting and Semi-otic Sniping are the new subversive strategiesin the realm of signs and the war for the recon-quest of public space.“ (Waldvogel 2004: 69)

8Fast 80 Prozent der analysierten Kampag-nen stellen auf ihrer Kampagnenseite einen Pres-sespiegel oder eigene Pressemitteilungen zurVerfügung und demonstrieren so den Anschlussan massenmediale Berichterstattung.

9„A Web sphere is a collection of dynami-cally defined digital resources spanning multip-le Web sites deemed relevant or related to a cen-tral theme or object […]“ (Foot, ohne Datum).

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Kampagnen sind Kommunikation hoch drei.Wie unvergleichlich aufwendig sich Kampag-nenarbeit auch praktisch darstellt, systematischsind die Bedingungen erfolgreicher Kommuni-kation und die Voraussetzungen gelungenerKampagnen identisch. „Wir müssen reden“ und„Wir müssen eine Kampagne machen“ sindReaktionen auf denselben Grundtatbestand: Inden Routinen des Alltagshandelns ist das Pro-blem offenbar nicht zu lösen. Seit Anfang der1980er Jahre nehmen die gewerkschaftlichenBeschlüsse zu, die eine Kampagne für diesesoder gegen jenes verlangen. Dies ist ein Indizdafür, dass die Interessenorganisationen derArbeitnehmerschaft eine steigende Zahl an Pro-blemen nicht mehr auf den eingespielten, nor-malen Wegen regeln können. Diese Feststel-lung registriert einen Sachverhalt: Sie will –auch wenn sie kritisch klingt – diese Entwick-lung hier noch nicht bewerten.

Kampagnenaktivitäten haben auf jedem derdrei zentralen gewerkschaftlichen Handlungs-felder zugenommen – dem staatlichen, dem ta-rifpolitischen und dem betrieblichen. In derPolitik sind Gewerkschaften auf dieselben Be-einflussungsinstrumente angewiesen wie jedeandere Interessenorganisation. Sie machen Lob-byarbeit mit Blick auf die Regierungen und siemachen Öffentlichkeitsarbeit, also z.B. auchKampagnenarbeit, mit Blick auf die öffentlicheMeinung. Der Zusammenhang liegt auf derHand. Wenn erstere nicht (alleine) Erfolg ver-sprechend ist, wird letztere in Angriff genom-men. Deshalb setzen DGB und Gewerkschaf-ten die Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit– von der schlichten Pressemitteilung bis zumgroß angelegten kampagnenförmigen Auftritt –in Zeiten konservativ-liberaler Regierungen in

Hans-Jürgen Arlt

Eine läuft immer, mindestens eine sogenannteÜber Kampagnen und Gewerkschaften

der Regel schneller, häufiger und umfassenderein als unter sozialdemokratisch geführten Re-gierungen. Das ist freilich ein Befund, der seit2003 – seit der Agendapolitik der rot-grünenKoalition – in dieser Klarheit nicht mehr gilt.Gegen eine regierende SPD zu demonstrierenhat die DGB-Gewerkschaften 1981/82 nochrichtig Überwindung gekostet. Heute hat esschon fast Routinecharakter.

Auffallen muss – die Lidl-Kampagne ist nurdas prominenteste Beispiel –, dass die gewerk-schaftlichen Kampagnenaktivitäten auch gegen-über der Arbeitgeberseite zunehmen. Gemeintist damit die bekannte Entwicklung, dass dieTarifauseinandersetzungen von beiden Vertrags-parteien verstärkt mit öffentlicher Kommunika-tion begleitet werden. Tarifrunden, denen einegewisse Pilotfunktion zukommt, werdeninzwischen von vorneherein von den Arbeitge-berverbänden, ebenso wie von den Gewerk-schaften, kampagnenförmig geplant. Angespro-chen sind damit vor allem auch die neueren Fäl-le, in denen die Gewerkschaft zum Kampag-nenakteur wird, weil sie (noch) nicht oder nichtmehr als Tarifakteur auftreten kann. Auf derbetrieblichen Ebene, wo sie aufgrund der Tarif-autonomie eigentlich (Mit-)Entscheidungsträgersein sollte, sieht sich die Gewerkschaft auf dieRolle des öffentlichen Kommunikators verwie-sen, denn einerseits verweigert die Arbeitge-berseite Verhandlungen und Vereinbarungen,und andererseits greifen auch die arbeitsrechtli-chen Mechanismen des Betriebsverfassungs-gesetzes nicht. In den USA, wo die Gewerk-schaften nie so festen Boden unter die Füßebekamen, nie zu politisch und ökonomisch vollanerkannten Institutionen wurden wie in weitenTeilen Europas, hat social campaining im Ver-

Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

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hältnis zur Arbeitgeberseite stets eine größereRolle gespielt (Schreieder 2005).

Immer wenn die öffentliche Kommunikati-on für den Erfolg einer Organisation wichtigerwird, wächst die Beliebtheit des bekanntenSchwarzer-Peter-Spiels zwischen Entschei-dungsträgern und Öffentlichkeitsarbeitern: ‚Diegute Politik wird schlecht verkauft‘ contra ‚Auchgute Öffentlichkeitsarbeit kann schlechte Poli-tik nicht auf Dauer positiv präsentieren‘. Füroberflächlichen Streit sind die Probleme derGewerkschaftsorganisationen jedoch zu tiefgrei-fend. Über einen Zeitraum von etwa drei Jahr-zehnten haben sich die demoskopischen Werteeher verschlechtert. Wissenschaftliche Analy-sen wurden tendenziell kritischer und journa-listische Kommentare bissiger. Noch dazu glei-ten die Mitgliederzahlen wie auf einer schiefenEbene nach unten. Mehr Signale, zu einer be-drohten Spezies zu gehören, kann die Umwelteiner Non-Profit-Organisation wohl kaum sen-den. Eine solche Organisation scheint gut bera-ten, die Arbeit an der Veränderung der Welt vo-rübergehend auf Rang zwei zu setzen, zuguns-ten der Anstrengung, die Veränderungen derWelt, die ohne und gegen sie stattfinden, ersteinmal zu begreifen.

Der folgende Text gibt in Teil 1 einige allge-meine Hinweise zur Kampagnenarbeit. Teil 2beschäftigt sich mit Stärken und Schwächengewerkschaftlicher Kampagnenaktivitäten. Teil3 diskutiert die hier einleitend angedeuteten Ver-änderungen in einem gesellschafts- und gewerk-schaftspolitischen Kontext.

1 Kampagnen-Allerlei

Die Neigung, auf öffentliche Wirksamkeit zie-lende Aktivitäten eine Kampagne zu nennen,ohne dass sie diesen Namen verdienen, ist weitverbreitet. Kampagnenarbeit, ernst genommen,bedeutet für eine Organisation nicht Addition,sondern Konzentration – in einem dreifachenSinn: Sachlich auf ein ausgewähltes, prioritäres

Anliegen, zeitlich auf eine definierte, also be-grenzte Spanne, sozial bedeutet sie eine Kon-zentration von Ressourcen, also von Arbeit undGeld. Die Kampagne unterscheidet sich von dergewöhnlichen Öffentlichkeitsarbeit durch diegeplante Dramaturgie des Verlaufs und die be-wusst angelegte Architektur des Aufbaus. Eininszenierter Anfang, ein definierter Abschlussund organisierte Höhepunkte dazwischen bil-den die Grundelemente der Verlaufsplanung.Diese Planung bedarf der Stabilität und der Fle-xibilität. Sie muss stabil genug sein, um sichnicht von jeder Kleinigkeit aus dem Konzeptbringen zu lassen. Aber sie muss auch flexibelund reversibel sein, etwa um auf überraschendeReaktionen neue Antworten geben zu können.Die Architektur hängt einerseits vom spezifi-schen Charakter der Kampagne ab – ist es z.B.eine Image-, Informations- oder eine Druck-kampagne –, andererseits von der Einschätzungder jeweiligen Umwelten, in welchen die Kam-pagne wahrgenommen, verstanden und erlebtwerden soll. Man kann sagen: Kampagnen ha-ben ein werbliches Dach, das sie weithin sicht-bar werden lässt. Sie haben thematische Säulen,die meist mit journalistischen Mitteln off- undonline die Botschaften begründen und deren Ver-standenwerden sicherstellen. Und sie haben einFundament aus direkter Kommunikation, dassie durch Events und Aktionen zum Erlebnismacht.

Wer sich die Komplexität der Kommunika-tionsaufgaben klar macht, die mit einer richti-gen Kampagne verbunden sind, wird daran zuzweifeln beginnen, dass eine erfolgreiche poli-tische Kampagne wirklich vollständig steuer-bar ist. Die präzisen Drehbücher großer durch-schlagender Kampagnen werden in der Regelerst im Nachhinein geschrieben, wenn die ver-antwortlichen Akteure ihre Erfolgsstories dich-ten. Das ist kein Alibi für Dilettantismus underst recht kein Plädoyer für strategie- und kon-zeptionsloses Durchwursteln, nur die Warnungvor falschem Perfektionismus.

Hans-Jürgen Arlt

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Kampagnen werden gemacht, dabei könnenauch Themen zu Kampagnen stilisiert werden.Bleibt ein bestimmtes Thema in der öffentlichenDebatte über einen längeren Zeitraum stabil, weilimmer neue Beiträge dazu geleistet werden, wit-tern diejenigen, die von dieser Thematisierungnegativ betroffen sind, gerne eine Kampagne.„Das ist eine Kampagne“ lautet dann der ein-schlägige Vorwurf, der besagen soll: Eigentlichist dieses Thema gar kein Thema, es wird nurvon interessierter Seite künstlich hochgespielt.

Wie viele Kampagnen, durchgeführt vonVerbänden, Parteien, Regierungen, Unterneh-men, Alternativgruppen, Bürgerinitiativen, fin-den zur Zeit statt? Alleine die „Datenbank derKooperation Dritte Welt Archive“ (www.archiv3.org) hat eine dreistellige Zahl zu bieten.Eines ist sicher: Die Dunkelziffer ist um einVielfaches höher als die Zahl der Kampagnen,die das Licht einer größeren Öffentlichkeit er-blicken, also eine gewisse Bekanntheit bei, sa-gen wir, wenigstens zehn Prozent der Bevölke-rung erreichen. Viele Kampagnen erleben zwarihren Startschuss, haben aber mit dessen Echoihren Höhepunkt schon hinter sich, der Restverschwindet sang- und klanglos. Viele andereKampagnen werden beschlossen, aber nie ge-startet. Nicht nur bei den Gewerkschaften sindBeschlüsse üblich, die der momentanen inner-organisatorischen Beruhigung dienen.

Auch durchgeführte Kampagnen können einpolitisches Alibi sein. Sie bedienen das Motto„Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft,hat schon verloren.“ Öffentlich dokumentierenzu können, dagegen gewesen zu sein, istmanchmal ein wichtiger Beitrag zur Identität ei-ner Organisation.

2 Allerlei Kampagnen

Eine läuft immer. Dass eine Gewerkschaft kei-ne Kampagne macht, ist der Ausnahmefall.Mindestens eine sogenannte ist stets im Gange.Auf der Homepage der Industriegewerkschaft

Bergbau Chemie Energie (IG BCE) werden imMai 2007 parallel sechs Kampagnen aufgeführt.• „Modell Deutschland“: Die IG BCE macht

sich mit dieser Kampagne für „ein innovati-ves, wirtschaftlich erfolgreiches und sozialgerechtes Deutschland“ stark

• „Mehr Gesundheit! Danke“ wirbt für einganzheitliches betriebliches Gesundheitsma-nagement, welches die unterschiedlichen Ar-beits- und Lebenssituationen von Frauen undMännern berücksichtigt

• „Bildung braucht Offensive“ zielt auf lebens-langes Lernen von der frühkindlichen För-derung bis zur Weiterbildung für ältere Be-schäftigte

• „Du bist der Tarif“: Die Tarifkampagne ver-mittelt nicht nur die Tarifforderung, sonderninformiert auch über die Arbeit der IG BCEund den Nutzen einer Gewerkschaftsmit-gliedschaft

• „Familienbewusste Personalpolitik“ ist eineKampagne für die bessere Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf

• „Wir steh’n auf... Toleranz“ fordert zu Zivil-courage auf und setzt sich in der Gesellschaftund in den Betrieben für mehr Toleranz ge-genüber Ausländern und Andersdenkendenein

Unter www.igbce-blogs.de/e-campaining/ wer-den die Online-Kampagnen der Gewerkschaf-ten im DGB dokumentiert, z.B. „Onlinerechtefür Beschäftigte“, gemeinsam getragen vonDGB, IG Metall und ver.di. Absicht des Blogsist es, „über neue Kampagnenformen und poli-tische Kommunikation im Internet zu informie-ren und die Auswirkungen auf die gewerkschaft-liche Arbeit zu hinterfragen“.

Trotz aller institutionellen Verankerung undrechtlichen Stabilisierung gewerkschaftlicherArbeit ist die kollektive Aktion das entschei-dende Machtinstrument der Arbeitnehmerorga-nisationen geblieben. Weil Öffentlichkeit dasMedium der Selbstorganisation bildet, sind kol-lektive Aktionen ohne öffentliche Kommunika-

Über Kampagnen und Gewerkschaften

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tionen logisch und praktisch unmöglich. DieFülle und Vielfalt historischer Erfahrungen, überdie Gewerkschaften in der Öffentlichkeitsarbeitverfügen – je nach Sinnzusammenhang auchals Agitation oder Propaganda bezeichnet –, prä-destiniert sie für die Rolle der Kampagnenex-perten. Die Inflation des Kampagnenbegriffsund das sich in jüngerer Zeit auffällig häufendeScheitern gewerkschaftlicher ‚Feldzüge’ soll-ten nicht darüber hinweg täuschen, dass Ge-werkschaftskolleginnen und -kollegen wie we-nige andere politische Akteure über operativesKampagnen-Know How verfügen.

Trotzdem kann auf einige Defizite aufmerk-sam gemacht werden:

a) Die neuen sozialen Bewegungen gingenin den 1970er und 1980er Jahren professionel-ler mit dem Mediensystem um (Arlt 2005).Anders als die Gewerkschaften, die an einemrein politischen Verständnis der Massenmedienfesthielten, durchschauten Organisationen wieGreenpeace, dass der moderne Journalismusvon einer Aufmerksamkeitslogik getrieben wird,für die politische Kriterien nur unter ferner lie-fen von Bedeutung sind. Die gewerkschaftli-chen ÖffentlichkeitsarbeiterInnen haben dieseErfahrung inzwischen auch in ihre Organisatio-nen getragen, freilich ohne dabei immer offeneOhren zu finden. Bezeichnendes Erlebnis: ImWorkshop eines IG Metall Bezirks zum ThemaÖffentlichkeitsarbeit sind sich alle Teilnehme-rInnen einig, dass die bundesdeutsche Presseder Arbeitgeberseite wohl und den Gewerk-schaften übel will. In diese gemeinsame Über-zeugung hinein präsentiert der IG Metall-Spre-cher die Auswertung der Presseberichterstat-tung über die zurückliegende Tarifrunde mit derKernbotschaft: Wir hatten mehr und besserePresse als unser Tarifgegner.

b) Weit verbreitet ist die Neigung, mit einerKampagne alle Probleme gleichzeitig lösen zuwollen. Um den Anstrengungen und Konflik-ten zu entgehen, ohne die klar gesetzte Prioritä-ten gewöhnlich nicht zu bekommen sind (weil

sie das ebenso eindeutige Zurückstellen andererThemen zur Folge haben), wird die Kampag-nen-Agenda breit und breiter. Ein typischesBeispiel war „Das geht besser. Aber nicht vonallein!“, die Kampagne, mit der die DGB-Ge-werkschaften 2006/07 gegen die Politik derGroßen Koalition mobil machten. In der ver.di-Onlineberichterstattung über den Kampagnen-Höhepunkt spiegelt sich der Rundumschlagwider: „Mit einem bundesweiten Aktionstag un-ter dem Motto ‚Das geht besser‘ haben die Ge-werkschaften am 21. Oktober in fünf StädtenDruck gegen die unsoziale Politik der GroßenKoalition entfaltet und ihre eigenen Alternati-ven dazu erläutert. ... Ihr Protest galt der ge-planten Gesundheitsreform, der Rente mit 67,der Steuerpolitik sowie Verschlechterungenbeim Arbeitslosengeld II und beim Kündigungs-schutz. ... Der ver.di-Vorsitzende forderte einengesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro proStunde. Er wandte sich gegen die geplante Er-höhung der Mehrwertsteuer bei gleichzeitigerAbsenkung der Unternehmenssteuer. UntermStrich sei dies nichts anderes als eine giganti-sche Umverteilungsmaschine“ (http://www.verdi.de/kampagnen_projekte/herbstakti-onen_2006). So wird die Kampagne zumSchaufenster, in das die politischen Akteure hi-neinstellen, wofür das linke Herz gerade schlägt.

c) Der Entscheidungs- und Handlungsspiel-raum der Öffentlichkeitsarbeit ist in der Regelzu eng. Die – vermutlich überschätzten – Erfol-ge der Arbeitgeber-Initiative Neue SozialeMarktwirtschaft (INSM) sind vor allem daraufzurückzuführen, dass hier – organisatorischvergleichbar mit der Kampa der SPD im Bun-destagswahlkampf 1998 – eine eigene Kampa-gneneinheit neben den festen Verbandsstruktu-ren etabliert wurde. Sie kann ihr Vorgehen sehrviel besser an der Kommunikations- und Medi-enlogik ausrichten, weil sie nicht der ununter-brochenen Einflussnahme politischer Entschei-dungs- und deshalb notwendigerweise Beden-kenträger ausgesetzt ist. In der genau gegentei-

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ligen Situation, an der kurzen politischen Leine,befindet sich die DGB-Öffentlichkeitsarbeit.Über den Entscheidungsprozess, wie beim DGBein 1. -Mai-Plakat entsteht, keine Satire zuschreiben, ist unmöglich. In gewöhnlich gut un-terrichteten Kreisen anderer Non-Profit-Orga-nisationen wird dasselbe berichtet.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Na-türlich ist die Öffentlichkeitsarbeit (nur) ein In-strument der gewerkschaftlichen Politik, so wie,sagen wir, der Lkw in einem Transportunter-nehmen. In letzterem ist allerdings bekannt undanerkannt, dass das Funktionieren eines Lkwsan verschiedene Bedingungen geknüpft ist. ImFalle der Öffentlichkeitsarbeit hingegen verhältsich die gewerkschaftliche Politik so, als müssediese funktionieren, wie jene gerade will.

d) Es kommt immer wieder vor, dass dieverschiedenen Kommunikationsebenen einerKampagne gegeneinander ausgespielt werden,dass die interne, die direkte (in Betrieben undKommunen) und die massenmediale (Internet,PR, Werbung) Kommunikation alternativ stattadditiv behandelt werden. Ein typisches Bei-spiel war 2003 die sogenannte DGB-Kommu-nikationskampagne, die auf die Ansprache ex-terner Öffentlichkeiten von vorneherein verzich-tet hat und nicht zuletzt deshalb auch bei deninternen Adressaten nicht wirklich ernst genom-men wurde. Ohne Zweifel kann je nach Thema,Zielgruppen und politischer Situation der Ak-zent auf einer medialen Ebene liegen. Im Nor-malfall müssen jedoch, soll die KampagneDurchschlagskraft entfalten, alle Ebenen bear-beitet werden. Der hohe finanzielle Aufwandfür Werbung kann von Non-Profit-Organisati-onen allerdings nur in Ausnahmefällen erbrachtwerden.

3 Alles Kampagne oder was?

Trotz dieser kritischen Hinweise bleibt festzu-halten, dass es den deutschen Gewerkschaftennicht so sehr an handwerklicher Kampagnen-

kompetenz mangelt, sondern mehr an Hand-lungs- und Durchsetzungsfähigkeit insgesamt.Gewiss gibt es, wie wir gesehen haben, auchStellschrauben im Bereich der Öffentlichkeits-arbeit und vor allem im Kommunikationsma-nagement, also in der Beziehung zwischen derÖffentlichkeitsarbeit und den Vorständen, diebesser justiert werden könnten. Aber die Ge-werkschaften sehen sich in der individualisier-ten, digitalisierten und globalisierten (Arbeits-)Welt mit Schwierigkeiten konfrontiert, denengegenüber ihre gewohnten Verhandlungs-, In-terventions- und Arbeitskampfroutinen an Wir-kungsmacht eingebüßt haben. Die Dimensio-nen der Veränderungen werden unterschätzt,wenn die gesteigerten Kampagnenaktivitäten mitder Erwartung verbunden werden, öffentlicheKommunikation könne umstandslos als funkti-onales Äquivalent die entstandenen Machtlü-cken füllen.

Deutsche Gewerkschaftspolitik stand übermehrere Jahrzehnte auf den festen Fundamen-ten der Erwerbsarbeit in industriellen und staat-lichen Großbetrieben sowie einer relativ homo-genen Arbeitnehmergesellschaft mit der – un-gerechten – Arbeitsteilung zwischen Mann undFrau. Gewerkschaften konnten sich auf einenstarken Rechts- und Sozialstaat in einem primärnationalen Politikrahmen stützen und ihre Vor-stellungen von guter Arbeit und sozialer Demo-kratie über unterschiedliche Formen der Mitbe-stimmung, vor allem über den Flächentarifver-trag, voranbringen.

Unbestritten ist die Diagnose, wonach sichdie gesellschaftliche Arbeit und mit ihr die ein-zelnen Funktionsbereiche der Gesellschaft – vonder Ökonomie über die Politik bis zur Bildungund zur Familie – in einem Wandlungsprozessbefinden. Üblich geworden sind Beschreibun-gen wie die von der Industrie- zur Dienstleis-tungs-, Informations-, Wissensgesellschaft etc.Aber noch nicht einmal die sozialwissenschaft-liche Selbstbeschreibung unserer Gesellschafthat bislang eine präzise Vorstellung darüber ent-

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wickeln können, was den Kern der neuen Ar-beitsorganisation ausmacht, welche die indus-trielle Form ablöst. Die Debatte kreist um dreiBeobachtungen: Entgrenzung, Subjektivierung,Vermarktlichung (Beck/Lau 2004; Sauer 2005;Kurz-Scherf 2006; Scholz 2006). Gegen alledrei Tendenzen machen die deutschen Gewerk-schaften Front und versuchen das industrielleNormalarbeitsverhältnis zu verteidigen. DerUnterschied zwischen Verteidigen auf der gan-zen Linie und Verlieren auf der ganzen Linie istin der Regel eine Frage der Zeit. Bloße Verteidi-gung impliziert das Festklammern am eigenenWeltbild, so dass die Differenz zur Erfahrungs-und Erwartungswelt der anderen größer wird.Das beeinträchtigt die Kommunikationschan-cen, denn die Mitteilungen des Verteidigers ha-ben es von Mal zu Mal schwerer, verstanden zuwerden und Zustimmung zu finden.

Was ist die aufregendste Beziehung, die je-der Mensch, die jede Organisation pflegt? DieBeziehung zwischen dem eigenen Weltbild undder jeweils gegebenen Welt, in die hinein manhandelt, entscheidet, kommuniziert, agiert. Wennich einen Nagel in die Wand schlage und da-hinter verläuft eine elektrische Leitung, dann istdie Sache klar. Dann bin ich der Depp, der sichnicht richtig informiert hat, bevor er gehandelthat. Wo wir durch müssen, das ist die Wirklich-keit. Wir haben von der Wirklichkeit nichts alsunsere Vorstellung von ihr und müssen schau-en, wie wir mit dieser Vorstellung in der Wirk-lichkeit zurecht kommen. Deshalb lernt man ammeisten über die Welt durch den Widerstand,den sie leistet. Solange man handlungsfähigbleibt, eröffnen sich stets zwei Möglichkeiten:Ich kann versuchen, den Widerstand zu bre-chen, die Welt zu verändern. Darin war die Ar-beiterbewegung erfolgreicher als jede anderesoziale Bewegung der Neuzeit. Oder ich verän-dere mich und passe mich an. Ohne jede Anpas-sung kommt selbst ein Herkules nicht aus. DieSelbstveränderung kann als Fortschritt, als be-wunderungswürdige Leistung erlebt und dar-

gestellt werden. Sie kann aber auch als erzwun-gene Anpassungsleistung, als eine Niederlagevollzogen werden: „Wir haben heldenhaft ge-kämpft, mussten uns aber einer schurkischenÜbermacht beugen.“ Damit kann man ein MalAnerkennung ernten, beim zweiten Mal Mit-leid. Spätestens beim vierten und fünften Malhat man das Image eines unbelehrbaren Losers– wie sehr man in seinem Selbstverständnis auchals der eigentliche Held dastehen mag.

Weil das gewerkschaftliche Verständnis der(Arbeits-)Welt die Erfahrungen und Erwartun-gen (zu) vieler Menschen nicht mehr richtig trifft,fehlt es der Gewerkschaftspolitik an Resonanzund Anschlussfähigkeit, wie handwerklich pro-fessionell einzelne Kampagnen auch immer kon-zipiert und angepackt werden mögen. Umge-kehrt zeigt sich an der Lidl-Kampagne der Ver-einten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) undan der Mindestlohn-Kampagne, die von derGewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten(NGG) begonnen, dann besonders von ver.diund inzwischen von fast allen DGB-Gewerk-schaften aufgegriffen wurde (ver.di-Publik2007), dass Kampagnen ‚laufen‘ können, auchwenn sie nicht professionell geführt werden.Sie ‚laufen‘, weil sie gesellschaftspolitisch ei-nen Nerv treffen. Es ist wie stets bei Kommuni-kation: Passt eine Mitteilung in den Erfahrungs-und Erwartungshorizont der Adressaten, trifftsie deren Interessen- und Motivlagen, kann sienoch so beiläufig und schlecht präsentiert sein– sie wird Aufmerksamkeit und Zustimmungfinden.

Wie alle Interessenorganisationen habenauch die Gewerkschaften den Hang, es fürselbstverständlich zu halten, dass sie die Inter-essen ihrer Mitglieder und Adressaten kennen.Die appellative Sprache, die ihre Kommunikati-on auszeichnet, ist ein deutliches Indiz, dassInteressenidentität zwischen Absender undAdressaten unterstellt wird: Im konkreten Fallergeht nur noch der Aufruf zu Handlungen, zuProtesten, Demonstrationen, Aktionen. Verwei-

Hans-Jürgen Arlt

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gern sich Mitglieder wiederholt solchen Appel-len, halten die Absender-Organisationen an der‚objektiven‘ Interessenidentität gerne fest unddiagnostizieren Blockaden – sozialen Druck,mediale Manipulation, falsches Bewusstsein –,die Mitglieder daran hindern, zu folgen. Je grö-ßer die Misserfolge, desto entschiedenere Aus-drucksformen (bis hin zur Sektenbildung) kanndas Beharren von Organisationen annehmen,Hüter des aufgeklärten Interesses ihrer Mitglie-der sowie aller zu sein, die sie als ihre potenzi-ellen Mitglieder ansehen. Es entsteht dann dieKonstellation, dass die Organisation ihrenAdressaten deren ‚eigentliches‘ Interesse ersterklären muss – damit ist dem Phänomen Türund Tor geöffnet, dass ‚die Partei‘ (die Organi-sation) immer Recht hat.

Wenn man den Bauchnabelblick loslässt undüber die Lage der Gewerkschaften hinaus ande-re Non-Profit- und auch Profit-Organisationenins Auge fasst, stellt man fest: Es ist zu einem

durchgängigen Merkmal geworden, dass derKommunikationsaufwand steigt, dass sowohldie internen wie vor allem auch die externenBeziehungen stärker auf Kommunikationsleis-tungen angewiesen sind. Hochgetrieben wirdder Kommunikationsbedarf dadurch, dass sichgut eingespielte Regeln in jeweils neu zu tref-fende Entscheidungen verwandeln, dass sichstatt der Alternative ‚erlaubt oder verboten‘ dieFrage ‚möglich oder unmöglich‘ stellt. Wo frü-her ein bestimmtes Verhalten sozial vorgeschrie-ben war und deshalb zuverlässig erwartet wer-den konnte, gelten heute alte Grenzen nichtmehr, kommt es mehr auf die Optionen des Ein-zelnen an, sind die Angebote auf allen Gebietenvielfältiger geworden. Man kann dafür das Reiz-wort Deregulierung verwenden oder an die Be-griffe Entgrenzung, Subjektivierung, Vermarkt-lichung erinnern. Der springende Punkt ist, dassjetzt Kommunikation gebraucht wird, wo frü-her bekannte und befolgte Regeln herrschten

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und vor allem: dass Kommunikation das Ver-halten anderer Menschen nicht mit derselbenzuverlässigen Erwartbarkeit garantieren kann,weil sie stets mit dem Eigensinn und dem eige-nen Willen ihrer Adressaten rechnen muss. Dasdoppelte Phänomen, das wir an der Gewerk-schaftsarbeit beobachtet haben – mehr Kom-munikationsaufgaben, weniger Erfolgsgaranti-en – zeichnet moderne Organisationsverhältnisseinsgesamt aus. Deshalb wäre es falsch, hier ein-fach nur eine Schwäche der Gewerkschaften zudiagnostizieren.

Aber eine Schwächung ist es erst einmal,solange nicht produktiv damit umgegangenwird. Die Gewerkschaften sind dabei, in derKampagnenform des social organizing eineAntwort zu finden (Bremme/Fürniß/Meineke2007). Der für unseren Zusammenhang auf-schlussreiche Aspekt liegt darin, dass socialorganizing eine Gewerkschaft voraussetzt, dienicht mit fertigen Rezepten auf Mitglieder-werbung geht, sondern an die konkreten Inte-ressenlage der Adressaten anknüpft, was dieDefinition der Probleme, die Wahl der Mittelund die bevorzugte Variante möglicher Lö-sungen anbelangt. Organizing bedeutet vorallem, dass sich die Gewerkschaft öffnet fürdie Erfahrungen und Erwartungen der Noch-nicht-Mitglieder und auf diese Weise Wirk-lichkeiten in ihr Weltbild holt, die sie vorhernicht gekannt oder nicht zugelassen hat. DieGewerkschaft tritt ihren Adressaten nicht alsvollendetes Produkt, sondern als laufendesProjekt gegenüber; sie fragt nicht als erstes,ob die Noch-nicht-Mitglieder zu ihr passen,sondern wie sie sich an deren Problemlagenorientieren kann. Zu den offensichtlichenKonsequenzen gehört, dass „auch das Kom-munikationsverhalten von Organizern ein an-deres ist. Redeanteile von 30 Prozent undAnteile von Zuhören von 70 Prozent warendie Regel“ (Breme 2007: 214). Zugespitzt mitden Worten von Saul D. Alinsky, der in denUSA als Organisator sozialen Widerstandes

bekannt ist: „Wenn man versucht, anderen sei-ne Ideen zu vermitteln, und dem keine Auf-merksamkeit schenkt, was sie einem zu sagenhaben, kann man die ganze Sache von vorne-herein vergessen“ (Alinsky 2001: 115). Zuden erfreulichen Nebenfolgen gehört: Wenndie Kampagne richtig angelegt ist, „könnenUnternehmen Gewerkschaften nicht vom Restder Gesellschaft isolieren. Das Gegenteil istder Fall. Unternehmen müssen nicht nur denGewerkschaften, sondern auch der Wut derGesellschaft gegenübertreten“ (Banks 2000:84) – die Gewerkschaft als gesellschaftspoli-tische Kraft, nicht als kraftmeiernder Interes-senverband.

Rund 100 Jahre waren die Arbeitnehmeror-ganisationen eine Kraft emanzipatorischer Ver-änderungen, die mehr Freiheit und mehr Ge-rechtigkeit zu verwirklichen halfen. Seit demletzten Drittel des 20. Jahrhunderts praktizierensie Verteidigung als politische Grundhaltung,gestützt auf eine konservative politische Rheto-rik, die Bedrohung, Auflösung, Verfall oderEnde beschwört. Social campaining kann ausdieser Fixierung auf Vergangenheit, aus dieserImmunisierung gegenüber Zukunft herausfüh-ren – wenn die interne Kommunikation und dieauf ihr basierende Beschlusslage darin auch ei-nen Weg zur Selbstveränderung sieht. Reform-projekte, Zukunftskongresse, Organisationsent-wicklungsprozesse, Innovationsfonds gibt esgenug, aber sie werden ohne ein offenes Klimader organisationalen Selbstreflexion zu Warte-sälen für Züge, die nicht kommen, zu Speise-karten einer Küche, die kalt bleibt. Sie werdenalso das Alibi dafür, dass man weiterhin denkenkann, was man sich schon gedacht hat, und auchmorgen machen kann, was man vorgestern ge-lernt hat.

Aufgabe der Gewerkschaften wäre es statt-dessen, ihren Veränderungssinn zu schärfen undihre Umwelt möglichst aufmerksam zu beob-achten; also der Kommunikation mit den Nicht-Einverstandenen Raum, Zeit und vor allem Be-

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deutung zu geben. Dies läuft auf die permanen-te Zumutung hinaus, zu respektieren, dass auchdas sicher Geglaubte unsicher sein, dass sogardas Selbstverständliche anders verstanden wer-den kann, dass selbst das Eingemachte andersgemacht werden könnte. Dies ist eine Führungs-aufgabe. Niemand anderes in der Organisationkann Selbstveränderungsprozesse mit Aussichtauf Erfolg beginnen, niemand anderes kann sie(sich) auf Dauer leisten. Diese Verantwortungkönnen Vorstandsmitglieder nicht delegieren, sieist ihr Job.

Dr. Hans-Jürgen Arlt arbeitet als DGB-Pres-sesprecher in Hamburg, in Berlin als Publizistund ist Lehrbeauftragter an der Universität derKünste Berlin.

Literatur

Alinsky, Saul D. 2001: Anleitung zum Mäch-tigsein, Göttingen.

Arlt, Hans-Jürgen 2000: Kampagne 2000.Gewerkschaften und Kommunikation, in: For-schungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Jg.13, H. 3 (Politische Kommunikation in Deutsch-land), 62-68.

Arlt, Hans-Jürgen 2005: Die Erben der Ar-beiterbewegung im Medienzirkus – orientie-rungslos, in: Haubner, Dominik et al. (Hg.),Agendasetting und Reformpolitik, Marburg,177-200.

Banks, Andy 2000: Strategische Gewerk-schaftskampagnen in den Vereinigten Staatenvon Amerika. In: Gstöttner-Hofer, Gerhard etal. (Hg.), Mobilisierung und Kampagnenfähig-keit, Wien.

Beck, Ulrich/ Lau, Christoph (Hg.) 2005:Entgrenzung und Entscheidung, Frankfurt/M..

Bremme, Peter et al. (Hg.) 2007: Never workalone. Organizing - ein Zukunftsmodell fürGewerkschaften, Hamburg.

Bremme, Peter 2007: Respekt und bessereJobs. In: Bremme, Peter et al. (Hg.): Never workalone. Organizing – ein Zukunftsmodell fürGewerkschaften, Hamburg, 194-217.

Kim, Susanne 2004: Gewerkschaften zwi-schen Organisation und Bewegung im Zeitalterder Globalisierung. Zur Konzeption des „So-cial Movement Unionism, Diplomarbeit, Ham-burger Universität für Wirtschaft und Politik .

Kurz-Scherf, Ingrid et al. 2006: Arbeit undGeschlecht im Wandel: Kontinuität und Pers-pektiven für Wissenschaft und Politik, Marburg.

Sauer, Dieter 2005: Arbeit im Übergang,Hamburg.

Scholz, Dieter et.al. (Hg.) 2006: Turnaround?Strategien für eine neue Politik der Arbeit, Müns-ter.

Schreieder, Agnes 2005: Organizing – Ge-werkschaft als soziale Bewegung, verdi-Bro-schüre, Berlin.

verdi-Publik 2007: Mindestlohn, 04/2007,12-13.

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‚Kellogg’s macht Schule‘ und spendete im Jah-re 2003 Schulstunden für Kinder in Not ausdem Erlös vom Cornflakes-Verkauf; Rittersportspendete 2005 einen Teil aus jeder verkauftenQuadrago-Schokolade an ein Unicef-Projekt inAfrika; Procter & Gamble mit der Marke Blend-a-med unterstützte mit der Kampagne Ein Lä-cheln für Brasilien ein Gesundheitszentrum, einCent pro verkaufte Tube wurde für dessen Bauan ein SOS-Kinderdorf gespendet; 2006 starte-te Vileda eine Sommerpromotion Kaufen undSpenden; Danone pflegt mit seinem ProduktVolvic-Wasser eine Kooperation mit Unicef undbaut seit drei Jahren mit entsprechendem ErlösTrinkwasserbrunnen für Afrika; seit 2002 rettetdie Brauerei Krombacher Regenwald, in denersten Kampagnenjahren wurde sie als ‚Saufenfür den Regenwald‘ bekannt.

Mehr und mehr Unternehmen kooperierenmit Nonprofit-Organisationen und führen So-zialkampagnen durch, die ein vergleichbaresMuster beanspruchen, wobei sich nicht nur dieWerbeslogans ähneln, sondern auch das Prin-zip: Das Unternehmen verkauft ein Produkt undein anteiliger Erlös vom Verkauf wird über eineNonprofit-Organisation (NPO) einem Projektin Entwicklungs- bzw. Schwellenländern ge-spendet. Es stellt sich die Frage: Was hat Scho-kolade mit Schulkindern in Afrika zu tun? Kri-tische Fragen stellten sich auch bei der Kampa-gne der Brauerei Krombacher: Was hat Bier-trinken mit dem Regenwald zu tun?

Für Unternehmen spielen bei der Durchfüh-rung von Sozialkampagnen Authentizität, Glaub-würdigkeit und Vertrauen eine sehr wichtigeRolle. Damit ihre Botschaften von der Öffent-lichkeit wahrgenommen werden, müssen Kam-pagneninhalte auf Akzeptanz stoßen. Handlun-gen und Entscheidungen müssen als relevant

Katja Prescher

Sozialkampagnen

angesehen werden. Um diese Ziele zu erreichen,arbeiten Unternehmen verstärkt mit NPOs zu-sammen. Kooperation bringen auch NPOs Vor-teile. Die Annäherung zwischen Unternehmenund NPOs verändert beide.

Immer mehr Nonprofit-Organisationen über-nehmen Marketinginstrumente aus dem Profit-Bereich und führen einen Wettbewerb um dasknappe Gut Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeitsetzt gerade Verständnis und Übernahme dessenvoraus, was gemacht oder dargestellt wird. Auf-merksamkeit ist ein immer knapper werdendesGut und Schlagzeilen, mit denen der Sachverhaltkurz und präzise auf den Punkt gebracht wird,haben Konjunktur. Komplexe Themen, die ver-ständlich von Nonprofit-Organisationen vermit-telt werden sollten, können durch knappe Bot-schaften kaum hinreichend dargestellt werden.Politische Inhalte wie aus entwicklungs- oderumweltpolitischen Themen und Detailinformati-onen werden durch einfache Werbebotschaftenin die Öffentlichkeit gegeben, so dass die struk-turellen Ursachen und Bedingungen vieler Pro-bleme bzw. Konflikte verborgen bleiben. Für dieÖffentlichkeit wird es zunehmend schwerer zuerkennen, welche Ziele Unternehmen und Orga-nisationen tatsächlich verfolgen.

Der Beitrag geht von der These aus, dassMarketinginstrumente der Unternehmen auchNPOs weiterhelfen können. Durch die Profes-sionalisierung der Kampagnenführung nähernsich beide an. NPOs übernehmen professionel-le Kampagnen- und Marketingtechniken,allerdings ist das klassische Marketing nichtohne weiteres auf NPOs zu übertragen. DieBesonderheiten von NPOs müssen verstandenund berücksichtigt werden. Es geht demnachnicht um die Frage, ob Instrumente des Marke-ting im NPO-Bereich anwendbar sind, sondern

Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

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welche Instrumente wie angewendet werdenkönnen.

Im Folgenden wird zunächst kurz darauf ein-gegangen, was unter dem Begriff Sozialkampa-gnen zu verstehen ist. Danach (3) werden diejeweiligen Besonderheiten des unternehmerischenProfit-Marketings und des Sozialmarketings un-tersucht. Im nächsten Schritt (4) geht es um dieStrategie der Kooperation und Konfrontation, dieNPOs gegenüber Unternehmen wählen können.Danach (5) diskutiere ich die Gefahren und Chan-cen, die mit diesen beiden Strategien verbundensind. Im abschließenden Kapitel (6) wird ein Fazitsowie ein Ausblick über die Weiterentwicklungvon Sozialkampagnen gegeben.

1 Die Bedeutung vonSozialkampagnen

Eine Kampagne ist mehr als das Gestalten undVerbreiten eines Plakates oder einer Pressemit-teilung, sie ist mehr als das Umsetzen eines ein-zelnen Marketinginstrumentes. In einer Kam-pagne wird das Marketinginstrumentarium me-dienübergreifend (crossmedial) miteinander ver-knüpft. Diese Konvergenz setzt eine ganzheitli-che (integrierte) Betrachtung und Gestaltungaller Organisations- bzw. Unternehmensaktivi-täten voraus.

Eine Kampagne besteht aus logisch und zeit-lich aufeinander abfolgenden Phasen, Analyse,Strategie, Umsetzung und Evaluation, die denständigen Austausch in Abhängigkeit von derUmwelt berücksichtigen und rechtzeitige Kor-rekturen sowie ein in sich schlüssiges Kampag-nenkonzept gewährleisten. Eine Kampagne istzeitlich begrenzt, spricht eine bestimmte Ziel-gruppe an und steht für ein bestimmtes Thema.

Sozialkampagnen nehmen auf soziale undgesellschaftliche Anliegen Bezug. Traditionellwar dies das Feld der NPOs, doch in jüngsterZeit zielen auch Kampagnen von Wirtschafts-unternehmen auf gesellschaftliche Anliegen.Und sie kooperieren dabei vielfach mit NPOs.

Sozialkampagnen nutzen Instrumente desMarketing, wie die Kommunikationspolitik(u.a. Werbung, Public Relations) und/oder dieFinanzierungspolitik (z.B. Sponsoring, Fundrai-sing). Sozialkampagnen sind vielfach in derPolitik und in der Werbung anzutreffen. So gibtes u. a. Informations-, Akzeptanz- oder Fundrai-singkampagnen, die Bekanntheits-, Bewusst-seins-, Meinungsbildungs- oder Verhaltenszie-le verfolgen.

Bei Sozialkampagnen geht es um die Über-nahme von Verantwortung. Sie sollen Aufmerk-samkeit, Bewusstsein, Identifikation bzw. Hilfs-bereitschaft (Solidarität) bei der Öffentlichkeitschaffen. Unternehmen und NPOs nutzen sozi-ale, ökologische bzw. gesellschaftliche Verant-wortungsübernahme, um öffentliche Aufmerk-samkeit zu gewinnen, denn dieses Engagementtrifft in der Gesellschaft auf besondere Glaub-würdigkeit, wobei die Zielformulierungen derNPOs gegenüber Unternehmen einfacherGlaubwürdigkeit entfalten.

Eine wesentliche Voraussetzung für öffent-liche Aufmerksamkeit ist die Medienpräsenz.Einerseits sind die Selektionshürden der Medi-en durch relevante und nachrichtenwerte Insze-nierungen zu überwinden. Andererseits könnendie Medien dazu beitragen, komplexe Fragenund Problemstellungen zu vereinfachen. Durchsie können Inhalte auf einfache Größen zurück-geführt werden, damit der Öffentlichkeit einVerständnis vom Wesentlichen ermöglicht wird.

2 Profit-Marketing versusSozialmarketing

Unternehmen und NPOs nähern sich bei Sozi-alkampagnen in der Wahl der Instrumenteeinander an. Dennoch bestehen weiterhin eini-ge markante und zentrale Differenzen. Im Un-terschied zum Profit-Marketing, welches dasZiel der Absatzsicherung und Gewinnmaximie-rung verfolgt, rückt beim Sozialmarketing dieideelle Zielsetzung in den Vordergrund. Es geht

Sozialkampagnen

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grundsätzlich um die Verbreitung von Ideen undWerten.

Der Unterschied von Sozialmarketing ausSicht der beiden Akteure kann wie folgt darge-stellt werden: Unternehmen verbinden im Sozi-almarketing ökonomische Interessen mit sozia-lem Engagement, um u.a. ihr Image aufzubes-sern, das wiederum Einfluss auf das eigentlicheMarketingziel der Absatz- und Gewinnmaxi-mierung hat. NPOs verknüpfen bedarfswirt-schaftliche Ziele mit marktwirtschaftlichem Wis-sen, um langfristig gesehen ihre Mission erfül-len zu können.

2.1 Sozialkampagnen aus Sicht derUnternehmen

Produktmärkte sind heute stark übersättigt. Ein-zelne Produkte heben sich kaum mehr von an-deren ab. Wo Mitte des 19. Jahrhunderts alleinMaterialeigenschaften und Gebrauchswert ei-nes Produktes reichten, um Absatz zu finden,zählt heute der emotionale Zusatznutzen. Ge-genwärtig verleihen Unternehmen sich selbstund ihren Produkten einen gesellschaftlichenZusatznutzen. Sie nehmen dabei Einfluss aufdie gesamte Gesellschaft. Öffentliche Anner-kennung, Image und Glaubwürdigkeit spielenfür Unternehmen eine immer größere Rolle.Damit sie letztendlich ihr Unternehmensziel er-reichen, sind sie besonders von der Zufrieden-heit ihrer Kunden, dem Bekanntheitsgrad so-wie ihrem Ruf und Ansehen abhängig.

In diesem Geflecht von Abhängigkeiten dientdas Profit-Marketing als ein Mittel zur zielge-rechten Beeinflussung von potenziellen Kun-den. Profit-Marketing heißt nicht mehr nur pro-dukt- oder marktorientiertes Denken, es ist viel-mehr zu einer umfassenden Philosophie undKonzeption des Planens und Handelns gewor-den. Die Kommunikation steht im Vordergrund.

Erlebniswerte bzw. gesellschaftsbezogeneWerte wie Umwelt und Soziales erhaltendadurch einen höheren Stellenwert. Unterneh-

men und Produkte werden mit Sinn versehen.Das heutige Profit-Marketing wird durch zahl-reiche Wissenschaften wie Soziologie, Psycho-logie über Neurologie bis hin zur Philosophieund Theologie gestützt. Um die immer an-spruchsvolleren Bedürfnisse der Konsumentenpflegen zu können, werden immaterielle Grö-ßen wie Symbole, Fiktionen und erlebnisreicheMöglichkeiten angeboten.

Bereits seit den 80er Jahren versuchen Un-ternehmen ihr Image mit Sozialkampagnen po-sitiv zu stärken. Mit zunehmender Unterneh-mensgröße wächst die Bereitschaft zur Über-nahme gesellschaftlicher Verantwortung. Es gehtnicht darum ein Bedürfnis zu wecken, sonderndie Wahrnehmung zu schärfen und Erwartun-gen gerecht zu werden. Auf ein Unternehmen,das sich der gesellschaftlichen Verantwortungstellt, können viele Ansprüche zu kommen. Essteht stärker unter Beobachtung durch Gesell-schaft und Finanzmärkte. Unternehmen lösenihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaftein, weil immer mehr Konsumenten soziale undgesellschaftliche Verantwortung von Unterneh-men verlangen.

Im Falle des ‚Social Marketing‘ steht dassoziale oder gesellschaftliche Engagement we-niger mit dem eigenen Nutzen, dem Verkaufeines Produktes, sondern mit dem Nutzen dergesamten Gesellschaft im Zusammenhang. DasUnternehmen will langfristig Einfluss auf ge-sellschaftliche Verhältnisse nehmen. Mit gesell-schaftlichem Engagement, verankert in der Un-ternehmenskultur als Corporate Sozial Respon-sibility (CSR), verpflichtet sich das Unterneh-men freiwillig zur Einhaltung von Menschen-rechten, Arbeitsnormen, Umweltschutz, Trans-parenz, Korruptionsbekämpfung und ethischenMaßstäben. Eine formelle Überprüfung Drittermuss nicht zwingend stattfinden. Unternehmen,die CSR als langfristige Strategie in ihre Unter-nehmenskultur einbinden, legen besonderesAugenmerk auf Arbeitsbedingungen, men-schenwürdige und umweltbewusste Produkti-

Katja Prescher

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on und dies nicht nur im eigenen Unternehmen,sondern auch bei Vertragspartnern und Zulief-erern. In Konsequenz reagiert das Unterneh-men auch hier auf die Erwartungen der Konsu-menten und Unternehmensteilhabern (Stakehol-dern). Immer mehr Unternehmen nutzen diesesEngagement, um ihr Image wie auch ihre Wett-bewerbsposition zu verbessern. So unterstützteder Energieversorger Eon in Bayern sozialschwache Kunden durch stark reduzierte Strom-preise, wofür das Unternehmen bundesweiteAnerkennung erhielt. Das Unternehmen Her-litz gründete den Verein Bildungscent und wirbtin mehr als 35 Millionen produzierten Schul-heften im Jahr mit seinem Engagement. Auchdas Unternehmen Otto propagiert ‚Shopping-Spass‘ mit ‚100% gutem Gefühl‘. Hiermit ver-spricht Otto die Herstellung seiner Produkte zufairen Bedingungen. Das Unternehmen versuchtin der gesamten Lieferkette auf Sozial- undUmweltstandards zu achten. Doch bereits in den90er Jahren kam das Unternehmen wegen Miss-ständen bei Zulieferern in die Kritik. Ende Ja-nuar 2007 geriet der zweite Skandal – die ‚Kin-derarbeit für den Heine-Versand‘ – in die Medi-en. Letztendlich bleibt die Propagierung vongesellschaftlicher Verantwortung durch Sozial-kampagnen eine Gradwanderung.

Obwohl eine Vielzahl von Unternehmen so-ziale Verantwortung übernimmt, steckt dieseEntwicklung noch in den Kinderschuhen. Zuviele Konfliktfelder durch unausgereifte Strate-gien und Konzepte schaffen Skandalisierungs-anlässe.

2.2 Sozialkampagnen aus NPO-Sicht

Nonprofit-Organisationen führen Sozialkampa-gnen durch, um ihr Ziel zu erreichen. Für NPOsstehen keine kommerziellen Ziele im Vorder-grund, sondern ideelle wie Schutz des Ökosys-tems, Einsatz für Kinderrechte sowie die Be-kämpfung von Ungerechtigkeit, Krankheit undArmut in der Welt. Sie bieten Dienste an, die

der Gesellschaft und Umwelt dienen. Sie for-dern bürgerschaftliche Beteiligung und strebennach Verbesserung des Gemeinschaftslebens.

Die oberste Aufgabe von NPOs, die Erfül-lung ihrer Mission, bildet den Grundpfeiler ih-rer gesetzten Ziele. Alle Aktivitäten sind auf dieRealisierung der ideellen Ziele ausgerichtet.NPOs müssen sich aber auch mehr und mehrselbst um monetäre Quellen bemühen, da derStaat nicht mehr in dem Maße wie früher dieFinanzierung von NPOs übernimmt. Sie müs-sen Ressourcen beschaffen, wie Sachmittel- undGeldspenden oder Bereitschaft zur Mitarbeit.Der Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Res-sourcen zwingt die Organisationen zur Profes-sionalisierung ihrer Arbeit. Dies betrifft sowohldie Organisationsstruktur als auch die Art derKampagnenführung. NPOs übernehmen dabeivielfach Marketinginstrumente aus dem Profit-Bereich und geraten dadurch in den Widerspruchzwischen Kommerzialisierungsdruck und Mis-sionserfüllung. Für NPOs ist es die zentraleHerausforderung, den professionellen Ansprü-chen der Öffentlichkeit und der Medienwelt zugenügen und doch ihre spezifische Missionweiterhin zu erfüllen.

Mit Sozialkampagnen wollen NPOs auchauf die Gesellschaft einwirken und den Kon-sum politisieren. Sie zielen auf eine Verhaltens-änderung der Konsumenten.

Sozialkampagnen von NPOs richten sichvielfach gegen Unternehmen, die geltende Stan-dards nicht einhalten und ihrer gesellschaftli-chen Verantwortung nicht nachkommen. NPOsbeobachten skeptisch und hinterfragen zweifel-haftes Verhalten. So gibt es Bewegungen, diejährlich den Public Eye Award – den Preis fürdas unverantwortlichste Unternehmen der Weltverleihen – oder die Initiative Clean ClothesCampaign, die auf Unternehmen hinweist, wel-che in Entwicklungsländern Kleidung unter Miss-achtung von internationalen Arbeitsnormen undSozialstandards anfertigen lassen. Mit ihren Hal-tungen und Handlungen drängen sie die Unter-

Sozialkampagnen

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nehmen dazu, nach ethischen und umweltpoliti-schen Gesichtspunkten verantwortlich zu agie-ren und gesellschaftliche Mitgestaltung sowieVerantwortungsübernahme zu zeigen.

3 Kooperation versus Konfrontation

Für viele NPOs stellt sich die Frage, wie siesich gegenüber Unternehmen verhalten sollen.Einerseits gibt es Ansatzpunkte für eine gewinn-bringende Kooperation, andererseits sehen sichNPOs gezwungen, Unternehmen zu skandali-sieren, wenn dies Teil der eigenen Mission ist.

In NPOs gelten wegen ihrer Organisations-ziele Besonderheiten in den Einflussstrategien,die Grundlage für strategische Entscheidungenund Identitätsarbeit sind. Diese Strategien lassensich nach Mustern der Kooperation, der Scha-densbegrenzung und der Konfrontation syste-matisieren. Wo beispielsweise die einen Non-profit-Organisationen mit Unternehmen koope-rieren, können andere NPOs Druck auf Unter-nehmen ausüben und auf Konfrontation setzen.

Wenn NPOs ähnliche Ziele wie ihre potenti-ellen Kooperationspartner anstreben, dann wäh-len sie die kooperative Strategie. Mit der Koo-peration streben beide Partner den gegenseiti-gen positiven Imagetransfer an, die Nutzungvon Synergien und den Zugang zu Ressourcen.Für NPOs sind die Kooperationsfähigkeit unddie Glaubwürdigkeit wichtige Erfolgskriterien.

Größere Unternehmen agieren zumeist rati-onal. Sie stellen Überlegungen an, inwieweitsich die Zusammenarbeit mit einer Nonprofit-Organisation lohnt. Für die Unternehmen heißtes, realistisch zu handeln und einen Blick überden tatsächlichen Tellerrand zu wagen. Ziele,Verantwortlichkeiten und Leistungen müssenbei der Übernahme von gesellschaftlicher Ver-antwortung vor allem bei Kooperationen mitNonprofit-Organisationen klar und eindeutigzwischen den Parteien vereinbart werden. Pro-fessionelles Handwerkzeugs beider Seiten undgenügend Flexibilität lassen Schwierigkeiten

überwinden. Wenn der Kooperationspartner zuden Werten und zum Unternehmen passt, liegtdie Herausforderung insbesondere in der Be-wahrung ausreichender Distanz zueinander. DasUnternehmen darf das Kampagnenthema nichtzu stark besetzen. Aufgabenfelder und Positio-nen sind gleichberechtigt zu definieren. Bei zuhoher Ähnlichkeit besteht die Gefahr, dass dieKampagne wirkungslos wird.

Um den Anforderungen zu genügen, nutzenUnternehmen nicht nur langfristige Strategien.Setzen sie auf kurzfristige Strategien als öffent-lichkeitswirksame Kommunikationsmaßnah-men, z. B. in Form des „Social Sponsoring“oder „Responsible Marketing“ auch als „CauseRelated Marketing“, bezeichnet, verbinden Un-ternehmen ihren Verkauf von Produkten mit derÜbernahme von Verantwortung bzw. mit derUnterstützung eines sozialen Zwecks oder ei-ner Organisation. Wenn Unternehmen mit Non-profit-Organisationen kooperieren, dann stel-len sie der NPO meist Geld- und Sachspendenoder Dienstleistungen bereit. Die NPO emp-fängt nicht nur diese Ressourcen, sondern bei-de Akteure profitieren zugleich vom Wissens-transfer und Synergieaustausch.

Die Übernahme von sozialer und gesellschaft-licher Verantwortung muss nicht unbedingt miteiner Kooperation zusammenhängen. Nonpro-fit-Organisationen und Unternehmen könnenunabhängig voneinander Engagement demonst-rieren oder dazu aufrufen. Greenpeacebeispielsweise bewahrt seine politische Unab-hängigkeit und lehnt Unterstützung von Unter-nehmen und dem Staat ab. Andere Umweltorga-nisationen wie der World Wide Fund For Nature(WWF) oder der Bund für Umwelt und Natur-schutz Deutschland (BUND) stehen Unterneh-menskooperationen offen gegenüber und pfle-gen sie seit vielen Jahren. Allein der WWF bean-sprucht heute mehr als 35 Unternehmenskoope-rationen. Sie sehen Kooperationen als eine Formdes Transfers von Know-how, mit dem Ziel, denUnternehmen mehr Umweltbewusstsein zu ver-

Katja Prescher

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mitteln oder sie zu ökologisch verantwortlichemHandeln zu bewegen. Da sich Unternehmen durchdie Kooperation mit NPOs neue Tätigkeitsberei-che erschließen, erfordert dies für die Nonprofit-Organisationen systematisches Vorgehen sowiekritisches Hinterfragen, und es ist abzuwägen,welche Entscheidungen vom Unternehmen mitzutragen sind.

4 Gefahren und Chancen

Auch Sozialkampagnen stehen vor dem Problem,dass Aufmerksamkeit eine knappe Ressource istund Kampagnen immer mehr Mittel aufbringenmüssen, um aufzufallen. Die Vielzahl ähnlicherSozialkampagnen hat zur Folge, dass ihre Bot-schaften immer mehr die Chance verlieren, wahr-genommen zu werden. Kampagnen werden ge-spickt mit Emotionalität, Moral und Sensation,damit sie die Aufmerksamkeit der breiten Öf-fentlichkeit erhalten. Politische Themen geratengegenüber Unterhaltungsinhalten ins Hinterlicht.Die Grenzen beider verwischen.

Dem gegenüber steigt die Bedeutung vongesellschaftlicher Verantwortung für Unterneh-men und NPOs. Für Konsumenten spielt beiKaufentscheidungen das soziale Engagement desUnternehmens eine wichtige Rolle. Die Anzahlder Umwelt- und CSR-Berichte, veröffentlich-te Rankings über CSR in den Wirtschaftsmaga-zinen, aber auch die Prüfung zu Beginn letztenJahres der Stiftung Warentest von Produktqua-lität und Herstellungsprozess nach Kriteriengesellschaftlicher Verantwortung erhöhen denDruck auf Unternehmen.

Obwohl die Zahl der Unternehmen, die sichfür Kooperationen interessieren, steigt, haltensie sich immer noch zurück, ihre gesellschaftli-che Verantwortung nach außen zu kommunizie-ren. Es scheint eine sehr einfache Überlegungzu sein: ‚Tue Gutes und rede darüber‘. Docheinige haben Respekt vor der kritischen Öffent-lichkeit. Oft genug kommt das Engagement derUnternehmen missverständlich oder negativ an,

weil es für Werbe- oder PR- Zwecke eingesetztwird und als ‚gekaufte‘ Aufmerksamkeit gilt.Andere Unternehmen gehen indessen sehr of-fen mit ihrer Strategie für gesellschaftliche Ver-antwortung um.

Wenn Unternehmen lediglich einem Trendfolgen und weder mit ihrer Kampagne noch mitdem Kauf des Produktes hinreichend über Hin-tergründe der sozialen Verantwortung informie-ren, fördern sie damit den verantwortungslosenKonsum. Es entsteht eine Haltung bei den Kon-sumenten, sich durch die Unterstützung derKampagne von ihrer eigenen Verantwortung‚frei zukaufen‘.

Die Anstrengungen seitens der Unterneh-men ihre soziale Verantwortung immer mehr zubetonen, könnten zu einer Aufwertung der NPOführen, aber auch Risiken für beide Akteurebedeuten. Zu einer Aufwertung kann es kom-men, wenn das soziale Engagement, das nachaußen getragen wird, zum Unternehmen passtund zur gesellschaftlichen Entwicklung beiträgt.Es werden somit von verschiedenen Seiten ge-meinsame Ziele und Anliegen unterstützt.Hierbei profitieren NPOs und Unternehmen,weil Synergieeffekte möglich und Netzwerkegeschaffen werden sowie Austausch angeregtwird. Wenn NPO und Unternehmen in ihremImage und in ihrer Qualität der Kampagnenar-beit übereinstimmen, wenn jeder Akteur seinePosition offen, klar und transparent der Öffent-lichkeit darstellt, birgt eine Zusammenarbeitkaum Risiken. Zu einem Risiko wird es, wenndas Unternehmen nicht klar hinter der Idee steht,sondern die Kampagne lediglich an das Pro-dukt gebunden ist. Besonders beliebte Motiveund im Trend stehend sind Kinder- und Um-weltthemen. Sie emotionalisieren in einfacherWeise, aber sie entsprechen oft nicht dem Cha-rakter einer nachhaltigen und sinnvollen sowieethischen Verantwortung und Hilfe.

In der bereits anzutreffenden Polarisierungdes Marktes geraten kleine und mittlere Non-profit-Organisationen ins Abseits und große

Sozialkampagnen

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„Nonprofit-Marken“ gewinnen. Die Scherekönnte weiter auseinander klaffen. An einemBeispiel dargestellt: Unicef, als ‚reine Marke-ting-Organisation‘ bekannt, und auch der WWFinvestieren große Summen in Kampagnen. Seitmehr als 10 Jahren arbeiten die Organisationenmit großen Werbeagenturen zusammen. KleineOrganisationen dürfen sich kaum mit diesenGrößenordnungen messen. Auch wo professio-nelle Ergebnisse durch erfahrene Zusammenar-beit mit Kommunikationsagenturen anzutreffensind, kann es bei kleinen Organisationen mit wenigBranchenerfahrung ins Gegenteil umschlagen.Wenn Agenturen, die sich zum Dienste derMenschlichkeit berufen fühlen, Leistungen zumNulltarif anbieten, heißt dies noch lange nicht,dass gute Lösungen angeboten werden.

Vermittelt ein Unternehmen den Anschein,den Wunsch nach Gewinn mit sozialem Enga-gement zu kaschieren, bestehtfür NPOs die Ge-fahr ihre Glaubwürdigkeit einzubüßen. Glaub-würdigkeit und Vertrauen können nicht vom Un-ternehmen kommuniziert werden. Diese wer-den durch konsistentes Verhalten und gleichbleibende Projektion der Unternehmensidenti-tät ausgelöst. Nach Art und Weise, wie die Or-ganisation bzw. das Unternehmen handelt, wirdihr ein Image zugeschrieben. Darunter zähltauch, wie viel Offenheit, Glaubwürdigkeit undVertrauen im Umgang mit der Öffentlichkeitvorherrscht. Das Image beeinflusst wiederumdas Verhalten und Handeln der Öffentlichkeit.

5 Fazit und Ausblick

Sozialkampagnen können auf gesellschaftlicheMissstände aufmerksam machen, das Bewusst-sein der Öffentlichkeit für das Kampagnen-thema schärfen, zur Solidarität aufrufen undeine intensive Bewusstseins- sowie Meinungs-bildung schaffen. Diese Art der Einflussnah-me steckt in Deutschland zwar noch in denKinderschuhen, doch gibt es immer mehr Kam-pagnen dieser Art. Unternehmen bieten zuneh-

mend Leistungen ähnlich der NPOs an undbetonen ihre soziale Verantwortung. NPOsnutzen zunehmend die gleichen Wege der öf-fentlichen Aufmerksamkeit wie die Unterneh-men. Sie werden sich mit ehrlicher und unter-stützender Zusammenarbeit mit NPOs ausein-anderzusetzen haben. Für Unternehmen wirdes wichtiger, realistisch einzuschätzen, fürwelche Themen und in welchem Umfang siesich engagieren und kommunizieren. Eine för-derliche Kooperation bedarf klarer Grenzen,eindeutiger Unterscheidungsmerkmale sowieverbindlicher Verhaltensnormen, Regeln, Ver-trauen und Transparenz.

Im Zuge einer Zunahme von Sozialkampag-nen wird es schwerer die Öffentlichkeit zu sen-sibilisieren, auf Problemlagen der Welt aufmerk-sam zu machen oder zu Handlungen zu moti-vieren. Die Öffentlichkeit wird jeden Tag voneiner Fülle von verschiedensten Reizen über-flutet, die dazu ausgerichtet sind, ihre Aufmerk-samkeit zu gewinnen. Mit der zunehmendenMenge von Informationen wächst die Knapp-heit von Aufmerksamkeit. Daher ist gute Kam-pagnenarbeit einschließlich einer eindeutigenIdentität wesentliche Voraussetzung, um dieÖffentlichkeit zu erreichen und um von anderenAkteuren unterscheidbar zu bleiben.

Der Erfolg der Kampagnen, in denen derProduktverkauf mit gesellschaftlicher Verant-wortung zusammenhängt, ist von vielen Fakto-ren abhängig, vor allem von der Wirkung aufdie Konsumenten. Die Kommunikation derUnternehmen und Organisationen richtet sichdaher nach gesellschaftlich akzeptierten Wertenund liefert Symbole, mit denen sich die Konsu-menten identifizieren können.

Ihrem gesellschaftlichen Engagement nähernsich viele Konsumenten durch Vorbilder aus demBereich der Unterhaltung bzw. des Entertain-ments, weniger aus der Politik. Sie drücken sichdurch ihren Konsum aus, Selbstdarstellung undProminenz werden bedeutend. Unternehmenund NPOs beeinflussen diesen Trend. Der Ein-

Katja Prescher

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satz von knappen Botschaften, aufgesetzter In-strumente und entsprechenden Testimonials trei-ben diesen Trend voran.

Allerdings reagieren immer weniger aufKampagnen, wenn sie an ihrer Glaubwürdig-keit zweifeln. Abhängig davon in welchem MaßeUnternehmen und NPOs mittels Aufmerksam-keit ihre Botschaften zu öffentlichen Themenmachen, nehmen sie Einfluss. Hier sind dieAkteure aufgefordert, realistisch einzuschätzen,was sinnvoll und nachhaltig ist. Sozialkampag-nen setzen professionelle Kompetenzen beiderSeiten voraus.

Für NPOs und Unternehmen ist es wichtigund wird es anhaltend bedeutender, die Markt-situation bzw. ihre Umwelt im Auge zu behaltensowie nationalen und internationalen Entwick-lungen offen gegenüber zu treten. Die professi-onelle Kampagnenarbeit, d. h. die Qualität ihrerArbeit, Glaubwürdigkeit und Vertrauen, Be-kanntheit und gutes Image lassen sie bei zuneh-mendem Wettbewerb beständig bleiben. DasBilden von Netzwerken, marktwirtschaftlichesWissen und Können der NPOs ermöglicht ih-nen, Informationen schneller denn je zu ver-breiten. Gesellschaftliche, wirtschaftliche undpolitische Abläufe werden schneller als zuvordurch grundlegende Veränderungen, besondersder Informationstechnologien und einhergehen-der Komplexität, beeinflusst. Diese zu erken-nen und auf sie zu reagieren, damit NPOs undUnternehmen ihre Rolle und mit ihr die Kampa-gnenarbeit sowie eine eventuelle Kooperationneu einordnen und einträglich bewerten kön-nen, wird bedeutender.

Katja Prescher studierte Kommunikations-und Wirtschaftswissenschaften in Berlin. ImRahmen ihrer Diplomarbeit untersuchte sie dieProfessionalisierung von Sozialkampagnennichtprofitorientierter Organisationen. E-Mail:[email protected]

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Kröher, Michael O.R. 2005: Good Compa-ny Ranking. Tue Gutes und profitiere davon.In: manager magazine Ausgabe 2/2005, 81-86.

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Sozialkampagnen

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1 Initiativen zwischen Reformkriseund Reformwille

Das Verhältnis der Deutschen gegenüber um-fassenden politischen Veränderungen ist in denvergangenen Jahrzehnten zusehends zwiespäl-tiger geworden: Allein mit dem Begriff ‚Re-form‘ assoziierten im Mai 2006 rund drei Vier-tel der Bundesbürgerinnen und -bürger etwasSchlechtes (Bankenverband 2006: 30), und nurjeder Zweite, der an der größten, wenngleichnicht repräsentativen gesellschaftspolitischenOnline-Umfrage ‚Perspektive-Deutschland2005/06‘ teilnahm, hielt die in den vergange-nen Jahren eingeleiteten Umgestaltungen in denBereichen ‚Arbeitsmarkt‘, ‚Gesundheit‘, ‚Ren-te‘, ‚Wirtschaftswachstum‘, ‚Familie‘ und ‚Steu-ern‘ für erfolgreich (Perspektive Deutschland2006: 43). Die Skepsis gegenüber der Reform-fähigkeit der Politik ist weiterhin ausgeprägt,auch wenn sich die Zuversicht gegenüber derReformbereitschaft der Regierenden nach derBundestagswahl 2005 etwas erhöht hat. Vorallem zeigen sich die Deutschen aber mittler-weile, ungeachtet zum Teil tief greifender Ein-schnitte in das soziale Netz, keineswegs als re-formmüde: Rund achtzig Prozent fordern, diebegonnenen Reformen zügig voranzutreiben.Dies spricht, vor dem Hintergrund der Erfah-rungen mehrjähriger ökonomischer Wachs-tumsschwäche und hoher Arbeitslosigkeit, füreinen gestiegenen Realismus gegenüber derNotwendigkeit umfassender Reformmaßnah-men, aber auch für niedriges Vertrauen in dasWirtschaftssystem und die Problemlösungsfä-higkeiten der politischen Entscheidungsträger(Köcher 2007).

Diese Skepsis gegenüber den politisch Han-delnden ist keineswegs ein neues Phänomen:Tatsächlich ist sowohl das Vertrauen gegenüberder Regierung als auch die Zufriedenheit mitderen Leistungen seit den 1970er Jahren deut-lich gesunken (Niedermayer 2005: 69ff.).Insbesondere die von der rot-grünen Bundesre-gierung ab 1999 eingeläuteten Reformgesetzeschlugen sich in wachsender Unsicherheit undöffentlichem Unmut nieder. Vor diesem Hinter-grund betrat im Laufe der ersten Legislaturperi-ode der Schröder-Regierung ein neuer Typusvon Interessensorganisationen die öffentlicheBühne: die so genannten ‚Reforminitiativen‘.Zu diesen zählen diverse Aktionsgemeinschaf-ten wie der Bürgerkonvent, Deutschland packt’san!, Aufbruch jetzt, BerlinPolis, Initiative Klar-heit in die Politik, Für ein attraktives Deutsch-land, Stiftung Liberales Netzwerk, MarkeDeutschland, Projekt neue Wege, Konvent fürDeutschland sowie – nicht zuletzt – die Initiati-ve Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)(Speth/Leif 2006: 304ff.). Ungeachtet unter-schiedlicher inhaltlicher Schwerpunktsetzungenund zum Teil variierender Reformideen habendiese Initiativen von Beginn an darauf abge-zielt, nicht nur die Reformbereitschaft der Bür-gerinnen und Bürger insgesamt zu erhöhen,sondern diese vor allem zu mehr Eigenverant-wortung und Eigeninitiative aufzurufen. Ent-sprechend stehen öffentlichkeitswirksame Ak-tivitäten, die massenmediale Resonanz verspre-chen und zugleich bei den Bürgerinnen undBürgern Aufmerksamkeit wecken, im Zentrumderen Kommunikationsmanagements. Hierzuwerden Werbe- und PR-Kampagnen, prominentbesetzte Veranstaltungen, Pressekonferenzen,

Jens Tenscher/Judith Laux

Grenzen der ReformkommunikationDas Kommunikationsmanagement der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaftund dessen Wahrnehmungen

Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

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Testimonials und so genannte ‚Medienpartner-schaften‘ genutzt. Schließlich soll über den Re-sonanzboden der öffentlichen Meinung jedochvor allem Druck auf die politischen Entschei-dungsträger aufgebaut werden, die staatlichenLösungs- und Koordinationsinstrumente bei derBewältigung der vordringlichen gesellschaftli-chen Probleme gegenüber den Instrumentariendes Marktes zurückzuschrauben.

Ohne die ‚Eigensinnigkeiten‘ der politischenEntscheidungsträger, des Journalismus und derBevölkerung unterschätzen zu wollen, kann denbisherigen Aktivitäten der Reforminitiativendurchaus Erfolg bescheinigt werden: Zwar trifftder Begriff ‚Reform‘ heute auf deutlich mehrAntipathien als noch vor einigen Jahren (Kö-cher 2007: 10). Davon unbenommen hat sich,wie skizziert, die prinzipielle Reformbereitschaftder Deutschen in den vergangenen Jahren aberauf sehr hohem Niveau eingependelt. Zudemspricht sich eine Mehrheit mittlerweile für einstärker marktwirtschaftlich ausgerichtetesStaatsmodell mit mehr Eigeninitiative und höhe-rer Leistungsorientierung aus. Der Staat solleaber immer dann eingreifen, wenn die sozialeBalance in Gefahr gerät (Perspektive Deutsch-land 2006: 39f.).1

Ungeachtet dieses, wenn auch nicht kausalnachweisbaren ‚Erfolgs‘ des Engagements derReforminitiativen haben deren mitunter radikalneoliberale Ausrichtung, aber auch deren kom-munikative Aktivitäten in den vergangenen Jah-ren immer wieder Anlass für Kritik gegeben. Inderen Fokus hat von Beginn an insbesonderedie INSM gestanden, die als ressourcenstärksteReforminitiative die größte Wirksamkeit in dermassenmedialen Berichterstattung entfaltet(Nuernbergk 2006) – und zugleich höchste wis-senschaftliche Aufmerksamkeit bündelt (Speth2004). An deren Beispiel soll im Folgendengezeigt werden, welche Möglichkeiten sich demKommunikationsmanagement der Reforminiti-ativen bieten und an welche Grenzen diesezugleich stoßen. Dabei soll erstmalig ein be-

sonderer Blick auf die betroffenen Adressatenbzw. ‚Anspruchsgruppen‘ der Kommunikati-onsbemühungen der INSM geworfen werden.

2 Ziele und Instrumente der INSM

Die vom Arbeitgeberverband der Metall- undElektroindustrie ins Leben gerufene INSM giltals die bedeutendste, professionellste und vorallem finanzstärkste der deutschen Reforminiti-ativen (Speth/Leif 2006: 304). Ihre Finanzie-rung durch den Arbeitgeberverband Gesamt-metall ist bis 2010 mit einem Jahresbudget vonrund neun Millionen Euro gesichert. Ausschlag-gebend für die Initiierung der INSM waren dieBefürchtungen auf Seiten der Wirtschaftsver-bände und Unternehmer, dass sich mit demAntritt der rot-grünen Koalition das ohnediesungünstige Wirtschafts- und Reformklima wei-ter verschlechtern würde. Die entsprechendeBesorgnis wurde durch eine von den Arbeitge-berverbänden im Jahr 1999 beim Institut fürDemoskopie Allensbach in Auftrag gegebeneUmfrage untermauert, welche eine deutlicheDistanz und ein Misstrauen der Bevölkerunggegenüber der Wirtschaft sowie eine ausgeprägteSkepsis gegenüber möglichen Reformen offen-barte (Rauhut 2003: 210).

Vor diesem Hintergrund wurde am 12. Ok-tober 2000 die INSM mit dem Ziel aus der Tau-fe gehoben, „eine breite gesellschaftliche De-batte darüber an[zu]stoßen, wie (…) diesen neu-en Herausforderungen“ (www.insm.de) begeg-net werden müsse. Vorrangiges Ziel war und istes, Resonanz und Deutungshoheit innerhalb desöffentlichen (und politischen) Reformdiskurseszu gewinnen. Da die INSM nicht, wie andereInteressengruppen, über einen institutionalisier-ten Zugang zum politisch-administrativen Sys-tem verfügt (z.B. über Experten-Hearings imDeutschen Bundestag), ist sie darauf angewie-sen, ihre (Reform-)Botschaften und Vorschlägeüber die Bande der öffentlichen Meinung in dasArkanum des politischen Entscheidungsbe-

Grenzen der Reformkommunikation

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reichs zu spielen. Die primär medienorientierteÖffentlichkeitsarbeit erweist sich somit gegen-über dem auf den politischen Entscheidungsbe-reich abzielenden Lobbying als die dominanteStrategie (Speth/Leif 2006).

Hierzu hat die INSM eine auf Dauer ange-legte Öffentlichkeitskampagne angestoßen, dieunter dem Signum der ‚neuen sozialen Markt-wirtschaft‘ an – vor allem in älteren Generatio-nen – noch vorhandene positive Assoziationengegenüber dem ‚bewährten Konzept‘ LudwigErhards anknüpfen möchte. Die eigens für dieUmsetzung der Kampagne gegründete Agenturberolino.pr mit Sitz in Köln koordinierte in denersten Jahren die kommunikativen Aktivitätenin enger Zusammenarbeit mit der Lead-AgenturScholz & Friends. Mittlerweile ist die INSMeine GmbH, geleitet vom ehemaligen BDI-Spre-cher Dieter Rath und seit dem 1. April 2006vom Direktor des Deutschen Instituts für Ge-sundheitsökonomie, Max A. Höfer, der demehemaligen Chefreporter der Financial TimesDeutschland, Tasso Enzweiler, folgte. Die Ge-schäftsführung wird von sechs weiteren festenund freien Mitarbeitern unterstützt.

Die INSM nutzt das komplette Spektrum derintegrierten Kommunikation: Sie kombiniert PR-und Werbemaßnahmen mit professionellemThemen- und Ereignismanagement und bedientzugleich die breite Palette unterschiedlicherMassenmedien (Laux 2006). So gibt es u.a. eineInternetseite zur Initiative an sich sowie ver-schiedene Kampagnen-Websites (z.B. www.vision-d.de; www.wassollwerden.de; www.unicheck.de). Es werden regelmäßig großfor-matige mehrfarbige Anzeigen in überregionalenTageszeitungen und Magazinen geschaltet undBroschüren herausgegeben. AußergewöhnlicheAktionen, wie etwa die bildträchtige Darstel-lung des reformpolitischen ‚Gordischen Kno-tens‘ vor dem Berliner Reichstag, werden pro-fessionell geplant und in Szene gesetzt. Ent-sprechende Resonanz in der Berichterstattunggarantieren schließlich nicht nur wissenschaft-

liche Expertisen und ein Set an prominenten(gleichsam nachrichtenwerten) ‚Botschaftern‘und ‚Kuratoren‘, sondern auch so genannte‚Medienkooperationen‘, d.h. etablierte Kontak-te zu Zeitschriften und Zeitungen (wie z.B. demBonner Generalanzeiger und der ZEIT), derenRedaktionen – aus Zeit- und Kostengründen –sich offen gegenüber den journalistisch vorbe-reiteten Pressemitteilungen und Berichten derINSM zeigen (Nuernbergk 2006: 175).

Obwohl auch andere Organisationen dieseForm des (aus normativer Sicht sicherlich frag-würdigen) ‚PR-Journalismus‘ pflegen, äußertsich – außerhalb der Medienkooperationen –gerade gegenüber der INSM immer wieder ent-sprechende Kritik. So wird ihr beispielsweise„Intransparenz bzw. das gezielte Verschleiernder Hintergründe (…) [und der] Einsatz mani-pulativer Methoden in der Öffentlichkeitsarbeit“(Müller 2004: 50) vorgeworfen.2 Dazu kommt,dass die nach eigenen Angaben überparteilicheInitiative, nicht zuletzt aufgrund ihrer Sponso-ren immer wieder in den Verdacht gerät,vornehmlich eine „PR-Agentur der Wirtschaft“(Speth/Leif 2006: 303) zu sein. EntsprechendeAssoziationen gefährden schließlich jedoch dasstrategische Ziel der Initiative, sich als gesell-schafts- und gemeinwohlorientierter Akteur zupositionieren. Sie stellen ihre Glaubwürdigkeitin Frage und beschädigen das Vertrauen, wel-ches die INSM als Legitimationsbasis benötigt,um erstens das Thema ‚Reformen‘ in einenpositiven Gesamtzusammenhang zu stellen undzweitens ihre spezifischen (Reform-)Botschaf-ten auf der massenmedialen, öffentlichen undpolitischen Agenda zu platzieren (Bentele/See-lig 1996). Um dem entgegenzuwirken, hat dieINSM von Beginn an besonderen Wert daraufgelegt, dass sich unter ihren Kuratoren undBotschaftern aus Wirtschaft, Wissenschaft undPolitik nicht nur Prominente aus dem bürger-lich-liberalen und wirtschaftsnahen Lager be-fanden.3 Auch die Gründung eines Förderver-eins, dem jede Bürgerin und jeder Bürger gegen

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die Zahlung eines jährlichen Mitgliedsbeitragsseit dem Sommer 2005 beitreten kann, soll diebreite gesellschaftliche Verwurzelung der INSMunterstreichen.

Dessen ungeachtet sind die Möglichkeitender Initiative, für ihre Themen und VorschlägeResonanz und Unterstützung zu finden, zumin-dest bei einigen der für ihr Kommunikations-management relevanten Zielgruppen begrenzt.Hier scheinen nicht nur faktisch vorhandene‚Kooperationen‘ der INSM mit Wirtschaftsver-bänden einerseits und Medienunternehmenandererseits eine Rolle zu spielen, sondern vorallem auch unterstellte Abhängigkeiten, die imWiderspruch zur propagierten Gemeinwohlori-entierung stehen. Zur Überprüfung dieser An-nahme soll im Folgenden erstmalig ein Blickauf die Wahrnehmungen und Bewertungen derINSM bei ihren zentralen Adressatengruppengeworfen werden. Dabei wird von der Prämis-se ausgegangen, dass der Erfolg des Kommu-nikationsmanagements der INSM, Aufmerksam-keit für ihre Anliegen zu erzeugen, Unterstüt-zung zu gewinnen und Vertrauen aufzubauen,nicht zuletzt von der Überwindung akteursspe-zifischer Kommunikationsbarrieren abhängt(Mast/Spachmann 2005: 139ff.).4

3 Wahrnehmungen undBewertungen der INSM

Zur Erfassung der Fremdwahrnehmung derINSM und der Reaktionen gegenüber ihrenKommunikationsbemühungen wurden im Jahr2006 von Februar bis April Vertreterinnen undVertreter ihrer hauptsächlichen externen An-spruchsgruppen anhand eines standardisiertenFragebogens schriftlich befragt. Dabei handeltees sich zunächst um die relevanten Zielgruppender Lobbying-Aktivitäten der INSM, d.h.einerseits um politische Entscheidungsträger derzuständigen Ministerien, aus Ständigen Aus-schüssen des Deutschen Bundestages und ausden Arbeitsgruppen der Fraktionen, sowie

andererseits um Verbandsvertreter (inklusiveRepräsentanten anderer Reforminitiativen).Darüber hinaus wurden die zentralen Adressa-ten der PR-Aktivitäten befragt, also Journalistender reichweitenstärksten Print-, Rundfunk- undOnlinemedien. Von den insgesamt 240 identifi-zierten und angeschriebenen Personen beteilig-ten sich 58 Personen an der Umfrage. Dies ent-spricht einer Rücklaufquote von 28,8 Prozent,einem für Elitenbefragungen durchaus typi-schen Wert.5

Um zu überprüfen, wie hoch die Hürdenausfallen, die die INSM bei verschiedenenAdressatengruppen zu überwinden hat, um auf(positive) Resonanz zu stoßen, werden im Fol-genden die Antworten der Befragten entspre-chend ihrer ideologischen Selbstverortung aufder so genannten ‚Links-Rechts‘-Skala darge-stellt.6 Dieses Vorgehen folgt der gängigen An-nahme, dass die politische Orientierung derBefragten in hohem Maße der jeweiligen Orga-nisation ähnelt und dass die politische Grund-ausrichtung – mehr als andere Faktoren – dieakteursspezifische Wahrnehmung und das Ver-halten gegenüber den Kommunikationsaktivi-täten der INSM beeinflusst. Diesbezüglichmusste, wie auch ein Blick auf die Medienkritikan der INSM nahe legte, davon ausgegangenwerden, dass die Bewertung der INSM undihrer Methoden als einer von Arbeitgeberver-bänden finanzierten Organisation umso skepti-scher ausfallen würde, je stärker links sich einePerson im politischen Spektrum ansiedelt. Jestärker sich ein Befragter auf der Skala rechts,d.h. im konservativen Bereich, verortet, destounkritischer dürfte er dagegen der Initiative ge-genüberstehen. Diese Annahme soll zunächstmit einem Blick auf die der INSM zugewiese-nen zentralen Merkmale überprüft werden.

Dazu wurden die befragten Journalisten,Verbandsvertreter und politischen Akteure alserstes gebeten, fünfzehn Eigenschaften, die imAllgemeinen mit Reforminitiativen assoziiertwerden, dahingehend zu bewerten, inwieweit

Grenzen der Reformkommunikation

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sie ihrer Meinung nach auf die INSM zutreffen.Diesbezüglich kristallisierten sich drei zentraleImagekomponenten bzw. drei Wahrnehmungs-facetten der INSM heraus:7

1. die INSM als wenig integere, eher Partiku-larinteressen verpflichtete Interessengruppe;

2. die INSM als Motor für marktwirtschaftli-che Reformen;

3. die INSM als professioneller, wenngleicheher erfolgloser Kommunikator.

Bezüglich der ersten Charakterisierung, welcheauf die Vertrauens- und Glaubwürdigkeit derINSM abzielt, zeigt sich, dass diese von allenBefragten in erster Linie als wenig arbeitneh-merfreundlich, intransparent und unsozial wahr-genommen wird (vgl. Abbildung 1). Darüberhinaus tritt hinsichtlich aller Einzelaspekte dervermutete negative Zusammenhang zwischen

der politischen Links-Rechts-Einordnung derBefragten und dem Ausmaß der Zustimmungzu den wahrgenommenen Eigenschaften derINSM zum Vorschein:8 Die Befragten, die sicheher im politisch linken Spektrum verorten, stim-men demnach den positiv konnotierten Eigen-schaften der INSM in zum Teil deutlich gerin-gerem Ausmaß zu als Personen, die eher imbürgerlich-konservativen Lager anzusiedelnsind. Die beträchtlichsten Unterschiede tretendiesbezüglich hinsichtlich der Eigenschaften‚offen‘ und ‚sozial‘ auf (vgl. Reuter 2002). Diegrößte Einigkeit unter den Befragten herrschtdagegen beim Aspekt der Allgemeinwohlorien-tierung, welche der INSM eher abgesprochenwird. Auffällig ist, dass Befragte, die sich in derpolitischen Mitte verorten, die stärkste Zustim-mung zu diesen positiven Eigenschaften äußern.

Gesamt Linke Neutrale Rechte

Abbildung 1: Wahrnehmungen der INSM als eine wenig arbeitnehmerfreundliche, intransparente und unsoziale Initiative

Quelle: Eigene Darstellung

Jens Tenscher/Judith Laux

2,9

2,8

3,0

2,8

3,2

2,7

3,1

3,7

3,7

3,7

3,4

3,8

3,7

3,8

2,7

2,6

2,8

2,6

3,1

2,6

2,9

3,1

3,0

2,9

3,0

3,3

2,7

3,4

1,0 2,0 3,0 4,0

vertrauenswürdig

glaubwürdig

sozial

allgemeinwohlorientiert

arbeitnehmerfreundlich

offen

transparent

Bew

ertu

ng

Mittelwerte (1 = stimme voll und ganz zu, 4 = stimme gar nicht zu)

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Bezüglich der zweiten Wahrnehmungsfa-cette bzw. Imagekomponente, also jenen Ei-genschaften, die die INSM als wichtigen Fak-tor der Reformbemühungen in Deutschlandcharakterisieren, nehmen die Befragten die In-itiative eindeutig als marktwirtschaftlich ori-entiert, jedoch als wenig relevant für das Vor-ankommen der Reformprozesse wahr (vgl. Ab-bildung 2). Dieses Urteil wird vor allem vondenjenigen Ansprechpartnern der INSM ver-treten, die sich politisch eher links einstufen.Dagegen schätzen die politisch Konservativenund die sich in der Mitte Verortenden die Rele-vanz der Initiative für das Vorankommen derReformen in Deutschland deutlich positiverein.9

Neben diesen insgesamt wenig positivenEigenschaften verweisen die Antworten derBefragten noch auf eine dritte Imagekompo-nente der INSM, die auch seitens ihrer schärfs-ten Kritiker nicht in Frage gestellt wird: dieProfessionalität ihres Kommunikationsma-nagements (Speth/Leif 2006). Diesbezüglichnehmen ihre Zielgruppen die INSM als einenrelativ professionellen, aber vergleichsweisewenig erfolgreichen Kommunikator wahr. Hierbesteht die größte Einigkeit unter den Befrag-ten (vgl. Abbildung 3) – wobei insbesonderedie Akteure, die sich in der politischen Mitteansiedeln, von der Professionalität und demErfolg des Kommunikationsmanagements derINSM überzeugt sind.

Gesamt Linke Neutrale Rechte

Abbildung 2: Wahrnehmungen der INSM als marktwirtschaftlich orientiert, aber irrelevantfür den Reformprozess in Deutschland

Quelle. Eigene Darstellung

Grenzen der Reformkommunikation

1,6

2,5

1,4

3,1

1,7

2,4

1,8

2,4

1,0 2,0 3,0 4,0

marktwirtschaftlich

relevant für dasVorankommen derReformprozesse in

Deutschland

Bew

ertu

ng

Mittelwerte (1 = stimme voll und ganz zu, 4 = stimme gar nicht zu)

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Insgesamt deuten die dargestellten drei Wahr-nehmungsbündel aus Sicht der Befragten dar-auf hin, dass zwar die Professionalität des Kom-munikationsmanagements der INSM außer Fra-ge steht, dass diese aber davon unbenommenihr Ziel zu verfehlen scheint, sich als vertrau-enswürdiger, offener, sozialer, dem Allgemein-wohl und nicht etwa Partikularinteressen ver-pflichteter Reformakteur zu positionieren. Sowird die Initiative neue soziale Marktwirtschaftvon ihren Adressaten deutlich stärker mit demin der Gesamtgesellschaft eher negativ konno-tierten Begriff (Infratest dimap 2007) der Markt-wirtschaft und in wesentlich geringerem Maßemit dem positiv besetzten Attribut ‚sozial‘ inVerbindung gebracht. Dies trifft insbesondere– aber nicht nur – auf diejenigen Befragten zu,

die sich am linken Ende des politischen Spek-trums verorten und bei denen die Zugangsbarri-eren für ein erfolgreiches Kommunikationsma-nagement entsprechend hoch ausfallen dürften.

Diese Vermutung bestätigt sich, wenn dieBefragten gebeten werden, unabhängig von Ein-zeleindrücken die INSM ‚alles in allem‘ anhandeiner ‚Schulnotenskala‘ von 1 bis 6 zu bewer-ten (vgl. Abbildung 4): Der Durchschnittswertliegt diesbezüglich mit 3,7 nur unwesentlich überdem rechnerischen Mittel von 3,5, also näher an‚ausreichend‘ als an ‚befriedigend‘. Angesichtsder bisherigen Eigenschaftszuweisungen we-nig verwunderlich, scheint die INSM insbeson-dere bei jenen Zielgruppen nicht ‚anzukommen‘,die sich eher im politisch linken Spektrum an-siedeln (Mittelwert 4,9). Aber auch die ‚bürger-

2,3

1,7

2,7

2,1

2,2

1,6

2,6

2,1

1,0 2,0 3,0 4,0

erfolgreich

professionell

Bew

ertu

ng

Mittelwerte (1 = stimme voll und ganz zu, 4 = stimme gar nicht zu)Gesamt Linke Neutrale Rechte

Abbildung 3: Wahrnehmungen der INSM als ein professioneller, trotzdem wenig erfolgrei-cher Kommunikator

Quelle: Eigene Darstellung

Jens Tenscher/Judith Laux

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liche Mitte‘ (3,1) und das konservative Lager(3,0) bewerten das Engagement der InitiativeNeue Soziale Marktwirtschaft nicht mehr als‚befriedigend‘. Der mitunter geäußerte Verdacht,die INSM würde nur bei ‚linken‘ Journalisten,Politikern und Gewerkschaftsfunktionären we-nig Gehör finden, muss entsprechend relativiertwerden in ein vor allem, aber nicht nur.

4 Fazit: Grenzen derReformkommunikation

Reforminitiativen, wie die INSM, sind angetre-ten, um erstens die öffentliche Aufmerksamkeitauf grundlegende Veränderungen in Wirtschaftund Gesellschaft zu lenken, zweitens die Re-formbereitschaft der Bevölkerung zu erhöhen

und drittens über die veröffentlichte sowie dieöffentliche Meinung Druck gegenüber den po-litischen Handlungsträgern aufzubauen, vor al-lem wirtschaftsliberale Reformen zu forcieren.Angesichts der in der deutschen Bevölkerungmittlerweile stark ausgeprägten Aversion gegen-über dem Reformbegriff und dem zunehmen-den Misstrauen gegenüber politischen und wirt-schaftlichen Akteuren (Köcher 2007: 9f.) kanndies nur über ein professionelles Ereignis- undThemenmanagement, das entsprechende Lob-by-Aktivitäten begleitet, gelingen. Dabei musses im Interesse der Reforminitiative liegen, sichgegenüber der Öffentlichkeit im Allgemeinenund ihren direkten Interaktionspartnern im Be-sonderen als vertrauenswürdige, unabhängigeund gemeinwohlorientierte Organisation zu po-

Abbildung 4: Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft: Schlechte Noten, vor allen Dingen vonden politischen links Orientierten

Quelle: Eigene Darstellung

3,0

3,1

4,9

3,7

1,0 2,0 3,0 4,0 5,0 6,0

Insgesamt

Rechte

Neutrale

Linke

Link

s-re

chts

-Pos

ition

ieru

ng d

er B

efra

gten

Bewertung der INSM (1 = sehr gut, 6 = ungenügend)

Grenzen der Reformkommunikation

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sitionieren. Vertrauensaufbau ist somit die un-abdingbare Voraussetzung und zugleich der zen-trale Indikator für eine erfolgreiche Reformkom-munikation (Szyszka 2004: 155ff.).

Diesbezüglich muss konstatiert werden, dasses die INSM bislang nur unzureichend geschaffthat, ihre Unabhängigkeit und Gemeinwohlori-entierung gegenüber ihren direkten und öffent-lichen Anspruchsgruppen glaubhaft zu vermit-teln. Dies schlägt sich nicht nur in entsprechendkritischen Medienberichten nieder, mit denensich die INSM immer wieder konfrontiert sieht(Neuber 2004; Schielke 2005; Kutz/Nehls2007), sondern eben auch, wie die präsentiertenBefunde verdeutlichen, in den Wahrnehmun-gen und Bewertungen der direkten Ansprech-partnerinnen und -partner. So gibt fast die Hälf-te der Befragten an, die Initiative wolle vor al-lem die Interessen der Arbeitgeber vertreten unddie Marktwirtschaft forcieren. Positive Eigen-schaften, wie Allgemeinwohlorientierung, Of-fenheit, Transparenz oder Vertrauenswürdigkeit,erhalten dagegen – wenn überhaupt – nur vonjenen Personen Zustimmung, die sich politischeher rechts orientieren. In dieser Gruppe be-steht für die INSM noch am ehesten die Mög-lichkeit, Unterstützer und Befürworter zu fin-den, die ihr helfen, ihre Reformideen auf diepolitische Agenda zu bringen.

Demgegenüber scheinen die Bemühungender INSM bei Vertretern ‚linker‘ Organisatio-nen in besonderem Maße auf ‚taube Ohren‘ zustoßen. Angesichts der Schlüsselpositionen,die auch Politikerinnen und Politiker von SPD,Bündnis’90/Die Grünen und der Linken, Ge-werkschaftsvertreter und – nicht zuletzt – ‚linksdenkende‘ Journalisten an Schaltzentralen deröffentlichen und politischen Meinungsbildungeinnehmen, scheint dies die Chancen derINSM, mit Themen und (Reform-)Botschaf-ten in der Gesamtbevölkerung durchzudrin-gen, doch enorm zu schmälern. So lange dieINSM bei wesentlichen Multiplikatorengrup-pen und Entscheidungsträgern jedoch – unab-

hängig von einzelnen Aktionen und Botschaf-ten – negative Assoziationen weckt, dürftensich die Erfolgsaussichten für ihr Kommuni-kationsmanagement kaum verbessern. Voraus-setzung hierfür wäre eine, wenngleich wenigrealistische, Abkopplung vom Initiator undHauptsponsor der Initiative, dem Arbeitgeber-verband Gesamtmetall. Diesem scheint es abernicht nur – gesellschaftsorientiert – um dieSchaffung eines positiven Reformklimas in derBevölkerung zu gehen, sondern auch – ganzeigennützig – um die Aufbesserung des Imagesder deutschen Wirtschaft und die Ausweitungder Markt- gegenüber den Staatseinflüssen(Speth/Leif 2006: 303f.). Diese Vermischungvon Partikular- und Allgemeininteressen könn-te sich auf absehbare Zeit als die größte Bürdefür eine erfolgreiche Reformkommunikationentpuppen.

Dr. Jens Tenscher ist Juniorprofessor fürPolitikwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau. Email: tenscher@ uni-landau.de

Judith Laux ist Diplom-Sozialwissenschaft-lerin und Projektmitarbeiterin am Institut fürMittelstandsökonomie an der Universität Triere.V. (Inmit). Email: [email protected]

Anmerkungen

1Nach einer repräsentativen Umfrage mein-ten auch im Mai 2006 nur noch 54 Prozent,dass sich die soziale Marktwirtschaft bewährthabe, während dies zu Beginn der ersten rot-grünen Legislaturperiode noch 73 Prozent wa-ren (Bankenverband 2006: 30). Zwar gilt diesoziale Marktwirtschaft immer noch als die best-mögliche Wirtschaftsform, aber die Balance zwi-schen Markt und Sozialem scheint hier, aus Sichtder Bürgerinnen und Bürger, zunehmend zu-lasten des Sozialen zu kippen (Infratest dimap2007; Köcher 2007).

2Auch die Teilfinanzierung eines ARD-Drei-teilers über die ‚Märchen der Sozialpolitik und

Jens Tenscher/Judith Laux

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den Reformstau in Deutschland‘ und bezahlteThemenplatzierungen in der ARD-Vorabendse-rie Marienhof im Jahr 2002 führten zu entspre-chenden Negativschlagzeilen.

3Allerdings haben sich einige von diesen –wie die Grünen-Politikerin Christine Scheel undder ehemalige Wirtschaftsminister WolfgangClement (SPD) – mittlerweile von der INSMdistanziert.

4Mit dem Blick auf die involvierten Akteuresollen nicht organisationsspezifische Imperati-ve negiert werden. Vielmehr werden die Wahr-nehmungen und Bewertungen der Akteure alsverbalisierter Ausdruck rollenspezifischen Ler-nens und Handelns innerhalb von Organisatio-nen interpretiert (Tenscher 2003: 147ff.).

5Zur Identifikation der in die Befragung ein-zubeziehenden Personen wurde über den Po-sitionsansatz eine bewusste, dreistufige Aus-wahl jener Akteure getroffen, die innerhalb ei-ner politischen, ökonomischen bzw. medialenOrganisation eine zentrale Position in jenenPolitikbereichen einnehmen, denen sich dieINSM in ihren Kampagnen annimmt (Wirt-schafts-, Beschäftigungs-, Sozial-, Tarif- undBildungspolitik). Von den identifizierten Perso-nen konnte angenommen werden, dass sie alsprimäre Adressaten der INSM in den Funkti-onsbereichen ‚Politik‘ (39 Akteure), ‚Medien‘(109 Akteure) und ‚Wirtschaft‘ (92 Akteure)fungieren. Aus Gründen der Übersichtlichkeitwerden die Antworten im Folgenden nicht nachFunktionsbereichen, sondern nach der politi-schen Positionierung der Befragten dargestellt.

6Dabei handelt es sich um eine Skala mit denPolen 1 (links) bis 10 (rechts), anhand derer dieBefragten ihre politische Einstellung markieren.Zur besseren Veranschaulichung wurden dieBefragten zu drei Kategorien zusammengefasst:„links Orientierte“ (Werte 1-3), „neutrale bzw.mittig Orientierte“ (Werte 4-7), „rechts bzw.konservativ Orientierte“ (Werte 8-10).

7Zur Dimensionsreduktion auf die wesentli-chen Faktoren wurde eine Hauptkomponen-

tenanalyse (Varimax-Rotation) durchgeführt.Die drei extrahierten Faktoren beziehen sich aufelf der ursprünglichen 15 Items und erklärenzusammen 76% der Gesamtvarianz.

8Der Rangkorrelationskoeffizient Spear-mans Rho variiert je nach Item zwischen -0,17(allgemeinwohlorientiert) und -0,33 (offen).Damit besteht, entsprechend der Annahme, einschwacher bis mittlerer negativer, signifikanterZusammenhang zwischen politischer Selbstver-ortung der Befragten und der Charakterisierungder INSM in Bezug auf die genannten Merk-male. Würden die Rangfolgen der zugeschrie-benen Eigenschaften von den drei Befragten-gruppen identisch sein, wäre der Zusammen-hang +1, bei drei komplett unterschiedlich aus-fallenden Antwortmustern -1.

9Mit einem Wert von -0,22 steht SpearmansRho hier für einen mittleren negativen, aberhöchst signifikanten Zusammenhang.

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Jens Tenscher/Judith Laux

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Die Welt zu Gast bei Freunden, ein Jahrhun-dertsommer überstrahlt die Fußballweltmeister-schaft, doch Anfang Juli 2006 gerät die Berufs-gruppe der niedergelassenen Apotheker unterden Druck einer doppelten Attacke: Gerade hatmit landesministerieller Betriebserlaubnis DocMorris im Saarland die erste eigene Apothekegeöffnet. Damit ist, dem in Deutschland gelten-den Fremd- und Mehrbesitzverbot zuwider,erstmals eine Kapitalgesellschaft Eigentümerineiner Apotheke. Und am selben Tag einigt sichdie Koalition auf die ‚Eckpunkte‘ der Gesund-heitsreform. Die darin zu Lasten der Apothekervorgesehenen Zwangsrabatte von 500 Millio-nen Euro und die auf Preiswettbewerb zielen-den Höchstpreise anstelle der bisher geltendenFestpreise bezeichnet Heinz-Günter Wolf, Prä-sident der Bundesvereinigung Deutscher Apo-thekerverbände (ABDA), als „enteignungsglei-chen Eingriff in das Privatvermögen“ der Apo-theker. Soviel Ende war nie – am Anfang einerKampagne.

1 Das kommunikative Dilemma

Das kommunikative Dilemma ist schnell um-rissen: Die große Koalition verfügt im Deut-schen Bundestag über eine robuste Mehrheit.Anfang des Jahres 2006 erst hat der neue Fi-nanzminister Peer Steinbrück auf dem Neujahrs-empfang der Frankfurter Industrie- und Han-delskammer „Lobbyisten in die Produktion“geschickt. Und die Kommentare der meinungs-bildenden Medien zur Eröffnung der DocMor-ris-Apotheke im Saarland dokumentieren ge-genüber der Kapitalgesellschaft unverhohleneSympathie. An dieser Stelle hätte man den Ein-

druck gewinnen können, die 21.500 selbststän-digen Apotheken in Deutschland seien alleinauf weiter Flur und der homogen organisiertenBerufsgruppe würde das Fundament entzogen.

Dieses Bild kennzeichnet in groben Zügenin der Tat das subjektive Empfinden bei zahlrei-chen Apothekerinnen und Apothekern. Ihre Ver-bände und Kammern verabschieden angesichtsdieser Situation in den Führungsgremien derABDA eine mehrstufige Kommunikationsstra-tegie, die- die Verunsicherung an der Basis aufgreift

und ihre Argumentationskraft stärkt,- öffentlich Flagge zeigt mit einer Anzeigen-

kampagne, die den praktischen Nutzen derwohnortnahen Arzneimittelversorgung rundum die Uhr aus Verbrauchersicht anschau-lich macht,

- darüber hinaus die öffentlichen Proteste derApotheker flankiert durch ein Lobbying mitpraktikablen Verbesserungsvorschlägen dersukzessive bekannt werdenden Arbeitsent-würfe zur Gesundheitsreform.

Zu dieser moderaten Strategie hätte es durchausAlternativen gegeben. Was veranlasste die Ver-bandsgremien, diesen moderaten Weg zu ge-hen? Angesichts schriller Schreie aus anderenSektoren des Gesundheitswesens gab esdurchaus auch Argumente für ein entschiedene-res Auftreten. Es gehört zu den zahlreichen po-litischen Ironien in der Geschichte dieser Ge-sundheitsreform, dass sich jene Leistungsan-bieter (Ärzte) und Kostenträger (gesetzlicheKrankenversicherung) am lautstärksten äußer-ten, die unter der Dienstaufsicht des zuständi-gen Bundesministeriums standen, wogegen dieApotheker, trotz substanzieller Gefährdung ih-

Hans Hütt/Nikolaus Huss/Annette Rogalla

Achtung, Gesundheitsreform!Die Dialogkampagne der Apotheker

Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

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rer unternehmerischen Position, sich eher mo-derat verhielten. Allerdings zeigte sich schonbald, warum die dosierte Kommunikationskam-pagne sowohl nach innen als auch nach außenzu wirken begann.

Die große Koalition erwies sich als Schein-koloss: Partei- und länderpolitische Divergen-zen trugen dazu bei, dass die Regierungspartei-en ihre ‚Eckpunkte‘ selber unter Trommelfeuernahmen. Trotz einer Vielzahl kritischer Kom-mentare zur politischen Substanz der Gesund-heitsreform – und das ist eine weitere histori-sche Ironie – übernahmen es vor allem die mei-nungsbildenden Medien, Zweifel an der Legiti-mität der Proteste aus dem Gesundheitswesenzu schüren. Wer vor diesem Hintergrund beider Fachpolitik, das heißt bei der zuständigenBund-Länder-Arbeitsgruppe, den parteipoliti-schen Experten und den mitwirkenden Landes-politikern, Punkte machen und gleichzeitig inder Öffentlichkeit nicht als rücksichtsloser Grup-penegoist auftreten wollte, brauchte eine belast-bare und plausible Argumentationsgrundlage.

Hier zeigte es sich als strategisch weitsich-tig, dass die ABDA im Frühsommer 2006 einerepräsentative Studie zur ‚Wahrnehmung undNutzung von Apotheken‘ in Auftrag gegebenhatte. Dieser Umfrage vorgeschaltet, wurde inFokusgruppen die Selbst- und Fremdwahrneh-mung der Apotheker untersucht. Die Ergebnis-se beider Untersuchungen ermöglichten dieglaubwürdige argumentative Positionierung derApotheker nach innen und nach außen.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass sichApotheker seit der großen Pestepidemie im 14.Jahrhundert als Heilberufler begreifen, sesshaft,also wohnortnah – und genau in dieser Kompe-tenz des Heilberufs und seiner lebensweltlichenNähe sehen ihre Kunden den größten Nutzenfür sich selbst. Vor allem chronisch Kranke,meist bereits etwas älter, wissen die Gesund-heitsleistungen der Apotheken zu schätzen unddiese Chroniker bedürfen in besonderem Maßeder Absicherung durch den Sozialstaat.

Zudem hatte die große Koalition nur wenigeWochen vor Verabredung ihrer ‚Eckpunkte‘ einGesetz (das Arzneimittelversorgungs-Wirt-schaftlichkeitsgesetz, AVWG) verabschiedet,das den rasch fortschreitenden Ausgaben in derArzneimittelversorgung entgegen wirken unddie Apotheker ausdrücklich in ihrer heilberufli-chen Neutralität stärken sollte. Dafür hatte dasAVWG, das im April 2006 in Kraft getretenwar, die Einräumung von Preis- und Naturalra-batten der Arzneimittelhersteller zu Gunsten derApotheker untersagt. Bereits wenige Monatenach Inkrafttreten des AVWG konnten die Apo-theker zeigen, welchen Nutzen ihre heilberufli-che Neutralität bei den nicht patentgeschütztenArzneimitteln entfaltete: Die Krankenkassensparten Millionenbeträge und die Versichertenerhielten eine Vielzahl von Arzneimitteln ohnejede Zuzahlung.

Die Systematik der politischen Planung –sagt die Theorie – folgt der Logik des Pfades.Je weiter man auf einem Pfad gelangt ist, destohöher werden die Kosten eines Richtungswech-sels, das um so mehr, wenn dieser Richtungs-wechsel auch noch alle Anzeichen einer plötzli-chen und unsystematisch wirkenden Sprung-haftigkeit trägt. Im Rückblick fragt man sichverwundert, was die große Koalitionsrunde dazuveranlasst hatte, zu Lasten der Apotheker in ih-ren ‚Eckpunkten‘ Zwangsrabatte in Höhe von500 Millionen Euro festzulegen. Denn in dieserHöhe hätten die Apotheker im ersten Jahr nachInkrafttreten der Gesundheitsreform in Haftunggenommen werden sollen, wenn es den Kran-kenkassen nicht gelingen sollte, in entsprechen-der Höhe Preisnachlässe mit den Arzneimittel-herstellern auszuhandeln. Eine nicht nachvoll-ziehbare Logik: Warum soll jemand (Kranken-kassen) über Preisnachlässe verhandeln, wenner die Einsparung auch ohne eigenes Zutun freiHaus und zu Lasten Dritter geliefert bekommt?Und warum sollten die Apotheker für Preis-nachlässe in Haftung genommen werden, wennsie als Voraussetzung für erfolgreiche Verhand-

Hans Hütt/Nikolaus Huss/Annette Rogalla

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lungen weder über Nachfrage- noch über Preis-bildungsmacht verfügen?

Schließlich sahen sowohl die Landespoliti-ker der großen Flächenstaaten als auch der Stadt-staaten eine weitere sozialpolitisch unerwünsch-te Folge der ‚Eckpunkte’ auf sich zukommen:Denn der durch Höchstpreise ausgelöste Preis-wettbewerb hätte dazu geführt, dass vor allemApotheken in benachteiligten städtischen La-gen oder auf dem flachen Land hätten schließenmüssen. Genau dort aber kumulieren ohnehinschon soziale Problemlagen, die durch Fortfallwichtiger Knotenpunkte der wohnortnahenGesundheitsversorgung weiter erodieren wür-den.

Diese aberwitzige Folge des Reformvor-schlags hat als erste die Fraktion der LINKENerkannt. Im September 2006 beriet der Deut-sche Bundestag über einen Gesetzentwurf vonBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit dem Ziel,das Fremd- und Mehrbesitzverbot für Apothe-ken aufzuheben. Dagegen sprach sich die über-große Mehrheit des Hauses eindeutig aus. Amvehementesten ergriff DIE LINKE das Wort zuGunsten der Apotheker und machte sich dieArgumente der Apothekerkampagne ausdrück-lich zu eigen.

2 Pharmazeutische Beratung alsMittel des politischen Diskurses

Die Dynamik der öffentlichen Debatte über dieGesundheitsreform war nicht dadurch gekenn-zeichnet, dass sachkundig wirkende Argumen-te umstandslos von den Fachpolitikern aufge-nommen worden wären. Wie konnte es denApothekern also gelingen, nicht nur Recht zuhaben, sondern auch Recht zu erhalten?

Die Komplexität der Verbandsstrukturen leg-te es nahe, top-down eine Dienstleistung zu er-bringen, die dazu geeignet war, bottom-up denpolitischen Diskurs in der Fläche aufzuladenund argumentativ zu stärken. Diesem Ziel dien-te die Idee, Landes- und Bundespolitiker zu

Besuchen in den Apotheken ihres Wahlkreiseseinzuladen. Auf der Website der ABDA wurdehierfür das ‚Reform-Center‘ frei geschaltet.Apothekeninhaber und ihre Mitarbeiter konn-ten sich hier im internen Bereich des Portalsüber die Argumentation und Aktionsempfeh-lungen informieren.

Vor allem auf dem Land, aber auch in denkleineren und mittelgroßen Städten gehören dieApotheken nach wie vor nicht nur zu den for-mellen, sondern auch zu den meinungsbilden-den informellen Netzwerken. Rund zwei bis dreiMillionen tägliche Kundenkontakte bundesweitsind in der Informationsgesellschaft eine nichtzu unterschätzende Quelle der Meinungsbil-dung.

Je anschaulicher der niedergelassene Apo-theker seinem Wahlkreisabgeordneten (von denKunden nicht zu reden) vor Augen führen kann,was der Heilberufler konkret macht und wel-chen Nutzen er stiftet, desto höher die Aussichtdarauf, mit guten Argumenten auch Einfluss aufdie sachpolitische Willensbildung nehmen zukönnen.

Medial galt es, deutlich Flagge zu zeigen.Denn die Meinungsbildner berichteten zwardurchaus sachlich zu den politischen Interes-senskonflikten rund um die Gesundheitsreform,zeigten aber in fast allen Leitartikeln und Kom-mentaren so gut wie gar kein Verständnis oderetwa Sympathien für das Anliegen der Apothe-ker, die klarmachen wollten, dass sie nicht derrichtige Adressat für die einzusparenden 500Millionen Euro sind. Eher war die Rede vonalten Zöpfen, Besitzstandswahrern und mittel-alterlichem Standesdünkel. Wie musste eineKommunikationsstrategie aussehen, die in derLage war, diesen medialen Gegenwind in poli-tischen Rückenwind für die Apotheker zu ver-wandeln oder ihn doch zumindest zu relativie-ren?

Denn die überwiegend negative Wahrneh-mung der Meinungsbildner (frühe Ausnahmeauch hier das Neue Deutschland) stand in deut-

Die Dialogkampagne der Apotheker

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lichem Gegensatz zu den Ergebnissen der re-präsentativen Kunden-Studie. Darin hatten sichdie Verbraucher überaus zufrieden mit der Ar-beit der Apotheken geäußert. Die Meinungsma-cher hatten offenbar ein anderes fixes Bild vondem Sachverhalt als ihre Leser. Die Apothekerdankten in einer Staffel von Anzeigen in FAZund Süddeutscher Zeitung für das Vertrauenihrer Kunden und verbanden ihren Dank mitdem Versprechen, auch künftig als Heilberuflerwohnortnah und rund um die Uhr zur Stelle zusein – wenn die Politik keinen Strich durch dieRechnung mache.

Parallel zu dieser Präsenz in den überregio-nalen Medien intensivierten die regionalen Apo-thekerverbände und -Kammern ihre PR-Arbeitmit Lokal- und Regionalmedien. Diese themati-sierten die Auswirkungen der Gesundheitsre-form eher unter Nutzwertgesichtspunkten undunter dem Aspekt der Leser-Blatt-Bindung.

Ihren ersten Höhepunkt fand die ABDA-Dialog-Kampagne auf dem Deutschen Apothe-kertag vom 21.-23. September 2006 in Mün-chen. In ihrem Grußwort signalisierte die baye-rische Sozialministerin Christa Stewens zwarVerständnis für die Apothekerproteste, ohneaber in ihrer Eigenschaft als Mitglied der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Zugeständnisse für eineKorrektur der ‚Eckpunkte‘ zu machen.

Nach offiziellem Abschluss des Apotheker-tags dokumentierte eine große Indoor-Veran-staltung die Bandbreite des Protestes, als inKooperation mit den Apothekern Leistungsan-bieter, Kostenträger und Versichertenverbändeihre scharfe Kritik an der Gesundheitsreformäußerten. Ein Kamerateam fing Statements fürdie eigens dafür frei geschaltete Kampagnen-Plattform www.achtung-gesundheitsreform.deein.

Ein breites Bündnis von Leistungsanbieternund Kostenträgern hatte in der Woche zuvor ineiner ‚Berliner Erklärung‘ in scharfen Tönendie Gesundheitsreform kritisiert und für einengrundsätzlichen Neuanfang in der Gesundheits-

politik plädiert. Der Zusammenschluss so vie-ler Protagonisten im Gesundheitswesen war einNovum. Die Berliner Erklärung fand ihren Wegin die Öffentlichkeit durch eine flächendeckendgeschaltete Anzeige; sehr weit über das Datumihres Erscheinens hinaus hat dieses Bündnisaber nicht gehalten, wenngleich es in seinenAnfängen durchaus die politische Qualität von‚Generalständen des Gesundheitswesens‘ hättegewinnen können. Dagegen sprachen jedochdie disparaten Einzelinteressen und die nur be-grenzt belastbare Bündnis- und auch Organisa-tionsfähigkeit der beteiligten Verbände, zumalauch hier Akteure beteiligt waren, die unter derministeriellen Dienstaufsicht sich buchstäblichnicht zu weit aus dem Fenster lehnen durften.

3 Regionaler Protest schafftPartnerschaften

Nicht allein am zentralen Ort der Politik, in Ber-lin, wollten Apotheker gute Argumente für einebessere Reform vortragen. Von Woche zu Wo-che gingen von Anfang bis Ende November inLeipzig, München, Düsseldorf und Hamburgjeweils rund 10.000 Apotheker und Apotheken-angestellte für ihre Interessen gemeinsam aufdie Straße. Auch das war ungewöhnlich. DieDemonstrationen waren Top-Meldungen in al-len Nachrichtensendungen. Trotz der Komple-xität der innerverbandlichen Willens- und Mei-nungsbildung brachten diese Demonstrationenzum Ausdruck, dass die Apotheker und ihreAngestellten gemeinsam und flächendeckend fürdie politische und soziale Anerkennung ihresHeilberufs eintraten.

Auf allen Kundgebungen fanden sie mit demDeutschen Diabetikerbund einen Patientenver-band als Bündnispartner, der glaubhaft machenkonnte, welchen Nutzen die selbstständigenApotheken besonders für chronisch Krankehaben. Die nicht nur symbolisch, sondernschließlich auch politisch relevante Anerken-nung der Argumente gelang auf der Düsseldor-

Hans Hütt/Nikolaus Huss/Annette Rogalla

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fer Kundgebung, auf welcher Jens Spahn, derstellvertretende gesundheitspolitische Sprecherder CDU/CSU-Bundestagsfraktion, nicht nurVerständnis, sondern substanzielle Änderungs-bereitschaft der geplanten Reform im Sinne derApothekerposition signalisierte.

4 Mit konkreten Verbesserungs-vorschlägen punkten

Der öffentliche Protest wurde flankiert vonLobbying-Gesprächen auf Bundes- und Lan-desebene. Ziel dabei war es nicht – soviel warzeitgleich aus den im Ansatz gescheiterten Kam-pagnen anderer Gesundheitsberufe zu lernen –koste was es wolle, die eigenen verteilungspo-litischen Forderungen durchzusetzen. Immerging es in der Kampagne der Apotheker um

eine Verbandspolitik des Interessensausgleichs,die anerkannte, dass die politische Prärogativeund ihr Ziel, bei den Arzneimittelausgaben zusparen, die akzeptierte Grundlage der Gesprä-che darstellte.

Im Februar 2007 verabschiedete der Bun-desrat eine Gesundheitsreform, in der sich zweiwesentliche Punkte der Apotheker wieder fin-den: Das System der Festpreise bleibt bestehen.Die Apotheken zahlen keine Strafgelder in Höhevon 500 Millionen Euro für nicht zustande ge-kommene Rabattverträge zwischen Krankenkas-sen und Herstellern.

Für diese Gesetzesklarheit nahmen die Apo-thekerverbände eine Einbuße der Honorierunghin. Der zu Gunsten der gesetzlichen Kranken-kassen geltende Preisabschlag pro verordneterPackung wurde um 30 Cent auf 2,30 Euro er-

Die Dialogkampagne der Apotheker

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höht. Ein Apotheker erhält nunmehr nicht dieverbrieften 8,10 Euro für seine Dienstleistun-gen, sondern nur noch 5,80 Euro.

5 Ausblick: Zustimmung untergegenläufigen Bedingungen

Die knappe Darstellung skizziert einen Zeit-raum von rund fünf Monaten zwischen demAuftakt einer in höchstem Maße flexiblen poli-tischen Kommunikationskampagne und demanfangs kaum für möglich gehaltenen aber tat-sächlich erreichten Ziel, erfolgreich Gehör fürdie eigenen Positionen zu finden. Was hat dazubeigetragen, dass diese Kampagne alles in al-lem als eine Blaupause für moderne, verbandli-che Politik begriffen werden kann?

Zunächst gilt es an dieser Stelle an die dop-pelte Attacke zu erinnern: Die Betriebserlaub-nis für DocMorris im Saarland, fast zeitgleichzum Bekanntwerden der gesundheitspolitischenEckpunkte, war dazu geeignet, die Berufsgrup-pe der Apotheker in einem hohen Maße zu mo-bilisieren. Das hat die Arbeit der Verbände, Kam-mern und des Dachverbands ABDA nicht er-leichtert, aber glaubwürdiger gemacht. Der gutealte Paracelsus lässt grüßen: Dosis facit vene-num. Aber ein wenig Gift weckt und stärktmitunter die Lebensgeister, so auch bei den dop-pelt angegriffenen Apothekern.

Der ehrgeizige saarländische Gesundheits-minister erlag einem Strategiedefizit: Dass dievon ihm hofierte Kapitalgesellschaft inzwischenden Eigentümer gewechselt hat und in Gestalteines Großhändlers, also Zwischenlieferanten,den niedergelassenen Apothekern das Geschäftstreitig machen will, bestätigt die Argumenta-tion der Apothekerverbände: Die Betreiber vonApothekenketten sind keine barmherzigen Sa-mariter; ihre Preispolitik dient nicht in erster

Linie den Kundeninteressen, sondern dem Ge-winn von Marktanteilen. Bis der EuropäischeGerichtshof in der Hauptsache über die Zuläs-sigkeit der Betriebserlaubnis entscheidet, ste-hen die selbstständigen Apotheker jedoch per-manent unter der Beweislast, dass sie als Heil-berufler die besseren Partner ihrer Kunden sind.

Dass die Apotheker trotz ungünstigsten me-dialen Gegenwinds und entgegen der anfängli-chen Beschlüsse einer übergroßen parlamenta-rischen Mehrheit ihre Argumente gegen die Eck-punkte der Reform durchbringen konnten, sprichtfür ihre Überzeugungskraft. Für die Verbands-gremien und die von ihnen verantwortete Kam-pagnensteuerung erwies es sich als erfolgreicheMaxime, der Basis eine Stimme zu geben, dievon Vernunft und von guten Gründen getragenist, ohne dadurch die Anschlussfähigkeit fürKonsensgespräche mit den politischen Partnernzu gefährden.

Das Geheul der Protestsirenen hätte die Füh-rung vom Kurs abbringen können. Indem dieFührungsgremien ein zeitgemäßes Managementder verbandlichen Partizipation ermöglichten,gewannen sie mit charmanter Überzeugungs-kraft.

Annette Rogalla, Journalistin und PR-Bera-terin, verantwortete die Kampagne als Presse-sprecherin und Leiterin der Kommunikation derABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apo-thekerverbände.

Nikolaus Huss ist Managing Director Pu-blic Affairs bei Burson-Marsteller und beglei-tete die ABDA-Kampagne in der Funktion desGeschäftsführers der Agentur wbpr.

Hans Hütt ist freiberuflicher Public-Affairs-Berater und Autor in Berlin. Er unterstützte dieABDA-Kampagne als Berater.

Hans Hütt/Nikolaus Huss/Annette Rogalla

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Mitten in Deutschland an einem ganz norma-len Arbeitstag. Wie jeden Monat sitzt der Kon-zern-Kommunikationschef mit seinen Leutenvom Marketing und der Unternehmenskom-munikation zusammen. Die Werbeagentur istnatürlich auch da, die PR-Agentur ebenfalls,die Internet-Agentur, die Media-Agentur, dieEvent-Agentur, die Branding-Agentur, dieCSR-Spezialagentur, die Agentur für den Ge-schäftsbericht, der eine oder andere Beraternoch. Und was geschieht jedes Mal aufs Neue?Streit, Streit, Streit – einen ganzen langen Ar-beitstag. Streit um Kompetenzen, Ressourcen,Zuständigkeiten, Budgets – Streit aber vor al-lem um die richtige Kommunikations-Strate-gie zur Erreichung der ausgegebenen Ziele.Eine Szene und eine Szenerie, wie sie leiderimmer noch vorkommen in deutschen Unter-nehmenszentralen.

Kreative Kampagnen entstehen längstanders und kommunikative Effizienz lässt sichso schon gar nicht erzielen. Dass es auch bes-ser geht, beweisen Unternehmen, die internsolche Ressortgrenzen und Denkblockadeneingerissen haben. Sie durchziehen ihren Auf-tritt mit einer großen Idee wie mit einem rotenFaden. Sie fahren kreative Kampagnen aus ei-ner Hand und aus einem Guss auf allen zielge-nauen Kanälen. Sie machen im Grunde nichtsanderes als das, wovon seit 20 Jahren die Redeist, nämlich integrierte Kommunikation – undsie haben Erfolg damit, weil sie sich der Prin-zipien, Regeln, Mechaniken und Instrumentebedienen, die Wahlkämpfer und NGO-Akti-visten seit vielen Jahren anwenden und fort-während vervollkommnet haben.

Hans-H. Langguth

Mit Campaigning von der Relevanz zur Resonanz zur RevolutionEin Plädoyer für die Übertragung erfolgreicher Wahlkampf-Strategien inBusiness-Welten

1 Relevanz – Resonanz – Revolution

Die zentrale Frage – warum Menschen ausge-rechnet ein ganz bestimmtes Unternehmen ver-stehen, respektieren, beachten, sich mit ihm iden-tifizieren, es lieben und seine Produkte kaufensollen – ist strukturell und emotional im Grun-de nichts anderes als die zentrale Frage in Wahl-kämpfen, warum Menschen nämlich ausgerech-net eine ganz bestimmte Partei oder Person wäh-len sollen. Wer sie überzeugend, ehrlich, au-thentisch, engagiert, innovativ, respektvoll undlernbereit beantwortet, hat Erfolg – in der Poli-tik genauso wie im Business.

Der oft gehörte Einwand, in Wahlkämpfenstünde die öffentliche Aufmerksamkeit ja quasiautomatisch zur Verfügung, während Unterneh-men permanent darum ringen müssten, sprichtnicht gegen die Übertragung von Wahlkampf-Mechanismen in Business-Welten. Im Gegen-teil! Schließlich gibt es auch bei Wahlen Siegerund Verlierer. Und natürlich gibt es auch inWahlkämpfen gute und weniger gute Kampag-nen. Erfolgreicher Business-Kommunikationgelingt es, die in Wahlkämpfen per se vorhan-dene Öffentlichkeit eigenständig zu evozieren.

Das ist zugegeben etwas schwieriger, aberes lohnt sich, dem ‚goldenen‘ Dreisatz Rele-vanz – Resonanz – Revolution inhaltlich undmethodisch zu folgen. Am Anfang steht dieRelevanz von Themen, im Wahlkampf von Par-teien und Personen, im ökonomischen Wettbe-werb von Positionen und Produkten. Wo sienicht vorhanden ist, bleibt die Botschaft zwangs-läufig unterhalb der Wahrnehmungsschwelle,sie versendet sich wie so vieles in unserer von

Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

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Reizen überfluteten Mediengesellschaft – wasim Übrigen auch und gerade für Wahlkämpfegilt, an deren Ende gerade mal eine HandvollBotschaften bei der breiten Bevölkerung hän-gen bleibt. Die Relevanz erst schafft jene über-durchschnittliche Aufmerksamkeit, die die ge-wünschte Resonanz ermöglicht. Der entstehen-de, gelegentlich auch ein bereits vorhandenerResonanzboden ist zwingende Voraussetzungfür das Verständnis von öffentlichen Anliegen.Denn ist die Resonanzschwelle einmal über-schritten, dann beginnt die eigentliche öffentli-che Beschäftigung mit Personen, Produkten oderProblemen. Erst wer diese Hürde genommenhat, findet statt. Am Ende dieses Prozesses stehtim Idealfall die Revolution im Sinne einer Ver-haltensänderung oder aber der Manifestationbereits geübter und erprobter Handlungsweisen.

Wer die Analogien von Wahlkämpfen undBusiness-Kampagnen abtun will, bemüht auchgerne das Argument, dass es ja für Unterneh-men keinen Wahl-Termin gibt, sondern perma-nent an den Kommunikations-Zielen gearbeitetwerden müsse. Zunächst einmal negiert dieseSicht der Dinge die in der Politik längst in An-lehnung an Sepp Herbergers Fußball-Weisheit‚Nach dem Spiel ist vor dem Spiel‘ gelernteRegel, dass nach der Wahl vor der (nächsten)Wahl ist. In der politischen Kommunikation hatsich lange schon die Einsicht durchgesetzt, dasspermanent Wahlkampf herrscht, auch wenn mansich offiziell gar nicht in Wahlkampf-Zeiten be-findet. Jedes Nachlassen in der eigenen Kam-pagne würde sofortigen Terrain-Verlust im Wett-bewerb der politischen Ideen, Parteien und Per-sonen bedeuten.

Natürlich gibt der Wahl-Termin trotzdem einegewisse Dramaturgie vor. Aber wo steht ge-schrieben, dass Unternehmen nicht auch mit ei-nem eigenen Drehbuch ebenfalls ihre Kommu-nikations-Regie führen können? Wer sagt, dasssie nicht selbst so etwas wie einen eigenenWahl-Termin definieren und ihre Kampagnedramaturgisch auf einen solchen Termin oder

ein bewusst gestecktes Ziel hinführen können?Gibt es nicht ohnehin Produkt- oder Dienstleis-tungszyklen, die ähnlich wie WahlperiodenKampagnen-Zeiträume definieren? Oft fehlt esnicht an Möglichkeiten, einen relevanten Teilder öffentlichen Aufmerksamkeit zu gewinnen,sondern am Mut, aus eingefahrenen Gleisenauszubrechen, Sicherheitsdenken hinter sich zulassen, mit einem streng definierten eigenen Zielund klarer Profilierung aus dem Werbe- undKommunikations-Einerlei herauszuragen.

Alles eine Frage des Geldes, heißt es dannnoch gerne, wenn es darum geht, Wahlkampf-Mechanismen in der Wirtschaft abzuschwören.Dies ist nun allerdings das abstruseste Gegen-Argument. Natürlich konzentrieren Wahlkämp-fer ihre zentralen Mittel und Ressourcen aufeinen vergleichsweise kurzen Zeitraum vonmehreren Monaten. Mit den Budgets und Spen-dings der Wirtschaft verglichen, handelt es sichdabei aber um die schon sprichwörtlichen Pea-nuts von Hilmar Kopper.

Wenn also zentrale Einwände gegen Analo-gien zwischen Wahlkampf- und Business-Kom-munikation entkräftet sind – was ist dann dasBindeglied, was ist das Geheimnis für erfolg-reiche Kommunikation auf beiden Feldern?

Das Zauberwort heißt Campaigning. Es isteinfach gesagt und doch schwer zu machen.Allzu häufig scheitert es schon daran, dass Cam-paigning mit PR gleichgesetzt wird. Campaig-ning macht sich zwar die Regeln und Instru-mente der PR zunutze, sie ist aber nur eine vonmehreren Disziplinen, aus denen Campaigning-Strategien entstehen. Wenn Campaigning keinePR ist, was ist es dann?

Campaigning beschreibt die systematischeEntwicklung, Umsetzung und Evaluation vonkunden-, zielgruppen-, produkt- und dienstleis-tungsadäquaten Kampagnenkonzepten, die allezur Verfügung stehenden Kommunikationsdis-ziplinen und -mittel miteinander verzahnen.Campaigning ist wirkungsorientiert, ressourcen-effizient und multidisziplinär. Soweit eine Defi-

Hans-H. Langguth

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nition in Anlehnung an den ehemaligen Green-peace-Campaigner Peter Metzinger und seinStandard-Werk zu Business Campaigning(2004).

Noch ein jeder erfolgreiche Wahlkampf be-gann mit einer umfassenden Analyse der kom-munikativen Ausgangslage sowie der zu errei-chenden Ziele. Nicht mehr, aber auch nicht we-niger sollten Business-Kunden von ihren Agen-turen verlangen. Gute Campaigner scheuen sichnicht, ihren Kunden den Spiegel vor Augen zuhalten, sich mit ihnen auf eine realistische Ein-schätzung der Situation und den Realitätssinnder Kampagnenziele zu verständigen.

2 Trends aufspüren

Ohnehin basiert Campaigning auf umfassen-dem Wissen. Valide Ergebnisse ausgewogenerquantitativer und qualitativer Markt- und Mei-nungsforschung sind Teil davon. Campaigningheißt aber auch, Trends vorhersehen, erkennen,testen, adaptieren und sie passgenau in das Kam-pagnenkonzept und die Kommunikations-Infra-struktur des Kunden implantieren. PermanenteBeobachtung der strategischen Rahmenbedin-gungen und Evaluation der Kampagnen-Mo-dule inklusive eventueller Anpassung der Kom-munikationsstrategie sind Markenzeichen er-folgreichen Campaignings. Auch hier stehenerfolgreiche Wahlkämpfe Vorbild. Die Zeiten,in denen einsame Patriarchen in kleinsten Zir-keln über dann nicht mehr korrigierbare Kam-pagnen entschieden, gehören angesichts immervolatilerer Wählerschafen und immer kurzfris-tigerer Wahl-Entscheidungen ohnehin der Ver-gangenheit an.

Doch zurück zur Markt- und Meinungsfor-schung: Dass die Zeit für eine Kampagne reifwar, die über 50jährige Frauen so darstellt, wiesie wirklich sind, und die das sensible Themaeiner alternden Gesellschaft ausgerechnet in derKosmetik-Werbung zum Thema macht, leiteteder Konzern Unilever u.a. aus einer weltweiten

quantitativen empirischen Studie ab1. Die Mehr-heit der Ende 2006 befragten Frauen zwischen50 und 64 fühlte sich in Medien und Werbungunterrepräsentiert. Zwei Drittel der Frauen inDeutschland sagten, wenn Frauenzeitschriftendie Gesellschaft widerspiegeln würden, müssteman denken, Frauen über 50 existierten garnicht. Und 91 Prozent der Befragten fanden,dass die Darstellung von Frauen über 50 inMedien und Werbung realistischer werden soll-te. Zudem fühlten sich fast alle Frauen inDeutschland zwischen 50 und 64 (96 Prozent)zu jung, um alt zu sein. Im Februar 2007 starte-te Unilever dann für seine Marke Dove einewirklich außergewöhnliche Kampagne. Pro Agezeigte in TV-Spots, Anzeigen und auf Riesen-postern Frauen im Alter von 54 bis 63 Jahren –schön, selbstbewusst und unbekleidet in Szenegesetzt von der Starfotografin Annie Leibovitz.Ein besonders gelungenes Beispiel für die Nut-zung empirischer Erkenntnisse für eine erfolg-reiche Kampagne, auf das später noch in ande-rem Zusammenhang zurückzukommen seinwird.

Es ist gewiss kein Zufall, dass anders alsbeispielsweise in den Vereinigten Staaten inDeutschland nicht einzelne Unternehmen wieUnilever, sondern institutionelle Wirtschaftsver-bände oder lose Interessensverbünde bereits seitJahren Vorreiter bei der Implantation von Cam-paigning in ihre Kommunikations-Strategiensind. Besonders sichtbar wurde dies im Vor-und Umfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2006in Deutschland. Gleich zwei aufmerksamkeits-starke Kampagnen unternahmen den Versuch,über einstellungsändernde Kommunikation auchVerhaltensänderungen mit Auswirkungen aufdas ökonomische Verhalten der Gesamt-Bevöl-kerung zu erreichen. Ausgangspunkt in beidenFällen war die zwar banal anmutende, aberdurchaus auch empirisch valide belegte Fest-stellung, dass die Mehrzahl der Deutschen vorder WM eher schlecht als frohgelaunt gestimmtwar.

Mit Campaigning von der Relevanz zur Resonanz zur Revolution

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3 Große Ideen und emotionaleGeschichten erzählen

Während aber die Kampagne Du bist Deutsch-land unter der Federführung des Bertelsmann-Konzerns besonders mit von den großen öf-fentlich-rechtlichen wie privaten Medienhäuserngespendeten Fernseh-Frei-Spots und Anzeigenim Wert von ca. 30 Millionen Euro und Promi-nenten-Testimonials auf sich aufmerksam mach-te, präsentierte sich die von der Bundesregie-rung und einem Wirtschafts-Konsortium ausca. 20 DAX-Konzernen getragene KampagneDeutschland – Land der Ideen vor allem überPR generierende Großskulpturen und die überganz Deutschland verteilten ‚Orte der Ideen‘ imInland sowie intensive PR im Ausland. Wäh-rend Du bist Deutschland eine sehr direkte werb-liche Ansprache wählte, nahm Deutschland –Land der Ideen den Umweg über die PR. Bei-den Kampagnen gemein war jedenfalls, dasssie mehr oder weniger subtil an den National-stolz appellierten. Es liegen keine validen Er-kenntnisse vor, welchen Beitrag – im Vergleichzur deutschen Nationalelf, dem hochsommerli-chen WM-Wetter oder dem bereits begonnenenAufschwung – beide Kampagnen an der deut-lich verbesserten Stimmung im Lande währendund nach der WM hatten. Zumindest ist aberdas Kalkül vieler beteiligter Unternehmen da-hingehend aufgegangen, über eine Verbesserungder Stimmung respektive des Kaufverhaltensauch eine Steigerung eigener Umsätze und nichtzuletzt der Unternehmens-Images im In- undAusland zu erreichen.

In beiden Fällen war diese Wirkung mög-lich, weil einem Grundprinzip erfolgreichenCampaignings gefolgt wurde, nämlich alle kom-munikativen Maßnahmen aus einer großen Ideeabzuleiten und sie zu einem wirkungsvollenKommunikationsmix zu ergänzen. Die öffentli-che Relevanz der Idee, die kommunikative Stif-tung eines für die Gesellschaft erkennbarenNutzens, die Größe und Emotion der erzählten

Geschichte entscheiden darüber, welche weni-gen Anliegen im Umfeld von täglich 3000 aufden Durchschnittsbürger einrieselnden Werbe-Botschaften tatsächlich Gehör, Aufmerksamkeitund Akzeptanz finden. So und nicht anders funk-tionierten und funktionieren auch erfolgreicheWahlkämpfe von ‚Willy wählen‘ über ‚Freiheitstatt Sozialismus‘ bis ‚Grün wirkt‘.

4 Nachhaltigkeit und spektakuläreInterventionen

Ein noch eindrucksvolleres Beispiel, weil mitdeutlich weniger Mitteln ausgestattet, ist dieKampagne Raubkopierer sind Verbrecher –bezeichnenderweise ebenfalls von einem Inter-essensverbund beauftragt. Hier zeigte sich einweiterer Vorteil des Campaigning-Ansatzes.

Er bietet professionelle Beratung und effizi-ente Kampagnensteuerung aus einer Hand. SeinMehrwert entsteht auch dadurch, dass der Mixverschiedener Kanäle und Instrumente die ge-wünschte Kommunikations-Effizienz und -Dy-namik erreicht. All diese Synergien nutzte dieZukunft Kino Marketing GmbH Köln als Ver-bund von Filmverleihern und -produzenten so-wie der Kino-Industrie, um dem verbreitetenKopieren von Filmen sowohl von DVDs alsauch aus dem Internet zu begegnen. Allein derwirtschaftliche Gesamtschaden von etwa 20Millionen illegaler Downloads jährlich für ge-schätzte 40 Millionen gebrannte Film-Kopienbelief sich vor dem Kampagnen-Start auf 500Millionen bis 1 Milliarde Euro.

Die bis dahin gängige Rede von der Filmpi-raterie verharmloste fatal diese ökonomischeDimension. Um dem zu begegnen, erfandenCampaigner das vorher im Deutschen nicht exis-tente Wort ‚Raubkopierer‘ und kriminalisiertendiese gleich noch in Kino-Spots und auf Plaka-ten. Man sah Raubkopierer in den Knast ein-fahren und ihren Familien vorm Gefängnis Ge-burtstagsständchen singen. Die krasse Über-treibung erzielte überdurchschnittliche Aufmerk-

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samkeit. Es gibt Kampagnen, die mit deutlichgrößerem Media-Volumen geschaltet werden,über diese Kampagne aber wurde und wird ge-redet. Damit nicht genug, schickten die Cam-paigner einen mobilen Knast auf Deutschland-Tour, der die Botschaft haptisch symbolisierte.Die Kampagne animierte Ebay, die Original-Gefängniszelle aus der Event-Serie zu verstei-gern. Zahlreiche TV-Sender zeigten Ausschnit-te aus den Kinospots sogar in den Hauptnach-richten und Magazinen, wenn sie redaktionellüber das Thema berichteten. Inzwischen meldetGoogle unter dem Begriff ‚Raubkopierer‘ re-gelmäßig mindestens 860.000 Einträge, gibt esHunderttausende Fotos von Passanten im mo-bilen Knast – ein konservativ gerechneter Me-dia-Gegenwert von 15 Millionen Euro wurdefür die bisher investierten 2,5 Millionen Euroerzielt. 2006 brachte die Kampagne zudem ei-nen der zehn erfolgreichsten viralen Filme inDeutschland hervor. Der Begriff ‚Filmpirat‘ istdagegen aus dem deutschen Sprachgebrauch sogut wie verschwunden, kommt regelmäßig aufweniger als 1.000 Google-Einträge.

Raubkopierer sind Verbrecher läuft in-zwischen bereits im 4. Jahr und soll fortgesetztwerden. Auch dies ist ein wichtiger Faktor, dennCampaigning ist mittel- und langfristig ange-legt. Nachhaltigkeit gehört zu seinen wichtigs-ten Grundprinzipien. Kurz- und mittelfristigeEffekte können nur durch einen systematischentwickelten strategischen Zielkorridor taktischsinnvoll und effizient initiiert werden. Campaig-ning misst sich aber nicht nur in Clippings undKontakten, sondern auch in evozierten Bewusst-seins- und Verhaltensänderungen. Gute Cam-paigner gewinnen deshalb nicht einfach Etats,schalten Spots, kleben Plakate und schreibenPressemitteilungen. Gute Campaigner helfenihren Kunden, gemeinsame ambitionierte Kom-munikations-Strategien in oftmals komplizier-ten und komplexen Öffentlichkeiten sowie in-ternen Strukturen durchzusetzen. Dies ist mitRaubkopierer sind Verbrecher ohne Zweifel

gelungen. Im Unterschied zu vielen anderenKampagnen liegen hier auch valide Daten überdie evozierten Verhaltensänderungen vor, ob-wohl die ‚harte Gangart‘ der Kampagne zunächstvielfach kritisiert worden war. Die Spots errei-chen einen Wiedererkennungswert von ca 30Prozent in der Bevölkerung. In der Kernziel-gruppe der 20- bis 29jährigen – der Altersgrup-pe, in der am meisten kopiert wird – ist sogareine Bekanntheit von 41,2 Prozent erzielt wor-den. Bereits nach einem halben Jahr zeigte dieKampagne Wirkung. Das Unrechtsbewusstseinder Zielgruppe wurde massiv erhöht. Eine re-präsentative Forsa-Umfrage ergab, dass ein Vier-tel derer, die bereits CDs und DVDs illegal ko-piert hatten, dies nicht mehr tun wollten, weite-re 22 Prozent zumindest seltener. Besondersstark war der Anteil bei den 14- bis 18jährigenSchwarzbrennern: 43 Prozent wollten künftigseltener illegal kopieren und 23 Prozent gar nichtmehr.2 Hier zeigte die zielgruppenaffine Kanali-sierung der Botschaft über Kino und Internetihre Wirkung. Mehr noch: Die Zahl der illega-len Downloads steigt seit Kampagnen-Beginnnicht mehr proportional zur technischen Aus-stattung mit Breitband/DSL. Dieser Parameterbelegt die tatsächlich evozierte Verhaltensände-rung. Während sich allein von Juni 2004 bisAugust 2005 die Ausstattung deutscher Haus-halte mit Breitband- und DSL-Technik fast ver-doppelte (48 Prozent), stieg die Zahl illegalerDownloads nur um 5,9 Prozent.

Campaigning lebt von aufmerksamkeitsstar-ken, spektakulären Interventionen im öffentli-chen Raum. Kaum einem Unternehmen ist diesin jüngster Vergangenheit besser gelungen alsUnilever mit seinen Kampagnen für die bereitserwähnte Pflegeserie Dove. Seit Menschenge-denken galt es als ungeschriebenes Gesetz, dassKosmetik-Werbung dem gängigen Schönheits-ideal der Gesellschaft zu folgen hat. Mit seinenspektakulären Kampagnen für Dove bricht Uni-lever mit dieser ehernen Regel, indem es genaudieses Schönheitsideal in Frage stellt. Sie be-

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stärken Frauen darin, nicht fragwürdigen Ideal-bildern nachzuhängen, sondern ihrer eigenenPersönlichkeit, Ausstrahlung und individuellenSchönheit zu frönen. Dove belässt es aber nichtbei einschlägiger Werbung mit Frauen, derenFigur oder Alter von dem abweicht, was Kon-sumenten von herkömmlichen Kosmetik-Kam-pagnen gewohnt sind. Die Intervention geht viel-mehr einen wesentlichen Schritt weiter. Die 2005gegründete Initiative für wahre Schönheit initi-ierte und kanalisiert eine rege gesellschaftlicheDiskussion über bestehende Schönheitsidealeder Gesellschaft und deren Fragwürdigkeit. Dasselbst erklärte Ziel, Alternativen zum stereoty-pen Schönheitsbild anzubieten und die zweifels-ohne eng gefasste Definition von weiblicherSchönheit zu erweitern, stößt auf großen Zu-spruch in Internet-Foren, Weblogs und Leser-briefspalten von Frauen-Zeitschriften. Ein Pa-radebeispiel erfolgreichen Campaignings. Eserinnert an die spektakuläre Kampagne der La-bour Party zur ersten Wiederwahl Tony Blairsim Jahr 2001. Qualitative Gruppendiskussio-nen quer durch die britische Bevölkerung hat-ten ergeben, dass die Wählerinnen und Wählerin hohem Maße damit unzufrieden waren, dassPolitiker und Parteien politische Errungenschaf-ten und Veränderungen immer als eigene Leis-tung reklamierten. Auf dieser Basis konzipierteLabour eine Testimonial-Kampagne, in der Bür-gerinnen und Bürger Errungenschaften wie Ver-besserungen im Bildungs- und Gesundheits-wesen als ihre Leistung proklamierten. Labourtrat völlig in den Hintergrund und kommuni-zierte nur „If you voted for change in 1997 –thank you“.

5 Das richtige Timing

Spektakuläre Interventionen a la Dove und La-bour sind das Eine. Im richtigen Moment ein-fach nichts zu sagen ist manchmal aber die bes-te Intervention. Spätestens hier trennt sich end-gültig die Spreu vom Weizen, denn ein solcher

strategischer Rat läuft dem Geschäftsinteressevon Agenturen, aber auch der vermeintlichenExistenzberechtigung ganzer Marketing- undKommunikations-Abteilungen in Unternehmenwie vieler Wahlkampf-Berater scheinbarzuwider. Campaigning ist aber nicht Kommuni-kation um der Kommunikation willen. Deshalbgilt eben manchmal doch, dass getreu dem Volks-mund Reden Silber und Schweigen Gold ist.Die Betonung liegt auf manchmal.

Manchmal macht allerdings auch die Noterfinderisch. So geschehen in einer kleinenBrauerei in der hessischen Rhön, deren Prota-gonisten sich in den Kopf gesetzt hatten, alko-holfreie Erfrischungsgetränke in einem demBierbrauen ähnlichen Verfahren auf den Marktzu bringen. Acht Jahre einsame Entwicklungund sieben Jahre mühsame Vermarktungs-Klein-arbeit brauchte es, bis der Erfolg sich einstellte.Erst in den Hamburger, dann in den BerlinerSzene-Kneipen mit all den Werbern und Jour-nalisten machte das Bio-Label dann zunächstdie Runde, traf den Nerv einer für biologischeLebensmittel sensibilisierten und kommunika-tiven Multiplikatoren-Zielgruppe. Mund-zu-Mund-Propaganda vervielfachte den Umsatz,außer Verkostungen und Event-Sponsoringbrauchte es keinerlei Kommunikation. ‚Lass’das Produkt für sich sprechen und lass’ die Leuteüber das Produkt sprechen‘, lautete die ange-sichts klammer Kasse auferlegte, aber um soerfolgreichere Strategie, wie sie ein mutigerCampaigner auch unter günstigeren Bedingun-gen nicht besser hätte erfinden können. In-zwischen ist Branchen-Riese Coca-Cola in dieDistribution von Bionade eingestiegen und esgibt permanente Liefer-Engpässe in der bereitsmehrfach erweiterten Rhöner Brauerei.

Erst jetzt, wo sich diverse Nachahmer aufden bislang konkurrenzlosen Weg machen, istdas Unternehmen in die Werbung eingestiegen.Und liefert neben dem zuckerfreien Getränk infünf Geschmacksrichtungen gleich noch einefrische Campaigning-Idee. Das offizielle Ge-

Hans-H. Langguth

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tränk einer besseren Welt heißt der doppeldeu-tige Claim der Kampagne, der – mehr noch alsauf das Bio-Siegel – auf einen gesellschaftli-chen Mehrwert anspielt. Statt einer willkürli-chen Aufzählung von Produktvorteilen verwei-sen die Plakate lediglich auf die Website StilleTaten. Dort wird man animiert, ein gutes Werk– eine stille Tat eben – zu vollbringen, um einemanderen Menschen eine Freude zu bereiten.Auch der Zeitpunkt des Kampagnen-Launcheshätte nicht besser gewählt werden können. Sieerblickte kurz vor dem G-8-Gipfel im Sommer2007 das Licht der Öffentlichkeit – eine punkt-genaue paradoxe Intervention zum Treffen dermächtigsten politischen Weltverbesserer.

6 Dialog und Interaktion

Exemplarisch zeigt diese Bionade-Kampagneauch – Campaigning ist nicht zuletzt interaktiv.

Über jeweils zielgruppenadäquate Kommuni-kationskanäle die Kernbotschaft der Kampagnean alle relevanten Bezugsgruppen des Kundenzu vermitteln und einen vertrauensvollen Dia-logprozess zu etablieren, wird dabei immer wich-tiger. Schließlich diversifiziert sich das Medi-ennutzungsverhalten der Gesellschaft immerstärker und es wird zunehmend schwerer, vorallem junge Zielgruppen zu erreichen. Mit dempauschalen Hinweis auf das Internet ist es hierlängst nicht mehr getan. Im Gegenteil: In Zeitendes Web 2.0 und seiner kaum noch zu über-schauenden Vielfalt lässt sich jede Menge Geldim Netz verbrennen, ohne die eigene Zielgrup-pe auch nur annähernd erreicht zu haben.

Einen besonders pfiffigen Weg vom Inter-net über Multiplikatoren-Titel in die Massen-medien ging kürzlich Shell mit seinem Werbe-spot Eureka. Das Unternehmen verbreitete ihnzunächst im Internet und wenig später als DVD

Mit Campaigning von der Relevanz zur Resonanz zur Revolution

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in SPIEGEL, Stern und Focus. Der Film er-zählt die Geschichte eines niederländischenShell-Ingenieurs, dem beim Essen mit seinemSohn eine Erleuchtung kommt. Wie der Filiusmit einem geknickten Strohhalm den Milch-Shake ausschlürft, baut Shell nun strohhalm-ähnliche Bohrer und dringt damit in entlegeneErdölfelder auf den Weltmeeren vor, was dieErrichtung zahlreicher neuer Bohr-Plattformenüberflüssig macht. So weit, schon so außerge-wöhnlich und gut. Was Shell aber verschwieg,war der Namen des Regisseurs. Es handeltesich um niemanden Geringeres als den schotti-schen Oscar-Preisträger Kevin MacDonald.Erst das making off, an dessen Ende MacDo-nald kurz zu sehen war, brachte die kleine Sen-sation an den Tag – und sorgte für umfangrei-che Berichterstattung. Man kann in diesem Fallnatürlich an Gevatter Zufall glauben, aber auchan gelungenes Campaigning.

Es geht aber auch eine Nummer kleiner.Volkswagen beweist das mit dem Weblogschlaemmerblog.tv. Der Konzern veröffentlichthier seit Anfang 2007 kleine Filme mit HorstSchlämmer alias Hape Kerkeling, in denen derComedian und Bestseller-Autor unter demMotto ‚Ich mach’ Führerschein‘ eine Theorie-stunde der Fahrschule besucht, einen Gebraucht-wagen kaufen will und gemeinsam mit demFahrlehrer zum ersten Mal im Fahrschulwagensitzt. Mit dabei immer ein hochgelobter VWGolf. Wochenlang gelang es, den kommerziel-len Hintergrund des Weblogs zu verbergen,schlaemmerblog.tv schaffte es unter die Top 3der deutschsprachigen Weblogs. Das Bekannt-werden der Zusammenarbeit Kerkelings mit VWsorgte für heftige Diskussionen über die Zuläs-sigkeit solcherart viralen Marketings und ver-schaffte der Kampagne eine breite Öffentlich-keit außerhalb des Internets.

Erdöl-Konzerne wie Shell und British Pe-troleum haben ihre Lektionen aus dem traditio-nell schlechten Image und kommunikativenDesastern wie dem um die Shell-Plattform Brent

Spar gelernt. Paradebeispiel ist die unterneh-menspolitische Neupositionierung von BP.

Lange, bevor Klimaschutz durch Stern-Re-port, UNO-Klimabericht, milden Winter undschmelzende Eisberge Ende 2006/Anfang 2007zu einem Hot Topic auf der Agenda von Politik,Medien und breiter Öffentlichkeit wurde, star-tete das Unternehmen seine Kampagne BeyondPetroleum und markierte damit die eigene ener-giepolitische Geschäftsausrichtung der Zukunft.Wie BP stellt sich inzwischen auch Shell demkritischen Diskurs über eigene Positionen undverleiht ihnen damit eine außergewöhnlicheAuthentizität und Glaubwürdigkeit.

7 Inhalt geht vor Verpackung

Authentizität und Glaubwürdigkeit aber habenihre Grenzen – und auch das ist schließlich undendlich eine weitere Analogie zu diversen Wahl-kämpfen –, wenn das kommunikative Verspre-chen in ernsthaften Konflikt gerät mit den zuvermittelnden Inhalten. Wähler wie Konsumen-ten – ohnehin ein und dieselbe sensible Grund-gesamtheit – reagieren auf eine solche Diskre-panz nämlich mit sofortigem Vertrauensentzug.Alle im Bundestag vertretenen Parteien habendies in den beiden zurückliegenden Bundestags-wahl-Zyklen auf europäischer, Bundes- oderLänder-, ja sogar auf kommunaler Ebene erfah-ren müssen. Und Unternehmen wie die Deut-sche Telekom nach ihrem Börsengang und denspäteren Kunden- und Kursverlusten, die Deut-sche Bahn nach Einführung eines umstrittenenTarifsystems, MercedesBenz nach dem Elch-test der A-Klasse oder jüngst Siemens nach demKonkurs seiner an BenQ verkauften Handy-sparte können ein Lied davon singen. Die Bei-spiele zeigen auch, dass Korrekturen am Kursoder beim Personal verloren gegangenes Ver-trauen zurück gewinnen können. Allerdings:Vertrauen verliert sich in der Politik wie auf denMärkten allemal schneller, als es mit großenAnstrengungen zurück gewonnen ist. Zuletzt

Hans-H. Langguth

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musste das der Informationskreis Kernenergiemit seiner Kampagne Deutschlands ungeliebteKlimaschützer und der Website www.klimaschuetzer.de erfahren. Aufgesetzt wordenwar sie zur Image-Verbesserung der deutschenAtom-Kraftwerke zu einem denkbar günstigenZeitpunkt. Gerade stellte die Klimaschutz-De-batte um CO

2-Emmissionen die weitgehend

kohlendioxidfrei produzierenden AKWs nachJahren der mehrheitlichen gesellschaftlichenAblehnung in ein neues, positiveres Licht, wardie Zustimmung der Bevölkerung zum verein-barten und gesetzlich geregelten Atomausstiegam Sinken. Diesen Trend sollte die Kampagneverstärken, indem sie auf den stabilen Beitragder einzelnen Kraftwerke zur Versorgungssi-cherheit bei gleichzeitiger Emissionsfreiheit ab-hob und damit das ‚ungeliebte‘ Image zu kon-terkarieren suchte. Störfälle und Pannen in denAKW Krümmel und Brunsbüttel, das zudemnoch auf einem der Anzeigen-Motive hinter ei-ner gelb-grün blühenden, idyllischen Schafwei-de und vor strahlend blauem Himmel abgebil-det war, bereiteten dieser Kampagne ein jähesEnde. Jüngste empirische Erhebungen zeigennun wieder eine klare Bevölkerungs-Mehrheitfür den Atomausstieg.

Das beste Campaigning ist also doch nurKosmetik, wenn seine Versprechen nicht gehal-ten werden (können). Mit anderen Worten: AmEnde zählt dann doch der Inhalt, und nicht nurdie Verpackung. Und das ist auch gut so.

Hans-H. Langguth ist Geschäftsführer derZum Goldenen Hirschen Campaigning GmbHin Berlin. Der gelernte Journalist war 1999 bis2002 Sprecher des Bundesvorstandes von Bünd-nis 90/Die Grünen und bis 2005 Stellvertreten-der Regierungssprecher unter Gerhard Schrö-der und Joschka Fischer.

Anmerkungen

1„Schönheit – keine Frage des Alters“ vonDove, Juni 2006. Weltweite Umfrage unter1.450 Frauen im Alter von 50 bis 64 zum The-ma Schönheit und Älterwerden, durchgeführtin neun Ländern.

2Forsa-Institut, 1004 Befragte, die privateinen Computer und/oder das Internet nutzen,10./11.12. 2003. Stern, 17.12.2003; siehe auch:GfK 2005. Für diese Studie wurden 10.000Personen ab einem Alter von 10 Jahren be-fragt.

Literatur

GfK 2005: FFA Brennerstudie 2005.www.filmfoerderungsanstalt.de/downloads/pu-blikationen/brenner_studie4.pdf (Zugriff1.08.2007)

Metzinger, Peter 2004: Business Campaig-ning – Was Unternehmen von Greenpeace undamerikanischen Wahlkämpfern lernen können,Berlin Heidelberg.

Mit Campaigning von der Relevanz zur Resonanz zur Revolution

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Analyse...................................................................................................................................

Die G8-Proteste im Spiegel derPresse.Werden journalistischeQualitätsstandards eingehalten?

pekte herauszuheben, die in ihren Augen jeweilsals interessant, spektakulär, typisch, löblich oderverwerflich erscheinen, anderes dagegen völligzu ignorieren.

Im Ergebnis führt dies zuweilen zu je nachSituation, Medium und Berichterstatter starkvoneinander abweichenden Darstellungen. DerMaßstab dafür, welche Berichte als ‚guter‘ Jour-nalismus gelten sollen, kann freilich nicht dieZufriedenheit der Objekte der Berichterstattungsein. Aber es ist doch zu fragen, inwieweit dieBerichterstattung den immanenten journalisti-schen Kriterien genügt, auch über politischumstrittene Vorgänge möglichst tatsachengetreuund unter Nachordnung subjektiver Meinun-gen zu berichten.

Am Beispiel der Protestkampagne gegen denG8-Gipfel in Heiligendamm fragen wir, in wel-chem Umfang und in welcher Form die bun-desweiten Printmedien berichtet haben und in-wieweit sie dabei ihren eigenen Qualitätskrite-rien entsprochen haben. Wir notieren hierlediglich erste Eindrücke;1 eine systematischeund auch quantifizierende Analyse, die auch dieMedienarbeit der Protestgruppen berücksichti-gen wird, ist in Vorbereitung, wird aber ihreZeit brauchen. In einem ersten Schritt gebenwir eine chronologische Übersicht zu den wich-tigsten Ereignissen und stellen im nachfolgen-den Hauptteil die Merkmale der Berichterstat-tung und der Kommentare vor, um schließlichdrittens eine vorläufige Bilanz hinsichtlich derEinhaltung journalistischer Standards zu ziehen.

1 Das Geschehen im ÜberblickSchon Monate vor dem G8-Gipfel hatte es bun-des- und europaweit hunderte Veranstaltungengegeben, mit denen lokale, bundesweite undtransnationale Bündnisse für die Teilnahme anden Protesten warben und ihre Kritik an der G8in die Öffentlichkeit trugen. Groß angelegte Raz-zien am 9. Mai, von denen sich die Bundesan-waltschaft Einblicke in die Organisation der ra-dikalen Gipfelkritiker erhoffte, erwiesen sich

Das Verhältnis von Protestgruppen und Mas-senmedien, das in der Literatur teilweise als sym-biotisch charakterisiert wird (Gamson/Wolfs-feld 1993), ist tatsächlich asymmetrisch. Umeine breite Öffentlichkeit zu erreichen, brauchendie Protestgruppen die Medien. Umgekehrt abersind die Medien nicht auf Protestgruppen ange-wiesen. Zwar gehört es zu ihrer Chronistenpflicht,über große Proteste zu berichten. Doch welcheQuellen sie nutzen, wie viel Platz sie dem Ereig-nis einräumen und welche Aspekte sie in wel-cher Form ansprechen, bleibt ganz im Ermessender Journalisten. Dabei folgen sie ihren eigenenGesetzmäßigkeiten, vor allem den Nachrichten-werten (Hocke 2002), ihren jeweiligen redaktio-nellen Linien und, im günstigen Falle, bestimm-ten journalistischen Qualitätsstandards.

Die Protestierenden haben auf die Bericht-erstattung nur begrenzten Einfluss. Wie anderegesellschaftliche und politische Gruppen kön-nen sie Sprecher benennen, Presserklärungenverfassen, Pressekonferenzen durchführen undKontakte zu Journalisten pflegen. Aber sie lau-fen doch Gefahr, dass ihre Ziele und Aktivitä-ten äußerst selektiv und verzerrt dargestellt wer-den. Schließlich fehlt es Protestbewegungenaufgrund ihrer diffusen, netzwerkförmigenStruktur sowie ihrer ideologischen und organi-satorischen Vielfalt an einem klar definierten undverbindlichen Programm, einer formal legiti-mierten Führung und autorisierten Sprechern.Hinzu kommt, dass ihre Aktionen, zumal wennsie Konfrontationen mit der Polizei einschlie-ßen, oft schwer überschaubar sind.

Diese Bedingungen erlauben es Journalis-ten in größerem Maße als etwa im Falle vonStaatsbesuchen und Parteikongressen, die As-

Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

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als zusätzlicher Mobilisierungsfaktor. Insge-samt 15.000 bis 20.000 Menschen gingendaraufhin an vielen Orten in der Bundesrepub-lik spontan auf die Straße. Auch die dem Tref-fen der Staatschefs vorausgegangenen Minis-terkonferenzen bildeten einen Anlass für Pro-teste, sichtbar u.a. bei den Konferenzen der Fi-nanz- und der Umweltminister in Potsdam (hiergab es ein Anti-G8 open air- Konzert mit 1.500Besuchern bzw. eine ironische Jubeldemonst-ration mit 500 Teilnehmern) sowie beim Asien-Europa-Treffen am 28. Mai in Hamburg (5.000-6.000 Demonstranten). Schon der Weg nachMecklenburg-Vorpommern bot einen Rahmenfür Protest: mehrere Fahrradkarawanen und zahl-reiche Euromarschierer aus ganz Europa zogenz.T. wochenlang nach Norddeutschland. Hun-derte Helfer hatten mittlerweile drei große Campsvorbereitet, in denen 10.000 bis 15.000 Men-schen die Protestwoche verbringen sollten.

Die ‚Choreographie des Widerstandes‘, dieauf den Rostocker Aktionskonferenzen vomBündnis der Gipfelgegner abgesteckt wordenwar, begann schließlich am 1. Juni mit der Be-setzung des ‚Bombodroms‘ in der RuppinerHeide durch 500 Demonstranten. Am 2. Junizogen etwa 60.000 Demonstranten in zwei Auf-zügen durch das menschenleere Rostock.Hierbei wurde die Breite der Proteste deutlich:Christliche wie kommunistische Gruppen, An-hänger von Attac und der Linkspartei, Clowns,Pink-and-Silver-Aktivisten und zahlreiche Mu-sikgruppen waren dabei. Neben Menschen-rechts- und Umweltschutzorganisationen reih-ten sich auch zwei schwarze Blöcke mit zusam-men ca. 5.000 Teilnehmern ein. Am Stadthafen,dem Ort der Abschlusskundgebung, attackier-ten einzelne Demonstranten aus dem schwar-zen Block des linksradikalen Bündnisses ‚In-terventionistische Linke‘ ein Polizeiauto. An-dere Demonstranten versuchten, die anschlie-ßenden Auseinandersetzungen zwischen einpaar hundert Protestierern und der Polizei ein-zuhegen. Die Abschlusskundgebung und das

anschließende Konzert wurden von Steinwür-fen und einem brennenden Auto genauso über-schattet wie von Tränengas, Wasserwerfern undPolizeizügen, die immer wieder auf den Kund-gebungsplatz vordrangen. Die Gewalt führte un-ter den Organisatoren zu hitzigen Diskussionenüber den Umgang mit solchen Auseinanderset-zungen und deren Deutung. Sie bestimmte auchdie Stimmung der nächsten Tage.

Weniger deutlich war dies am 3. Juni, als ineinem Gottesdienst im Doberaner Münster30.000 Kerzen entzündet wurden, um an dieKinder zu mahnen, die jeden Tag an Hungersterben. Die Aktionstage zur globalen Landwirt-schaft und gegen ein repressives Migrationsre-gime, die am 3. und 4. Juni stattfanden, warenjedoch geprägt von repressiven Polizeieinsät-zen. Fast 10.000 Demonstranten fanden sich zueiner Demonstration am Migrationsaktionstagein. Der Zug wurde über Stunden von der Poli-zei aufgehalten und konnte nicht wie angemel-det stattfinden. Am 4. Juni begann in Bad Do-beran auch eine dreitägige Anhörung der Links-partei-Bundestagsfraktion, bei der Globalisie-rungskritiker zu den Themen Entwicklung inAfrika, globale soziale Rechte und zum Zusam-menhang von Energie- und Friedenspolitik spra-chen. Am 5. Juni begann der Alternativgipfel inRostock. Von Nichtregierungsorganisationen,Gewerkschaften und Parteien, aber auch derInterventionistischen Linken veranstaltet, zogder Hauptort inhaltlicher Auseinandersetzungmehrere tausend Besucher an. Am Abend wur-de am Flughafen Rostock-Laage eine Mahnwa-che gegen den eintreffenden US-PräsidentenBush für 50 Teilnehmer zugelassen. Drei malso viele fanden sich schließlich ein, um denStaatsgast zu begrüßen.

Mit Beginn des offiziellen Gipfels am 6. Junitrat das Bündnis Block G8 auf den Plan. Antifa-schisten, Atomkraftgegner und Friedensaktivis-ten suchten ihre radikale Ablehnung des Gip-fels dadurch symbolisch zum Ausdruck zu brin-gen, dass sie die eingezäunten Staatschefs land-

Pulsschlag

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seitig von der Außenwelt abschnitten. Dafürhatten sie sich auf einen gewaltfreien Aktions-konsens festgelegt. Mit der ‚Fünf-Finger-Tak-tik‘, die die Protestierenden in kleinere, manöv-rierfähige Gruppen unterteilt, gelang es, durchWälder und Felder die Demonstrationsverbots-zone um Heiligendamm zu erreichen, sodassdas Gipfeltreffen tatsächlich über mehrere Stun-den weder über Straßen noch Schienen zu errei-chen war. Zeitweise befanden sich 10.000 Blo-ckierer, darunter auch viele junge Unorganisierte,auf den Straßen nach Heiligendamm. Mit gro-ßem Aufwand versuchten Aktivisten von Green-peace zu Wasser und in der Luft auf das Ta-gungsgelände zu gelangen, wurden aber vonder Polizei daran gehindert. Während die Poli-zei an einigen Stellen die Blockaden bis zumEnde des Gipfels duldete, drängte sie an ande-ren Stellen die Demonstranten mit massiverPolizeigewalt zurück. Diese Einsätze, nicht dieEreignisse am Rande der Großdemonstration,forderten die meisten Schwerverletzten. Wäh-rend tausende Blockierer auch am nächsten Tagweiter den Gipfelort belagerten, besuchten60.000 Menschen ein Pop-Konzert der Initiati-ve ‚Deine Stimme gegen Armut‘ in Rostock.Der geplante Sternmarsch nach Heiligendammam 7. Juni wurde vom Bundesverfassungsge-richt verboten.

Am 8. Juni fanden, wie schon in den Vorta-gen, mehrere dezentrale Aktionen statt, so z.B.eine Demonstration der Clownsarmee zum Pres-sezentrum in Kühlungsborn. Währendessenzogen auf einer Schlusskundgebung in RostockVertreter der unterschiedlichen Mobilisierungs-spektren vor 15.000 Globalisierungskritikerneine überwiegend positive Bilanz der Proteste.

2 Merkmale der Berichterstattung2.1 UmfangAus journalistischer Perspektive ist das G8-Treffen ein politisches Großereignis, dem mitgroßem Aufwand entsprochen wurde. Dazugehörte ein Tross mit tausenden von Journalis-

ten vor Ort (allein das Kontingent des ZDFumfasste rund 50 Journalisten), die in ersterLinie den offiziellen Gipfel im Blick haben, aberdie darauf zielenden Proteste als Bestandteil derBerichterstattung ansehen. Die Erwartung gro-ßer Proteste, möglicherweise auch gewaltsamerKonfrontationen wie in Genua, Prag oder Gö-teborg, trug zur Steigerung der Aufmerksam-keit bei. In gleicher Weise wirkten einige Ereig-nisse im Vorfeld der Gipfelproteste, daruntereine Serie von Brandanschlägen, die damit ver-bundenen bundesweiten Razzien sowie verein-zelte Demonstrationen. Unter diesen Vorausset-zungen ist es nicht erstaunlich, dass die Be-richterstattung äußerst umfangreich ausfällt.2

Die Nachrichtenmagazine Spiegel und Fo-cus, die Wochenzeitung Die Zeit, die bundes-weiten Tageszeitungen und großen regionalenBlätter widmeten den Vorgängen jeweils meh-rere, teilweise über etliche Seiten sich erstre-ckende Berichte, zumeist ergänzt durch Inter-views, Kommentare und Fotos. Den größtenRaum nahm die Thematik bei der Berliner ta-geszeitung (taz) ein, die mit sieben Journalistenvor Ort war und den Protest nicht nur mehrfachauf ihre Titelseiten rückte, sondern während derGipfeltage täglich mit einer achtseitigen Son-derbeilage (‚G8 taz‘) aufwartete. In den Fern-sehnachrichten wurden Gipfel und Gipfelpro-teste mehrfach als wichtigstes Thema des Tagesan die erste Stelle gesetzt. Auch Radiosenderwidmeten den Ereignissen viel Sendezeit. Dassdeutsche Medien den in Deutschland stattfin-denden Großereignissen mehr Raum geben alsausländische Organe, ist nicht überraschend.Aber auch im Ausland, beispielsweise in derfranzösischen Le Monde und Libération, er-schienen die Proteste in großer Aufmachung.

2.2 Quellen und GenresDie überregionalen Tageszeitungen verließensich bei der Berichterstattung über die Protesteauf eigens nach Heiligendamm entsandte Jour-nalisten, sei es, weil die relativ beträchtlichen

Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

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personellen und finanziellen Ressourcen deseigenen Mediums eine solche Spezialisierungzuließen, sei es, weil das Selbstverständnis desMediums selbst, wie im Falle linker bzw. pro-testnaher Publikationsorgane, diese Schwer-punktsetzung nahe legten. In diesen Fällen kon-zentrierten sich zumeist jeweils zwei bis vierBerichterstatter auf das Geschehen auf Seitender Gipfelgegner.

Aus diesem personellen Aufwand ergibt sichauch, dass die Nachrichtenagenturen zumindestfür die ressourcenstarken Medien eine geringe-re Rolle spielten als dies bei vielen routineför-migen bzw. kleineren Ereignissen der Fall ist,über die lediglich aus ‚zweiter Hand‘, d.h. aus-schließlich oder überwiegend auf Basis vonAgenturmaterial, berichtet wird. Bei Regional-und Lokalzeitungen, die nicht in unsere vorläu-fige Analyse eingegangen sind, kommt denAgenturen dagegen eine sehr viel größere Be-deutung zu.

Unter den in Eigenregie erstellten Produk-ten spielten eigene Berichte bzw. Reportageneine zentrale Rolle. Hinzu kamen in den meistenOrganen auch Kommentare, kürzere oder län-gere Interviews sowie Hintergrundtexte, in de-nen der Gipfel bzw. die Proteste zum Anlassgenommen werden, um über Ausmaß und Artder angesprochenen Probleme und Problemur-sachen zu informieren. Viele Zeitungen botenden Ereignissen zudem in ihren Leserbriefspal-ten zusätzlichen Raum.

2.3 Schwerpunkte der ThematisierungNaturgemäß unterscheiden sich die Schwerpunk-te der Berichterstattung über Protest im Zeitver-lauf. In den Tagen und Wochen vor dem Gipfelsorgten neben den Protesten gegen Vorberei-tungstreffen von G8-Fachministern vor allemdie Ermittlungsbehörden mit ihrer groß ange-legten Razzia für Aufmerksamkeit. Der Ein-druck, dass diesem Unternehmen keine kon-kreten Verdachtsmomente zugrunde lagen undes vor allem darum ging, Strukturen der Pro-

testszene zu durchleuchten3, provozierte erheb-liche Kritik in der linken und liberalen Öffent-lichkeit. Zudem löste die Razzia spontane Stra-ßenproteste aus und verstärkte somit die Auf-merksamkeit für die anstehenden Gipfelprotes-te, die nun sehr häufig unter dem Vorzeicheneiner möglichen Gewalteskalation thematisiertwurden.

Verschiedentlich wurden aber auch Berichteplatziert, die eine Orientierung im Hinblick aufdas heterogene, von außen kaum durchschau-bare Spektrum der Protestgruppen zu gebensuchten. Im Vorfeld der eigentlichen Protestwo-che war die Berichterstattung in ihrem Tenorabwägend und differenziert, teilweise auch ver-halten kritisch gegenüber den erwartbaren Er-gebnissen des offiziellen Gipfels, vom dem auchdie Mehrheit der Bevölkerung, so eine reprä-sentative Umfrage vom 29./30. Mai, wenig er-wartete.4 Allerdings gab es auch Pressestim-men, die den anstehenden Protesten extrem ne-gativ gegenüberstanden (siehe 2.4).

Welche Ereignisse standen während der Pro-testwoche im Vordergrund? Tatsächlich tauchendie meisten der im Abschnitt 2 geschildertenVorgänge in Zeitungsberichten auf. Ihre Ge-wichtung ist allerdings sehr unterschiedlich.Einige Ereignisse waren den Redakteuren nichtmehr als eine knappe Erwähnung wert (demAlternativgipfel z.B. widmete die Welt im Ge-gensatz zu den anderen Zeitungen keinen eige-nen Artikel). In Kenntnis vorangegangenerMedienanalysen zu Protestereignissen (Hallo-ran et al. 1970, Blickhan/Teune 2003, Rucht2005) verwundert es kaum, dass die physischeGewalt in den Auseinandersetzungen zwischenPolizei und Demonstranten eine zentrale Rollespielte. So war in der Berichterstattung der FAZdie Großdemonstration, an deren Rand sich dieAuseinandersetzungen mit der Polizei vollzogen,eine Marginalie. Eine unaufgeregte Perspektiveblieb die Ausnahme (z.B. SZ, 4. Juni). Dagegenüberwogen detaillierte, teilweise lustvoll-ange-widerte Schilderungen von Gewaltakten.

Pulsschlag

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Bereits vor der Großdemonstration zeichne-te sich Gewalt als Leitmotiv der Berichterstat-tung ab. Im Zentrum stand dabei die Gruppevon Demonstranten, von der erwartet wurde,dass sie physische Auseinandersetzungen mitder Polizei in Kauf nehmen oder darauf abzie-len wird. Chiffre für diese Gruppe wird dieBezeichnung ‚Autonome‘ (von der Welt nur inAnführungszeichen gesetzt) oder ‚schwarzerBlock‘, häufig gleichgesetzt mit dem Begriff‚Gewalttäter‘ oder ‚Chaoten‘. Selbst wenn einZusammenhang von Autonomen und Gewaltnicht explizit behauptet wird, so erfolgt eineGleichsetzung doch auf suggestive Weise. Vorallem in konservativen Zeitungen erscheint Ge-walt als Attribut einer abgrenzbaren Gruppe vonDemonstranten und nicht als soziales Verhält-nis, in dem der Polizei als Gegenpart eine be-deutende Rolle zukommt.5 Ansätze eines dyna-mischen Verständnisses von Gewalt bei De-monstrationen bot dagegen die FR in ihrer Be-richterstattung zu den Krawallen nach der De-monstration gegen den ASEM-Gipfel in Ham-burg (30. Mai). Die Trennung von ‚Gewalttä-tern‘ und ‚friedlichem Protest‘ blieb aber diebeherrschende Deutungsachse des Protestes.Der Schatten der Gewalt war selbst bei Ereig-nissen wie dem Alternativgipfel oder dem Kon-zert ‚Deine Stimme gegen Armut‘ präsent, in-dem deren Friedlichkeit betont wurde.

Kritik an der Polizei richtete sich in mehre-ren Berichten gegen die schwer nachvollzieh-bare Mischung von Untätigkeit und Überreak-tion, die mangelnde Koordination verschiede-ner Einheiten, die Überlastung von Polizeiein-heiten durch überlange Dienstzeiten, derzunächst geleugnete und dann eingeräumte Ein-satz mindestens eines agent provocateur unterden militanten Demonstranten, der rechtlichumstrittene Einsatz von Tornado-Flugzeugen derBundeswehr sowie die ‚Käfighaltung‘ festge-nommener Demonstranten. Dass während derBlockaden Gewalt in erster Linie von der Poli-zei ausgeübt wurde, die Initiative Block G8 je-

doch ihren gewaltfreien Aktionskonsens um-setzen konnte,6 wurde in den Medien allerdingsnur selten deutlich. Unter den vielen Berichtender Qualitätszeitungen findet sich lediglich einOnline-Artikel, der die Polizeigewalt im Zugeder Räumung eines Rasenstücks am Westtorthematisierte, bei der viele Demonstranten, z.T.schwer, verletzt wurden (Sueddeutsche.de, 8.Juni). In manchen Berichten über die gelungeneFünf-Finger-Taktik der Protestgruppen, die esin großer Zahl schafften, trotz aller Absperrun-gen und des enormen Polizeiaufgebots bis zumAbsperrzaun vorzudringen, wurde sogar in ver-haltenem Ton die Cleverness der Protestieren-den anerkannt. Auf allen Seiten herrschte einegewisse Erleichterung, dass die Schlusskund-gebung der Protestgruppen ohne jeden Zwi-schenfall durchgeführt werden konnte. In denmeisten Fällen, und relativ deutlich in den ab-schließenden Berichten des Spiegel und sogardes Focus, wurde sowohl an den Protestieren-den als auch der Polizeiführung nicht mit Kritikgespart. Dagegen überwog sowohl auf Seitender Polizei, wie auf Seiten der Organisatorendes Protests, das Selbstlob.7

Aber nicht nur die Fixierung auf die Gewaltwar prägend für die Berichterstattung, sondernauch ein deutlich positiver Bezug auf jene G8-Kritiker, die sich im Rahmen der liberalen Spiel-regeln äußern. In einer seltenen Ausführlichkeitwurde Gipfel-Gegnern vor den Krawallen am2. Juni Raum gegeben, ihre Kritik am G8-Pro-zess zu artikulieren. Beispielhaft für diesen Trendist ein Beitrag in der SZ vom 2. Juni, in demneun Demonstranten ihre Teilnahme an der De-monstration in Rostock begründen. Als An-spruch, Globalisierung gerecht zu gestalten,schien Globalisierungskritik im Vorfeld des Gip-fels geradezu Bestandteil deutscher ‚Leitkultur‘zu werden.8

Diese Umarmung gipfelte in der von kon-servativen Medien verbreiteten Annahme, Glo-balisierungskritik sei bereits Regierungspro-gramm.9 Ein Vertreter dieser Sicht ist Heiner

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Geißler: Er behauptet in einem Interview mitder FAZ vom 6. Juni, ‚die Ziele von Attac (…)sind identisch mit denen der Bundeskanzlerin‘.In ähnlicher Form fand sich Geißlers Behaup-tung auch in der FR. Dort wurde diese Äuße-rung allerdings mit der verhaltenen Reaktionvon Pedram Shayar aus dem Attac Koordinie-rungskreis kontrastiert (FR 30. Mai). Die Ver-einnahmung der Globalisierungskritik fand ihreFortsetzung in der Berichterstattung zum Kir-chentag. Hier sah sich die FAZ in ihrer Thesevon der globalisierungskritischen Kanzlerinbestätigt, als diese von kritischen Protestanten‚umjubelt‘ wurde (8. Juni).

Die Ergebnisse des offiziellen Gipfels,darunter die viel zitierte, unfreiwillig komischeAbsichtserklärung, sich dem Klimaschutz zu-wenden zu wollen, wurden pflichtgemäß vonallen Medien berichtet. Vielfach hatten jedochnicht der Gipfel, sondern die dagegen gerichte-ten Proteste die meiste Aufmerksamkeit auf sichgelenkt. Das gilt in besonderer Weise für dieansonsten extrem gegensätzlichen Organe derBild-Zeitung einerseits und der Berliner tazandererseits.

2.4 KommentareDie ideologische wie auch physische Polarisie-rung von G8-Gipfel und Gegenveranstaltun-gen reizte naturgemäß die Journalisten zu einerimpliziten oder expliziten Stellungnahme undWertung, die sich in zahlreichen Berichten fin-det. Aber auch der eigentlich dafür vorgesehenePlatz, die Kommentarspalte, wurde intensiv ge-nutzt.

Bemerkenswert ist die Kommentarserie vonBild in der Rubrik ‚Post von Wagner‘. Sie wur-de eröffnet durch einen bemüht humorvollenText mit der Anrede ‚Liebe G8-Gipfel-Demons-tranten‘ (25. Mai). In den Tagen vor dem Pro-test wurde der Ton rauer, sichtbar auch im Be-richtsteil und den Leserbriefen. In Reaktion aufdie Auftaktdemonstration befassten sich beideBild-Kommentare mit der Gewalt von Demons-

tranten. F.J. Wagner wandte sich seiner ‚Post’dieses Mal an ‚Liebe 400 bis 450 verletzte G8-Polizisten‘ und endete mit den Worten: ‚LieberPolizist. Du bist ein Held. Ich würde DeinenDrecksjob nie machen.‘ (4. Juni). Am nachfol-genden Tag war die ‚Post von Wagner‘ an die‚Liebe Frau Bundeskanzlerin‘ gerichtet, die vom‚DDR-Aschenbrödel zur Weltführerin‘, ja zum‚Giganten der Menschheit‘ aufgestiegen sei (5.Juni). In weiteren Kommentaren wurde dasGipfeltreffen als ‚ein Erfolg für Angela Mer-kel‘, die ‚charmante, diplomatisch geschickte –aber in der Sache doch harte – Gastgeberin‘bezeichnet (8. Juni), zugleich aber in der ‚Postvon Wagner‘ den ‚Liebe(n) Greenpeace-Akti-visten‘, den – so wörtlich, Beethovens, Bachsund Mozarts des Protests, die Bewunderungfür ‚Euren Schneid und Eure Fitness‘ ausge-sprochen, die sich beim Versuch gezeigt habe,über die Ostsee mit Schlauchbooten in die G8-Sperrzone einzudringen. Den Kommentarrei-gen schloß wiederum die ‚Post von Wagner‘ andie ‚Liebe(n) G8-Demonstranten‘, in dem gera-dezu versöhnliche Töne angeschlagen wurden:‚wenn nicht Steinewerfer und Autoanzünderunter Euch wären, bekäme selbst ich Lust zudemonstrieren.‘ Dann wird der Autor schwär-merisch, spricht von ‚einer Gegen-Krieg- undAfrika-Leidenschaft‘, in der sich ein Liebes-paar am Ostseestrand küsst (10. Juni).

Dass die Demonstranten Recht haben, istTenor der vielen und detailreichen Berichte so-wie der Kommentare in der taz. In einem Kom-mentar am 2. Juni wurden einerseits ‚völlig über-triebene Razzien‘, Gesinnungs-TÜV für kriti-sche Journalisten, staatliche Sicherheits-Hyb-ris, Verbarrikadierung des Staates gegen die G-8-Demonstranten bemängelt, andererseits die‚fundierte Globalisierungskritik‘ hervorgeho-ben, ‚die Attac und Co. schon vor der heutigenDemo‘ in gewisser Weise zu Gewinnern ge-macht habe (2. Juni). Nach dem Desaster andiesem Tag war dann im zentralen taz-Kom-mentar die Rede von einem ‚Scherbenhaufen‘,

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vor dem die Veranstalter der Demonstrationbuchstäblich stünden, ‚von brutalen Attacken‘einer ‚verhältnismäßig kleine(n) Gruppe auto-nomer Randalierer‘ gegen die Polizei-Attacken,die durch ‚nichts zu rechtfertigen sind‘, von demenormen politischen Schaden, der neben denVerletzten auf beiden Seiten zu beklagen sei (4.Juni).

Die meisten großen Tageszeitungen reagier-ten mit durchaus erkennbaren eigenen Akzen-ten in ähnlicher Weise. Ein Kommentar der SZmeinte, die Globalisierungskritiker hätten au-ßer Utopien nicht viel anzubieten und forderte,dass die Gruppen, die mit der G8 das ganzeSystem über den Haufen werfen wollen, in dennächsten Tagen zu Hause bleiben sollten, da siediejenigen diskreditieren, ‚die mit ernsthafterKritik etwas erreichen wollen‘ (4. Juni).

Auch der Kommentator der Welt vermerktnoch vor der Auftaktdemonstration, dass den‚Globalisierungsgrantlern‘ der große Wurf feh-le, ‚genauer gesagt: der große sozioökonomi-sche Gegenentwurf zum hegemonialen Raub-tierkapitalismus, der sich geschickt in seinerknutig-weißen Eisbärenweste versteckt‘ (2.Juni). Die Demonstration am 2. Juni wurde ineinem Kommentar unter dem Titel ‚Expertender Gewalt‘ aufgegriffen. Tenor des Beitragsist, dass der schwarze Block, ‚auf ein Höchst-maß zerstörerischer Effizienz bedacht‘, nurscheinbar wie eine Naturgewalt über Rostockhereingebrochen sei, in Wahrheit jedoch dieGewalt absehbar war. Kritisiert wird in der Weltneben den Organisatoren des friedlichen Pro-tests, die die Augen vor der wahrscheinlichenGewalt verschlossen hätten, aber auch die Poli-zei, welche die ‚unbedingte Gewaltbereitschafteines Teils der Demonstranten‘ nicht zur Kennt-nis nehmen wollte (4. Juni).

Der Kommentator der FAZ sprach von zweiungleich großen Gruppen: ‚Die Mehrheit er-greift aus durchaus idealistischen Motiven Par-tei für humanitäre und ökologische Forderun-gen; der Minderheit ist jeder Anlass recht, den

Staat herauszufordern.‘ Immerhin habe es ‚nochnie eine so deutliche Distanzierung der mit fried-lichen Absichten gekommenen Demonstrantenvon der Gewaltszene gegeben‘ (4. Juni).

In der FR wandte der Kommentator unterdem Leitmotiv ‚Hooligans des Protests‘ ein,dass mit diesem Debakel niemand gerechnethabe – ‚weder die Sicherheitsbehörden nochdie Veranstalter der Proteste rund um den G8-Gipfel in Heiligendamm‘. Neben der Verurtei-lung derer, die sich ‚zur offenen Feldschlachtverabreden‘, wurde einerseits kritisiert, dass dieOrganisatoren des Protests nicht früh genughingeschaut hätten, ‚wer sich da alles in ihrenReihen tummelt‘, aber positiv vermerkt, dass esbei den Organisatoren statt falscher Schuldzu-weisungen und Vorwürfen gegen die Polizei-kräfte Selbstkritik gegeben habe (FR 4. Juni).

In den Tagen danach, als auch Falschmel-dungen und Fehlverhalten der Polizei und ihrerFührung sichtbar wurde, setzte sich bei denmeisten überregionalen Presseorganen eine dif-ferenzierte Sichtweise auf die weiteren Ereig-nisse durch. Beispielhaft für eine abwägende,von der Hitze der Gefechte wenig beeindruckteHaltung stehen etwa der Leitartikel von SteffenHebestreit in der FR (6./7. Juni), der Kommen-tar von Christoph Schwennicke in der SZ (11.Juni) sowie die die bilanzierenden mehrseitigenBerichte von Focus und Spiegel (11. Juni).Davon deutlich abweichend fiel allerdings dieresümierende Kommentierung im Editorial derWelt am Sonntag aus, in dem es heißt, die De-monstranten hätten ‚nichts Nennenswertes zurDiskussion beigetragen‘. Während die Politi-ker ‚an einer besseren Welt‘ arbeiteten, hättendie Demonstranten ‚selbstverliebt Karneval‘gefeiert und entweder brutale oder banale Pro-teste durchgeführt (Welt am Sonntag, 10. Juni).Fehlende Argumente werden als Grund benannt,in dieser Ausgabe nicht über die Proteste zuberichten. Dies kontrastiert seltsam mit der ho-hen Aufmerksamkeit, auch der Welt, für die ge-waltförmigen Proteste.

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3 Zur Einhaltung journalistischerStandards

Der professionelle und seriöse Journalismusbekennt sich zu einer Reihe von Standards, dieder Qualitätssicherung dienen sowie der Ver-antwortung gegenüber den Objekten der Be-richterstattung und der Leserschaft Rechnungtragen sollen. Dazu gehören, mit Ausnahme derSonderstellung von Kommentaren als ‚Stimmeder Medien‘ (Eilders/Neidhardt/Pfetsch 2004),unter anderem (a) eine gewisse professionelleDistanz gegenüber den Personen, die als Quel-len bzw. Objekte des Berichts eine Rolle spie-len, (b) das Gebot, möglichst gründlich zu re-cherchieren und Tatsachenbehauptungen zu über-prüfen; (c) der Anspruch, gerade im Falle kon-troverser Materien die bestehende Meinungs-vielfalt wiederzugeben, also nicht nur einenStandpunkt abzubilden; schließlich (d) die Re-gel, Fakten und Meinungen zu trennen. In wel-chem Maße wurde in der Berichterstattung zuden G8-Protesten diesen Kriterien entsprochen?

Die gebotene professionelle Distanz wurdevon der Mehrzahl der Medien eingehalten. Weltund FAZ lagen erkennbar auf Regierungslinie,ließen aber auch Kritiker zu Wort kommen. Grobverletzt wurde das Distanzgebot, wenig überra-schend, von Bild, das die Aktivitäten der Regie-rungschefs und speziell der Bundeskanzleringeradezu bejubelte und die Protestierer, mitAusnahme von Greenpeace, mit suggestivenTechniken in ein schlechtes Licht rückte. Beider taz war eher eine Verkehrung dieser Positi-onen erkennbar, wobei in diesem Fall, im Un-terschied zu Bild, eine ausführliche, faktenrei-che und differenzierte Berichterstattung geradeim Hinblick auf die Protestgruppen vorlag. Siebeinhaltete in ihren Kommentierungen ebensoeine klare Ablehnung der gewaltsamen Protestewie bei den übrigen Presseorganen.

Im Hinblick auf das Recherchegebot istinsgesamt ein gemischtes Fazit zu ziehen.Einerseits waren die großen Medien mit eige-nem Personal, oft sogar mit jeweils mehreren

Journalisten vor Ort und haben teilweise sehranschauliche, faktenreiche Berichte und Repor-tagen geliefert. Andererseits hat sich ein Teil derJournalisten, so berichten Insider, damit be-gnügt, die im Pressezentrum erhältlichen Infor-mationen aufzunehmen und hat kaum den Schrittins Protestgetümmel gewagt. Auch zeigten sicheinige eklatante handwerkliche Fehler.

Die Frage, aus welchen Quellen das Wissenfür die Darstellung der Ereignisse stammt, wirdvor allem in Konfliktsituationen relevant, alsobei den Ausschreitungen am Rande der Groß-demonstration und bei den Konfrontationen derfolgenden Tage – vor allem während der Blo-ckaden. In solchen Situationen neigen Journa-listen dazu, die Deutungshoheit der Polizei an-zuerkennen. Deren Sicht findet meist unter Nen-nung der Quelle Eingang in Berichte und Re-portagen. Zum Teil fließen die Aussagen vonPressesprechern der Polizei aber auch ohne die-sen Nachweis in die Schilderung der Ereignisseein – ein deutlicher Verstoß gegen das journa-listische Gebot, Quellen transparent zu machen,denn damit erscheint die Sicht einer Konflikt-partei als Rechercheergebnis des Journalisten.Dass diese Praxis ein schiefes Bild von denProtesten erzeugen kann, zeigen zahlreicheFalschmeldungen der Polizei, deren Richtigstel-lung nach Interventionen von Globalisierungs-kritikern oder Beobachtern nur selten in dieBerichterstattung einfloss. Allgemeiner gefasstführt die Fokussierung der Polizei auf potenzi-elle ‚Störer‘ zu einem verzerrten Bild. Da es ihrdarum geht, Straftaten durch Demonstranten zuverhindern, sind Protestierer, die nicht als ‚Stö-rer‘ eingestuft werden, bloße Kulisse. Bei derRostocker Großdemonstration wurde die poli-zeiliche Perspektive in den Zahlenangaben ge-spiegelt. In einer Presseerklärung schätzten dieOrdnungshüter die Zahl der Demonstrierendeninsgesamt auf 25-30.000, darunter machten sie3.000 ‚Gewalttäter‘ aus. Diese Zahlen, nicht dierealistischeren der Demonstrationsveranstalter,die von 60.000 Demonstranten und wenigen

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hundert Gewalttätigen ausgingen, sind es, diedie Wahrnehmung der Öffentlichkeit prägen.10

So schreibt Uwe Vorkötter in der FR mit Bezugauf die Zahlen der Polizei: ‚(…) das ist keineverschwindend kleine Randgruppe, sondern einebeachtliche Minderheit‘ (4. Juni).

Nur wenige Journalisten suchten nach Mög-lichkeiten, die Darstellung der Konfliktparteiendurch Beobachter oder Unbeteiligte zu über-prüfen. Dass solche Formen der Kontrolle zuwichtigen Ergebnissen führen können, zeigt eineRecherche der Jungen Welt im Rostocker Kran-kenhaus über der Zahl der stationär behandeltenPolizisten. Als sich herausstellte, dass nur zweiBeamte längere Zeit in ärztlicher Obhut ver-brachten, musste die Polizei ihre ursprünglicheZahl von 30 schwer Verletzten nach unten kor-rigieren. Selbst der Focus bezeichnete die Op-ferzahlen daraufhin als ‚völlig aus der Luft ge-griffen‘.11

In der aufgeladenen Spannung des Konflik-tes verstärken sich die Medienstimmen gegen-seitig und Informationen werden übernommen,ohne dass sie auf ihren Wahrheitsgehalt geprüftwerden. Die Falschmeldung der dpa, der phil-ippinische Soziologe Walden Bello habe vonder Bühne dazu aufgerufen, ‚den Krieg in dieDemonstration [zu] tragen‘, wurde von vielenMedien übernommen. Tatsächlich hatte Bello ineiner anderen als der zitierten Formulierung ge-fordert, den Krieg im Irak auf die Agenda derG8 zu bringen.

Aber auch im Handgemenge gibt es Quel-len, die selbst nicht unmittelbar Partei sind undzur Rekonstruktion von Abläufen befragt wer-den könnten: Zuschauer, Demonstrationsbeob-achter oder Vertreter des anwaltlichen Notdiens-tes.12 Bei der Berichterstattung über Protestescheint die Verifizierung von Informationen, einewesentliche Norm journalistischen Arbeitens,nur selten stattzufinden.

Die bestehende Meinungsvielfalt hinsicht-lich der G8-Politik und des Globalisierungsthe-mas im Allgemeinen kam in der Qualitätspresse

weitgehend zum Ausdruck. Neoliberale Globa-lisierung wurde nicht mehr, wie noch in den1990er Jahren, als schicksalhaft und ausschließ-lich positiv dargestellt – ein Ergebnis, das dieGlobalisierungskritiker zu Recht als ihr Ver-dienst reklamieren. Auch wurde die Meinungs-vielfalt innerhalb des globalisierungskritischenLagers betont, wobei fast durchweg auf die gro-ße Kluft zwischen dem radikalen und dem mo-deraten, reformistischen Lager hingewiesenwurde.

Hinsichtlich gewaltförmiger Konflikte istbereits darauf hingewiesen worden, dass dieDeutungshoheit über die Abläufe der Polizeioblag. Jenseits konfrontativer Situationen wur-de auch Protestakteuren Raum gegeben, wenn-gleich mit der verengten Perspektive, dass vonihnen zunächst eine Distanzierung von der alsgewalttätig identifizierten Demonstrantengrup-pe erwartet wurde. Sprecher, die inhaltlicheKritik am Gipfel oder Kritik an den polizeili-chen Maßnahmen äußerten, erfuhren eine sehrunterschiedliche Einordnung. Während sie inliberalen Zeitungen unkommentiert blieben oderunterstützt wurden, setzten konservative Redak-teure Kommentierungen häufig unmittelbar hin-zu. Zum Teil folgte die Auswahl der Sprecherauch der oben beschriebenen Logik der Verein-nahmung. So wurde in der Welt vom 29. Maivon einem Streit ‚zwischen Bundesregierungund Globalisierungsgegnern‘ über die Sicher-heitsmaßnahmen berichtet. Während Regie-rungsvertreter ausführlich zu Wort kamen, bliebdas Attac-Neumitglied Heiner Geißler die einzi-ge Stimme der Kritik.

Das Gebot, Fakten und Meinungen zu tren-nen, wurde relativ häufig und von der Mehrzahlder Presseorgane verletzt. Obwohl alle betrach-teten Medien das Forum des Kommentars aus-giebig nutzten, enthielten auch die Berichtsteileoffene und mehr noch subtile Wertungen. Amdeutlichsten sichtbar wurde diese Wertung anden gewählten Bezeichnungen für die militan-ten bzw. gewalttätigen Demonstranten, aber auch

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an der gelegentlich pauschalen Abwertung derGlobalisierungskritiker, die angeblich keinekonstruktiven Vorschläge13 bereithielten. Per-sönliche Meinungen zeigten sich schließlichauch an Sympathiebekundungen für das Regie-rungslager, die Polizei oder aber die friedlichenDemonstranten. Dass sich hier die Bild-Zeitungin besonderer Weise hervortat, wurde bereitsdeutlich. Dass aber auch Spiegel Online schonvor den Protesten eine regelrechte Stimmungs-mache14 betrieb, war überraschend.

Insgesamt kommen wir zu dem vorläufigenBefund, dass die Berichterstattung der nationa-len Presseorgane – mit der signifikanten Aus-nahme von Bild – nach Maßgabe der immanen-ten journalistischen Kriterien halbwegs zufrie-den stellend ausgefallen ist.15 Deutliche Defizi-te zeigten sich aber insbesondere in aufgeheiz-ten Konfliktsituationen, in denen Journalisteneine besonders hohe Verantwortung für die Be-richterstattung zukommt.

Dieter Rucht, Ko-Leiter der Forschungs-gruppe „Zivilgesellschaft, Citizenship und po-litische Mobilisierung in Europa“ am Wissen-schaftszentrum Berlin für Sozialforschung(WZB), Honorarprofessor am Institut für Sozi-ologie der Freien Universität Berlin. Kontakt:[email protected]

Simon Teune, Dipl.-Soz., WissenschaftlicherMitarbeiter der Forschungsgruppe „Zivilgesell-schaft, Citizenship und politische Mobilisierungin Europa“ am Wissenschaftszentrum Berlin fürSozialforschung (WZB). Kontakt:[email protected]

Anmerkungen1Dabei legen wir Berichte aus mehreren Print-

medien zugrunde: Die Welt, Frankfurter Allge-meine Zeitung (FAZ), Süddeutsche Zeitung(SZ), Frankfurter Rundschau (FR), die tages-zeitung (taz) und Bild als täglich erscheinendeZeitungen sowie Zeit, Spiegel und Focus alswöchentliche Periodika.

2Viele Artikel und auch audio-visuelle Be-richte zu den G8-Protesten sind auf den Inter-netseiten von www.badespasz.tk archiviert.

3Bild nahm am Folgetag bereits das mögli-che, bis heute unbekannte Ergebnis der Razzienvorweg. Unter der großen Überschrift Terror-Angst heißt es im Untertitel: ‚Anschlag auf G-8-Gipfel geplant!‘ Nach den umfangreichenDurchsuchungen konstatierte dagegen ein Spre-cher der Bundesanwaltschaft im ZDF: ‚Die heu-tigen Untersuchungen sollten Aufschluss erbrin-gen über die Strukturen und die personelle Zu-sammensetzung von diesen Gruppierungen unddienten nicht in erster Linie zur Verhinderungvon konkreten Anschlägen. Dafür gab’s keineAnhaltspunkte.‘

4Die Umfrage erfolgte durch TNS For-schung im Auftrag des Spiegel. Auf die Frage‚Glauben Sie, dass Veranstaltungen wie der G-8-Gipfel in Heiligendamm dazu beitragen, Wohl-stand und Entwicklungschancen weltweit ge-rechter zur verteilen?‘, antworteten 66 Prozentder Befragten mit Nein und 31 Prozent mit Ja(Rest: ‚Weiß nicht‘). Der Spiegel vom 4.6.2007.

5In der FAZ werden die konkurrierenden Be-zeichnungen ‚Globalisierungsgegner‘ und ‚Glo-balisierungskritiker‘ benutzt, um die ‚gewalt-bereiten’ von den ‚friedlichen‘ Demonstrantenabzugrenzen (in zwei Artikeln am 11. Juni).

6In einem Bericht vom 7. Juni bestätigen diebei den Blockaden anwesenden Reporter dertaz die Darstellung von Block G8, bei ihrenAktionen sei keine Gewalt von Demonstrantenausgegangen.

7Attac-Sprecher hoben in ihren Bilanzen dieGröße und Breite der Proteste hervor; bei derBerliner Attac-Gruppe knallten sogar die Sekt-korken ob des Erfolgs. Die Organisatoren derBlockadeaktion zeigen sich ‚mehr als zufrie-den‘ (FR 11.6.). Der Gesamteinsatzleiter derPolizei (‚Die Einsatzziele sind erreicht worden‘)zog ebenso wie Innenminister Schäuble ein po-sitives Fazit über die Arbeit der Polizei im Rah-men des ‚größten Einsatzes der Nachkriegsge-

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schichte‘, dessen Deeskalationsstrategie funk-tioniert habe (Die Welt 9. Juni; SZ 9. Juni).

8So beklagte Reinhard Mohr in Spiegel On-line nach den Ausschreitungen am Vortrag, dass‚die gesamte Anti-G-8 Szene‘ in den vergange-nen Wochen ‚von den Medien fast zum morali-schen Mainstream der Republik erklärt wurde‘(3. Juni).

9So verkündete Heidemarie Wieczorek-Zeulin der FAZ vom 4. Juni: ‚Wir tun genau das,was die Demonstranten fordern.‘

10In einer Reportage der Welt wird der Leservollends verwirrt, als die Zahl der gewalttätigenProtestierer zunächst mit ‚hunderte‘ angegebenwird, wenige Zeilen danach jedoch mit ‚2.000‘(‚Blutiger Auftakt‘, 4. Juni). Dieser Widerspruchfand sich auch in einem Bericht der FAZ (‚Im-portierter Klassenkampf’, 4. Juni). Ähnlich ver-wirrend waren die Angaben der Polizei bei denVerhaftungen. In mehreren Berichten wurdekolportiert, 1000 Gewalttäter seien festgesetztworden. Der anwaltliche Notdienst wies dage-gen darauf hin, dass nur ein Bruchteil dieser Ver-haftungen der Prüfung durch einen Haftrichterstandhielt: ‚Die rechtswidrige Ingewahrsamnah-me unter fadenscheinigen Gründen war kein Ein-zelfall, sondern die Regel.‘ (Presseerklärung desRepublikanischen Anwältevereins, 28. Juni)

11http:/www.focus.de/politik/deutschlabnd/g8-gipfel/rostock-krawalle_aid_62405.html. Zuden Verletztenzahlen siehe auch: http://heise-o n l i n e . d e / b i n / t p / i s s u e / r 4 / d l -artikel2.cgi?artikelnur=254.

12Das Komitee für Grundrechte und Demo-kratie war mit 30 Beobachtern bei den Protestenvon Heiligendamm und Umgebung zugegen.Lediglich in den liberalen Zeitungen tauchtenderen Einschätzungen auf, allerdings erst in derRetrospektive. Zumindest der anwaltliche Not-dienst scheint nicht als seriöse Quelle wahrge-nommen zu werden. In einem Artikel der Welterscheinen sie als ‚Biedermänner‘, die mit denBrandstiftern des schwarzen Blocks sympathi-sieren (4. Juni)

13Attac Deutschland hatte bereits am 18. Maieine von 50 Journalisten besuchte Pressekonfe-renz abgehalten mit dem speziellen Ziel, kon-krete Forderungen und konstruktive Vorschlä-ge zur Globalisierungspolitik zu präsentieren.Diese Inhalte hat nach Recherchen von FelixKolb unter den Nachrichtenagenturen nur epdwiedergegeben; alle übrigen Agenturen sowiefast alle Zeitungen rückten in ihren Berichtenvon der Pressekonferenz die Gewaltfrage in denMittelpunkt.

14Da ist die Rede von ‚dummschwätzendenPopstars wie Jan Delay‘, die den Protest unter-stützen und die ‚weltweite Gemeinde der Mi-chael Moore-Linken, die sich nur zu gerne Lü-genmärchen auftischen lasse‘ (9. Mai); da wirdHeiligendamm zum ‚Wallfahrtsort aller Wohl-meinenden‘ erklärt und der militante Protest mit‚RAF light – RAF reloaded‘ in Verbindung ge-bracht (11. Mai).

15Bemerkenswert ist, dass auch an der eige-nen Zunft Kritik geübt wurde. Michael Back-mund von der Deutschen Journalisten Unionbescheinigte den unabhängigen Medienaktivis-ten von Indymedia teilweise eine wahrheitsge-treuere Berichterstattung als ihren professionel-len Kollegen (taz 18. Juli).

LiteraturBlickhan, Michael/Simon Teune 2003: „Die

Lust am Ausnahmezustand“ – Der 1. Mai imSpiegel der Medien. In: Rucht, Dieter (Hg.),Berlin, 1. Mai 2002. Politische Demonstrati-onsrituale. Opladen: Leske + Budrich, 185-220.

Eilders, Christiane/Neidhardt, Friedhelm/Pfetsch, Barbara 2004. Die Stimme der Medi-en. Pressekommentare und politische Öffent-lichkeit in der Bundesrepublik. Wiesbaden: VSVerlag.

Gamson, William A./Gadi Wolfsfeld 1993:Movements and Media as Interacting Systems.In: Annals of the American Academy of Politi-cal and Social Science, Nr. 528. 114-27.

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Halloran, James D./Philip Elliot/GrahamMurdock 1970: Demonstrations and Commu-nications: A Case Study. New York: Penguin.

Hocke, Peter 2002: Massenmedien und lo-kaler Protest. Eine empirische Fallstudie zur Me-dienselektivität in einer westdeutschen Bewe-gungshochburg. Wiesbaden: VS Verlag.

Rucht, Dieter 2005: Appeal, Threat, andPress Resonance: Comparing Mayday Protestsin London and Berlin. In: Mobilization, Jg. 10.Heft 1, 163-82.

ANALYSE...................................................................................................................................

Erfahrungen mit demInformationsfreiheitsgesetz:Transparenz für Hartnäckige

Die Recherche des stern ist eine der Erfolgs-geschichten des IFG und zugleich eines der we-nigen Beispiele, dass Journalisten mit Hilfe desGesetzes völlig neue Fakten zu Tage geförderthaben. Die in der Öffentlichkeit noch weitge-hend unbekannte Reform stellt für die Bundes-behörden eine kleine Kulturrevolution dar: Mitdem Inkrafttreten des IFG Anfang 2006 wurdeder alte Grundsatz der ‚Amtsverschwiegenheit‘der Verwaltung abgeschafft. Bis dahin galt dieRegel, dass die Unterlagen der Behörden reininternen Charakter haben. Eine Einsicht oderAuskunft war stets die Ausnahme und bedurfteder ausdrücklichen Begründung. Möglich warder Informationszugang für Betroffene, die ineigener Angelegenheit etwas erfahren wolltenoder für Journalisten, die sich auf den Aus-kunftsanspruch nach den Landespressegeset-zen berufen konnten. Aber wieviel in welcherForm zugänglich gemacht wurde, entschied frü-her allein die Pressestelle (Redelfs 2005b: 6).Das IFG kehrt die alte Regel um: Jetzt ist beiden Bundesbehörden grundsätzlich alles öffent-lich, und im Ausnahmefall muss die Behördeeine Begründung liefern, wenn sie glaubt, be-stimmte Informationen nicht freigeben zu kön-nen, weil laut Gesetz z.B. Datenschutzbelangeoder der Schutz von Betriebs- und Geschäfts-geheimnissen privater Firmen vorgehen (Meck-lenburg/Pöppelmann 2006: 17). Das IFG istein sogenanntes ‚Jedermannsrecht‘, das keinerAntragsbegründung bedarf und von Privatper-sonen genauso genutzt werden kann wie vonJournalisten oder Angehörigen anderer Berufs-gruppen. Der alte Behördenspruch ‚Da könnteja jeder kommen‘, der früher benutzt wurde, umunliebsame Fragesteller fernzuhalten, ist damitzum Fakt geworden: Nach dem IFG kann wirk-lich jeder kommen und den Behörden in dieAkten schauen; soweit zumindest die Theorie.

In der Praxis zeigt sich allerdings, dass diedeutschen Behörden mit dem Kulturwandelnoch arge Probleme haben. Die Verwaltung undgroße Teile der Politik hatten das Transparenz-

Seit eineinhalb Jahren gibt es bei Bundesbehör-den ein Recht auf Akteneinsicht – Zeit für eineerste Bilanz.Wenn das Verteidigungsministerium feiert, danngeht das mitunter auf Kosten von Geldgebern,die niemand vermutet hätte: Nicht die Mitarbei-ter zahlen für ihr Vergnügen und auch nicht dieBundeskasse, sondern der Rüstungs- und Tech-nologiekonzern EADS. 87.000 Euro sind seit2003 geflossen, um z.B. den ‚Ball des Sanitäts-dienstes‘ zu unterstützen oder das Oktoberfestdes Heeresverbindungsstabes USA in Alaba-ma. EADS sowie die Tochterunternehmen zah-len bei solchen Anlässen für die Musik und dieBewirtung oder ermöglichen ein Feuerwerk. DieDetails dieses Regierungssponsorings, das auchin anderen Ressorts üblich ist, hat der stern-Journalist Hans-Martin Tillack mit Hilfe desInformationsfreiheitsgesetzes (IFG) aufgedeckt(Tillack 2007a). Da EADS zu den wichtigstenAuftragnehmern des Verteidigungsministeriumsgehört, sprechen die Beteiligten nicht gern überdiese sonderbare Form des Mäzenatentums.Doch trotz anfänglicher Widerstände musstendie Fakten offengelegt werden, dank des neuenTransparenzgesetzes.

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gesetz, das Teil des Koalitionsvertrages von1998 war, zunächst über Jahre hinweg blockiert.Erst als eine Initiative von Journalistenverbän-den und Bürgerrechtsgruppen im Frühjahr 2004einen eigenen Gesetzentwurf präsentierte undanfing, Öffentlichkeitsarbeit für die ungeliebteReform zu machen, wurde das IFG als letztesProjekt von Rot-Grün im Sommer 2005 verab-schiedet (Redelfs 2005a: 228-232). Es war po-litisch gegen die erbitterten Widerstände aus derExekutive, die mit der Amtsverschwiegenheitgut gelebt hatte, allerdings nur als Kompromiss-gesetz durchsetzbar. So trat zum Januar 2006eine Regelung in Kraft, die zwar den Grundsatzder Transparenz postuliert, zugleich aber derartviele Ausnahmen vorsieht, dass das Prinzipdavon tendenziell wieder unterlaufen wird. DieAnhänger der Informationsfreiheit kritisiertendeshalb schon 2005, das IFG sei wie ein Auto,das nur mit angezogener Handbremse fahre.Deutschland arbeite sich mit dieser Reform iminternationalen Vergleich bei der Informations-freiheit vom letzten auf den vorletzten Platz vor.

‚Antragsflut‘ ist ausgebliebenNach eineinhalb Jahren Anwendungspraxis istes jetzt möglich, diese Befürchtungen empirischzu überprüfen. Die Bundesverwaltung hat inden ersten zwölf Monaten insgesamt 2.278Anträge gezählt, von denen 1.379 ganz oderteilweise bewilligt wurden (Bundesministeri-um des Innern 2007). Das entspricht einer Quotevon 60 Prozent. 410 Anträge oder 18 Prozentwurden abgelehnt, wobei zum Stichtag nocheine Reihe von Widersprüchen gegen diese Ent-scheidung in der Schwebe waren. Die restli-chen Anträge wurden entweder wieder zurück-gezogen oder befanden sich zum Jahresendenoch in der Bearbeitung. Die Ablehnungsquotemag mit weniger als einem Fünftel nicht son-derlich hoch erscheinen. Allerdings ist zu be-rücksichtigen, dass in diesem strittigen Segmentbesonders viele Anträge zu vermuten sind, dieauch die Öffentlichkeit interessieren, weil sie

einer Kontroverse nachgehen. Exemplarisch sollspäter anhand der Erfahrungen von Journalis-ten die Frage diskutiert werden, wie erfolgs-trächtig Anträge sind, die für die Behörde Kon-fliktstoff bergen.

Der Bundesbeauftragte für den Datenschutzund die Informationsfreiheit, Peter Schaar, istals Ombudsmann im ersten Jahr in 196 Fällenangerufen und um Vermittlung gebeten worden(Schaar 2006). Hinzu kamen etliche telefoni-sche Anfragen, in denen sich Bürger bei seinemAmt kostenlose Rechtsberatung geholt haben.In rund zwei Dritteln der Fälle konnte Schaareine für den Antragsteller günstige Lösung er-reichen. Dies bedeutet z.B., dass eine zunächstpauschale Ablehnung nach der Intervention desBeauftragten revidiert wurde und zumindest ein-zelne Teile der begehrten Informationen zugäng-lich gemacht worden sind.

Analysiert man dieses Zahlenwerk, so fälltals erstes die geringe Nutzung des Transparenz-gesetzes auf: 2.300 Anträge im ersten Jahr istim internationalen Vergleich eine sehr niedrigeZahl. In Großbritannien gingen bei der Einfüh-rung der Informationsfreiheit allein beim Au-ßenministerium innerhalb des ersten Quartals2005 ganze 7.700 Anträge ein (Department forConstitutional Affairs 2005). Auf eine einzelneBehörde entfielen also schon in wenigen Mo-naten dreimal so viele Anfragen wie in Deutsch-land im ganzen Jahr bei sämtlichen öffentlichenStellen des Bundes zusammengenommen. Inden USA, wo es den Freedom of InformationAct seit 40 Jahren gibt, weist die amtliche Statis-tik für 2005 sogar 2,6 Millionen Anträge aus(Government Accounting Office 2007:13).Davon entfallen zwar 1,9 Millionen Informati-onsbegehren allein auf das Veteran Affairs Of-fice, weil US-Bürger für ihre Rentenansprüchebestimmte Auskünfte benötigen, die dann ähn-lich standardmäßig erteilt werden, wie bei unseine Kontenklärung bei der Bundesversiche-rungsanstalt für Angestellte vorgenommen wird.Doch selbst wenn man dieses Kontingent ab-

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zieht, bleiben immer noch 700.000 Anträge inden Vereinigten Staaten übrig. Stellt man weiterin Rechnung, dass die USA eine Einwohner-zahl von 300 Millionen haben, gegenüber 82Millionen in Deutschland, so ist die Neigung,den Behörden in die Akten zu schauen, in denUSA offenbar um den Faktor 84 höher als inDeutschland.

Die Zahlen belegen, dass wir von einer‚Lahmlegung der Ämter‘, wie sie die Gegnerder Transparenz immer wieder als Horrorsze-nario an die Wand gemalt hatten, sehr weit ent-fernt sind. Die Warnung vor einer Flut soge-nannter ‚querulatorischer Anträge‘, die die Ver-waltung paralysieren werde, hat sich als daserwiesen, was sie immer war: der Versuch, einungeliebtes Recht zu diskreditieren. Im Übri-gen ist auch aus den USA mit seinen hohenAntragszahlen nicht bekannt, dass wegen die-ses Bürgerrechts der Staatsbankrott droht. Trotzder wesentlich höheren Antragszahl rechnen dieAmerikaner mit Gesamtkosten von weniger alseinem US-Dollar pro Kopf der Bevölkerung.In Schleswig-Holstein, wo ein Landes-IFGbereits im Jahr 2000 eingeführt wurde, zähltendie Ämter in den ersten beiden Jahren rund2.000 Anträge. Im bevölkerungsreichsten Bun-desland Nordrhein-Westfalen mit seinem Ge-setz von 2002 waren es knapp 2.200 Anfragenim zwei-Jahres-Zeitraum. Dieser Vergleichmacht deutlich, dass das Bedürfnis, von denBehörden etwas zu erfahren, umso größer ist, jedirekter die Bürger betroffen sind. Ein solcherEffekt war auch zu erwarten, weil kommunaleStellen und Landesbehörden naturgemäß mehrInformationen verwalten, die einen unmittelba-ren Alltagsbezug haben, seien es die Resultateder jüngsten Verkehrszählung oder die Ergeb-nisse der Sicherheitsüberprüfung im Kinder-garten um die Ecke.

Die niedrige Anfragenzahl kann jedoch auchanders gedeutet werden. Sie dürfte gleichfallsdamit zu erklären sein, dass ausgerechnet dasTransparenzgesetz bisher ein gut gehütetes Ge-

heimnis ist. Wer weiß schon, was sich hinterdem sperrigen Begriff ‚Informationsfreiheits-gesetz‘ verbirgt – geschweige denn, wie man esnutzt? Die eigentlich nötige Öffentlichkeitsar-beit zu dieser Reform ist ausgeblieben bzw.wurde der Zivilgesellschaft überlassen, d.h. denJournalistenorganisationen und Bürgerrechts-gruppen, die sich von Anfang an für das IFGengagiert hatten. Das allgemeine Akteneinsichts-recht bei Bundesbehörden war immer ein Kern-anliegen der Grünen und stieß nur in Teilen derSPD auf Begeisterung. Die Union hat die Re-form bis zum Schluss abgelehnt. So ist es nichtverwunderlich, dass dieses späte Erbe von Rot-Grün unter der Regierung der Großen Koaliti-on zwar pflichtgemäß umgesetzt wird, allerdingsin einer höchst minimalistischen Form. Zu die-ser Haltung passt, dass das Büro des Bundes-beauftragten Peter Schaar, der in Personalunionfür Datenschutz und Informationsfreiheit zu-ständig ist, für die zusätzlichen Aufgaben rundum das IFG bis heute auf die eigentlich zuge-sagten und dringend benötigten sechs Stellenwartet. Tatsächlich hat das Amt mit Inkrafttre-ten des IFG nicht eine neue Stelle für die zu-sätzlichen Aufgaben erhalten.

Privatpersonen als HauptnutzerDie Mehrzahl der Antragsteller waren laut Pres-seerklärung des federführenden Innenministe-riums Privatpersonen. Das mag logisch erschei-nen, doch ist dabei in Rechnung zu stellen, dassin anderen Ländern auch die Wirtschaft sehrrege von den Transparenzbestimmungen Ge-brauch macht. In den USA liegen Firmen in derAntragsstatistik vor den normalen Bürgern, dennfür Unternehmen kann es interessant sein, sichdetailliert über staatliche Planungsvorhaben oderRegelungsabsichten zu informieren, um dies beieigenen Entscheidungen berücksichtigen zukönnen. Dieses Bedürfnis scheint die deutscheWirtschaft nicht zu verspüren. Der Bundesver-band der Deutschen Industrie gehörte im Vor-feld sogar zu den erbittertsten Gegnern des Ge-

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setzes, weil er befürchtete, Betriebs- und Ge-schäftsgeheimnisse könnten offenbar werden.Ferner argumentierte der BDI, die Antragsver-fahren würden unnötigen Aufwand verursachen,wenn private Unternehmen konsultiert würden,um über die Veröffentlichung von Daten zu ent-scheiden, die den Behörden aufgrund ihrer Auf-sichtstätigkeit vorlägen. Schon aufgrund dergeringen Antragszahlen dürfte sich auch dieseSorge als unbegründet erwiesen haben.

Das Innenministerium ordnet 92 AnträgeJournalisten zu. Da sich die Antragsteller nichtlegitimieren und ihr Auskunftsbegehren auchnicht begründen müssen, handelt es sich hierbeivermutlich um Anträge, die unter Redaktions-adressen gestellt wurden oder bei denen dasjournalistische Interesse explizit benannt wur-de. Auch diese Zahl ist als sehr gering einzustu-fen – vor allem, wenn man bedenkt, dass derstern-Redakteur Hans-Martin Tillack für seineeingangs erwähnte Sponsoring-Recherche al-lein schon 15 Anträge bei den einzelnen Minis-terien und dem Kanzleramt gestellt hat. Ganzoffensichtlich greifen Journalisten nach wie vorlieber auf ihren Auskunftsanspruch nach denLandespressegesetzen zurück und nutzen damitein Instrument, das sowohl ihnen als auch denBehörden vertraut ist. Hans-Martin Tillack be-schreibt in seinem Blog zur Sponsoring-Recher-che die Erfahrung, dass viele Behörden mit demBegriff ‚Informationsfreiheitsgesetz‘ gar nichtsanfangen konnten und ihn die Telefonzentraleschließlich erleichtert in die Pressestelle durch-stellte, wenn er sich als Medienvertreter offen-barte (Tillack 2007b).

Journalisten wenig erfolgreichMit den Ressourcen der stern-Redaktion imRücken, hat der Reporter Hans-Martin Tillackdie Reichweite des IFG systematisch anhandverschiedenster Anträge getestet. Sie führten mitAusnahme der Sponsoring-Recherche jedochnur zu belanglosen Ergebnissen, zu Absagenoder zu Rechtsstreitigkeiten, die noch andau-

ern. So begehrte er Einsicht in den Terminka-lender des früheren Kanzleramtschefs Frank-Walter Steinmeier. Er erhoffte sich davon Klar-heit, ob Steinmeier bei einem Treffen mit einemhochrangigen syrischen Geheimdienstmitarbei-ter dabei war und so frühzeitig von der Entfüh-rung des Deutsch-Syrers Muhammad HaidarZammar durch die CIA erfahren habe. Das Bun-deskanzleramt lehnte diesen Antrag mit der Be-gründung ab, der Kalender stelle keine amtlicheInformation im Sinne des IFG dar. Die Anschaf-fungspreise der Dienstwagen des Kanzleramts,die Tillack wissen wollte, wurden als ‚Betriebs-und Geschäftsgeheimnis der Zulieferer‘ einge-stuft. Und die Flugdaten CIA-verdächtiger Jetswurden unter Verschluss gehalten, ‚weil dieSorge besteht, dass eine nicht sach- und fach-gerechte Interpretatation der Daten zu einer Be-einträchtigung der auswärtigen Beziehungenführen kann‘ (Tillack 2007b).

Auch der FAZ-Redakteur Stefan Tomik warmit seinen Anträgen nicht erfolgreich: So ver-weigerte die Bundesagentur für Arbeit die Her-ausgabe eines Berichts der Innenrevision überumstrittene Beraterverträge unter Hinweis aufden rein internen Charakter, obwohl es sich lautIFG um eine amtliche Information handelnmüsste (Tomik 2006). Auch der Einblick in denVertrag der Regierung mit dem Maut-Konsorti-um Toll Collect wurde Tomik verweigert. Esging ihm hier wie mehreren Bundestagsabge-ordneten, die gleichfalls Einsicht in dieses Do-kument begehrten. Das Verkehrsministeriumbegründete seine Ablehnung damit, das laufen-de Schiedsgerichtsverfahren mit dem Konsorti-um dürfe nicht gefährdet werden. Außerdemsehe man sich mangels Sachverstand nicht inder Lage, die geheimhaltungspflichtigen Teiledes umfangreichen Vertrages von den veröf-fentlichungspflichtigen abzutrennen.

Der freie Journalist Timo Rieg wollte vomBundesfinanzministerium die Berechnungs-grundlage für die erwarteten Mehreinnahmenaufgrund der Mehrwertsteuererhöhung zum

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Januar 2007 wissen. Nachdem sich die Presse-stelle in Telefonaten zuvor auf das Betriebs- undGeschäftsgeheimnis berufen hatte, wurde derIFG-Antrag schließlich wegen vermeintlicher‚Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit derRegierung‘ abgelehnt.

Die Beispiele zeigen, dass das Gesetz fürdie Behörden eine Fülle von Möglichkeiten bie-tet, unliebsame Anträge abzulehnen. Der Um-stand, dass der längste Paragraph von allen dieRegelung der Ausnahmebestimmungen ist, dienoch dazu breit statt eng gefasst sind, erlaubt essomit der Exekutive, lästige Fragesteller aufDistanz zu halten. Es ist daher plausibel, dassAnträge, die viel Arbeit verursachen oder poli-tischen Sprengstoff bergen, zunächst einmalabgelehnt werden. Für die Durchsetzung in sol-chen Streitfällen bedarf es daher bei den An-tragstellern eines langen Atems, einschließlichder Bereitschaft, Musterprozesse zu führen.

Nutzung durch Initiativen und NGOsObwohl der Kulturwandel in den Verwaltun-gen noch auf sich warten lässt, hat es im erstenJahr auch Erfolge gegeben: So gelang es derErwerbsloseninitiative Tacheles aus Wuppertal,bei der Bundesagentur für Arbeit zu erreichen,dass die Ausführungsbestimmungen zu denHartz-Gesetzen veröffentlicht werden. Nachanfänglichem Widerstand der Behörde verur-teilte das Gericht die Bundesagentur sogar dazu,auch künftige Erlasse jeweils auf der eigenenHomepage bekannt zu geben. Ein Impfgegnererstritt beim Robert-Koch-Institut die Freigabeeiner Datenbank über Komplikationen bei Imp-fungen. Mehrere Journalisten und Nichtregie-rungsorganisationen wie Greenpeace undOxfam bemühen sich zur Zeit in Musterprozes-sen um die Veröffentlichung der Spitzenemp-fänger von EU-Agrarsubventionen. Ohne dasIFG gäbe es keinen Ansatzpunkt, diese Trans-parenz vor Gericht einzufordern. Der Druck ausder Zivilgesellschaft dürfte mit dazu beigetra-gen haben, dass die Veröffentlichung der Sub-

ventionsempfänger trotz des anfänglichen Wi-derstands der Bundesregierung jetzt ab dem Jahr2009 beschlossene Sache ist. Nun geht es da-rum, mit Hilfe des IFG eine Offenlegung derMilliardenzahlungen schon zu einem früherenZeitpunkt zu erreichen.

Bei konflikthaften Themen ist es offenbarerforderlich, dass die Antragsteller bereit sind,ein Verfahren auch auf dem Klagewege vor denVerwaltungsgerichten weiterzuführen. DieseMusterprozesse sind umso wichtiger, als beiden Behörden selbst Unsicherheit herrscht, wiedas Gesetz mit seinen breiten Ausnahmerege-lungen anzuwenden ist. Im Zweifelsfall tendie-ren die Behörden nach der Beobachtung desInformationsfreiheitsbeauftragten daher dazu,die Klärung den Gerichten zu überlassen, nachdem Motto: Ablehnen kann man immer – undwenn der Antrag doch berechtigt war, werdendie Gerichte dies schon feststellen. Große Me-dienhäuser oder NGOs sind daher in besonde-rer Weise in der Pflicht, solche Musterverfah-ren zu betreiben, denn sie können sich dies eherleisten als Privatleute.

Betriebs- und Geschäftsgeheimnisseals KnackpunktDer Informationsfreiheitsbeauftragte PeterSchaar hebt in seiner Bilanz nach einem JahrIFG hervor, dass sich die meisten Beschwer-den auf Ablehnungen unter Verweis auf Be-triebs- und Geschäftsgeheimnisse beziehen (Sc-haar 2006). Auch dieser Punkt war anhand derMachart des Gesetzes vorhersehbar, denn hierist die Regelung im Bundesgesetz besondersrestriktiv ausgefallen. So werden die Daten überdie größten Empfänger von Agrarsubventionenvorrangig mit dieser Begründung unter Ver-schluss gehalten. Das Amt von Peter Schaar hatzwar ein Rechtsgutachten vorgelegt, dass dieZahlung von Subventionen kein Betriebs- undGeschäftsgeheimnis sein könne, weil es darumgar keinen wirtschaftlichen Wettbewerb gebe.Diese Stellungnahme hat die Behörden bisher

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jedoch nicht beeindruckt, denn eine formelleSanktionsmöglichkeit durch den Ombudsmannbesteht nicht. So zieht sich das Antragsverfah-ren von Greenpeace in dieser Sache seit mehrals einem Jahr vor den Verwaltungsgerichtenhin. An dem Beispiel zeigt sich eine weitereSchwäche des Gesetzes: Kommt es zur Klage,dauert der Rechtsweg in der Regel mehrere Jah-re – für die meisten Journalisten und NGOs einabschreckend langer Zeitraum, von den Kostenganz abgesehen.

Nur zögerlich sind die Bundesbehörden auchihren aktiven Veröffentlichungspflichten nach-gekommen. Die Mehrzahl der Ministerien stelltmittlerweile Organisations- und Aktenpläne insInternet. Manches davon ist durchaus hilfreich,etwa der 148seitige Aktenplan des Bundesmi-nisteriums für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz. Jedoch bedarf es mituntereiner längeren Suche, um diese Verzeichnisseauf den Homepages auch ausfindig zu machen.Wie es anders ginge, zeigen die Vorbilder ausden USA und Großbritannien, wo wiederholtangefragte Dokumente in Form von electronicreading rooms zugänglich gemacht werden bzw.wo ein Verzeichnis auf jeder Behörden-Home-page auflistet, was erfragt und was freigegebenwurde. Eine ähnliche Funktion für Deutschlandkönnte hier die vom Chaos Computer Club ini-tiierte Homepage übernehmen, die ‚befreiteDokumente‘ sammeln und die Antragsgeschich-te dokumentieren will (www.befreite-dokumente.de). Allerdings müssen hier die Antragstellerselber aktiv werden und Material liefern, wes-halb diese ehrenamtlich betreute Homepage erstwenige Dokumente aufzuweisen hat.

Die Bilanz nach eineinhalb Jahren Informa-tionsfreiheitsgesetz fällt somit gemischt aus:Einerseits sind die Befürchtungen eingetreten,dass ein restriktives Gesetz dazu einlädt, un-liebsame Fragesteller auf Distanz zu halten.Deshalb müssen die Chancen und Grenzen derReform erst mühsam anhand von Musterpro-zessen ausgelotet werden. Andererseits hat das

Gesetz – selbst in seiner handwerklich schlech-ten Form – schon einen demokratischen Fort-schritt gebracht: Der Abschied vom Amtsge-heimnis ist unwiederbringlich, auch wenn dieKulturveränderung in den Behörden noch einelängere Zeit benötigen wird. Ohne das IFG wärees gar nicht möglich, die Verwaltung unter Le-gitimationsdruck zu setzen, wie es am Beispielder Agrarsubventionen oder bei der stern-Re-cherche zum Regierungs-Sponsoring geschieht.Das Bürgerrecht auf Akteneinsicht und Infor-mationszugang stellt dabei einen demokratischenWert an sich dar, unabhängig von der Intensitätseiner Nutzung. Allerdings wäre es wünschens-wert, dass noch mehr Bürger von ihrem RechtGebrauch machen, so dass sich in den Behör-den allmählich ein selbstverständlicherer Um-gang damit etabliert. Auch für das IFG gilt:Bürgerrechte erhalten sich am besten dadurch,dass man sie in Anspruch nimmt.

Manfred Redelfs leitet die Recherche-Abtei-lung von Greenpeace und hat sich ehrenamtlichin der Journalistenorganisation Netzwerk Re-cherche für die Einführung des IFG engagiert.Kontakt: [email protected]

LiteraturBundesministerium des Innern 2007: Ein

Jahr Informationsfreiheitsgesetz des Bundes,Presseerklärung vom 15. Januar 2007; http://www.bmi.bund.de/Internet/Content/Nachrich-t e n / P r e s s e m i t t e i l u n g e n / 2 0 0 7 / 0 1 /Ein__Jahr__IFG.html.

Department for Constitutional Affairs 2005:Freedom of Information Act 2000: Statistics onImplementation in Central Government, Q1:January – March 2005.

Government Accounting Office 2007: Free-dom of Information Act. Processing TrendsShow Importance of Improvement Plans; http://www.gao.gov/new.items/d07491t.pdf.

Mecklenburg, Wilhelm/Benno H. Pöppelmann2006: Informationsfreiheitsgesetz, Berlin.

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Redelfs, Manfred 2005a: Informationsfrei-heit: Deutschland als verspätete Nation. In: Ahr-weiler, Petra/Thomaß, Barbara (Hg.): Internati-onale partizipatorische Kommunikationspolitik.Strukturen und Visionen, Münster, 201-239.

Redelfs, Manfred 2005b: Informationsfrei-heit: Verbesserte Recherchemöglichkeiten fürJournalisten. In: Funk Korrespondenz Nr. 12/2005 vom 24. März 2005, 3-8.

Schaar, Peter 2007: Ein Jahr Informations-freiheitsgesetz, Jahresbilanz 2006 des Bundes-beauftragten für den Datenschutz und die Infor-mationsfreiheit vom 28. Dezember 2006.

Tillack, Hans-Martin 2007a: Zum Wohl, liebeStaatsdiener! In: Stern Nr. 4/2007, 46-47.

Tillack, Hans-Martin 2007b: Auf der Spurder Regierungssponsoren, Blog-Beitrag vom18.01.2007; http://www.stern.de/blog/6_hans-m a r t i n _ t i l l a c k / a r c h i v e /841_auf_der_spur_der_regierungssponsoren.html

Tomik, Stefan 2006: Informationsfreiheits-gesetz. Stumpfe „Wunderwaffe gegen Korrup-tion“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom03.04.2006.

TAGUNGSBERICHT...................................................................................................................................

Bewegungsarchive imelektronischen Zeitalter

Umgangs mit elektronischen Dokumenten undelektronischer Archivierung standen ebenso aufder Tagesordnung, wie der geplante Auftritt drei-er Archive aus dem Netzwerk beim DeutschenArchivtag des Verbandes Deutscher Archivar-innen und Archivare (VdA) im September 2007in Mannheim.

Bewegungsarchive und ÖffentlichkeitDer Archivtag hat das Rahmenthema ‚Lebendi-ge Erinnerungskultur für die Zukunft‘ und bie-tet zum ersten Mal eine Sektion zur Überliefe-rungsbildung und -sicherung in freien Archi-ven an. Er unterstreicht damit öffentlich dieBedeutung freier Archive für die Überliefe-rungsbildung. Geschichtsschreibung bleibt de-fizitär, wenn sie sich lediglich auf behördlicheUnterlagen aus staatlichen Archiven stützen undz.B. Frauen- und Oppositionsarchive nicht inden Blick nehmen kann. Michael Diefenbacher,Moderator der Sektion ‚Überlieferungsbildung-und sicherung in Freien Archiven‘, lud das Netz-werk der Bewegungsarchive ein, im Rahmendes VdA-Archivtages aktiv auf die Situationder freien Archive aufmerksam zu machen. Erplädierte darüber hinaus für die Einrichtung ei-ner eigenen Fachgruppe bzw. Arbeitsgruppe‚Freie Archive‘ innerhalb des Verbandes.

Als Beitrag zum Archivtag werden JürgenBacia und Dorothée Leidig vom Archiv für al-ternatives Schrifttum in Duisburg mit ihremVortrag ‚Die freie Archivlandschaft in Deutsch-land. Ein Überblick über Sammlungen, Arbeits-weisen und Bedeutung der freien Archive‘ insThema der Sektion einführen.

Cornelia Wenzel vom Archiv der deutschenFrauenbewegung in Kassel gibt unter dem The-ma ‚Vergessen Sie die Frauen nicht! Die histo-rische Überlieferung von Frauenbewegungenin Deutschland‘ Einblick in die Bestände undArbeitsweisen von Frauenarchiven. Schließlichthematisiert Reiner Merker vom Thüringer Ar-chiv für Zeitgeschichte ‚Matthias Domaschk‘in Jena mit seinem Beitrag ‚Das Spannungsfeld

Bewegungsarchive im elektronischenZeitalter lautete das Thema des diesjähri-gen Workshops der Archive von unten,veranstaltet vom Archiv Grünes Gedächt-nis der Heinrich-Böll-Stiftung,14./15.06.2007, in Berlin.

Zum dritten Mal seit 2003 trafen sich Vertreter-innen und Vertreter von gut 20 Archiven derFrauen-, Friedens-, Ökologie- und Alternativ-bewegung, der Bürgerbewegung der DDR undGeschichtsinitiativen zum archivfachlichen undpolitischen Erfahrungsaustausch. Fragen des

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zwischen Aufarbeitungsinitiative und klassi-schem Archiv‘ die Arbeitsbedingungen undBedeutung der DDR-Oppositionsarchive.

In der Diskussion um die geplanten Auftrit-te der drei Archive auf dem deutschen Archiv-tag manifestierten sich die Anliegen der Archi-ve von unten an die etablierte Fachöffentlich-keit deutlich. Das Bekanntmachen der eigenenArbeit, das Vernetzen und Kooperieren mitKolleginnen und Kollegen aus etablierten Ar-chiven und die Anerkennung der Arbeit vonfreien Archiven sind zentral. Dabei spielt zurZeit für alle Bewegungsarchive die angeboteneEinbindung in die Verbandsstruktur des VdAnur eine untergeordnete Rolle. Im Gegenteil istder Erhalt der Unabhängigkeit wichtiges archiv-politisches Anliegen der Bewegungsarchive.

Wichtiges Fazit des archivpolitischen Erfah-rungsaustausches beim Workshop war, dass derzunehmenden öffentlichen Anerkennung inFachkreisen die finanzielle Situation vieler frei-er Archive kaum entspricht. So wichtig die An-erkennung durch die Fachkolleginnen und -kol-legen aus den etablierten Archiven auch ist, umso dringender wird das gemeinsame Lobbyingbei Einrichtungen der Politik, die über Förder-mittel entscheiden.

Elektronische Dokumente inBewegungsarchivenAls Einführung in das Thema schilderte UrsulaNienhaus vom Frauenforschungs-, Bildungs-,Informationszentrum und Archiv aus BerlinProbleme und bisher entwickelte Lösungsan-sätze beim Erwerb, der Erstellung und Lang-zeitarchivierung elektronischer Dokumente.Zum Sammlungsprofil des FFBIZ gehörigeOnline-Publikationen werden auf Papier aus-gedruckt, elektronisch aber nicht zusätzlich vor-gehalten. Analoge Archivalien wie Fotos undPlakate werden, wenn konservatorische und fi-nanzielle Gründe nicht dagegen sprechen, nurauf Anfrage digitalisiert und zur elektronischenNutzung zur Verfügung gestellt. Aktuelle Ar-

chivproduktionen– zur Zeit ist eine Wander-ausstellung in Berlin zu sehen – werden auf derWebsite zusätzlich in digitaler Form gezeigt.Und die Retrokonversion des Karteikartenkata-logs einer Spezialbibliothek in ein online nutz-bares Findmittel ist in Vorbereitung, um auchdiese Bibliothek modernen Nutzungsanforde-rungen anzupassen und gleichzeitig die zum Teilhandschriftlich vorliegenden Karteikarteninfor-mationen zu sichern.

Die aktuelle feministische Kommunikation,die per Internet in discussion-groups und Mai-linglisten geführt wird und in die das FFBIZeingebunden ist, wird bisher nicht archiviert.

Ein für Bewegungsarchive zentrales Themagriff Christoph Becker-Schaum vom ArchivGrünes Gedächtnis in Berlin mit seinen Vortragüber die Archivierung digitaler Unterlagen alsVorgänge oder Abläufe auf. Ein Blick in dieUnterlagen von Initiativen und deren Akteur-innen und Akteuren zeigt, dass die kommunika-tive Vernetzung nach innen und außen zur poli-tischen Mobilisierung und zum Selbstverständ-nis beiträgt und diese Bestände prägt. Heutewerden Emails, Telefonate, PDF- und Bildda-teien, papiergebundene Informationen und In-formationen, die in Datenbanksysteme einflie-ßen, bei der politischen Arbeit ausgetauscht.Diese unterschiedlichen Kommunikationsme-dien dokumentieren nur zusammen den gesam-ten Vorgang, der teils elektronisch, teils papier-gebunden vorliegt und als hybride Aktenfüh-rung bezeichnet wird. In archivischen Fachkrei-sen existieren bereits Modelle und Verfahrenzur Archivierung elektronischer Unterlagen, dievon großen Verwaltungen produziert werden.Mit Ausnahme der technischen Aspekte vonDateiformaten und Datenträgern, die unabhän-gig von inhaltlichen und organisatorischen Kon-texten für Verwaltungs- wie Bewegungsarchi-ve gelten, arbeiten freie Archive jedoch nichtmit gleichförmig strukturierten aktenproduzie-renden Verwaltungen zusammen. Auch habensie nicht die Ressourcen von EDV-Abteilungen

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zur Verfügung oder können auf Rechenzentrenzurückgreifen. Um so dringender sind Abspra-chen zwischen den Bewegungsarchiven überSammlungsprofile und Zuständigkeiten und dermöglichst aktuelle, enge Kontakt zu den Bewe-gungen, die ‚hybride Akten bzw. Vorgänge’ pro-duzieren. Elektronische politische Kommuni-kation kann nicht wie gut gelagerte Papieraktenoder andere analoge Dokumente noch Jahre nachihrem Entstehen gesichert und verzeichnet wer-den. Sie ist flüchtig, weniger kontrollierbar,anfälliger für Vernichtung und ermöglicht leichtunautorisierten Zugriff. Wünschenswert wäredie enge Einbindung der freien Archive in denEntstehungszusammenhang der elektronischenDokumente. Vollkommen offen ist bisher in derDiskussion das Problem der Archivierung vonarchiveigenen Datenbanken.

Konkrete ArchivprojekteDas Archiv Aktiv aus Hamburg ist eng mit Pro-testaktionen aus der Anti-AKW- und gentech-nikkritischen Bewegung verbunden und erfülltalle Voraussetzungen für eine gründliche Archi-vierung elektronischer Dokumente. Holger Isa-belle Jänicke stellte den in Hamburg praktizier-ten Ansatz zur elektronischen Archivierung derMailinglisten aus zwei aktuellen atom- und gen-technikkritischen Kampagnen vor.

Trotz vieler offener technischer und daten-schutzrechtlicher Fragen hat sich das ArchivAktiv entschieden, zeitgleich mit diesen Kam-pagnen deren elektronische Kommunikation zuarchivieren. So kann die gesamte inhaltliche wieorganisatorische Struktur der Arbeit dokumen-tiert werden.

Dazu hat das Archiv zahlreiche interne wieöffentliche Mailinglisten abonniert. Um die Da-tenflut, die phasenweise über diese Listen ver-schickt wird, handhaben zu können, werden dieMails bei Eingang gesichtet, bewertet und ge-gebenenfalls kassiert. Danach werden sie imEmailprogramm Modzilla Thunderbird in einemoffenen Format eingelesen, in einem nach Kam-

pagnen und Jahrgängen sortierten Aktenplanabgelegt und auf einem externen Rechner ge-speichert. Sie werden nicht weiter inhaltlich er-schlossen, bleiben aber über die Suchfunktiondes Programms recherchierbar. Problematischist die beschränkte Speicherkapazität des einge-setzten Emailprogramms, die diese Art der Ab-lage begrenzt und langfristig nicht sicherstellenkann.

Das Archiv Aktiv pflegt als Bewegungsar-chiv ein enges Vertrauensverhältnis zu seinenDokumentengeberinnen und -gebern. Dies setzteinen sensiblen, kritischen Umgang mit daten-schutzrelevanten Verfahren voraus und kann nurauf dieser Grundlage funktionieren. Dabei ver-steht sich das Archiv Aktiv als politische Ein-richtung, die auch eine historische Verantwor-tung für die dauerhafte und vollständige Über-lieferungsbildung und -sicherung der Beständeseiner Dokumentengeberinnen und -geber hat.Archiviert wird nach dem Motto ‚Jetzt oder nie‘im Bewusstsein datenschutzrechtlicher undmöglicherweise strafrechtlicher Risiken.

Digitalisierung und elektronischeArchivierungIm Bestand des Archivs der sozialen Bewegun-gen Badens in Freiburg befinden sich akut vomVerfall bedrohte Tonbänder von Aufnahmen desPiratensenders ‚Radio Verte Fessenheim‘ ausder Anti-AKW-Bewegung der 1970er Jahre.Michael Koltan berichtete, dass sich das Frei-burger Archiv entschieden hat, diesen für dieAnti-AKW-Bewegung wichtigen Bestand zusichern und ihn für eine einfache, schnelle undintensive Nutzung bereit zu stellen. Dazu betei-ligte sich das Archiv am DANOK-Projekt, demDatenbank- und Archivierungsnetzwerk ober-rheinischer Kulturgüter. In Kooperation mit demFraunhofer-Institut und der MicroArchive Sys-tems GmbH wurde in einem Pilotprojekt einVerfahren zur Speicherung digitalisierter Ton-dokumente auf einem analogen Medium erar-beitet.

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Dabei wurden die analogen Tonbandaufnah-men im ersten Schritt vom Archiv in Freiburgdigitalisiert und sollen in einem zweiten Schrittauf Mikrofilm geschrieben werden. Sicherungs-kopien auf Mikrofilm gelten als Standardver-fahren zur Langzeitarchivierung, wobei die di-gitalen Daten unabhängig von der technischenEntwicklung erhalten und lesbar bleiben. Eswird dabei mit offenen Formaten gearbeitet, dieeine Rekonstruktion der digitalen Informatio-nen frei von Lizenzbeschränkungen erlauben.

Die Aufnahmen des Piratensenders werdendemnächst auf der Website des Freiburger Ar-chivs in Audiofiles abgelegt und können dannangehört werden. Experimentiert wird zur Zeitnoch mit einem Verfahren, das die den Hörer-innen und Hörern inhaltliche Erschließung derSendungen im Internet ermöglichen soll.

Interessantes und für freie Archive mög-licherweise wichtiges ‚Abfallprodukt‘ diesesaufwendigen Pilotprojektes zur digitalen Archi-vierung von Tondokumenten ist das technischeKnow How, über das die Freiburger nun verfü-gen. Kooperationsprojekte mit großen und spe-zialisierten Partnerinnen und Partnern, wie demFraunhofer-Institut und der MicroArchive Sys-tems GmbH, sind für die Professionalisierungder kleinen Archive von unschätzbarem Wert.Sie sind praktisch der einzige Weg, über denSpezialwissen und Erfahrung erworben wer-den können. Wichtig ist die Weitergabe diesesKnow Hows an andere Archive und die Nach-nutzung in Folgeprojekten.

Ergebnis des WorkshopsIm Netzwerk sind zwei Gruppen von Archivenvertreten. Archive, die ihre Archivalien haupt-sächlich als Hinterlassenschaften bzw. Nach-lässe früherer Protestbewegungen beziehen undzwar aus vordigitaler Zeit und Archive, die inaktuelle Proteste und deren moderne elektroni-sche Kommunikationsstruktur eingebundensind. Entsprechend ist die erste Gruppe starkmit Problemen der Anpassung an moderne elek-

tronische Nutzungsanforderungen und Schutz-digitalisierungsfragen befasst. Wohingegen diezweite Gruppe sich mit der Bewertung, Archi-vierung und rechtlichen Situation elektronischgenerierter Dokumente auseinandersetzen muss.

Für beide Gruppen gilt, auch wenn es dieein oder andere Ausnahme von der Regel gibt,dass die Kooperationspartnerinnen und -part-ner in den Protestbewegungen die spätere Nach-vollziehbarkeit ihrer Arbeit nicht im Auge ha-ben müssen, wie das bei öffentlichen Verwal-tungen der Fall ist. Daraus resultiert fast immereine nachgeholte Archivierung. Die Archivie-rung im Vorhinein bleibt eine wichtige Heraus-forderung für zukünftige Herangehensweisen.

Der Workshop machte deutlich, dass sichdie Archive in einzelnen Themenfeldern bereitsintensiv und fundiert – die Archivierung vonwebsites steht als nächstes wichtiges Projekt an– mit der Digitalisierung und digitaler Archivie-rung befassen. Dieses punktuell vorhandeneFachwissen, soll es zur weiteren Professionali-sierung vieler beitragen, sollte im Netzwerk wei-tergegeben werden. Kooperationen mit anderenArchiven, Forschungseinrichtungen sowie For-schungsfördereinrichtungen, auch wenn sie sichin der Vergangenheit als nicht einfach erwiesenhaben, sind derzeit der einzige Weg für freieArchive sich zu professionalisieren.

AusblickDass Bewegungsarchive aktuelle politischeBedeutung haben, zeigte die jüngste Beschlag-nahmung von elektronischen Dokumenten aufRechnern des Umbruch-Bildarchivs Berlin undder Videowerkstatt Autofocus Berlin durch dasBundeskriminalamt im Vorfeld des G8-Gipfelsvon Heiligendamm. Der Workshop protestiertemit einer gemeinsamen Presseerklärung gegenden Eingriff in die Informationsfreiheit und ge-gen die Behinderung der gesellschaftlich not-wendigen Arbeit dieser Archive. Sie leisten alsunabhängige Archive einen Beitrag zum Erhaltvon Überlieferungen und Kulturgut der Gegen-

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öffentlichkeit. Ihr Sammlungsauftrag basiertnicht zuletzt auf dem Vertrauen, das ihnen dieMaterialgeberinnen und -geber entgegenbrin-gen können. Eine Vertrauensbasis kann aber nurbestehen, wenn Archive und Dokumentations-stellen als geschützte Orte unangetastet bleibenund für die öffentliche Nutzung ungestört zurVerfügung stehen. Die Bewegungsarchive for-dern das BKA daher auf, die kopierten elektro-nischen Materialien unverzüglich zu löschen.

Der 4. Workshop der Archive von unten wirdsich 2009 mit Fragen des Urheber-, Nutzungs-und Verwertungsrechts unter besonderer Be-achtung der elektronischen Nutzung und derRechtsstellung freier Archive beschäftigen. In-formationen zum Netzwerk unter: Archiv Grü-nes Gedächtnis, Heinrich-Böll-Stiftung, AnneVechtel, Kontakt: [email protected], 030/28534-260; 030/28534-260.

Anne Vechtel, Berlin

ANALYSE...................................................................................................................................

fach hatte sich die Politik und damit auch diepolitische Bildung mit dieser Einschätzung ab-gefunden – nicht zuletzt wohl deshalb, weil dergesellschaftliche Demokratie-Konsens breitgenug erschien, um diese Nicht-Erreichbarkeitvon heute etwa 25 Prozent der Bevölkerunghinzunehmen. Doch die gesellschaftlichen Ver-änderungen der letzten Jahre – Integrationspro-bleme, Arbeitslosigkeit, Globalisierungsauswir-kungen – haben deutlich gemacht, dass ausmangelnder Sozialisation und Entkulturation einindividuelles und gesellschaftliches Bedro-hungspotential resultieren kann, das durchausdramatische Folgen haben kann. Wenn grund-legende demokratische Voraussetzungen unse-rer Gesellschaft nicht mehr als selbstverständ-lich gelten können, wenn das, was die pluraledemokratische Gesellschaft zusammenhält, nichtgewusst, nicht verstanden und nicht akzeptiertwird, gilt es, bisherige Praxen zu überdenkenund über eine Neuausrichtung der politischenBildung (Thomas Krüger) nachzudenken.

Die Projektgruppe ‚Bildungsferne Zielgrup-pe‘ der Bundeszentrale für politische Bildunghat im Februar 2007 den Kongress ‚Zukunftbilden‘ in Berlin mit Wissenschaftlern, Politi-kern und Experten aus der Praxis veranstaltet.Das Themenspektrum war breit. Es ging umdie Konturierung der Zielgruppe ‚bildungsfer-ne Jugendliche‘, um methodische Fragen eineradäquaten Ansprache sowie um erfolgreiche underfolgversprechende Projekte, wobei vieles denPraxistest erst noch wird bestehen müssen. In-wieweit der Begriff ‚bildungsfern‘ oder ‚poli-tikfern‘ adäquat ist, wurde ebenso diskutiert wiedie Frage nach den Gründen, die zu diesemBefund führen.

Konturierung der ZielgruppeEine erfolgreiche Zielgruppenansprache setzt diegute Kenntnis der Zielgruppe voraus. Nach derSinus-Studie sind es vor allem die Hedonistenund Konsum-Materialisten, die zur Zielgruppezu zählen sind: Jüngere bildungsferne Vertreter

Politische Bildung fürbildungsferne JugendlicheDebatte um eine Neuausrichtung derpolitischen Bildung

Die politische Bildung hat sich in den letztenJahren verstärkt der Frage zugewandt, wie dieso genannten politik- oder auch bildungsfernenJugendlichen als Zielgruppen erreicht werdenkönnen. Hat die politische Bildung bisher vorallem diejenigen erreicht, die von sich aus einMindestmaß an Bildungsbereitschaft mitbrin-gen, die also Bereitschaft zeigen, sich mit Argu-menten auseinanderzusetzen und sich auf In-halte und unterschiedliche Vermittlungsformeneinzulassen, so ist jetzt ein gesellschaftlichesSegment ins Blickfeld der politischen Bildnergeraten, das über viele Jahre unbeachtet blieb -auch, weil es weithin als ‚unbelehrbar‘ galt. Viel-

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der Unterschicht und der unteren Mittelschichtzählen dazu ebenso wie die Gruppe der alters-mäßig entsprechenden Migranten, ausgestattetmit geringem oder doch sehr eingeschränktemInteresse an politischen und ökonomischen Fra-gen und noch weniger Bereitschaft, sich außer-halb von ‚Zwangsmaßnahmen‘ in Schule undBerufsschule mit Themen der politischen Bil-dung auseinanderzusetzen.

Bei der Konturierung der Zielgruppe wurdeund wird von den meisten Praktikern und Wis-senschaftlern auf Unterschiedlichkeiten zwi-schen Herkunftsdeutschen und Jugendlichen mitMigrationshintergrund hingewiesen. Diese Dif-ferenzierung stößt nicht überall auf Zustimmung.Gerade von Praktikern aus dem Bereich derMigrantenarbeit wird darauf hingewiesen, dasssich hinsichtlich Einstellungen und Umgang mitpolitischen Prozeduren keine grundlegendenUnterschiede zwischen Migranten und Her-kunftsdeutschen ausmachen lassen. Viele Ju-gendliche mit Migrationshintergrund fühltensich nur deshalb als Ausländer, weil sie vonden Herkunftsdeutschen so betrachtet werden.Diese ‚Stigmatisierung‘ führe dazu, dass dieseJugendlichen auf die ethnische Herkunft zurSelbstidentifikation zurückgreifen. Die Gefahrbei der Fokussierung auf die Unterschiedlich-keit der Jugendlichen mit Migrationshintergrundliege in einer Stereotypisierung (Lisa Britz), diedie Arbeit erschwere, statt sie zu erleichtern.Dieser Gefahr muss sich auch die politischeBildung bewusst sein. Wenn die Besonderhei-ten der Migranten betont wird, muss sehr genaubenannt werden, was gemeint ist – die Mehr-sprachigkeit, die mit positiven Konnotationenversehen werden sollte, oder auch die unter-schiedlichen Sozialisationserfahrungen und diegrößere ethnische und kulturelle Vielfalt, diegleichwohl nicht zwangsläufig in unterschiedli-che Verhaltensweisen oder Normvorstellungenführen müssen.

Differenzierte, über einen längeren Zeitraumdurchgeführte Untersuchungen (DJI Über-

gangspanel) zeigen, dass sich ein Großteil die-ser Jugendlichen – Herkunftsdeutsche wie Ju-gendliche mit Migrationshintergrund – inDeutschland wohlfühlen. Der Grad der Identi-fizierung mit Deutschland ist allerdings sehrunterschiedlich – viele Jugendliche mit Migra-tionshintergrund zeigen Segregationstendenzenund eigenethnische Orientierung. In der Frei-zeit sind die männlichen Jugendlichen oft inVereinen aktiv, 40 Prozent der türkischen männ-lichen Jugendlichen in Sportvereinen, was dieZahl der deutschen Hauptschüler deutlich über-trifft. Die Mädchen verbringen ihre Freizeit gernemit Freundinnen. Die Begleitung durch die El-tern ist rudimentär. Der Unicef-Report zeigt, dass40 Prozent der Eltern nicht mit ihren Kindernsprechen; bei der Zielgruppe wird die Distanzzwischen Eltern und Jugendlichen u.a. darindeutlich, dass die meisten Jugendlichen ohneUnterstützung der Eltern ihre Schulkarriere ab-solvieren müssen.

Obwohl sich die Jugendlichen auf die Zu-kunft freuen, haben sie auch Angst, was auf siezukommen wird. Etwa die Hälfte erhofft sichsofort nach der Schule einen Arbeitsplatz, abernur ein Viertel findet ihn.

Die Suche nach einem Ausbildungs- bzw.Arbeitsplatz ist das vorrangige Problem, mit demsich bildungsferne Jugendliche bei ihrem Ein-tritt ins Erwachsenenleben konfrontiert sehen.Nur ein Viertel findet gleich nach dem Haupt-schulabschluss Arbeit, der Rest geht weiter zurSchule (35 Prozent) oder in die Berufsvorberei-tung (26 Prozent), 9 Prozent sind erwerbslos.Dies befördert bei vielen das Gefühl, nicht ge-braucht zu werden, randständig und ‚abgehängt’zu sein. Dass die Schuld nicht selten der Politikzugewiesen wird und zu einer mangelnden Be-reitschaft führt, sich für Politik zu interessieren,mag man als ungerechtfertigt bedauern, doch andem Befund ändert das nichts. Für die politi-sche Bildung heißt das aber allemal, dass siestärker als bisher in der Arbeit für und mit denJugendlichen im Interesse von Glaubwürdig-

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keit und Akzeptanz diese Situation der Jugend-lichen zum Thema machen, selbst politischerwerden und dabei auch ihre Ökonomiekritikverstärken muss. Sie muss Einfluss darauf neh-men, dass das Bildungssystem mit dem gesell-schaftlichen Modernisierungstempo Schritt hält.

Lebensnähe und soziales Lernen alsAusgangspunktSoll politische Bildung überhaupt Aussicht aufAkzeptanz bei den Jugendlichen haben, musssie lebensnah und glaubwürdig sein. Sie mussThemen aufgreifen, die die Jugendlichen be-treffen, die sie interessieren. Anerkennung kannsie dann finden, wenn sie selbst Anerkennungerfahrbar macht. Viele Jugendliche erfahrenschon sehr früh, was sie alles nicht können –sie erleben sich als Versager. Das wiederum ver-stärkt bei vielen die Bereitschaft, sich in einerOpferrolle einzurichten und die Verantwortungfür das eigene Schicksal bei anderen zu suchen.Ein Perspektivenwechsel könnte aus dieserSackgasse führen. Dies allerdings setzt einUmdenken in unterschiedlichen Bereichen vor-aus. Werden Aufgaben oder Projekte geplant,so sollten die Aufgaben von den Jugendlichenin überschaubarer Zeit bewältigt werden kön-nen. In Teilnahmebescheinigungen für Veran-staltungen der politischen Bildung könnte ver-merkt werden, was in den Seminaren Positivesgelernt wurde, aber auch, welche positiven Vo-raussetzungen und Talente die Jugendlichenhaben. So wie man bei den Ausbildungsgängenin der Wirtschaft sieht, dass sich die Jugendli-chen mit theoretischem Lernen schwer tun, esaber mit praktischem Lernen leichter geht, mussauch die politische Bildung beim praktischenVerständnis andocken.

Bei allen Bildungsmaßnahmen sollte dememotionalen und sozialen Lernen (Sozialtechni-ken) mehr Raum eingeräumt werden. Eine Lern-umgebung, bei denen sich die Jugendlichen ernstgenommen fühlen, ist die beste Voraussetzungfür eine politische Bildung, die durch ein dialo-

gisches Verhältnis zwischen Lernenden undLehrenden geprägt ist.

Herausforderungen an die SchuleDie Schule ist die erste – und manchmal einzige– Lebensstation, in der junge Menschen mit po-litischer Bildung in Kontakt kommen. In denLehrplänen ist politische Bildung an unterschied-lichen Stellen verortet – in erster Linie in dengesellschaftskundlichen Fächern, darüber hin-aus aber auch in Fächern, die sich mit Werten,Ethik und Verhaltensnormen befassen. GeradeIm Hinblick auf die bildungsfernen Jugendli-chen hat die Gesellschaft hohe Erwartungen andie Schulen – genauer gesagt an die Lehrerin-nen und Lehrer. Sie sollen richten, was in derGesellschaft, bei der Erziehung der Kinder undJugendlichen schief läuft.

Dass es dabei eine Fülle an Problemen gibt,ist hinlänglich bekannt: überfrachtete Lehrplä-ne, Bildungsinhalte, die mit der Lebenswirk-lichkeit der Jugendlichen oft gar nichts zu tunhaben. Es werden Antworten auf Fragen gege-ben, die von den Jugendlichen gar nicht gestelltwerden, und somit ist das Scheitern der Lernen-den schon im Ansatz programmiert. PolitischeBildung kann hier einen wichtigen Beitrag beider Neujustierung von Bildungsinhalten leis-ten. Gerade in den Fächern, bei denen Politikund Gesellschaftskunde im Mittelpunkt steht,sollten verstärkt Bezüge zum tatsächlichen Le-bensalltag der Jugendlichen hergestellt sowiePartizipationsmöglichkeiten aufgezeigt und aus-probiert werden. Jugendlichen, die zuhause kei-ne Ansprache haben, muss die Schule verstärktdie Chance geben, sich auseinanderzusetzen. Siemüssen erfahren, dass sie als Menschen wich-tig sind, dass sie etwas zu sagen haben, Talentebesitzen, dass sie etwas wert sind. Dies ist einewesentliche Voraussetzung um als mündigerBürger Verantwortung für sich und in der Ge-sellschaft übernehmen zu wollen.

Die Schulprobleme vieler Jugendlicher mitMigrationshintergrund sind nicht erst mit der

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PISA-Studie bekannt. Neben den mangelhaf-ten deutschen Sprachkenntnissen stellt die Tat-sache, dass es viel zu wenig Lehrer/innen mitMigrationshintergrund gibt (nur 1%), ein gro-ßes Problem dar. Gerade Jugendliche mit Mig-rationshintergrund reagieren positiv auf Vorbil-der aus ihrem kulturellen Herkunftsland, die mitsehr viel größerer Glaubwürdigkeit auftretenkönnen und auf entsprechend größere Akzep-tanz als Herkunftsdeutsche stoßen.

Kann auch die politische Bildung von sichaus Lehrpläne nicht ändern und/oder direktenEinfluss auf die Einstellungspraxis der Schul-behörden nehmen, so erwarten gleichwohl Leh-rende sehr konkrete Unterstützung durch Maß-nahmen, die in ihrer Zielsetzung an den tatsäch-lichen Bedürfnissen der Lehrenden und der bil-dungsfernen Jugendlichen ausgerichtet sind. Voneiner Fort- und Weiterbildungsoffensive fürLehrerinnen und Lehrer an Haupt- und Berufs-schulen werden Hilfestellungen beim Umgangmit den konkreten Problemlagen im Unterrichtsowie mit sozialen Problemen und den Folgenvon Migrationserfahrung erwartet. ‚DiversityTraining’ und interkulturelles Lernen sollten festeBestandteile eines Fort- und Weiterbildungska-talogs politischer Bildung sein. Dabei sollen vorallem mehr Migranten in die Arbeit eingebun-den werden, nicht zuletzt, um dem Wissens-mangel über die Einwanderungsgesellschaftentgegenzuwirken und im Umgang mit demThema Migration für mehr Professionalität zusorgen. Lehr- und Lernkonzepte mit Partizipati-onsangeboten für die Schülerinnen und Schülermüssen entwickelt und erprobt werden. NeueLernangebote sollen zum Sprechen und Argu-mentieren anregen sowie Identifikationsmög-lichkeiten offerieren. Konkrete Erwartungen andie politische Bildung verbinden sich mit derEntwicklung von neuen didaktischen Modellenfür Medienbildung in den Ganztagsschulen. MitBlick darauf, dass die neuen Medien gerade fürbildungsferne Jugendliche die Leitmedien sind,wollen die Lehrer/innen gerüstet sein, um An-

leitungen für einen mündigen Umgang mit denMedien zu geben. Lehr- und Lernmaterialienfür die Hauptschule müssen mehr sein als redu-zierte Gymnasialmaterialien, nämlich verständ-lich, glaubwürdig und an die Lebenswelt derJugendlichen andockend. Sie müssen eine akti-ve Hilfe zur Lebensbewältigung bieten sowiedas soziale Lernen befördern.

Außerschulische politische Bildung –organisierte FreizeitEin wichtiger Anknüpfungspunkt für die Arbeitmit bildungsfernen Jugendlichen ist die außer-schulische politische Bildung. Gerade um Kon-takt zu den bildungsfernen Jugendlichen zu ha-ben, um Einfluss nehmen zu können, ist es wich-tig, dass außerhalb der Schule Programme an-geboten werden, die die Konkurrenz mit ande-ren Freizeitvorlieben ertragen können. Auch hiergilt wieder, dass die Angebote lebensnah undan den Bedürfnissen der Jugendlichen orien-tiert sein müssen.

Für die Programme von Jugendlichen mitMigrationshintergrund ist es entscheidend, dieEltern einzubeziehen, um die Teilnahme der Ju-gendlichen an diesen Angeboten auch zu er-möglichen. Migranten selbst sollten im Interes-se von glaubwürdigen Identifikationsangebo-ten bei der Vorbereitung und Durchführung vonProjekten eingebunden werden. Lehrende oderSozialarbeiter mit Migrationshintergrund sindüberzeugendere Vorbildpersonen für die Jugend-lichen

Auf dem Kongress ‚Zukunft bilden‘ wur-den vielfältige Projekte vorgestellt und unter-schiedliche didaktische Ansätze diskutiert. Andie staatliche politische Bildung wurden einigegrundlegende Anforderungen formuliert, die diebesonderen Voraussetzungen bei der Arbeit mitbildungsfernen Jugendlichen berücksichtigen.

Oft haben Projekte für und mit bildungsfer-nen Jugendlichen nur kurze Laufzeiten und kön-nen eine verlässliche, kontinuierliche Präsenzder Teilnehmer nicht immer garantieren. Hier

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sollte die Förderpraxis besser als bisher die be-sondere Situation der Arbeit mit bildungsfernenJugendlichen berücksichtigen.

Insgesamt wird eine bessere finanzielle Aus-stattung für Projekte freier Träger und Initiati-ven gewünscht. Dazu sollte die Antragstellungund Finanzierung vereinfacht werden, damitauch kleine Initiativen eine Chance haben, mitProjekten zu beginnen, die für eine längere Lauf-zeit geplant sind.

Es werden besondere Konzepte für Ost-deutschland benötigt. Hier ist der Rechtsextre-mismus ein besonderes Problem, nicht nur, aberauch in bildungsfernen Schichten. Eine konti-nuierliche Jugendarbeit braucht mehr langfris-tige Unterstützung und darf nicht bestimmtenAktivitätsmoden folgen.

Insgesamt wünschten sich viele Praktikereine Datenbank im Internet, wo positive Pro-jekte präsentiert werden. Man könnte dann ge-genseitig von guten sowie schlechteren Erfah-rungen profitieren und zudem müsste das Radnicht immer wieder neu erfunden werden

Das Geheimnis von Engagement istBeteiligungMitbestimmungsaktivitäten auf regionaler undkommunaler Ebene sind gute Ansatzpunkte fürpolitische Bildungsarbeit mit bildungsfernenJugendlichen. Hier werden Politik-Erfahrungenim Nahbereich der Zielgruppe gemacht. Stadt-teilarbeit fördert Partizipation, ermöglicht denJugendlichen, Verantwortung für überschauba-re Projekte zu übernehmen, und stärkt – durchdas Auftreten im öffentlichen Raum – Selbstbe-wusstsein sowie Selbstsicherheit. Stadtteilarbeitund die hier gemachten positiven Erfahrung mitPolitik können zudem in einem weiteren Sinnedazu beitragen, ein neues Politikverständnis beiden Jugendlichen zu schaffen. In der gängigenRezeption der Zielgruppe sind mit Politikgemeinhin ‚die in Berlin‘ gemeint – der politi-sche Nahraum, die persönliche Erfahrungsebe-ne, wird ausgeblendet. Erfahren die Jugendli-

chen diesen Aspekt des eigenen politischenHandelns und Engagements, so kann das in derFolge nicht nur im politischen Engagement derZielgruppe seinen Niederschlag finden, sondernsogar zur Eindämmung des Rechtsradikalismusbeitragen. Wichtig bei der Stadtteilarbeit mit derZielgruppe ist es, Brückenpersonen zwischenJugendlichen und Ämtern bereit zu stellen: Ver-mittler, Hilfeleister, Paten. Als gute Formatehaben sich in Modellprojekten Workshops, Vi-deoproduktionen, Beiträge für Offene Kanäle,Musik- und Bandprojekte, Ausflüge in die Re-gion, Wettbewerbe, eigene Lese- sowie Zei-tungsprojekte erwiesen.

Für die Auseinandersetzung mit dem Rechts-extremismus vor allem in Ostdeutschland wirdein intensiverer Austausch von Methoden, Ma-terialien und Erfahrungen benötigt. Es müssenmehr Foren zur Kommunikation zwischen denAkteuren und den Jugendlichen, die in Projekteeingebunden sind, geschaffen werden. Weiter-bildungsangebote sind ebenso erforderlich wiespezielle Materialien für die Sozialarbeit unddie Arbeit in soziokulturellen Zentren.

Ein nach wie vor großes Problem ist die Fi-nanzierung von Pädagoginnen und Pädagogenin Einrichtungen der außerschulischen politi-schen Bildungsarbeit in den neuen Bundeslän-dern. Hier finden oftmals die einzigen Freizeit-angebote für bildungsferne Jugendliche in ei-nem demokratischen Kontext statt.

TV und InternetBei 240 Minuten täglich liegt bei bildungsfer-nen Jugendlichen der TV-Konsum, bei Jugend-lichen mit Migrationshintergrund ca. 300 Mi-nuten (dabei handelt es sich allerdings um de-battierbare Zahlen, da das TV oft nur nebenherläuft). Das Fernsehen ist also das Unterhaltungs-medium Nummer Eins – entsprechend werdenauch Formate favorisiert, die dem Bedürfnisnach Unterhaltung dienen: Boulevard, Game-shows, Reality-Fernsehen, auf Sensationen ab-gestellte Formate (DSDS etc.). Jugendliche

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Migranten sehen gerne Sender aus ihren Hei-matländern. Doch obwohl das Fernsehen fastständig präsent ist, fehlen zielgruppenspezifi-sche Sendungen für 12-16-jährige männlicheJugendliche, sieht man einmal von Soaps ab,die aber vor allem Mädchen zufrieden stellen.

Die Privatsender gehen mehr und mehr dazuüber, Sendungen für die Zielgruppe gemeinsammit der Zielgruppe zu entwickeln. Bei den öf-fentlich-rechtlichen Sendern ist noch oft dasVorurteil vorhanden, dass im Bereich von Ju-gendangeboten attraktive Formate und gute In-halte nicht zusammenpassen. Ist dies aber ge-lungen, so sollten Filme, in denen auch poli-tisch-bildnerische Ansprüche verwirklicht wer-den (zum Beispiel ‚Wut‘), nicht auf Sendeplätzeverbannt werden, die für die Zielgruppe unat-traktiv sind.

An die politische Bildung ist die Idee heran-getragen worden, bestehende erfolgreiche For-mate synergetisch zu nutzen und bei erfolgrei-chen Medien Anknüpfungspunkte für Ausein-andersetzung zu suchen. So könnten zum Bei-spiel mit Blick auf ‚Deutschland sucht den Su-perstar‘ Wertefragen thematisiert werden oderbei Serien wie ‚Junglecamp‘ die Diskussion überdas Miteinander verschiedener Generationengeführt werden.

Eine hohe Akzeptanz bei Jugendlicheninsgesamt, bei bildungsfernen Jugendlichen aberbesonders, haben Computermedien. So nutzenetwa 40 Prozent der Jugendlichen mit Migrati-onshintergrund den PC als Unterhaltungsmedi-um, wobei die Tendenz steigend ist. Auch Mäd-chen sind im Netz unterwegs, wenngleich we-niger als die Jungen. Die männlichen Jugendli-chen nutzen den PC vor allem für Spiele, diejungen Frauen bevorzugt zum Chatten.

Hier bieten sich Andockmöglichkeiten fürdie politische Bildung. Spiele können – wennsie von mehreren gespielt werden – Sozialkom-petenzen fördern durch das Besprechen vonSpielstrategien oder durch die Mitwirkung anTurnieren (bei Multiplayer-Games oder im

Koop-Modus). Sie haben zudem den Vorteil –was sicherlich ihre Beliebtheit mit ausmacht –dass man immer wieder von vorne anfangenkann. Mehrere Neustarts sind möglich – wasdas Leben normalerweise nicht so häufig vor-sieht. Auffallend ist, dass von den Jugendli-chen sogar hochqualitative Angebote angenom-men werden, wenn die Lernumgebung stimmtund Hilfestellungen gegeben werden, die vonden Jugendlichen akzeptiert werden. Dann nut-zen auch Eltern ausländischer Kinder gemein-sam mit ihren Kindern diese Angebote. Dassvor allem für die Jungen mit Migrationshinter-grund die Sprachhürde nicht zu hoch sein soll-te, versteht sich nahezu von selbst. Insgesamtsollten bei Lernangeboten über PC die Erfah-rungen des ‚Integrierenden Lernens‘ berück-sichtigt werden: Interaktivität, variable Zugän-ge zu Lerninhalten, Anerkennungsmöglichkei-ten schon bei kleineren Erfolgen. Als empfeh-lenswert haben sich in der Arbeit mit bildungs-fernen Jugendlichen Planspiele und SeriousGames erwiesen, die allerdings ein bestimmtesLernsetting benötigen. Es handelt sich hierbeinicht um Selbstlernmedien, vielmehr ist Anlei-tung und begleitende Betreuung eine wichtigeVoraussetzung für den Erfolg. Die Informatio-nen und Hilfestellungen zu diesem Thema, diesich auf der Interaktiven Datenbank für Com-puterspiele der bpb (www.bpb.de/snp) befin-den, müssen stärker in Fort- und Weiterbildungs-programme integriert und bei Pädagoginnen wiePädagogen bekannt gemacht werden.

ZusammenfassungDie Existenz einer großen Zahl bildungsfernerJugendlicher, die von Maßnahmen der politi-schen Bildung kaum oder gar nicht mehr er-reicht werden, ist von der politischen Bildungals Herausforderung angesichts einer zuneh-mend von Segregation und Exklusion gepräg-ten Gesellschaft anzunehmen. Sie muss ihreRessourcen neu ordnen, gegebenenfalls um-schichten und Wege beschreiten, die zu den Ju-

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gendlichen hinführen. Dafür ist eine exakte Ziel-gruppenanalyse unabdingbare Voraussetzung.Dies gilt in besonderem Maße für die schnellwachsende Zahl von Jugendlichen aus Migran-tenfamilien. Insgesamt muss die politische Bil-dung in diesem Prozess selbst wieder politi-scher werden. Ziel muss es sein, auch bei denbildungsfernen Jugendlichen akzeptabel undglaubwürdig zu sein.

Um dies zu erreichen, müssen Bildungs-maßnahmen für diese Gruppen unter anderemdas Ziel verfolgen, eine Stärkung der Selbst-achtung und des Selbstwertgefühls der Betrof-fenen herbeizuführen. Die Jugendlichen müs-sen erfahren, dass (politische) Bildung mitpositiven Rückmeldungen verbunden seinkann, und dass sie selbst ein ernst zu nehmen-der sowie ernst genommener Teil des politi-schen Lebens sind. Emotionales und sozialesLernen als Basis für die Akzeptanz politischerBildungsprozesse wird hier großer Raum ein-zuräumen sein.

Die politische Bildung muss an den Lebens-alltag der Zielgruppe anknüpfen und davon aus-gehend die Relevanz politischer Strukturen,Regularien, Wertesysteme etc. für die Jugendli-chen deutlich machen. Der Bildungsprozessmuss an die Fragen, Erfahrungen oder auch Ir-ritationen bildungsferner Jugendlicher im Um-gang mit Politik und Wirtschaft andocken. Letz-tere steht für viele Angehörige der Zielgruppeim Zentrum ihrer politischen Vorstellungen, dadie Sorge um das Finden oder Sichern einesArbeitsplatzes und damit eines Platzes in derGesellschaft für sie eine elementare Kategoriedarstellt. Dafür stehen eine Reihe von methodi-schen Zugängen zur Verfügung, von zielgrup-penangepassten klassischen Maßnahmen derpolitischen Bildung in der Schule bis zu experi-mentellen Formen und Modellprojekten in un-terschiedlichen Formaten, wobei Stadtteilarbeitund überhaupt das Engagement in lokalen oderregionalen Kontexten eine große Rolle spielensollte. Nicht zuletzt ist der hohe Stellenwert der

Neuen Medien in der Zielgruppe für eine adä-quate Ansprache zu nutzen.

Christiane Toyka-Seid ist Zeithistorikern, sieführt die Agentur cts text-line, Kommunikationin Wissenschaft und Praxis, Königswinter.Kontakt: [email protected]

Stellungnahme...................................................................................................................................

Gegen eine Kriminalisierungkritischer WissenschaftStellungnahme des WissenschaftlichenBeirats von Attac zur Verhaftung desSozialwissenschaftlers Andrej H.

Mit dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einerterroristischen Vereinigung nach § 129a StGBsind am 30. und 31. Juli vier Personen festge-nommen worden. Der Wissenschaftliche Bei-rat von Attac verurteilt das aktuelle Verfahrenund die Begründung der Haftbefehle. Sie ver-lassen den Boden der Rechtsstaatlichkeit undstehen für eine Ausweitung der Terrorismus-Ausnahmegesetzgebung. Wie die Verteidigerformulieren: Es wird das ‚versuchte In-Brand-Setzen von drei Auto unter Ausschluss einerPersonengefährdung als Terrorismus‘ bezeich-net.

Der Wissenschaftliche Beirat von Attac kri-tisiert insbesondere, dass die wissenschaftlicheTätigkeit von Andrej. H. als Begründung fürden ergangenen Haftbefehl herangezogen wird:• Als Verdachtsmoment wird eine von Andrej

H. im Jahr 1998 veröffentliche wissenschaft-liche Abhandlung angeführt. Diese enthalteSchlagwörter und Phrasen, die in Texten der‚Militanten Gruppe‘ (mg) gleichfalls ver-wendet werden.

• Als promovierter Politologe und Promoti-onsstipendiat sei Andrej H. zudem ‚intellek-tuell in der Lage, die anspruchsvollen Texteder Militanten Gruppe zu verfassen‘.

Pulsschlag

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• Desweiteren stünden ihm ‚als Mitarbeitereines Forschungszentrums Bibliotheken zurVerfügung, die er unauffällig nutzen kann,um die zur Erstellung der Texte der Militan-ten Gruppe erforderlichen Recherchendurchzuführen‘.

• Für eine Mitgliedschaft in der MilitantenGruppe spreche ferner, dass Andrej H. ineinem im Juni 2005 veröffentlichten Artikelüber einen fehlgeschlagenen Anschlag derterroristischen Vereinigung ‚RZ‘ berichteteund derselbe Anschlag in einem Text derMilitanten Gruppe vom Frühjahr 2005 the-matisiert wurde.

• Zudem verfüge Andrej H. als Promotions-stipendiat ‚über die intellektuellen und sach-lichen Voraussetzungen, die für das Verfas-sen der vergleichweise anspruchsvollen Tex-te der Militanten Gruppe erforderlich sind‘.

Dadurch wird kritische Gesellschaftsanalysenicht nur kriminalisiert, sondern unmittelbardem Terrorismusverdacht ausgesetzt. Die be-kannt gewordenen Begründungen aus dem Haft-befehl sind eine Beleidigung für den gesundenMenschenverstand und würden – wenn sie vonder Gesellschaft akzeptiert werden – die Grund-lagen jeder kritischen Öffentlichkeit in einer frei-en Gesellschaft zerstören. Wenn sie als Indizienfür die Mitgliedschaft in einer terroristischenVereinigung gelten, dann wird kritische Wis-senschaft unter Generalverdacht gestellt.

Der Beirat befürchtet, dass Bundesinnenmi-nister Wolfgang Schäuble und das Bundeskri-minalamt einen Prozess in Gang setzen, der denRechtsstaat in Deutschland substanziell unter-gräbt. Dieser Prozess begann mit der Krimina-lisierung der Vorbereitung der Proteste gegenden G8-Gipfel. Es wurden Büros, Buchlädenund Wohnungen – wieder gestützt auf denrechtsstaatlich umstrittenen Paragrafen 129 aStGB – in einem Umfang durchsucht, der seitden 1970er Jahren unbekannt ist. Die Gefahreiner solchen Form der Kriminalisierung undAusgrenzung könnte darin liegen, dass durch

diese staatliche Aktion erst das konstruiert undprovoziert wird, was vorgeblich verhindert wer-den soll: Terrorismus.

Der Wissenschaftliche Beirat von Attac for-dert von den Verantwortlichen, das Verfahrengegen Andrej H. einzustellen, ihn auf freien Fußzu setzen und zu einer rechtstaatlichen Arbeits-weise zurückzukehren.Für Rückfragen:Prof. Dr. Andreas Fisahn, Jurist, Tel. 0170-7527560Prof. Dr. Rainer Rilling, Soziologe, Tel. 0170-553 8739

BERICHT...................................................................................................................................

Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

BBE-Netzwerk alsKampagnenplattform

Es gibt wohl niemanden im politischen Raum,der das freiwillige Engagement der Bürgerinnenund Bürgern nicht positiv hervorhebt. Nach demletzten vom Bundesministerium für Familie,Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) undvon TNS Infratest im Jahr 2004 durchgeführ-ten Freiwilligensurvey sind über 23 MillionenMenschen (über 14 Jahren) in Deutschland inirgendeiner Weise ehrenamtlich aktiv. Mit leichtsteigender Tendenz engagieren sie sich freiwil-lig in Vereinen, Initiativen und Projekten, etwasabnehmend dagegen in klassischen Verbands-strukturen. Der Trend geht zu projektbezoge-nen und zeitlich befristeten Engagements, dieauch persönlich bereichernd wirken und zur Vitapassen.

Unbestritten ist: Ohne diesen freiwilligenEinsatz würde unsere Gesellschaft nicht funkti-onieren. Bürgerschaftliches Engagement ist fürden gesellschaftlichen Zusammenhalt unver-zichtbar und zudem unbezahlbar. Allerdingsbesteht eine auffällige Diskrepanz zwischen all-gemeiner, aber oft nur oberflächlicher Wert-schätzung, und des Einsatzes bürgerschaftlichen

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Engagements als zentrale Ressource zur Lösunggesellschaftlicher Herausforderungen. Dies giltumso mehr angesichts eines strukturellen Fi-nanzdefizits des Staates. Es ist daher kaum ver-wunderlich, dass das Thema bürgerschaftlichesEngagement immer mehr Eingang in den öf-fentlichen und politischen Diskurs findet.

Mit der Gründung des BundesnetzwerksBürgerschaftliches Engagement (BBE) betrat imSommer 2002 auf Empfehlung der Enquete-Kommission ‚Zukunft des BürgerschaftlichenEngagements‘ und in Folge des von der UNausgerufenen ‚Internationalen Jahres der Frei-willigen‘ 2001 ein potenter Fürsprecher für En-gagementförderung in Deutschland die politi-sche Bühne. Die Stärke des Netzwerks liegt inseiner trisektoralen Struktur, die Vertreter vonStaat, Wirtschaft und Non-Profit-Sektor inbisher nicht gekannter Weise kooperieren lässt.Beteiligt sind alle maßgeblichen Verbände derWohlfahrtspflege, des Sports, der Kultur unddes Natur- und Umweltschutzes sowie die bei-den großen Kirchen, Zusammenschlüsse neue-rer Förderungseinrichtungen wie Selbsthilfe-kontaktstellen, die Hilfs- und Rettungsdienste,aber auch Seniorenbüros und Freiwilligenagen-turen. Ebenso gehören große und mittelständi-sche Unternehmen, Stiftungen und Gewerk-schaften zum Kreis der Mitglieder. Mit demBMFSFJ, dem BMI, dem BMG, fast allen Bun-desländern, dem Deutschen Städtetag sowie demDeutschen Städte- und Gemeindebund ist auchder staatliche und kommunale Bereich breit ver-treten. Insgesamt zählt das BBE über 200 Mit-gliedsorganisationen.

Das Netzwerk zielt auf die Förderung desbürgerschaftlichen Engagements in allen seinenFormen und allen gesellschaftlichen Bereichen.Es will Engagementförderung als eine gesell-schaftspolitische Aufgabe verstanden wissen,die sämtliche Gesellschafts- und Politikberei-che umfasst. Es gilt, die Eigenverantwortungund Partizipation der Bürgerinnen und Bürgerzu stärken und auch neue Formen und Verfah-

ren gesellschaftlichen Mitentscheidens und Mit-gestaltens zu entwickeln.

Aber damit endet der programmatische Kon-sens der Mitglieder mitunter auch schon. Breiteund Heterogenität des Netzwerks können aucheine mögliche Schwäche sein. Mit dem An-spruch, als ‚Public Interest Lobbyist‘ für dasBürgerengagement aufzutreten, sind nicht auto-matisch schon alle Interessensgegensätze unterden Mitgliedsorganisationen aufgehoben. Ganzim Gegenteil wird hier auch schon mal mit har-ten Bandagen gekämpft. Im Geiste eines ge-meinsamen Ziels konnte jedoch bis heute sehrerfolgreich eine Gesprächs- und Streitkulturkultiviert werden, die auch klar kommunizier-bare politische Botschaften ermöglicht.

Dabei war man sich von Anfang an bewusst,dass das BBE die Lobbyarbeit seiner Mitglie-der nicht ersetzten kann oder will, sondern sichaus einer bereichsübergreifenden Perspektivefür die Förderung einer bundesweiten Engage-mentkultur einsetzt.

Es reicht jedoch nicht aus, in akademischenund politischen Zusammenhängen beharrlich amBall zu bleiben und das Leitbild einer aktivenBürgergesellschaft zu vertreten, die durch einhohes Maß an Teilhabe bei der Gestaltung desGemeinwesens geprägt ist. Vielmehr muss eineöffentliche Debatte initiiert werden, die das Ver-hältnis der großen gesellschaftlichen Akteurezueinander thematisiert und darin ihre sozialeVerantwortung neu ausbalanciert.

Die Schärfung des Bewusstseins für dasgesellschaftliche Potenzial und soziale Kapitalbürgerschaftlichen Engagements gelingt demBBE immer mehr durch publikumswirksameKampagnen. Dass bereits die erste ‚Woche desbürgerschaftlichen Engagements‘ 2004 ein Er-folg wurde, verdankt sich der professionellenArbeit eines eigens eingesetzten Kampagnen-teams und der Rückbindung seiner Arbeit andie Mitglieder des Netzwerks. Am 14. Septem-ber dieses Jahres startet die dritte ‚Woche desbürgerschaftlichen Engagements‘, erneut unter

Pulsschlag

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der Schirmherrschaft von BundespräsidentHorst Köhler. In einem Mix aus bundesweitsichtbaren Aktionen, dem Einsatz von viel poli-tischer und medialer Prominenz sowie vielfälti-gem Engagement vor Ort in den Kommunenwerden die diesjährigen SchwerpunktthemenIntegration und Teilhabe präsentiert.

Das BBE möchte die öffentliche und media-le Aufmerksamkeit für das freiwillige, ehren-amtliche und bürgerschaftliche Engagement voninsgesamt über 23 Millionen Menschen inDeutschland bundesweit schärfen und einenBeitrag zu seiner stärkeren Anerkennung undFörderung leisten. Damit soll der Wert der wich-tigen Ressource des bürgerschaftlichen Enga-gements verdeutlicht werden. Gleichzeitig istdie Woche des bürgerschaftlichen Engagementsein Beitrag zur Debatte um die Neudefinitiongesellschaftlicher Verantwortungsrollen der ver-schiedenen Akteure aus Staat, Wirtschaft undBürgergesellschaft, die im BBE als neuer Netz-werkstruktur bereits gewinnbringend zusammenarbeiten.

Im Rahmen dieser bundesweiten Aktions-woche soll verdeutlicht werden, wie bürger-schaftliches Engagement jeden Einzelnen berei-chert und die Gesellschaft insgesamt stärkt. Eswird ein weiter Begriff des bürgerschaftlichenEngagements angewendet, der alle Formen in-dividuellen und korporativen Engagements vonEinzelpersonen, Organisationen, Institutionensowie Unternehmen umfasst. Die verschiede-nen Aktivitäten stehen unter dem gemeinsamenClaim „Engagement macht stark!“.

Es soll klar werden, dass sich bürgerschaft-liches Engagement lohnt. Und zwar sowohl fürdas Gemeinwesen insgesamt als auch für diejeweiligen Akteure. Dabei gibt es eine Band-breite unterschiedlicher Motivlagen. LegitimeEigeninteressen, sei es die persönliche Weiter-entwicklung der Engagierten oder auch positiveökonomische Effekte bei engagierten Unterneh-men, sind für die Erbringung freiwilliger Leis-tungen letztlich konstitutiv.

Weiterhin soll deutlich werden, dass für eineDemokratie die aktive Beteiligung von möglichstvielen Menschen an transparenten Entschei-dungsprozessen wichtig ist. Diese bürgerschaft-lichen freiwilligen Aktivitäten kann es aber nichtohne Förderung und Unterstützung geben. Dazugehören insbesondere förderliche Rahmenbe-dingungen, eine gesicherte Infrastruktur zurFörderung des Engagements und Formen derAnerkennung, die auch Organisationshilfen undQualifizierung umfassen.

Bürgerschaftliches Engagement soll in allseiner Vielfalt und in seinen unterschiedlichenFormen öffentlich erfahrbar gemacht werden.Ebenso soll der Wert des bürgerschaftlichen En-gagements als eine wichtige Ressource zur Lö-sung gesellschaftlicher Probleme sichtbar wer-den.

Zudem soll die Bekanntheit der Funktion undArbeit des BBE als Netzwerk der unterschiedli-chen Akteure im bürgerschaftlichen Engagementbundesweit gestärkt werden.

Hindernisse sich zu engagieren, sollen be-nannt werden und konkrete Vorschläge für eineengagementfördernde Politik sollen aufgezeigtwerden.

Die Aktionswoche richtet sich dabei sowohlan die breite Öffentlichkeit, an Verbände/ Orga-nisationen innerhalb und außerhalb des BBE,an die Presse, an die Politik sowie an Unterneh-men. Der Charme des Formats liegt in derGleichzeitigkeit von bundesweiter Rahmenkam-pagne und den vielfältigen lokalen Aktivitäten.2006 beteiligten sich rund 500 Veranstalter/innenan der Woche des bürgerschaftlichen Engage-ments. In diesem Jahr rechnet das BBE als Ini-tiator mit einer größeren Teilnahme.

www.engagement-macht-stark.dewww.b-b-e.de

Erik Rahn, Diplom-Pädagoge, leitet dasKampagnenteam des BBE; e-mail:[email protected]

Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

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Rückblick auf die G8-ProtesteDer G8-Gipfel in Heiligendamm ist vorbei –und die Rückschau auf Gipfel, Gegengipfel undProteste hat begonnen. Auf diversen Internet-seiten wird zusammengetragen, dokumentiertund debattiert. Auf den Seiten der Uni Rostock( w w w . u n i - r o s t o c k . d e / G 8 -W i r _ s i n d _ n i c h t _ s p r a c h l o s /alternativesummit.html) findet sich eine Doku-mentation der Podiumsdiskussionen des Alter-nativen G8-Gipfels, unter anderem mit ElmarAltvater, Jean Ziegler, Walden Bello, ThomasGebauer und vielen mehr. Die Diskussionenkönnen als Stream angeschaut oder auch alsWMV-Datei herunter geladen werden.Auch die Sonderseite von Attac zum G8-Gipfel(www.attac.de/heiligendamm07/pages/baktuellesb.php) bleibt weiter online. Dort sindLinks zu Texten, Fotos und Pressemitteilungensowie zum Attac-G8-Blog zusammengestellt.Darüber hinaus hat Attac eine Seite eingerich-tet, auf der über Verlauf und Art und Weise derProteste debattiert und über Erfolg oder Miss-erfolg diskutiert werden kann (www.attac.de/debatten/pages/gipfelproteste.php).Die Rostocker Zeitschrift Stadtgespräche, dieim Internet unter www.stadtgespraeche-rostock.de aufgerufen werden kann, hat dasDoppelheft 46/47 dem G8-Gipfel und den Pro-testen gewidmet. Zu den vielen Beiträgen unter-schiedlicher Autorinnen und Autoren kommteine ausführliche Linksammlung zum ThemaG8 und Anti-G8-Proteste.

Globale BildungskampagneFür das weltweite Recht auf Bildung kämpft dieGlobale Bildungskampagne (Global Campaignfor Education), ein in über 150 Ländern beste-hender Zusammenschluss zivilgesellschaftlicherOrganisationen, Verbände und Bildungsgewerk-schaften. Das Ziel der Globalen Bildungskam-pagne ist, bis zum Jahr 2015 allen Kindern welt-weit einen gebührenfreien Unterricht zu ermög-lichen. Für die diesjährige Kampagne, ‚Hand in

Hand für Bildung – Menschenrechte jetzt anpa-cken‘, werden Schülerinnen und Schüler auf-gefordert, Papierfigurenketten an die Bundes-kanzlerin zu schicken, um ihre Unterstützungzu symbolisieren. Begleitend soll die Aktion imUnterricht thematisiert werden; dazu werden aufAnfrage Materialien bereitgestellt.Weitere Informationen und Kontakt: www.bildungskampagne.org.

Kampagne für atomwaffenfreieZukunftIm August 2007 startete die Kampagne ‚unsereZukunft – atomwaffenfrei‘. Im Vorfeld der Über-prüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertra-ges im Jahr 2010 vor den Vereinten Nationenwill der Zusammenschluss von über 40 Orga-nisationen mit Mobilisierungsaktionen und Lob-byarbeit darauf hinweisen, dass noch immerAtomwaffen in Deutschland gelagert werden,und für deren Abzug eintreten. Mit mehrerenAktions- und Lobbyphasen z.B. im Vorfeld derBundestagswahl 2009 sollen Bürgerinnen undBürger sowie Politikerinnen und Politiker über-zeugt werden, für dieses Ziel einzutreten unddamit eine Vorreiterrolle für eine weltweit atom-waffenfreie Zukunft zu übernehmen.Weitere Informationen und Kontakt: www.atomwaffenfrei.de.

Flüchtlinge schützenMit der Situation von Flüchtlingen in Deutsch-land beschäftigt sich ein neuer Flyer von ProAsyl. Der Flyer mit dem Titel ‚Schäuble-Rei-sen. Der One-Way-Spezialist‘ will auf provo-kative Weise auf die problematische Abschiebe-politik der Bundesrepublik aufmerksam machen,die Abschiebungen beispielsweise in die De-mokratische Republik Kongo erlaubt und Men-schen aus dem Irak, Afghanistan oder Tschet-schenien den Flüchtlingsstatus nicht anerkennt.Verbunden ist der Flyer mit einer Unterschrif-tenaktion, die zu einem Umdenken in der deut-schen Asyl- und Flüchtlingspolitik aufruft. Der

Treibgut

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Flyer kann im internet herunter geladen oderbestellt werden unter www.proasyl.de; auch derUnterschriftenappell kann dort online unterzeich-net werden.

Internetportale Globales LernenZum Thema ‚Globales Lernen‘ hat die Eine WeltInternet Konferenz (EWIK) ein Internetportalgeschaffen, auf dem man Informationen, Materi-alien und Kontakte zu Fragen von Entwicklungund Globalisierung finden kann. Unterwww.globaleslernen.de findet sich ein reichhal-tiges Angebot zu Nachhaltigkeit, Hintergrundin-formationen zu entwicklungspolitischen Zielensowie aktuellen Kampagnen und Wettbewerben.Zeitgleich ist das von der Deutschen UNESCO-Kommission entwickelte Portal ‚Bildung fürnachhaltige Entwicklung‘ online gestellt wor-den (www.bne-portal.de). Damit gibt es nunzwei deutschsprachige Internetportale, die dasgesamte Themenspektrum der UN-Dekade ‚Bil-dung‘ 2005-2014 abdecken. Vorgestellt wur-den beide Webseiten auf der Konferenz ‚UN-Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung –der Beitrag Europas‘, die im Mai diesen Jahresin Berlin stattfand. Weitere Informationen undMaterialien zu dieser Konferenz sind auf derBNE-Internetpräsenz zu finden.

Urbanisierung der WeltMehr als die Hälfte aller Menschen lebt heute inStädten – und die Städte wachsen immer weiter.Dies ist ein bedrohlicher Trend, da ein Großteilder Menschen in Slums leben – ohne Wasserund sanitäre Anlagen, ohne ausreichend Raumund sichere Eigentumstitel –, und gleichzeitigdie Städte ein Mehrfaches der eigenen Flächeallein zu ihrer Versorgung mit dem Notwen-digsten benötigen. Mit diesen Entwicklungenbeschäftigt sich der vom Worldwatch Insituteherausgegebene Bericht ‚Zur Lage der Welt 2007– Der Planet der Städte‘.Eine gekürzte Fassung des ersten Kapitels, wel-ches von Kai N. Lee, Professor für Environ-

mental Studies am Williams College in Mas-sachusetts, verfasst wurde, kann unterw w w. b o e l l . d e / d o w n l o a d s / e d i g e s t /edigest07_04_lagederwelt.pdf herunter geladenwerden. Das Buch, das 336 Seiten lang ist und19,90 Euro kostet, kann unter http://tinyurl.com/27au8p bestellt werden.

Wettbewerb Teilhabe und IntegrationDer Wettbewerb ‚Teilhabe und Integration vonMigrantinnen und Migranten durch bürger-schaftliches Engagement‘ wird zum dritten Malaufgelegt. Mit dem bundesweiten Praxis- undIdeenwettbewerb soll auf die unbefriedigendeSituation von Migranten aufmerksam machen,die allzu häufig nur als Objekte sozialer Arbeitund bürgerschaftlichen Engagements wahrge-nommen werden. Vielmehr müssten Migrantenselbstverständlich in gemeinnützigen Organi-sationen der Mehrheitsgesellschaft neben Ein-heimischen und Migranten aus anderen Län-dern und Kulturen ehrenamtlich mitwirken, sodie Forderung der Initiatoren. Vorbildhafte Pra-xis und realisierbare innovative Ideen sollen mitdem Wettbewerb identifiziert, anerkannt bzw.ausgezeichnet und zur Nachahmung oder erst-maligen Realisierung angeregt werden.Genauere Informationen können unter www.buerger-fuer-buerger.de (Menüpunkt Förder-möglichkeiten, Wettbewerbe) abgerufen werden;Bewerbungsschluss ist der 30.11.2007. Form-lose Bewerbungen mit weiteren Infos wie Pro-jektbeschreibung, Pressebeiträgen, Filmen, Pu-blikationen und Internetverweisen sind zu rich-ten an die Stiftung Bürger für Bürger, HerrnBernhard Schulz, Singerstr. 109, 10179 Berlin.E-Mail: [email protected], Tel.:(030) 243 149-0.

Soziale Bewegungen in Afrikasul serio ist ein drei- bis viermal jährlich er-scheinendes, bewegungsnahes Magazin, wel-ches gratis an Universitäten, Buchhandlungen,Cafés und Infoläden in Deutschland, Österreich

Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

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und den Niederlanden ausliegt. Wissenschaft-lerInnen, AktivistInnen und JournalistInnenschreiben über soziale Verhältnisse, Konflikteund Kämpfe in aller Welt. Anlässlich des Welt-sozialforums in Nairobi hat sul serio gemein-sam mit Ouagadougou Sans Papiers, einemNord-Süd-Projekt zu Flucht und Migration inDeutschland, Frankreich und Burkina Faso, einSonderheft herausgegeben. Das Heft zu ‚Sozi-alen Bewegungen in Afrika‘ kann im Internetunter www.reflect-online.org gelesen oder alsPDF-Datei herunter geladen werden.

Ratgeber HelfenDer Sozialverband Deutschland (SoVD) hat denRatgeber ‚Gut tun – tut gut. Menschen helfenMenschen im Alltag. 70 kleine Ideen und Tippsfür Glücksbringer‘ herausgegeben. Der Ratge-ber versammelt 50 Ideen und 20 praktische Tippsrund ums bürgerschaftliche Engagement. DieTipps und Ideen kommen von Menschen, dieseit Jahren ehrenamtlich engagiert sind. Der Rat-geberband ist im Schweizer Pendo-Verlag er-schienen (ISBN: 978-3-86612-114-0) und zumPreis von 9,90 Euro im Buchhandel erhältlich.Weitere Informationen unter www.sovd.de oderwww.gut-tun-tut-gut.de.

Bundesprogramme gegen Rechts ISeit dem 1. Januar 2007 laufen die beiden neu-en Bundesprogramme gegen Rechts, ‚Jugendfür Vielfalt, Toleranz und Demokratie – gegenRechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit undAntisemitismus‘ und ‚Förderung von Bera-tungsnetzwerken – Mobile Intervention gegenRechtsextremismus‘ – und werden kontroversdiskutiert. Auf der Webseite des Bundesnetz-werkes Bürgerschaftliches Engagement (BBE)sind zwei Gastbeiträge zu finden, die sich vonunterschiedlichen Standpunkten mit den beidenProgrammen beschäftigen. Claudia Fligge-Hoff-jann, Referentin im Bundesministerium für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend erläutert inihrem Beitrag die wichtigsten Punkte der Bun-

desprogramme (www.b-b-e.de/uploads/media/nl0710_bmfsfj.pdf); Roland Roth, Professor fürPolitikwissenschaft an der Hochschule Magde-burg-Stendal versucht eine erste kritische Zwi-schenbilanz (www.b-b-e.de/uploads/media/nl0710_roth.pdf).Insgesamt zeigt sich, dass für das Programm‚Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie –gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlich-keit und Antisemitismus‘ weitaus mehr Anträgeeingereicht wurden, als bewilligt werden kön-nen – beispielsweise 240 Bewerbungen für lo-kale Aktionspläne, von denen aber nur 90 ge-fördert werden können. Noch größer sei dasInteresse an überregionalen Modellprojektengewesen, so die Bundesregierung in ihrer Ant-wort auf eine kleine Anfrage der Fraktion ‚DieLinke‘ im Deutschen Bundestag (www.bundestag.de/aktuell/hib/2007/2007_104/05.html).

Bundesprogramme gegen Rechts IIFür eine integrierte Strategie gegen Rechtsradi-kalismus und Fremdenfeindlichkeit plädiertLudger Klein, Redakteur des Forschungsjour-nals. In seiner Studie, die eine ausführlicheAuseinandersetzung mit Stärken und Schwä-chen der bisherigen Bundesprogramme Civi-tas, Entimon und Xenos beinhaltet, kommt Kleinzu dem Schluss, dass ein erfolgreicher Kampfgegen Rechts nur unter Einbeziehung zivilge-sellschaftlicher Organisationen, Kirchen Ver-bänden, Vereinen, aber auch Unternehmen ge-lingen kann. Die Studie mit dem Titel „Die De-mokratie braucht die Zivilgesellschaft“, die fürden Arbeitskreis ‚Bürgergesellschaft und Akti-vierender Staat‘ der Friedrich-Ebert-Stiftungerstellt wurde, ist unter http://library.fes.de/pdf-files/kug/04590inf.html im Internet abrufbar.

Archive von untenVertreterInnen von rund zwanzig freien Archi-ven trafen sich im Juni dieses Jahres zum ‚3.Workshop Archive von unten‘. Die so genann-

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ten freien Archive haben sich zur Aufgabe ge-macht, die Hinterlassenschaften sozialer Bewe-gungen und Protestbewegungen zu sammeln undaufzubewahren. Sie sollen damit AktivistInnenund ForscherInnen zugänglich gemacht werden.Einen Tagungsbericht zum diesjährigen Treffengibt es unter http://kg.r2010.de/kg/1906-130,1,0.html. Einen Überblick über vielfältigefreie Archive mitsamt Internetlinks und Kon-taktadressen bietet http://archiv.twoday.net/sto-ries/126758/.

Stiftungsreport 2007Erstmals erschienen ist der ‚StiftungsReport‘des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen.Auf 192 Seiten werden Analysen, Trends undStatistiken zum deutschen Stiftungswesen undInterviews mit Stiftungspraktikern präsentiert.Eine Kurzfassung des Reports ist im Internetzugänglich unter www.stiftungen.org (Menü-punkt Service, Verlag). Dort kann auch die Lang-fassung als Printversion (ISBN: 3-927645-88-5) für 18,90 Euro zzgl. 3 Euro Versandgebüh-ren bestellt werden.

e-PartizipationAuf einer neuen Webseite von politik-digital.deund dem British Council werden Beiträge zurPartizipation im und über das Internet versam-melt. Unter www.e-participation.net werden inenglischer Sprache Online-Projekte vorgestellt,mit denen eine größere politische Beteiligungerreicht werden soll. Ausdrücklich gewünschtist die Mitarbeit der Nutzerinnen und Nutzer: Ineiner Datenbank können sie ihre eigenen Pro-jekte vorstellen und so einem breiteren Publi-kum zugänglich machen.

Neue politikwissenschaftlicheZeitschriftMit der ‚Zeitschrift für Vergleichende Politik-wissenschaft‘ erscheint ein neues politikwis-senschaftliches Journal. Die Zeitschrift wirdvom Arbeitskreis für Vergleichende Politikwis-

senschaft der Deutschen Vereinigung für Politi-sche Wissenschaft herausgegeben und soll hoch-wertige Forschungsergebnisse publizieren.Weitere Informationen und Kontakt:www.fernuni-hagen.de/ak-demokratiefor-schung/zfvp.htm.

Direct-Action-Kalender 2008Der neue Direct-Action-Kalender 2008 ist da.Der Kalender, der nun zum fünften mal erscheint,versammelt Tipps und Tricks für Protestaktio-nen sowie Texte und Materialien zu Direct-Ac-tion-Methoden. Der knapp 200 Seiten langeKalender kann für 4 Euro über die Projektwerk-statt in Saasen bezogen werden.Bestellung über www.aktionsversand.de.vu oderper Post: Projektwerkstatt Saasen, Ludwigstr. 11,35447 Reiskirchen-Saasen, Tel.: (06401) 903 283.

Stärkere Arbeitszeitverringerung beiMüttern in DeutschlandEine Studie des Wissenschaftszentrums Berlinhat herausgefunden, dass Frauen in Deutsch-land nach der Geburt eines Kindes ihre Arbeits-zeit stärker und über einen längeren Zeitraumreduzieren als Mütter in anderen europäischenStaaten. Während Mütter in Deutschland biszur Einschulung der Kinder durchschnittlichacht Stunden pro Woche weniger arbeiteten alsvor der Geburt, seien Mütter in Frankreich undSchweden in ähnlichem Umfang berufstätig wievor der Geburt. Auch in Italien, dem viertenuntersuchten Land, würde die Arbeitszeit nurum rund eine Stunde verringert.Eine Kurzfassung des Vier-Länder-Vergleichswurde in den WZB-Mitteilungen veröffentlichtund kann im Internet eingesehen werden unter:www.wzb.eu/publikation/pdf/wm116/8-11.pdf.

Journal TurbulenceTurbulence ist eine neue englischsprachige Zeit-schrift/Zeitung, die sich als Diskussionsforumder sozialen Bewegungen versteht. Es soll einePlattform sein, auf der die unterschiedlichen Wahr-

Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

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nehmungen, Visionen, Ideale und Strategien derBewegungen debattiert werden können. Heft 1(Juni 2007) kann unter www.turbulence.org.ukherunter geladen werden.Zugleich rufen die HerausgeberInnen zur Mit-arbeit auf: Wer an dem Projekt mitarbeiten odereigene Texte veröffentlichen möchte, kann übere-Mail ([email protected]) mit denHerausgebern in Kontakt treten.

Sozialforum 2007Das Zweite Sozialforum in Deutschland findetvom 18.-21. Oktober in Cottbus statt. Unterdem Motto ‚Für Gerechtigkeit, Frieden undBewahrung der Natur‘ soll auf der Grundlageder Charta von Porto Alegre – die brasiliani-sche Stadt war der Schauplatz der ersten Welt-sozialforen – über die Zukunft der Welt debat-tiert und diskutiert werden. Die Sozialforen, diees auf lokaler, regionaler, staatlicher, europäi-scher und globaler Ebene gibt, verstehen sichals Raum, in dem Menschen gemeinsam Alter-nativen zum politischen mainstream entwickelnkönnen. Man soll zusammenkommen, „um dasGespräch über das Hier und Heute und überWege in eine lebenswerte Zukunft zu führen,

Ausgabe 2/2007 ist soeben erschienen. Aus dem Inhalt: Exodus der hochqualifizierten Deut-schen? – Lebensqualität in europäischen Städten – Kommunalpolitiker: Berufs- statt Feierabend-parlamentarier? – Vor 50 Jahren: Zenith der Ära Adenauer – Heidelberger Nachhaltigkeitsbericht– Kriminalität 2006 – Das Dashboard-Tool

Ein kostenloses Probeheft können Sie unter [email protected] anfordern.

um Kommunikations- und Kooperationsbezie-hungen zu erneuern und neu zu knüpfen, umFreude im kulturellen Zusammensein zu erle-ben und um Verabredungen zu weiteren Vorha-ben zu treffen.“ Auf dem Sozialforum werdenWorkshops, Seminare und Konferenzen zu un-terschiedlichen Themensträngen wie ‚Ein ande-res Europa ist möglich‘, ‚Für eine Politik desFriedens‘ oder ‚Arbeitswelt und Menschenwür-de‘ angeboten.Das Sozialforum bietet auch Raum für die wis-senschaftliche Betrachtung von Protestkulturund sozialen Bewegungen. Eine Gruppe vonBewegungsforscherInnen plant einen Workshopunter dem Titel ‚...die Welt nicht nur verschie-den interpretieren... Zum Verhältnis von Pro-testforschung und sozialen Bewegungen‘. Hiersollen verschiedene Formen der Wissenspro-duktion (bewegungsintern und akademisch) übersoziale Bewegungen und ihr Verhältnis zur Pra-xis diskutiert werden.Weitere Informationen zum Sozialforum, Teil-nahmemöglichkeiten und Programm unterwww.sozialforum2007.de; Informationen undKontakt zum Workshop Bewegungsforschungper e-Mail bei Simon Teune ([email protected]).

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REZENSIONEN...................................................................................................................................

PR-, Ziel- und NGO-Kampagnen alsstrategische Kommunikation

dung in der Praxis einfließen zu lassen. Dabeidominiert ein eindeutig strategisches Kampag-nenverständnis: „Eine Zielkampagne ist ein sys-tematisches und effizient geführtes, kommuni-katives Bemühen um einen Veränderungspro-zess, dessen Richtung und Entwicklung durchein klar definiertes Ziel vorgegeben wird

Der einleitende Teil zu Begriff, Entstehungund Arbeit von NGOs gibt dem Leser kursori-sche Einblicke, allerdings werden streckenweiseAussagen wenig kritisch hinterfragt und diffe-renziert. So würden zum Beispiel Kooperatio-nen mit Unternehmen eine win-win-Situationdarstellen und Missbrauchsängste von NGOsseien dabei nicht angebracht. Aufbauend auf dieim einleitenden Teil identifizierten Charakteris-tika von NGOs und in Anlehnung an das Kam-pagneneigenschaftsmodell von ver.di beschrei-ben die Autoren im zweiten Teil verschiedeneElemente erfolgreicher Kampagnenkommuni-kation, wobei sie der exakten Zielbestimmungbesondere Bedeutung beimessen. Die gewon-nenen Erfolgsfaktoren dienen dann jedoch nichtals Grundlage für die Entwicklung eines Analy-serasters für die Fallbeispiele. Dementsprechendbeschränken sich die kurz gehalten Fallbeispie-le eher auf die Beschreibung der jeweiligenKampagnenziele und -inhalte. In der Darstel-lung der Bausteine werden teilweise Beispieleaus den zuvor untersuchten Kampagnen ange-führt. Ein systematischer Zusammenhang zwi-schen Analyse und Modell ist dabei von außenallerdings nicht ersichtlich. Unterschieden wer-den folgende Bausteine: Themenfindung, Re-cherche, Umfeldanalyse, Zielgruppendefinition,Zielbeschreibung, Strategieaufbau, Maßnah-menplanung und -durchführung, Lobbying so-wie Evaluierung. Während fast alle Bausteineaus der im Band zugrunde gelegten Kampag-nendefinition ableitbar sind, verhält es sich mitLobbying als Baustein anders. So ordnen Auto-ren wie zum Beispiel Lahusen Lobbying Kam-pagnentypen zu. Lobbying wäre bei Lahusencharakteristisch für elite campaigning – im Ge-

Die zunehmende Beschäftigung mit zivilgesell-schaftlichen Kampagnen reflektiert in gewisserHinsicht die steigende Bedeutung von systema-tischer, strategischer Beeinflussung der öffent-lichen Meinung, welche auch vor dem Hinter-grund komplexer werdender Politik in Netz-werken und damit sich verändernder Einfluss-kanäle zu sehen ist. Der strategische Aspekt derBeeinflussung durch Kampagnenkommunika-tion verbindet die drei im Folgenden zu bespre-chenden Publikationen. So versteht sich das pra-xisorientierte Handbuch von Buchner, Fried-rich und Dunkel als Leitfaden für die Planung,Durchführung und Evaluation von zivilgesell-schaftlichen Zielkampagnen. Metzges zeigt inseiner Arbeit eindrücklich am Beispiel der Ver-handlung zum Multilateralen Investitionsschutz-abkommen (MAI), dass NGO-Kampagnen imSinne einer gezielten politischen Einflussnah-me zum Scheitern internationaler Verhandlun-gen beitragen können. Schließlich befasst sichder von Röttger herausgegebene Sammelband„PR-Kampagnen aus mehrperspektivischerSicht mit den Voraussetzungen und der prakti-schen Umsetzung strategischer Kommunikati-on von politischen und politisch aufgeladenenKampagnen.

Kampagnen brauchen Ziele

Anspruch des Bandes von Buchner et al., wel-cher sich an Campaigner und Entscheidungs-träger richtet, ist es, aus der Analyse der subjek-tiv als erfolgreich bewerteten zivilgesellschaft-lichen Kampagnen (zum Beispiel Clean Clo-thes) Erfolgsfaktoren zu gewinnen, um sie inein modulares Bausteinsystem für die Anwen-

Forschungsjournal NSB, Jg. 20, 3/2007

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gensatz zu public campaigning. Demnach istLobbying weniger ein Baustein von Kampag-nen als vielmehr ein bestimmter Kampagnen-typ.

Der Band lebt in erster Linie von illustrati-ven Beispielen und einer einfachen Sprache, sodass er sich als Einstieg in die Kampagnenpra-xis eignet. In einer You-Can-Do-It Rhetorik sindam Ende der ‚Baustein-Kapitel‘ Anleitungs-schritte übersichtlich zusammengefasst; für dieUmfeldanalyse, Ziel- und Zielgruppendefiniti-on sowie Evaluation werden Checklisten be-reitgestellt. Der Serviceteil in Glossarform amEnde des Bandes ist dagegen eher vage gehal-ten. So findet sich beispielsweise unter demStichwort ‚Internet-Aktionen‘ lediglich der Hin-weis, dass diese ,noch viele Reserven für dasCampaigning) böten.‘ Diese Unschärfe ziehtsich auch insgesamt durch den Band, da derBezug zwischen den verschiedenen Teilen nichtimmer explizit dargestellt wird.

Hinzuweisen bleibt noch auf die Statementsverschiedener Akteure aus Wissenschaft, Poli-tik und Zivilgesellschaft am Ende des Handbu-ches, in denen sich differenzierte Aussagen zurZukunft des Campaigning finden. So weist Alt-haus beispielsweise darauf hin, dass Professio-nalisierung für NGOs ‚ein zweischneidigesSchwert‘ sei, da NGOs zum einen Authentizitätund Basisverwurzelung wahren müssten undzum anderen hohe Anforderungen an die Orga-nisation und Qualität der Kampagne gestelltwürden. Althaus zieht daraus den Schluss, dassProfessionalisierungsprozesse innerhalb vonNGOs auch zu Spaltungen führen werden. Auchder Aufbau einer kollektiven Identität würdedurch Allianzen mit anderen Gruppen im Kon-text von Kampagnen eher schwieriger werden.Ähnlich sieht Metzinger Authentizitätswahrungals zentrale Herausforderung, allerdings bedingtdurch Formen des ‚Peer-to-Peer‘ Campaigning,welche durch das Internet nun ermöglicht seien.

Einfluss von Kampagnen

Ähnlich wie Buchner et al. nimmt auch Metz-ges in seiner Dissertation den Erfolg beziehungs-weise das Scheitern von Kampagnen zum Aus-gangspunkt seiner Analyse, wobei er einen an-deren Kampagnenbegriff wählt. Eine NGO-Kampagne beschreibt hier „[…] eine Samm-lung von verbundenen und koordinierten Takti-ken und Strategien, die von einer oder mehrerenNGOs eingesetzt werden, um konkrete politi-sche Ziele in einem abgegrenzten Zeitraum zuadressieren“ (Metzges 2006: 24). dementspre-chend bildet die Beeinflussung der öffentlichenMeinung neben Lobbying und ‚Institutional Le-verage‘ einen möglichen Einflussweg vonNGOs auf internationale Verhandlungen. Da-mit ist der Begriff der Kampagne nicht aus-schließlich an den Öffentlichkeitsbegriff gekop-pelt, wird aber wie bei Buchner et al. und Rött-ger durch eine strategische Ausrichtung charak-terisiert. Ziel der Arbeit ist es, durch den Ver-gleich der Verhandlungen zum MAI (Ziele derMAI-Verhandlung waren erstens eine Liberali-sierung grenzüberschreitender Investitionen,zweitens der Schutz ausländischer Investitio-nen sowie drittens ein Schiedsgerichtverfahren)und zur OECD Anti-Bribery Convention (in-ternationales Abkommen zur Bekämpfung vonBestechung ausländischer Amtsträger im inter-nationalen Geschäftsverkehr) die Rolle vontransnationalen oppositionellen und kooperati-ven NGO-Kampagnen im Hinblick der Beein-flussung des Verhandlungsergebnisses zu be-stimmen.

Die klar strukturierte Arbeit gliedert sichgrob in drei Teile. Im ersten Teil wird die Frage-stellung sowie die Auswahl der Fallbeispieleerläutert, um dann die zentralen Begriffe wie‚NGO-Kampagne‘ und ‚Macht und Einfluss‘zu diskutieren. Aufbauend auf bisherigen An-sätzen zur Wirkungsweise von NGOs (und an-deren Interessensträgern) und unter der Berück-sichtigung veränderter political opportunity struc-

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tures werden in einem weiteren Schritt empiri-sche Teilfragen und Arbeitshypothesen gene-riert. Des Weiteren stellt der Autor sein metho-disches Vorgehen zur Einflussbestimmungtransnationaler NGO-Kampagnen vor. Hierbeiunterscheidet er drei Aspekte der Wirkungsana-lyse: den Zeitvergleich, den arenenübergreifen-den Vergleich (USA, Frankreich und Deutsch-land) und schließlich die Perspektive von Ver-handlungsbeteiligten. Im zweiten Teil steht dieempirische Analyse im Mittelpunkt. Nach derDarstellung des historischen und organisatio-nalen Kontextes beider Verhandlungsprozessewerden die beiden Fallstudien detailliert aufge-arbeitet und entlang der verschiedenen wir-kungsanalytischen Unterscheidungen unter-sucht, um sie darauf fallübergreifend wie folgtzusammenzufassen: „Der unterschiedliche Aus-gang der MAI-Verhandlung im Vergleich zuden OECD-Anti-Bribery-Verhandlungen kanndurch die Existenz beziehungsweise das Fehlenoppositioneller NGO-Kampagnen erklärt wer-den.“ Im dritten und letzten Teil werden nebender Frage nach der Generalisierbarkeit der Er-gebnisse auch ein weiterer Forschungsbedarf –beispielsweise mit dem Verweis auf die UN-Land-minenkonvention, bei der kooperativen NGO-Kampagnen ein großer Einfluss auf das politi-sche Agenda Setting zugesprochen wird – dis-kutiert. In seiner abschließenden Bewertung derKampagnen vor der Folie von Global Gover-nance stellt Metzges bezüglich der demokrati-schen Qualität fest, dass NGO-Kampagnen dannals demokratieverträglich gelten können, wennsie die Fähigkeit zur Herstellung von Öffentlich-keit und der Mobilisierung von Wählern und le-gitimierten Entscheidungsträgern (Parlament)besitzen. Hinsichtlich der Effektivität von Glo-bal Governance zeige sich dagegen ein ambiva-lentes Bild: Einerseits stünden NGOs vor derHerausforderung, im Sinne der Förderung de-mokratischer Steuerungsfähigkeit oppositionel-le Positionen zu besetzen. Andererseits solltensie aber zugleich die Etablierung effektiver de-

mokratischer Verfahren unterstützen, welche ihreEinflussmöglichkeiten begrenzen würden.

Metzges’ Analyse bildet konzeptionell einenguten Ausgangspunkt für weitere größer ange-legte Untersuchungen zum (Miss-)Erfolg ver-schiedener oppositioneller und kooperativerNGO-Kampagnen. Hier gelte es dann auch denUntersuchungsbereich internationaler Verhand-lungen auf den Bereich gesellschaftlicher Selbst-steuerung auszuweiten und oppositionelle undkooperative NGO-Kampagnen einzubeziehen.

Moralisierung undProfessionalisierung

Während Buchner et al. und Metzges Erfolgs-bedingungen und -faktoren zivilgesellschaftli-cher Kampagnen in den Vordergrund stellen,beschäftigt sich der von Ulrike Röttger heraus-gebende Sammelband in seiner überarbeitetenund erweiterten Auflage aus kommunikations-wissenschaftlicher, politischer, soziologischersowie praktischer Perspektive in vielfältigerWeise mit zivilgesellschaftlichen, kommerziel-len und politischen Kampagnen. Insgesamtzeichnet sich der Band durch eine gelungeneAuswahl an Beiträgen aus, welche insbesonderedie „signalökonomischen Gesetze der Kampa-gnenkommunikation kritisch diskutieren unddamit einen roten Faden spinnen.“ Neben demAspekt dramatischer Öffentlichkeitsinszenie-rung wird bereits in der Einleitung der strategi-sche Aspekt kampagnenförmiger Kommunika-tion hervorgehoben: „Unter PR-Kampagnenwerden […] dramaturgisch angelegte, thema-tisch begrenzte, zeitlich befristete kommunika-tive Strategien zur Erzeugung öffentlicher Auf-merksamkeit verstanden […].“

In differenzierter Weise befassen sich die Bei-träge im ersten Teil mit den Bedingungen von(Miss-)Erfolgen. So weisen Saxer und Klausauf die Bedeutung interpersonaler Kommuni-

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kation hin, während Vowe die Komplexität or-ganisationsinterner Kampagnenplanung betontund Koch die Prinzipien von Greenpeace-Kam-pagnen erläutert. Inwiefern Kampagnen das Po-litische transformieren, bildet die übergreifendeFrage des zweiten Teils. Hier legt Leggewie his-torisch und am Beispiel amerikanischer Wahl-kampfkampagnen dar, dass Kampagnenpolitikkein neues Phänomen ist. Daran knüpft die ak-tuelle Analyse von Donges an, welche Kampa-gnen als Ergebnis von ‚globalen Trends‘ wieModernisierung und systemischer Ausdifferen-zierung beschreibt. Arlt und Jarren belegen ingewisser Hinsicht diese These, indem sie amBeispiel des DGB illustrieren, wie heute auchGewerkschaften ihre Kampagnenfähigkeit un-ter veränderten Kommunikationsbedingungenund -umwelten unter Beweis stellen müssen.Christian Nürnberger beschäftigt sich in kriti-scher Weise mit einem weiteren Akteur – derInitiative neue soziale Marktwirtschaft. SeineEvaluationsstudie zeigt, dass die Initiative zwareine hohe Medienresonanz erzeugen konnte,allerdings sei die Zugehörigkeit der in den Me-dien dargestellten Positionen zur Initiative nichtimmer transparent gewesen, was als problema-tisch zu werten sei. Im letzten Beitrag diesesTeils analysiert Müller visuelle Darstellungs-strategien politischer Kommunikation. DieserBeitrag füllt eine zentrale Lücke wissenschaftli-cher Analysen, da er eindrücklich die These dersignalökonomischen Gesetze der Kampagnen-kommunikation und damit die diskussionswür-digen Komplexitätsreduktionen politischerKommunikation aufzeigt. Allerdings knüpft erunter dem Stichwort ‚systemische Entdifferen-zierung‘ von Politik und Konsum eher an dieBeiträge von Donges und Leggewie als an dieEvaluationsstudie von Nürnberger an und hättebesser im vorderen Teil dieses Kapitels platziertwerden sollen. Im dritten Teil des Bandes un-tersuchen die Beiträge von Tielmann und Leo-narz Gesundheitskampagnen unter den Aspek-ten paneuropäischer Kommunikation und Eva-

luation. Mit dem von Röttger bereits einleitendeingeführten Aspekt der moralischen Aufladungvon Kampagnenkommunikation setzen sich dieBeiträge des vierten Teils auseinander. Sarci-nelli und Hoffmann identifizieren organisatori-sche Verortung der PR, Diskursivität und Be-teiligungsoffenheit als Indikatoren zur Überprü-fung der Übereinstimmung von kommunikati-ver Moralisierung und Akteurshandeln. AuchBaringhorst skizziert am Beispiel von Solidari-tätskampagnen das Spannungsfeld professio-neller, strategischer Symbolkonstruktionen undtatsächlicher Handlungsfolgen. Die von Rött-ger eingangs beschriebene Entgrenzung kom-merzieller und zivilgesellschaftlicher Kommu-nikation wird durch die Beiträge von Röttger/Schlichting, Peter und Johannssen am Beispielunternehmerischer Sozialkampagnen vertieft.Abschließend werden im fünften Teil unter-schiedliche Fallstudien – von der KrombacherRegenwald-Kampagne über Imagekampagnenfür die deutsche Sprache bis hin zur GATS-Kampagne von Attac – präsentiert.

Der Band „PR-Kampagnen“ eignet sich gutals Einführung in die Grundlagen von Kampa-gnenkommunikation, da er in einem positivenSinne die zentralen Aspekte von Kampagnen-kommunikation – Strategie- und Medienorien-tierung sowie Moralisierung und Implikationenfür das politische und gesellschaftliche System– versammelt. Auch durch die Integration vonFallstudien aus der Kampagnenpraxis wird einumfassender Überblick geboten.

Dauerhaftigkeit und Authentizität

Gemeinsam ist allen drei Publikationen ein en-ger Kampagnenbegriff, der durch Strategieori-entierung, thematische Fokussierung und zeitli-che Begrenzung gekennzeichnet ist. Dagegenabzugrenzen ist ein weit gefasster Begriff des‚Permanent Campaigning‘ (Bennett), der impli-

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ziert, dass sich Kampagnenziele und -netzwer-ke wandeln können und dass Kampagnenkom-munikation auch langfristig angelegt sein kann.Erfolge sind damit nicht nur in unmittelbarenOutcomes, sondern auch in der kontinuierlichenThematisierungsleistung von Kampagnen zusehen. Neben der zunehmenden Professionali-sierung verweisen aktuelle dialogische und dis-kursorientierte Formen des (web-)campaigningsowie Selbstansprüche von zivilgesellschaftli-chen Akteuren zudem auf die Bedeutung vonAuthentizitätswahrung und Basisverwurzelung,wodurch ein Spannungsfeld zivilgesellschaftli-cher Kampagnenkommunikation eröffnet wird.Johanna Niesyto, Siegen

Besprochene LiteraturBuchner, Michael/Friedrich, Fabian/Kunkel,

Dino (Hg.) 2005: Zielkampagnen für NGO: Stra-tegische Kommunikation und Kampagnenma-nagement im Dritten Sektor, Münster: LIT Verlag.

Metzges, Günter 2006: NGO-Kampagnenund ihr Einfluss auf internationale Verhandlun-gen. Das Multilateral Agreement on Investment(MAI) und die 1997 OECD Anti-Bribery Con-vention im Vergleich, Baden-Baden: Nomos.

Röttger, Ulrike (Hg.) 2006: PR-Kampagnen.Über die Inszenierung von Öffentlichkeit, Wies-baden: VS Verlag.

Wie exzellent ist dieÖffentlichkeitsarbeit von NGOs?

Mit der internen Organisation von Nichtregie-rungsorganisationen (NGOs) und mit der Funk-tion, die die Öffentlichkeitsarbeit dabei über-nimmt, beschäftigt sich das Buch von KathrinVoss. ,Meist werde nur das Output der Öffent-lichkeitsarbeit untersucht, selten aber, wie dieseÖffentlichkeitsarbeit entsteht, welche Prozesseintern ablaufen, um die außen sichtbare Öffent-lichkeitsarbeit herzustellen und inwieweit sich

NGOs tatsächlich in ihrer Öffentlichkeitsarbeitprofessionalisiert haben’ (14f.). Über diese Vor-gänge gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis-se zu erhalten, ist das Ziel der Studie von Kath-rin Voss. Deshalb hat sie die Arbeit bewusstexplorativ angelegt.

Das Excellence-ModellVoss bedient sich dabei auch Theorien und Ka-tegorien der PR-Forschung zu kommerziellenOrganisationen. Sie greift auf die so genannten‚Excellence-Faktoren‘ aus der Werbeforschungzurück. Diese gehen zurück auf eine Studie derInternational Association of Business Commu-nicators in den 1990er-Jahren, die den Stellen-wert und die Erfolgsbedingungen von Öffent-lichkeitsarbeit und interner Kommunikation er-forschen wollte. Dabei ging es zum einen umdie Effektivitätsfrage, darum ‚wie, warum undin welchem Umfang das Management der Kom-munikationsaktivitäten einen Beitrag zur Errei-chung von Organisationszielen leistet‘ (62).Und es ging darum, wie sich dieser Beitrag fi-nanziell bewerten lässt. Gestellt wurde aber auchdie ‚Exzellenzfrage, wie die Kommunikations-funktion organisatorisch und programmatischausgestaltet werden muss, damit die bestmögli-che Effektivität erreicht wird‘ (63). Dabei gin-gen die Autoren von der grundlegenden Annah-me aus, dass Öffentlichkeitsarbeit die Effekti-vität einer Organisation erhöht, wenn die PRauf langfristige Beziehungen mit strategischenBezugsgruppen abzielt und Vertrauen und Ver-ständnis herstellen will‘ (62).

Umweltorganisationen aus Deutsch-land und den USA im VergleichIm Folgenden wendet Kathrin Voss diese Krite-rien für ihr Forschungsprojekt an. Die Untersu-chung ist vergleichend angelegt und umfasstNGOs in den USA und in der BundesrepublikDeutschland. Dabei konzentriert sich Voss aufden Bereich des Umwelt-, Natur- und Tierschut-zes. Hier führte die Autorin in einem ersten

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Schritt eine schriftliche Befragung durch, an-hand der sie zunächst Grunddaten wie das Grün-dungsdatum, die Mitgliederstärke, die Zahl derMitarbeiter, die Einnahmequellen und die Or-ganisationsstruktur sammelte. In Deutschlandwie in den USA schrieb sie 45 Organisationenan. Aus Deutschland antworteten 27, aus denUSA 31. In einem zweiten Schritt befragte siedie Umweltorganisationen zu Zielen und Mit-teln der Öffentlichkeitsarbeit. Als Hauptmotivewurden dabei die Mobilisierung der Bevölke-rung, das Setzen von Themen auf der öffentli-chen Agenda und die Beeinflussung von Ent-scheidungsträgern in Politik und Wirtschaft ge-nannt. Dabei setzen die Umweltorganisationenvor allem auf das Verfassen von Pressemittei-lungen, die direkte Ansprache von Journalistenund das Erstellen von Informationsmaterial.Hier überwiegen die Übereinstimmungen zwi-schen den USA und Deutschland: Für die Or-ganisationen beider Länder ist es wichtig, dassdie Öffentlichkeitsarbeit wie im Excellence-Modell angedacht strategisch gemanagt wird.Allerdings lösen nur 33 Prozent der deutschenund nur 22 Prozent der amerikanischen Ein-richtungen diesen Anspruch auch wirklich ein,wie Voss bei der Frage nach den Entscheidungs-kompetenzen herausarbeitet.

Zentral für die Arbeit der Umweltorganisati-onen sind die Kampagnen, bei denen sich dieOrganisatoren ähnlicher Mittel bedienen wie beider Öffentlichkeitsarbeit. Auch die Nutzungneuer Medien spielt eine wichtige Rolle für dieArbeit. Allerdings nutzen die meisten der Be-fragten das Internet nur als Einbahnstraße. Siebieten alle eine eigene Homepage an, die Infor-mationen für Mitglieder und Interessierte bein-haltet. Viele deutsche Organisationen haben aucheinen eigenen Bereich für die Presse. In denUSA sind zudem frei abonnierbare Newsletterein beliebtes Mittel, das in Deutschland aller-dings nur von der Hälfte der befragten Einrich-tungen genutzt wird. Möglichkeiten der Inter-aktion wie Chats oder Online-Umfragen ste-

cken noch in den Kinderschuhen. Von einersymmetrischen Zwei-Wege-Kommunikation,wie sie das Excellence-Modell fordert, könnenicht die Rede sein.

Den Einsatz externer Berater beschränkendie meisten Organisationen auf den technischenBereich, etwa auf die Betreuung der Homepa-ge. Und auch bei der Evaluation von PR-Maß-nahmen und Kampagnen sind die Einrichtun-gen noch zu zurückhaltend, um die Kriteriendes Excellence-Modells zu erfüllen.

Ein weiterer Fragenkomplex dreht sich umdie interne Kommunikation von Mitarbeiternund Mitgliedern, die ebenfalls Teil des Excel-lence-Modells ist. Dabei stellte Voss fest, dassdie Mitarbeiterkommunikation sowohl inDeutschland als auch in den USA in erster Li-nie Sache des Vorstandes beziehungsweise derGeschäftsführung ist. Dabei dominieren diepersönlichen Treffen. Indirekte Mittel wie E-Mail, Mitarbeiterzeitschrift oder Intranet wer-den nicht so häufig genutzt. An der Kommuni-kation mit den Mitgliedern ist die Organisati-onsleitung ebenfalls beteiligt. Allerdings küm-mern sich darum auch die Öffentlichkeitsarbeitoder spezielle Fachabteilungen. Sie legen dieSchwerpunkte sowohl in den USA als auch inDeutschland auf die Homepage und die klassi-sche Mitgliederzeitschrift. Voss sieht die Krite-rien des Excellence-Modells nur teilweise er-füllt. ‚Die Tatsache, dass die Öffentlichkeitsar-beit kaum eine Rolle bei der internen Mitarbei-terkommunikation spielt, ist zum einen ein In-dikator dafür, dass die Öffentlichkeitsarbeit dieRolle als boundary spanner nicht institutionali-siert innehat. Zum anderen ist darin aber auchein Widerspruch zu dem Verständnis der Öf-fentlichkeitsarbeit als umfassende Kommuni-kationsfunktion zu sehen‘, stellt sie fest (117).Innerhalb der Mitgliederkommunikation spieledie Öffentlichkeitsarbeit dagegen eine größereRolle und es würden auch Mittel genutzt, dieeinen Dialog ermöglichen, etwa Versammlungenoder die individuelle Beratung von Mitgliedern.

Literatur

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Die wachsende Bedeutung der Öffentlich-keitsarbeit wird auch an den steigenden Etatsdeutlich, die Voss abgefragt hat und an der Pro-fessionalisierung des Personals. Knapp dieHälfte der deutschen Organisationen hatmindestens eine hauptberuflich tätige Kraft inder Öffentlichkeitsarbeit. Mindestens ein Mit-arbeiter sollte auch einen Hochschulabschlusshaben und die Arbeit der Organisation regelmä-ßig evaluiert werden. In den USA dagegen istder Anteil an Mitarbeitern mit einem Hochschul-abschluss deutlich höher als in Deutschland.Deshalb werden die amerikanischen Einrich-tungen eher dem Excellence-Modell gerecht alsdie deutschen. Zur Gleichbehandlung von Mannund Frau, einem weiteren Faktor des Modells,lässt sich keine klare Aussage treffen. Zu beob-achten ist allerdings, dass der Anteil der Frau-en, die in der Öffentlichkeitsarbeit beschäftigtsind, höher liegt als der der Männer.

Sechs FallstudienVerfeinert werden die Ergebnisse durch sechsFallstudien. Voss untersucht dabei aus Deutsch-land Greenpeace, den WWF und die DeutscheWildtier Stiftung. Aus den USA hat Voss dieNational Audubon Society, den Sierra ClubMassachusetts und American River ausgewählt.Die Fallstudien basieren dabei auf Interviews,Hintergrundgesprächen, beobachtender Teilnah-me und der Auswertung von internen Papieren,soweit diese der Autorin zur Verfügung gestelltwurden.

Greenpeace typologisiert Voss als eine Or-ganisation, die den öffentlichen Konflikt alsStrategie einsetzt. Die Öffentlichkeitsarbeit wirddabei strategisch von der Führung der Organi-sation geplant. Dabei akquiriert sie ein hohesSpendenaufkommen. Gleichzeitig werden Eh-renamtliche aber nur gering in die Entschei-dungsprozesse eingebunden. Von einer symme-trischen Kommunikation kann also nicht dieRede sein. So zeigt sich für Voss, dass sichmanche Faktoren des Excellence-Modells nur

bedingt auf NGOs übertragen lassen, die Druckauf andere Akteure wie beispielsweise Unter-nehmen machen wollen.

Der WWF hingegen fährt eine andere Stra-tegie: Er setzt auf Kooperation, auch mit Unter-nehmen und der Wirtschaft, wenn es dem Ar-tenschutz nützt. Damit entspricht er eher derIdealvorstellung des Excellence-Modells. Mitder Deutschen Wildtier Stiftung hat sich Vosseine kleine Organisation ausgesucht, die sichum den Schutz von Wildtieren kümmert unddeshalb Wissen über die Tiere und deren Pro-bleme vermitteln will. Um die Probleme zu lö-sen, betreibt die Stiftung Lobby-Arbeit und wirbtSpenden ein. Die Anwendung des Excellence-Modells ist hier nur bedingt möglich, da es sichum eine kleine Organisation mit begrenzten fi-nanziellen und personellen Möglichkeiten han-delt. Dennoch findet sich eine verhältnismäßiggroße Übereinstimmung mit den gefordertenFaktoren.

In den USA hat sich Voss zunächst mit derNational Audubon Society auseinander gesetzt,einer der größten Umweltorganisationen in denUSA. Sie wurde zunächst zum Vogelschutz ge-gründet, weitete dann jedoch ihre Aufgaben aus.Die Organisation lässt sich bis heute als kon-servativ bezeichnen. Den Vorgaben des strate-gischen Managements entspricht die Organisa-tion nur ganz bedingt. Zwar gibt es einen strate-gischen Plan, doch der wurde kaum umgesetzt.In der Öffentlichkeitsarbeit selbst befanden sichengagierte und kompetente Leute, doch diesefühlten sich von der Organisationsleitung nichternst genommen und kündigten deshalb. Sokommt Voss zu dem Schuss, dass es sich hierum ein Negativ-Beispiel handelt, weil die Orga-nisation ihre Potenziale nicht nutzt. Auch beimSierra Club Massachusetts handelt es sich umeine der großen Umweltorganisationen in denUSA. Sie hat einen professionellen Teil mithauptamtlichen Mitarbeitern, aber auch vieleEhrenamtliche, die in die Arbeit eingebundenwerden. Sie setzen die Themen und können sich

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in bestimmte Projekte mit einbringen. Das gingjedoch nicht ohne interne Konflikte über dieAusrichtung der Organisation über die Bühne.Hier zeigt sich, dass die Excellence-Faktorenauf eine so stark partizipatorisch ausgerichteteOrganisation ebenfalls nur bedingt anzuwen-den sind, da ein strategisches Management mitso vielen Beteiligten nur schwer möglich ist.

Als letztes untersuchte Voss die Organisati-on American Rivers, die sich vor allem um denErhalt natürlicher Flussläufe zum Wohle desMenschen kümmert. Die Organisation setztdabei auf die Zusammenarbeit mit anderen Um-weltorganisationen und ist damit mehr an Dia-log als an Konfrontation orientiert. Sie verfügtüber einen strategischen Plan, der sich über fünfJahre erstreckt und erfüllt damit einen weiterenwesentlichen Excellence-Faktor.

Was nützt das Excellence-Modell?Voss kommt abschließend zu dem Befund, dasssich die meisten Excellence-Faktoren auf NGOsanwenden lassen. Vor allem die strategische Pla-nung als Zeichen der Professionalisierung unddie Ausrichtung der Öffentlichkeitsarbeit auf dieMedien arbeitet sie heraus. Zugleich macht sieaber auch die Problematik deutlich, dass die PR-Forschung sich auf kommerzielle Organisatio-nen beschränkt, deren Ziele in der Öffentlich-keitsarbeit von denen der NGOs abweichen undsomit nur bedingt vergleichbar sind. Hier wirddie Beschränkung, die sich Voss selbst aufge-geben hat, zum eigenen Hemmschuh. Sie unter-sucht die internen Abläufe, klopft diese letztlichaber nicht auf ihre Wirkung und ihren Erfolghin ab. Hier hätte sie noch einen Schritt weitergehen und den NGOs eventuell auch Tipps zurVerbesserung der Öffentlichkeitsarbeit an dieHand geben sollen. Denn ob es der Öffentlich-keitsarbeit nun gelingt, die Medien anzuspre-chen und den Hebel bei der Politik anzusetzen,beantwortet sie nicht.

Karin Urich, Mannheim

Besprochene LiteraturVoss, Kathrin 2007: Öffentlichkeitsarbeit

von Nichtregierungsorganisationen. Mittel –Ziele – interne Strukturen. Wiesbaden: VS Ver-lag.

Neue Akteure der nationalen undinternationalen Politik

Längst überfällig war diese Einführung vonChristiane Frantz und Kerstin Martens zumThemenfeld der NGOs, in der übersichtlich undallgemeinverständlich geklärt wird, woher derBegriff kommt und wie NGOs charakterisiertwerden können. Entgegen dem Titel Lehrbuchhandelt es sich um eine kompakte, kurz gefassteÜbersicht, die dem hohen Lesepensum prü-fungsgeplagter Studierender sehr entgegen-kommt. Dazu wird die Geschichte der NGOserläutert und ihre Funktion in Politik und Ge-sellschaft sowie ihre Organisationsstrukturenbeleuchtet.

Einstieg in die BegriffsdefinitionEin erster Einstieg in die Begriffsgeschichte desKürzels erfolgt anhand einer Auseinanderset-zung mit jedem einzelnen Buchstaben: das Nsteht für die gesellschaftliche Sphäre. Die Ge-winne, die die NGOs einwerben, müssen invollem Umfang der Zielorientierung der Orga-nisation zugute kommen und dürfen weder derOrganisation, noch dem Personal ausgeschüttetwerden. Die Organisationen betreiben keine di-rekte Klientelpolitik, sondern vertreten Anlie-gen für andere Menschen oder Gemeinwohl-themen.

Die Diskussion um das G im Kürzel führtdie beiden Autorinnen zur Erkenntnis, dass esden Organisationen nicht darum geht, staatlicheMacht zu erlangen. Stattdessen zielen NGOsdarauf, zivilgesellschaftliche Unterstützung undmediale Wahrnehmung zu erlangen. Was die

Literatur

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staatliche Unabhängigkeit anbelangt, so gestal-tet sich das Feld etwas schwieriger, denn derGroßteil der Organisationen erhält zum Teil er-hebliche finanzielle Unterstützung vom Staat.

Das O schließlich weist auf die organisato-rische Struktur hin, denn die NGOs haben inder Regel einen Hauptsitz und einen festen Stabvon MitarbeiterInnen. Die Mitglieder beteiligensich in der Regel nicht mehr durch ehrenamtli-che Arbeit, sondern durch finanzielle und ideel-le Unterstützung. Der rechtliche Status vonNGOs wird in erster Linie auf nationaler Ebe-ne, das heißt in Absprache mit den Staaten undin der Folge dann mit den internationalen Orga-nisationen festgelegt. Um von der UNO offizi-ell als NGO anerkannt zu werden, müssen siediverse organisatorische Kriterien erfüllen. DieseKriterien wurden im Zuge der stark wachsen-den Teilnahme von NGOs an den Weltkonfe-renzen angepasst und von der Union of Interna-tional Organizations (UIA) dokumentiert.

Genuine NGOs und AbweichlerFrantz und Martens unterscheiden zwischen sogenannten genuinen NGOs und NGO-Ab-weichlern. Als genuine NGOs bezeichnen siediejenigen NGOs, deren Entstehungsgeschich-te, Finanzierung und Mitgliedschaft ausschließ-lich auf Privatpersonen zurückzuführen ist. DieOrganisationen tragen sich allein aus eigenenMitteln und nehmen keine öffentlichen Mittelan. Zwei Typen von genuinen NGOs werdenhervorgehoben: Transnationale soziale Bewe-gungsorganisationen und NGOs. Hier weist dieAnalyse einige Lücken auf, sind doch die Un-terscheidungskriterien zwischen sozialen Bewe-gungen und NGOs nur in einer sehr differen-zierten Analyse möglich und können ohne tiefergehende Bezüge zur Bewegungsforschung undzum Zivilgesellschaftsdiskurs (vgl. Klein 2000)nur unzureichend erklärt werden. Neben denschon genannten Gruppen gibt es noch dieNGO-Abweichler, mit denen solche NGOs er-fasst werden, die staatliche Mitglieder haben

beziehungsweise auf staatliche Initiative gegrün-det wurden und zu großen Teilen von staatlicherSeite finanziert werden.

In einem Lehrbuch sollte keine Definitionfehlen, demzufolge bieten Frantz und Martenseine idealtypische Definition an: NGOs sindformale (professionalisierte), unabhängige ge-sellschaftliche Akteure, deren Ziel es ist, pro-gressiven Wandel und soziale Anliegen auf dernationalen und der internationalen Ebene zu för-dern“ (49f.). Interessant gewesen wäre an die-ser Stelle eine Auseinandersetzung, warum dielokale Ebene ausgeklammert wird.

Tendenz zur ProfessionalisierungIn NGOs lässt sich seit den 1990er Jahren dieTendenz beobachten, dass der Grad der Spezia-lisierung der Tätigkeiten zunahm und das Eh-renamt zu Gunsten der Hauptamtlichkeit imKerngeschäft zurückgedrängt wurde. In derFolge entwickelten sich viele NGOs hinsicht-lich ihrer Arbeitsprozesse in Richtung unter-nehmensähnliche Organisationen. In einemKapitel des Buches mit dem Titel: ‚InsideN-GOs – Geschichte, Funktionen, Professionali-sierung‘ wird nicht nur den historischen Wur-zeln nachgespürt, sondern auch Informationenüber Personalmanagement und Einstellungskri-terien präsentiert. Derlei Informationen findetman in anderen NGO-Büchern nur äußerst sel-ten. Deshalb dürfte das Buch einen breiterenLeserkreis aus der Praxis ansprechen.

Zu den Aufgabenbereichen von NGOs ge-hören für Frantz und Martens die Themenset-zung (agenda setting), die Themenanwaltschaft(advocacy), Lobbying, Expertise und Projekt-arbeit. Die Öffentlichkeitsarbeit (Kampagnen),die einen wesentlichen Aufgabenbereich vonNGOs darstellt, wird in einem gesondertenKapitel aufgegriffen, in dem der Einfluss vonNGOs vor allem auf ihre Medienpräsenz durchgroß angelegte Kampagnen zurückgeführt wird.Dieser Einfluss kann in der Folge zu einer Me-dienabhängigkeit führen, die die Gefahr in sich

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birgt, dass die Kriterien und Regeln der Medienübernommen werden: In diesem Sinne werdengezielte Inszenierungen von NGOs durchausauch kritisch gesehen.

NGOs und GlobalisierungDas vierte Kapitel geht auf die besondere Rollevon NGOs in der internationalen Politik bezie-hungsweise ihrer Aktivitäten im Kontext derGlobalisierung ein. Im Diskurs um Global Go-vernance gewinnen NGOs an Bedeutung undwerden als ein sichtbarer und aktiver Teil derinternationalen Politik herausgestellt, wenn aucheher in den so genannten ‚soft issues‘ wie derUmwelt- und Entwicklungspolitik, der Men-schenrechte und der Friedensarbeit. Ein beson-deres Augenmerk wird auf die NGO-Aktivitä-ten im System der UNO gelegt, in dem dieNGOs die Möglichkeiten der Einflussnahme,insbesondere durch Zulieferung von Informati-onen, nutzen.

Neben der internationalen Ebene wird auchdas Mehrebenensystem der EU als besondersrelevant für NGOs herausgestellt, da die natio-nalen Politikakteure häufig nur noch die nachge-ordneten Umsetzer der Brüsseler Rahmenvorga-ben sind. Demzufolge bilden sich auf EU-Ebeneimmer mehr NGO-Netzwerke. Insgesamt, soschlussfolgern die beiden Autorinnen, wird dieWirkung des politischen Lobbying von NGOsin Brüssel allerdings tendenziell überschätzt: dieChancen und Grenzen von NGOs auf EU-Ebe-ne variieren, je nach konkreter politischer Situa-tion und Politikfeld und je nach Akteurskonstel-lation. Anders wird von Frantz und Martens derEinfluss auf internationaler Ebene eingeschätzt.Dort sehen sie die NGOs als unverzichtbarenTeil von Global Governance an. Ebenso wirdden NGOs auf der nationalen Ebene ein festerPlatz im politischen Prozess zugewiesen.

Das Lehrbuch bietet jede Menge interessan-ter Infokästen, die entweder die umfangreichenInformationen übersichtlich zusammenfassenoder aber Beispiele präsentieren. Den beiden

Autorinnen ist es in hervorragender Weise ge-lungen, eine knappe und gut lesbare Übersichtüber die neuen Akteure der nationalen und in-ternationalen Politik zu präsentieren.

Heike Walk, Berlin

Besprochene LiteraturFrantz, Christiane/ Martens, Kerstin 2006:

Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Wies-baden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Verwendete LiteraturKlein Ansgar 2000: Der Diskurs der Zivil-

gesellschaft, Opladen: Leske + Budrich.

Wie demokratisch ist direkteDemokratie?

Die Frage nach der Funktionstüchtigkeit vonDemokratie wird auch in der heutigen Zeit immerwieder gestellt. Dazu gesellt sich die Frage, wiedemokratisch die Demokratie denn nun tatsäch-lich beschaffen ist – vor allem, wenn sie alsMassendemokratie über Repräsentationskanäleauf den Wahlakt, mit dem die Entscheidungsträ-ger gewählt werden, reduziert ist. Oftmals wirdder Ruf nach direkter Demokratie beziehungs-weise nach direktdemokratischen Elementen laut,will man die vermeintlich wenig demokratischenStrukturen repräsentativer Demokratien stärkeran die Bürgerinnen und Bürger zurückbinden –also demokratisieren.

Doch auch hier sind unterschiedliche Aus-prägungen des institutionellen Aufbaus und derinhaltlichen Ausgestaltung direkter Demokratiemöglich, weswegen ebenso die Frage gestelltwerden kann, wie demokratisch direkte Demo-kratie überhaupt ist. Genau dies tut Lutz Hagerin seinem gleichnamigen Buch, welches im VS-Verlag erschienen ist. Dabei geht es ihm jedochnicht um eine Messung der Demokratie anhand

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festgelegter Indizes, auch nicht um einen Ver-gleich verschiedener Formen direktdemokrati-scher Prozesse. Vielmehr möchte Hager einenBeitrag leisten zu einer „Wachstumstheorie derDemokratie“.

Wachstumstheorie der DemokratieAusgangspunkt von Hagers Überlegungen istdie Annahme, dass gesteigerte Partizipation derBürgerinnen und Bürger zur ‚Demokratisierungder Demokratie‘ beitragen kann, ohne das Sys-tem als solches ineffizient werden zu lassen (wiees beispielsweise noch Mitte der 1990er JahreRobert A. Dahl vermutete). Hagers These ist,„dass sich erstens eine Wachstumsdynamik po-litischer Partizipation entfalten kann, diezweitens nicht auf Kosten der Qualität politi-scher Entscheidungen geht. Partizipation er-scheint dann […] als Mittel zur Erzeugung po-litischer Entscheidungen wie als normativ aussich selbst begründeter Zweck, bringt nach die-ser Überlegung weitere Partizipation(sbereit-schaft) hervor, bleibt aber dabei insofern syste-misch effektiv, als dass die Qualität der Ent-scheidungen durch die erhöhte Partizipation ge-steigert und die Entscheidungen selber besserlegitimiert sind.

Hager betrachtet in seiner UntersuchungVolksinitiativen, die als direktdemokratischeElemente eine adäquate Basis für die Überprü-fung des Wachstumszirkels bieten. Anhand zwei-er Fallbeispiele aus der kalifornischen Umwelt-schutzbewegung versucht er, Möglichkeiten undEinschränkungen der wachstumstheoretischenAnnahmen herauszuarbeiten.

Die kalifornische Umweltschutzbewegungeignet sich für diese Untersuchung in besonde-rem Maße: Zum einen ist der Umweltschutz inKalifornien, bevölkerungsreichster und wirt-schaftsstärkster Bundesstaat der USA, schonsehr lange ein politisch relevantes Themenfeldund Umweltschutzbewegungen sind hierbesonders aktiv. Zum anderen gilt das politi-sche System Kaliforniens neben dem der

Schweiz als das mit den meisten direktdemo-kratischen Elementen.

Dynamische RepräsentationsprozesseVolksinitiativen spielen in Kalifornien inzwi-schen eine so bedeutende Rolle, dass Hager vonihnen gar als „wichtigste[r] Instanz des kalifor-nischen Regierungssystems“ (102) spricht.Volksinitiativen sind allgemein verbindlicheVolksabstimmungen über Gesetzesvorhaben, dievon Bürgern oder Organisationen initiiert wer-den, also parallel zum ‚offiziellen‘ parlamenta-rischen Prozess der Gesetzgebung stattfinden.Nun geht es Hager nicht um eine Untersuchungdieser ‚zusätzlichen‘ Teilnahmemöglichkeit aneiner Abstimmung, sondern hauptsächlich umdie im Vorfeld der Abstimmung laufenden Qua-lifizierungsverfahren, die mit weitreichenderMobilisierung und damit erhöhter Partizipationeinhergehen: In einem ersten Schritt wird einGesetzesvorschlag ausgearbeitet, welcher in ei-nem zweiten Schritt über eine Unterschriften-sammlung qualifiziert werden muss, damit ineinem dritten Schritt darüber abgestimmt wer-den kann. Vor allem Schritt zwei und drei gehenmit groß angelegten Mobilisierungsversucheneinher und geraten dementsprechend in denFokus der Untersuchung. Umweltschutzgrup-pen fungieren als organisatorischer Kern derInitiative, in deren Verlauf es zu themenspezifi-schen Repräsentationsprozessen kommt.

Die daraus resultierenden Repräsentations-beziehungen spielen in den Überlegungen zumWachstumszirkel eine besondere Rolle. In Ha-gers Überzeugung gehen sie weit über Reprä-sentationsbeziehungen in parlamentarischenProzessen hinaus, weil sie dynamisch angelegtseien. Es gebe keine starren Festlegungen aufRepräsentierte und Repräsentanten. Im Gegen-teil: Es gebe hier häufige Rollenwechsel. Darausentstünden besondere Kommunikationsprozes-se, die zu einer Aktivierung großer Gruppenvon Bürgerinnen und Bürgern führten undbestenfalls in langfristiger Mobilisierung und

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Unterstützung mündeten. Resultat sei eine Formder dauerhaften Beteiligung, die über einen ein-maligen Wahlakt oder die einmalige Unterstüt-zung durch eine Unterschrift weit hinausreiche.Über solche vielfachen dynamischen Repräsen-tationsprozesse würde nun die Input-Qualitätder Entscheidungen gestärkt, ohne das Systemineffektiv werden zu lassen; darüber hinauswerde durch die weitgehenden Mobilisierun-gen die Mitarbeit in Interessengruppen verstärktund damit die Partizipation der Bürgerinnen undBürger gesteigert – und damit kann der Wachs-tumszirkel erfüllt werden.

Tatsächliches Wachstum?Führen die Volksinitiativen und die inhärentenKommunikationskanäle nun zu einem tatsächli-chen demokratischen Wachstum? Auch Hagerbleibt skeptisch. Zwar sieht er die Wachstums-theorie grundsätzlich belegt, attestiert aber aucheine Notwendigkeit zur Differenzierung. Es blei-be eine Lücke zwischen einfacher Mobilisie-rung und tatsächlicher dauerhafter Partizipati-on; vielfach sei es auch in außerparlamentari-schen Politikprozessen eine kleine Anzahl vonprofessionalisierten Aktiven, die ohne breiteBeteiligung größerer Bevölkerungsgruppen dieInitiativen durchführen. Dies lasse sich vor al-lem in der jüngeren Zeit aufzeigen, in denen dieKampagnen zu Initiativen professionell gesteu-ert seien und ohne ein beträchtliches Budgetkaum mehr Erfolgschancen hätten. Ebenso kon-zediert Hager, dass der Erfolg von Mobilisie-rungsversuchen stark vom jeweiligen gesell-schaftlichen und zeitlichen Kontext abhängigsei, mithin ,Mobilisierungsstrategien an ein Zu-sammenfallen günstiger Bedingungen geknüpf-tizipationssteigerungen sind also nicht feststell-bar. ‘

Dennoch hält Hager letztlich – wenn auchvorsichtig – am Wachstumsmodell fest, wel-ches er an direktdemokratische Mechanismenknüpft: „Volksinitiativen sind – unter günstigenBedingungen – ein Mobilisierungsinstrument

und sie können so die jedoch nur in Ansätzeneingelöste Erwartung, so ausgestaltet werden,dass politische Beteiligung in Interessengrup-pen steigt.

Hager bietet mit diesem kenntnisreichenÜberblick eine anschauliche Untersuchung di-rektdemokratischer Prozesse und ihrer Auswir-kungen auf das Mobilisierungs- und Partizipa-tionsverhalten der Beteiligten. Allerdings wer-den in der Untersuchung einige erstaunliche Be-sonderheiten des kalifornischen Rechts, die ge-rade in Hinblick auf ihre demokratietheoreti-schen Implikationen relevant erscheinen, nur amRande beleuchtet. So kann in den durch Volks-initiativen entstandenen Gesetzen festgelegtwerden, dass diese wiederum nur durch eineVolksinitiative verändert oder abgeschafft wer-den können. Dies ist natürlich vorteilhaft fürdie Dauerhaftigkeit der gefassten Beschlüsse,führt aber dazu, dass diese Politikbereiche demnormalen parlamentarischen Politikprozess ent-zogen werden, die vom Volk gewählten Reprä-sentanten in diesen Bereichen also keine Ein-flussmöglichkeit mehr besitzen. Eine solcheEntwicklung lässt sich beispielsweise in gro-ßen Teilen der kalifornischen Steuergesetzge-bung oder auch im Umweltschutzbereich beob-achten. Schaut man auf die personellen und fi-nanziellen Ressourcen, die für den Erfolg einerVolksinitiative inzwischen notwendig sind, wirddeutlich, dass ein gleicher Zugang zu diesemdirektdemokratischen Element nicht gegebenund eine mögliche Instrumentalisierung für par-tikulare Interessen durchaus im Bereich desMöglichen liegt, was demokratietheoretisch na-türlich hochproblematisch ist.

Lutz Hager legt ein Buch vor, das mit einerinteressanten theoretischen Blickrichtung dieVolksinitiative als direktdemokratisches Instru-ment untersucht. Die detailgenaue Aufarbeitungder kalifornischen Umweltschutzbewegung undder untersuchten Kampagnen sind lesenswerteBeispiele für die Erfolgsbedingungen von Initi-ativen; etwas weniger detailreich hätte demge-

Literatur

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genüber der überbordende Fußnotenapparatausfallen können. Die aus den Fallstudien ge-wonnenen Schlüsse für die Demokratietheoriesind zumeist plausibel, wenn auch immer vor-aussetzungsreich. Dies spiegelt sich auch imeher zaghaften Fazit des Autors wider, der nurmit großer Vorsicht eine Bestätigung der Wachs-tumstheorie vornimmt. Ein anschauliches Plä-doyer für direktdemokratische Elemente in par-lamentarischen Demokratien ist das Buchallemal, denn die im Titel des Buches gestellteFrage beantwortet Hager mit dem Schluss, dass„direkte Demokratie tatsächlich demokratischerals parlamentarische“ ist (256).

Jan Rohwerder, Aachen

Besprochene LiteraturHager, Lutz 2005: Wie demokratisch ist di-

rekte Demokratie? Eine Wachstumstheorie derDemokratie – Volksinitiativen in Kalifornien,Wiesbaden: VS.

ANNOTATIONEN...................................................................................................................................

HÜTTNER, BERND (HG.)Verzeichnis der Alternativmedien.Zeitungen und Zeitschriften.Neu-Ulm: AG SPAK Bücher 2006.

Nach 15 Jahren legt Bernd Hüttner, Gründerdes Archivs der sozialen Bewegungen in Bre-men, wieder ein Verzeichnis der Alternativme-dien vor. Es enthält 455 Adressen alternativerPrintmedien. In der Vorauflage des Jahres 1991waren es noch 1251 Adressen. Nicht nur andiesem Faktum macht Hüttner eine Krise deralternativen Printmedien aus. Als alternativ gel-ten für ihn nicht automatisch alle Druckerzeug-nisse mit alternativen Inhalten. Sie müssen viel-mehr auch bei den ökonomischen Grundlagen,der Organisation des Produktionsprozesses unddem verlegerischen wie journalistischen Selbst-verständnis alternativen Grundsätzen folgen

(14). Und das glückt in Zeiten, in denen dasGeld auch bei alternativ Gesinnten nicht mehrso locker sitzt, immer weniger Projekten. Doches sind nicht nur die finanziellen Zwänge undsinkenden Abo-Zahlen der Druckerzeugnisse,die Hüttner benennt. Auch die Bereitschaft, sichehrenamtlich in die häufig sehr zeitintensivenProjekte einzubringen, schwindet. Und als drit-ten Grund führt Hüttner die Konkurrenz durchdas Internet an, in dem alternatives Gedanken-gut zumindest kostengünstiger verbreitet wer-den kann als in gedruckter Form. Ob wirklichmehr Menschen erreicht und mobilisiert wer-den können, lässt er offen.

Neben dem Adressverzeichnis bietet dasBuch auch einen redaktionellen Teil, in dem sichtheoretische Einführungen ebenso finden wiepraktische Beispiele aus der alternativen Pres-se. Bernd Hüttner selbst erklärt zunächst einmaldie Kriterien, die er an alternative Medien an-legt und wagt einen Ausblick in die ungewisseZukunft der Alternativmedien. Gottfried Oyuntersucht in seinem Beitrag ‚Lebenswelt Ge-genöffentlichkeit‘, inwieweit es sozialen Bewe-gungen noch gelingt, eine Gegenöffentlichkeitherzustellen. Denn er glaubt nur an einen Er-folg von alternativer Öffentlichkeit, wenn es auchglückt, diese Medientheorie in eine Gesell-schaftstheorie und -praxis umzusetzen. Genos-senschaftlich organisierte Zeitungen wie dieSchweizer WOZ und die taz untersucht Burg-hard Flieger. Dabei schildert er das Spannungs-feld zwischen ökonomischen Zwängen und denFreiräumen, die die Anteilseigner ihren Macherneinräumen, weil sie nicht (nur) auf Profit set-zen, sondern auch auf politische Wirkung derBlätter. Aus der Praxis plaudern die weiterenAutoren. Knut Andresen, Markus Mohr undHartmut Rübner werfen ein paar Schlaglichter auf die Geschichte der Zeitschrift ‚Agit 883‘,die 1969 bis 1972 in Berlin-Kreuzberg erschienund zum Schluss ins Zwielicht der RAF geriet.Gisela Notz erzählt aus der Praxis der feminis-tischen Zeitschrift ‚Courage‘, die in jeder Hin-

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sicht eine Alternative zur kommerziellen undganz auf Alice Schwarzer ausgerichteten ‚Emma‘bieten wollte. Dieter Moldt schildert mit dem‚mOAning star‘, welche Möglichkeiten es imkirchlichen Raum in der DDR gab, publizis-tisch tätig zu sein. Andi Kutner schildert dieGeschichte der Fanzines, einer Art alternativerCollagen. Lena Laps berichtet von der Zeitschrift„Ihrsinni“, deren Bericht leicht optimistisch en-det, der Schlussakkord dann aber zeigt, dasssich die Zeitschrift doch nicht weiter halten konn-te und eingestellt wurde. In einem Interviewschildert Redakteur Bern Drücke die Motivati-on des anarchistischen Blattes ‚Graswurzelre-volution‘.

Karin Urich, Mannheim

TANGENS, RENA/PADELLUUN (HG)Schwarzbuch Datenschutz.Ausgezeichnete Datenkraken der Big-BrotherAwardsHamburg: Edition Nautilus 2006.

Von den einen werden sie mit freudiger Unge-duld erwartet, den anderen sind sie ein Graus:Die jährlichen Verleihungen der BigBrotherA-wards, der Oscar-Verleihung für die Verantwort-lichen grober Verletzungen des BürgerrechtsDatenschutz, sorgen seit nunmehr sieben Jah-ren für medialen Wirbel.

Seit 1987 setzen sich ‚Altpunk‘ und Künst-ler padeluun und die Künstlerin Rena Tangensmit ihrem Bielefelder ‚Verein zur Förderung desöffentlichen bewegten und unbewegten Daten-verkehrs‘ (FoeBuD e.V.) für informationelleSelbstbestimmung, freie Kommunikationsfor-men sowie das Netz als sozialer Raum ein. DieNetzpioniere waren mit ihren Arbeiten sogarauf der documenta – der größten Ausstellungfür moderne Kunst weltweit, die alle fünf Jahrein Kassel stattfindet – vertreten und haben di-

verse Preise für ihre Kampagnen und künstleri-schen Aktivitäten gewonnen. Darunter ist auchder bridge-ideas-Preis für ein Lesegerät zumErkennen von RFID-Tags, so genanntenSchnüffelfunkchips in Lebensmitteln, Kleidung,Reisepässen oder auf CDs. Das Duo und seineMitstreiterinnen und -streiter haben in den zehnJahren ihres zivilgesellschaftlichen Engage-ments viele Erkenntnisse über ‚Datenkraken’gesammelt und diese unaufhörlich an die Öf-fentlichkeit getragen. Im Detail und wasserdichtrecherchiert berichten sie über Datenmissbrauchmit Payback-Karten, Techniken der Telefon-überwachung, Digital Rights Management, denStand der Videoüberwachung, geheime Serien-nummern in Farbkopierern oder die elektroni-sche Gesundheitskarte.

Im vorliegenden Band stellen sie eine grö-ßere Auswahl ausgezeichneter Negativpreisträ-ger wie DB-Chef Hartmut Mehdorn, Ex-Innen-minister Otto Schily, Justizministerin BrigitteZypries oder die Firmen Microsoft, Lidl, Tchi-bo und Canon samt Begründung vor. Die Big-BrotherAwards vergeben sie in den KategorienPolitik, Behörden und Verwaltung, Kommuni-kation, Verbraucherschutz, Arbeitswelt, Tech-nik, Regional und Lebenswerk. Das Buch istein prima Nachschlagewerk und rüttelt wach.Ob das Entdecken der zahl- und variationsrei-chen Verletzungen des Rechts auf informatio-nelle Selbstbestimmung im Alltag zu mehr ge-sellschaftlichem Wohlbefinden führt, istallerdings fraglich. Dafür lohnt es sich, mit Zu-sammenschlüssen wie dem FoeBuD e.V. Mög-lichkeiten des kreativen Widerstands gegen or-wellsche Entwicklungen auch umzusetzen. Das‚Schwarzbuch Datenschutz‘ enthält neben denBeschreibungen der Preisträger ein Verzeichnisder an den BigBrotherAwards beteiligten Orga-nisationen und Jury-Mitgliedern ein Registersowie ein weiterführendes Literaturverzeichnis.

Gabriele Rohmann, Berlin �

Literatur

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Datenbank Bewegungsforschung

Das Forschungsjournal Neue Soziale Bewegun-gen informiert in einer Datenbank einen Über-blick über laufende Forschungsvorhaben zumBereich Neue Soziale Bewegungen. Deshalbsind alle Forscherinnen und Forscher, Studen-tinnen und Studenten sowie Forschungseinrich-tungen aufgerufen, entsprechende Projekte andas Forschungsjournal zu melden. Sie werdendann auf der Internet-Seite des Forschungsjour-nals (www.fjnsb.de) veröffentlicht.

Benötigt werden folgende Angaben: 1. Titeldes Vorhabens, 2. Zeitraum, auf den sich dasProjekt bezieht, 3. Name und Anschrift des Be-arbeiters/der Bearbeiterin, 4. Name und An-schrift der Institution, an der die Arbeit entsteht,5. Name und Anschrift des Betreuers/der Be-treuerin, 6. Art und Stand der Arbeit (Abschluss-arbeit, Projekt, Dissertation etc), 7. Laufzeit desForschungsvorhabens, 8. Art der Finanzierung.

Diese können per Post (Karin Urich, HoherWeg 15, 68307 Mannheim oder per E-Mail([email protected]) an die Rubrikverant-wortliche übermittelt werden.

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Gesine Schwan: Medienfreiheit als Voraussetzung für Demokratieentwicklung?,FJ NSB 3/2007, S. 5-11Die Medien haben eine Verantwortung in der Demokratie. Die Medienfreiheit als Voraussetzungfür die Entwicklung der Demokratie wird gerade in den osteuropäischen Transformationsländernsinnfällig. Das Prinzip der Medienfreiheit kann normativ demokratietheoretisch begründet werden,es hat aber auch eine ganz praktische Bedeutung. Denn die Freiheit der Medien und d.h. derJournalisten wird beschränkt durch politische und ökonomische Machtkonzentrationen. Die Ver-absolutierung der Markt- und Wettbewerbslogik unterminiert die Verantwortung der Menschen alspolitische Bürger. Wirtschaftliche und politische Machtkonzentrationen im Medienbereich müssendaher beschränkt werden.

Gesine Schwan: Freedom of media: A precondition for democratic development?,FJ NSB 3/2007, pp 5-11Media have responsibility within democracies. That their freedom is a precondition for democraticdevelopment is obvious in east european countries of transformation. Besides normative reasonsfort the principle of free media there are also practical ones, since freedom of media is limited byconcentration of political and economic power. A dominating logic of the market underminespeople’s responsibilities as citizens. For that reason political and economic power has to be limited.

Jens Siegert: Die Zivilgesellschaft in Putins Russland, FJ NSB 3/2007, S. 12-17In Russland wurde mit dem neuen NGO-Gesetz Ende 2005 das politische Handlungsfeld dieserzivilgesellschaftlichen Organisationen stark eingeengt. In Russland haben wir es mit dem Typ einergelenkten Demokratie zu tun, in der der Kreml ein Monopol auf Politik durchzusetzen versucht.Dennoch hat sich unter diesen Bedingungen eine Zivilgesellschaft entwickelt. Die NGOs sindzwar korporativ eingebunden, der zivilgesellschaftliche Sektor hat sich aber als widerständig her-ausgestellt. Dies liegt zum Teil auch daran, dass die NGOs zwar als Bedrohung für den Machterhaltder herrschenden politischen Elite wahrgenommen werden, von dieser aber auch gebraucht wer-den, weil sie wichtige Informationen liefern.

Jens Siegert: Civil Society in Putin’s Russia, FJ NSB 3/2007, pp 12-17In Russia the opportunities for civil society organisations were harshly diminished by a law in theend of 2005. Though Russia is to be categorized as a steered democracy, in which the Kreml triesto monopolize politics, there developed a civil society. Despite the fact that NGOs are corporativelyintegrated, the third sector is a source of opposition. This is due to the fact that NGOs are neededby the political elite as a supplier of information, though these endanger their power.

Rudolf Speth: Über die Inszenierung von Öffentlichkeit durch Kampagnen,FJ NSB 3/2007, S. 18-25Es wird immer mehr in die Führung von Kampagnen investiert. Das Ziel ist, die Aufmerksamkeitder Adressaten zu erreichen. Damit ist eine Entwicklung in Gange gesetzt worden, in der es immermehr auf Inszenierung, Darstellungen, Theatralität und auf spektakuläre Ereignisse ankommt.Nicht alle Themen eignen sich für das Campaigning. Das zunehmende Campaigning hat auch

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Auswirkungen auf die Demokratie, weil damit die Ebene der Sachauseinandersetzung und dieDiskursivität drohen verloren zu gehen. Kampagnen können eine Gefahr für die Partizipationdarstellen, sie werden aber traditionell von sozialen Bewegungen als wichtige Form des Protest-handelns genutzt.

Rudolf Speth: Staging Publicity by Campaigns, FJ NSB 3/2007, pp 18-25More and more money is spent on campaigning in order to attract peer groups. By this a develop-ment started, in which the main focus is on staging, illustrations and spectacular events. Not allissues can be campaigned. Growing campaigning affects also democracy, since discourse andarguing referred to the matter is in danger. Campaigns can also be dangerous for participation. Butthey are traditionally used by social movements as a action of protest.

Fabian Friedrich/Michael Buchner/Dino Kunkel: Strategisches Kampagnenmanagement vonNGOs, FJ NSB 3/2007, S. 26-32NGO-Kampagnen sind ein systematisches und effizient geführtes, kommunikatives Bemühen umeinen Veränderungsprozess, dessen Richtung und Entwicklung durch ein klar definiertes Zielvorgegeben wird. Kampagnen im NGO-Bereich unterscheiden sich in einigen wesentlichen Teilenvon solchen im Bereich der Politik oder Wirtschaft. Diese Arbeit gibt einen Überblick über spezi-fische Charakteristika von NGO-Kampagnen, wie Zieldefinition, Strategieentwicklung oder Re-cherche, aber auch einen Einblick über den Einsatz potentieller Kampagnen-Tools, mit konkretenpraktischen Beispielen aus erfolgreichen internationalen Kampagnen.

Fabian Friedrich/Michael Buchner/Dino Kunkel: Strategic Campaign-Management of NGOs,FJ NSB 3/2007, pp 26-32NGO-Campaigns are systematically and efficiently lead efforts for a process of change, whosedirection and development is defined by a clear-cut aim. NGO-campaigns differ from those inpolitics and economy in some important aspects. The article sums up the characteristics of NGO-campaigns as definition of aims, strategy-development or research but also campaigning-toolswhich are illustrated by some examples of successful international campaigns.

Frauke Banse: Globale Kampagnenarbeit, FJ NSB 3/2007, S. 33-39International tätige NGOs sind mit ihren Kampagnen ein Teil der Global Governance geworden.Diese teils gewollte, teil ungewollte Einbindung erzeugt Dilemmata. Wenn NGOs die Kontroll-funktion für das Wohlverhalten von international tätigen Konzernen übernehmen, so sind sie inbestimmten Fällen auch gezwungen, für diese Konzerne zu werben. Letztlich droht eine Privatisie-rung des Politischen. NGOs müssen daher ihre Rolle als private Organisationen kritisch reflektie-ren und dürfen nicht ausschließlich als Experten und Lobbyisten agieren. Ihre primäre Ressourceist immer noch die Öffentlichkeit, die sie im Bündnis mit den sozialen Bewegungen einsetzenmüssen.

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Frauke Banse: Global Campaigning, FJ NSB 3/2007, pp 33-39International active NGOs have become a part of global governance with their campaigns. Thisintegration leads to dilemmas. If NGOs shall control multinational corporations, they have incertain cases to advertise these corporations and a dangerous privatization of the political may arise.NGOs have to reflect their role as private organizations and must not act as experts and lobbyistsonly. Their main ressource is still the public sphere, which they have to use together with socialmovements.

Manuel Reiß: Kampagnen von Umwelt-NGOs zwischen Kooperation und Konfrontation, FJNSB 3/2007, S. 40-48Die Umwelt-NGOs BUND, Greenpeace, NABU und WWF sind geprägt von unterschiedlichenEntstehungsgeschichten, Organisationsstrukturen und Selbstverständnissen. Die Kampagnenmo-delle der einzelnen Organisationen sind vor allem Spiegelbilder des jeweiligen Selbstverständnis-ses. Alle vier NGOs versuchen innerhalb ihrer Kampagnen mit einem Mix aus den gleichenkonfrontativen und kooperativen Instrumenten ihre Ziele zu erreichen. Die Gewichtung der einzel-nen Instrumente zeigt aber teilweise sehr deutliche Unterschiede, da die NGOs sich mit ihremKampagnenmodell die Glaubwürdigkeit für ihre Unterstützer sichern wollen.

Manuel Reiß: Campaigning of environment-NGOs: Between cooperation and confrontation, FJNSB 3/2007, pp 40-48Environment-NGOs as BUND, Greenpeace, NABU und WWF are coined by different histories oforigins, organisational structures and self-understandings. Their campaigns mirror especially theirself-understanding. All four NGOs try within their campaigns to mix the same instruments ofconfrontation and cooperation in order to reach their aims. But the focus on the different instru-ments differs a lot in order to gain credibility of their supporters.

Sigrid Baringhorst/Veronika Kneip/Johanna Niesyto: Anti-Corporate Campaigns im Netz:Techniken und Praxen, FJ NSB 3/2007, S. 49-60Der Beitrag stellt eine empirische Analyse von Kampagnen-Websites vor. Er geht dabei von derFrage aus, auf welche Art und Weise diese versuchen, Öffentlichkeit zu schaffen. Kampagnen-Websites sind komplexe sozio-technische Kommunikationsräume, die vielfältige Leistungen derVernetzung hin zu einer transnationalen Öffentlichkeit erbringen können. Die Websites der Anti-Corporate Campaigns werden entlang eines Aufgabenmusters von sozialen Praxen (Framing,Identität stiften, Netzwerken, Mobilisieren) und der Techniken, die sie dabei einsetzen (Produkti-on, Koproduktion, Online-Vernetzung, Offline-Vernetzung) untersucht. Als Ergebnis zeigt sich,dass zivilgesellschaftliche Protestakteure Kampagnenwebsites zur Herstellung von Öffentlichkeitnutzen.

Sigrid Baringhorst/Veronika Kneip/Johanna Niesyto: Anti-Corporate Campaigns on the web:Techniques and Praxis, FJ NSB 3/2007, pp 49-60The article analyses empirically campaigning-websites. It asks for the way in which they try tobuild publicity. They are complex spheres of communication, from which networking towards a

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transnational public can benefit. Websites of Anti-Corporate Campaigns are analyzed along theirtasks of social praxis (framing, identification, networking, mobilization) and techniques they use(production, coproduction, online- and offline-networking). It is shown that civil societies protestmovements use campaign-websites to build publicity.

Hans-Jürgen Arlt: Eine läuft immer, mindestens eine sogenannte.Über Kampagnen und Gewerkschaften, FJ NSB 3/2007, S. 61-69Gewerkschaften sind aufgrund ihrer historischen Erfahrung Kampagnenexperten. Sie verfügenüber eine breites operatives Kampagnen-Knowhow. Die Kampagnenaktivitäten haben auch aufallen gewerkschaftlichen Handlungsfeldern zugenommen. Den Gewerkschaften mangelt es aberan Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit, die nicht durch ein verstärktes Campaining ersetztwerden kann. Gewerkschaften müssen sich vielmehr den gesellschaftlichen Veränderungen stellenund die Erwartungen und Erfahrungen der Menschen aufnehmen. Das neue Organizing-Modellhat nur dann eine Chance, wenn die Gewerkschaftsorganisation responsiver wird. Kampagnenwerden dann erfolgreicher, wenn sich die Grundhaltung der Gewerkschaften ändert.

Hans-Jürgen Arlt: There is always one, or at least a so called one. On Campaigns and TradeUnions, FJ NSB 3/2007, pp 61-69Trade Unions are experts on campaigns due to their historical experiences. They have a broadknow-how. In all fields of their activities there are more campaigns. But trade unions lack an abilityof action and assertiveness, which cannot be compensated by campaigning. Trade unions haveinstead to face the societal changes and deal with the people’s expectations and experiences. Thereis a chance for the new Organizing-Model only, if trade unions become more responsive. Cam-paigns will be more successful, if trade union’s basic attitude will change.

Katja Prescher: Sozialkampagnen, FJ NSB 3/2007, S. 70-77Sozialkampagnen führen Unternehmen als auch Nonprofit-Organisationen (NPOs) durch; immermehr Kooperationen zwischen beiden Akteuren entstehen. Doch wie viel Übernahme gesellschaft-licher Verantwortung seitens der Profit-Unternehmen ist „erlaubt“? Können NPOs ohne weiteresdie Instrumente des Profit-Marketing übernehmen? Welche Folgen hat eine Zunahme von Sozial-kampagnen und welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Wettbewerb um das immer knapperwerdende Gut Aufmerksamkeit? In diesem Beitrag analysiert die Autorin solche und andere Pro-blemfelder. Die Bedeutung von Sozialkampagnen als auch die Gefahren und Chancen, die mit dendarstellten Strategien von Unternehmen und Organisationen verbunden sind, werden aufgezeigt.

Katja Prescher: Social Campaigns, FJ NSB 3/2007, pp 70-77Social Campaigns are conducted by corporations as well as by Nonprofit-Organisations (NPOs);more and more cooperations between both actors arise. But can there be too much societal respon-sibility of profit corporations? Can NPOs copy the instruments of profit-marketing? What are theconsequences of a raise of social campaigns especially the concurrence referring to the rare good ofattraction. This is analyzed in the article as well as other problems. The meaning of social cam-paigns as well as the chances and dangers are figured out.

Abstracts

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Jens Tenscher/Judith Laux: Grenzen der Reformkommunikation.Das Kommunikationsmanagement der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und dessen Wahr-nehmungen, FJ NSB 3/2007, S. 78-88Die Diskussion über die Reformbereitschaft der Bevölkerung und die Reformfähigkeit der Politikhat in den 1990er Jahren eine Reihe von sogenannten Reforminitiativen entstehen lassen. DerBeitrag untersucht am Beispiel der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) die Möglich-keiten und Grenzen des Kommunikationsmanagements dieser Initiative. Befragt wurden Adressa-ten der INSM aus den Bereichen Politik, Medien und Wirtschaft nach ihrer Wahrnehmung undBewertung dieser Reforminitiative. Ergebnis der empirischen Untersuchung ist, dass es der INSMnur unzureichend gelungen ist, ihre Unabhängigkeit und Gemeinwohlorientierung gegenüber denAnspruchsgruppen zu vermitteln. Die negativen Assoziationen bei wesentlichen Multiplikatoren-gruppen schmälern die Erfolgsaussichten des Kommunikationsmanagements der INSM.

Jens Tenscher/Judith Laux: Limits of Communicating Reforms.Communication-Management of the ‚Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft‘ and its perception,FJ NSB 3/2007, pp78-88Discussing the question in how far citizens are willing for reforms and politicians able to conductthem in the midnineties made several so called reform-initiatives appear on the political scene.Chances and limits of communication-management are analyzed referring to the example of theinitiative ‚Neue Soziale Marktwirtschaft‘ (INSM). Peer groups in the fields of politics, media andeconomy were asked how they perceived the initiative and how they judge it. It is shown that theinitiative did not reach their aim. Negative associations by multipliers due to the lack of credibilityconcerning independence and orientation towards the public good diminish the chances for suc-cess.

Hans Hütt/Nikolaus Huss/Annette Rogalla: Achtung, Gesundheitsreform!Die Dialogkampagne der Apotheker, FJ NSB 3/2007, S. 89-94Im Sommer 2006 konzipierte die große Koalition eine Gesundheitsreform, welche die 21.500selbstständigen Apotheken in Deutschland mit 500 Millionen Euro belasten wollte. Apothekensollten für nicht zustande gekommene Rabattvereinbarungen zwischen Krankenkassen und Arz-neimittelherstellern zahlen. Mit einer Kommunikationskampagne, die externe und interne Zielgrup-pen im Visier hatte, gelang es, diesen Entwurf zu korrigieren. Die Kampagne vereinte Maßnahmender Public Affairs und Public Relations und setzte in seiner Wirkung auf die Kraft des politischenDialogs.

Hans Hütt/Nikolaus Huss/Annette Rogalla: Attention, Reform in Health Policy!The dialogue-campaign of the pharmacists, FJ NSB 3/2007, pp 89-94In summer 2006 the government tried to reform health policy in a way that would have costfreelance pharmacies 500 millions euro. Pharmacies should pay for failed discount-agreementsbetween health insurance companies and drugmakers. With a communication campaign aiming oninternal as well as on external peer groups they were successful to correct the draft. The campaignmixed instruments of Public Affairs and Public Relations and tried to gain from political dialogue.

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Hans-H. Langguth: Mit Campaigning von der Relevanz zur Resonanz zur Revolution,Ein Plädoyer für die Übertragung erfolgreicher Wahlkampf-Strategien in Business-Welten, FJNSB 3/2007, S. 95-104Die Welt der Unternehmen und der Politik rücken näher zusammen. Unternehmen können beimCampaigning von den Wahlkämpfen der Parteien und den Aktionen der NGOs lernen. Denn inbeiden Bereichen geht es darum, eine Kampagne aus einer großen Idee abzuleiten und so Relevanzzu erzeugen für Parteien und Personen oder für Positionen und Produkte. Erfolgreiche Wahlkämp-fe können Vorbild für Unternehmen sein. In beiden Bereichen müssen Trends aufgespürt werden– wie von Unilever mit der Pro Age-Kampagne –, eine Geschichte von Größe und Emotionalitäterzählt werden wie bei ‚Du bist Deutschland’ und in beiden Fällen geht es um eine nachhaltigeVeränderung des Bewusstseins und des Verhaltens. Und vor allem kommt es auf den richtenMoment an; wie die Kampagne zum Getränk Bionade.

Hans-H. Langguth: Campaigning: From Relevance to Resonance to RevolutionCopying successful election campaigns within business-marketing, FJ NSB 3/2007, pp 95-104The world of corporations and politics come closer. Corporations can learn from election cam-paigns and NGO-actions. In both cases the aim is to develop a campaign out of a great idea and toproduce relevance for parties, people and products. Successful election campaigns can be a Vorbildfor corporations. In both fields one must have a sense for trends – e.g. Unilever’s Pro Age-Campaign –, and a great and emotional story has to be told as in ‚Du bist Deutschland‘. In bothcases conscience and behaviour shall be changed. And timing is important as the campaign fort thesoftdrink Bionade shows.

Abstracts

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ForschungsjournalNeue Soziale BewegungenGegründet 1988, Jg. 20, Heft 3, September 2007

Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft m.b.H. • Gerokstraße 51 • 70184 StuttgartFax 0711/242088 • e-mail: [email protected] • www.luciusverlag.com

Für die Forschungsgruppe NSB herausgegeben von Dr. Ansgar Klein; Jupp Legrand; Dr. Thomas Leif

Redaktion: Alexander Flohé, Kiel; Dr. Ansgar Klein, Berlin; Dr. Ludger Klein, St. Augustin/Frankfurt M.; PeterKuleßa, Berlin; Jupp Legrand, Wiesbaden; Dr. Thomas Leif, Wiesbaden; Dr. Markus Rohde, Bonn; Jan Rohwerder,Aachen; Dr. Jochen Roose, Berlin; Lars Schmitt, Marburg; Stephanie Schmoliner, Flensburg; PD Dr. RudolfSpeth, Berlin; Dr. Karin Urich, Mannheim

Redaktionelle Mitarbeiter: Anja Löwe, Berlin; Stefan Niederhafner, Berlin; Tobias Quednau, Berlin; OleReismann, Berlin; Elmar Schlüter, Marburg; Gabi Schmidt, Berlin

Verantwortlich für den Themenschwerpunkt dieser Ausgabe: Dr. Rudolf Speth (v.i.S.d.P.); verantwortlich für Puls-schlag: Alexander Flohé, Schönberger Str. 2, 24148 Kiel, e-mail: [email protected]; für Treibgut: Jan Rohwerder,Hubertusplatz 8, 52064 Aachen, e-mail: [email protected]; für Literatur: Dr. Karin Urich, Hoher Weg 15, 68307Mannheim, e-mail: [email protected]

Beratung und wissenschaftlicher Beirat: Dr. Karin Benz-Overhage, Frankfurt/M.; Prof. Dr. Andreas Buro,Grävenwiesbach; Volkmar Deile, Berlin; Dr. Warnfried Dettling, Berlin; Prof. Dr. Ute Gerhard-Teuscher, Frankfurt/M.;Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach SJ, Frankfurt/M.; Prof. Dr. Robert Jungk (†); Ulrike Poppe, Berlin; Prof. Dr. JoachimRaschke, Hamburg; Prof. Dr. Roland Roth, Berlin; Prof. Dr. Dieter Rucht, Berlin; Wolfgang Thierse, Berlin; Dr. AntjeVollmer, Berlin; Heidemarie Wieczorek-Zeul, Berlin

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Karikaturen: Gerhard Mester, WiesbadenUmschlag: Nina Faber de.sign, WiesbadenSatz: com.plot Klemm & Leiby, MainzDruck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz

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