Flasch (Historisches Wörterbuch der Philosophie) - Ding

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  • 7/29/2019 Flasch (Historisches Wrterbuch der Philosophie) - Ding

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    Ding. Fr die Alltagsansicht und die naiv realistische Philosophie ist das D. (griech., , auch ; lat. res; dtsch. im engeren Sinne D., in weitererBedeutung Sache) als das individuelle, materielle Substrat von Eigenschaften und alsUrsache der Affektion geschichtslos selbstverstndlich; aber die problemgeschichtliche

    Analyse zeigt, da diese Vorstellung geworden ist.Den Vorsokratikern darf sie nicht unterlegt werden. Dies gilt trotz der Eidolontheoriedes Erkennens bei DEMOKRIT und LEUKIPP [1], die grundlegend wurde fr dieTyposislehre der Stoiker [2] und die Diskussionen der Kyrenaiker ber das D. derAuenwelt als das unbekannte Substrat und die Ursache der Affektion [3]. Wenn mandie im Spruch des ANAXIMANDER (B 1) mit D. oder seiende D. (Diels)bersetzt, so ist die Vorstellung des aristotelischen Hypokeimenon und erst recht dieeines rein faktischen D. fernzuhalten (wie M. Heidegger richtig sieht [4]).

    uerlich betrachtet schwankt PLATONS Sprachgebrauch fr zwischenEinzel-D. und Idee [5]. Man schlo daraus, Platons Denken schwanke zwischen derRespektierung der natrlichen, d.h. der technomorphen D.-Ansicht und der

    bertragung der D.-Charaktere auf die Idee. Aber im Zusammenhang der Ideenlehre gibtes weder ein metaphysisch autonomes Hypokeimenon noch eine blo transzendente undinsofern immer noch dinganaloge Idee. Deren Zugleich von Immanenz undTranszendenz, ihre Symploke mit allen anderen Ideen ist nur durch eine Korrektur dertechnomorphen Denkweise erreichbar, obwohl die technomorphe Terminologietatschlich vielfach in ihrem Zusammenhang auftritt [6]. Die von Platon bereits imPhaidon, vor allem aber im Sophistes und Parmenides gedachte berdinglichkeitderIdee wird auch verfehlt, wenn man sie neukantiantisch der Alternative unterwirft: Ideenbedeuten nicht D., sondern Methoden [7].

    Die fr die D.-Vorstellung charakteristische ontologische Autarkie des Hypokeimenonkennt auch ARISTOTELES nicht trotz der Chorismospolemik [8], trotz derAuszeichnung der ersten vor der zweiten [9] und trotz der Neigung, wenigstens inbestimmten Phasen der Untersuchung, das sinnliche Dieses-Da oder das materielleHypokeimenon zum Prototyp der Ousia zu machen. Die platonisierende Metaphysik desEidos, der Morphe und des Nous verhindert, da diese Anstze das Wesen deraristotelischen Philosophie ausmachen. Doch hat Aristoteles den fr die D.-Ontologie derTradition charakteristischsten Lehrpunkt entwickelt: die Differenz von (Substrat, Substanz) und (Akzidens).

    Die Stoa lehnt allgemeine Wesenheiten ab [10] und entwickelt in ihrempantheistischen Materialismus die Vorstellung der res als Substrat weiter, ohne sie vonder Allnatur zu isolieren. Naiv realistisch sieht sie im D. als dem Ursprung der Affektionden Garanten der Wahrheit [11].

    Die Folgezeit bis Kant einschlielich ist problem- geschichtlich charakterisiert durchdie stndige Vermischung des stoischen Seinsentwurfs mit platonischer Ideenlehre,aristotelischer Formmetaphysik und christlichen Motiven. Selbst die Groen(AUGUSTIN, ANSELM, THOMAS) gelangen nicht zu einer einhelligen Systematik, wiesie PLOTIN durch seine Kritik an der stoischen Affektionslehre und durch seineAbleitung der Natur-D. aus Psyche und Nous erreicht hatte. Der Liber de causisvermittelte diese Weltansicht dem Mittelalter; da auerdem die augustinische Fassungder Ideenlehre allenthalben, z.B. auch bei THOMAS VON AQUIN, gilt, bewhrt es sich

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    fast immer, den mehrdeutigen res-Begriff des Mittelalters von der Ideenlehre her zudeuten, wenn auch die D.-Vorstellung unkorrigiert mitunterluft. JOHANNESERIUGENA, die Schule von Chartres und MEISTER ECKHART setzen PlotinsModalanalysen fort und bereiten ber CUSANUS den Idealismus der Neuzeit vor.

    Im 14. Jh. gert der res-Begriff in eine Krise, die den Gang der neuzeitlichen

    Philosophie wesentlich bestimmt hat: Einerseits erhlt das als von sich aus individuellgedachte Einzel-D. nach der Ablehnung realer Universalien und des intellectus agenserhhte Bedeutung als Affektionsgrund; allein die vom Objekt direkt verursachteintuitive Erkenntnis vergewissert uns nach WILHELM VON OCKHAM ber Sein oderNichtsein [12]. Andererseits zersetzt sich die ontologische Tiefenstruktur der res. Es wirdproblematisch, wie wir von der Eigenschaft B auf die Substanz A schlieen knnen,wobei unterstellt wird, es handle sich bei Akzidens und Substanz je um eine alia res [13].Die Nichtnotwendigkeit dieses bisher als einsichtig angesehenen Zusammenhangs wirdam theologischen Beispiel der Transsubstantiation demonstriert.

    Fr die frhe Neuzeit ergibt sich daher folgendes Bild: Whrend die von SUREZbestimmte Schulphilosophie bis CHR. WOLFF und BAUMGARTEN die sachliche

    Bedeutung der sptmittelalterlichen Kritik am D.-Begriff verkennt, versucht CUSANUS(und nach ihm G. BRUNO und LEIBNIZ) die res wieder in die Geist- undIdeenmetaphysik zu integrieren, wobei er die im Nominalismus erreichte Einsicht in dieIndividualitt der D. festhlt, aber die Vorstellung ontologischer Autarkie durch dieLehre von der universalen Interdependenz (omnia in omnibus) ersetzt. DESCARTESreduziert die menschliche Erfahrung der D. auf res extensae; er legt ihren sinnlichenErscheinungsreichtum auf die subjektive Seite und belt ihnen selbst nur, wasmathematisch fabar ist: Quantitt und Bewegung. Gleichzeitig bezweifelt die skeptischeTradition (MONTAIGNE, auch PASCAL, HUME), da der D.-Begriff mehr sei als einsubjektiver Gewaltstreich zur bersichtlichmachung der an sich unbersichtlichenRealitt.

    HUMES Assoziationsgesetze lsen das Problem der Wibarkeit des Zusammenhangsvon D. und Eigenschaften nicht. KANT sieht dies und sucht in den synthetischen Urteilena priori die Mglichkeitsbedingung des Zusammenhangs von D. und Eigenschaft. D. istdann nicht mehr deren ontologischer Trger, sondern Erscheinung, der die apriorischeUrteilsfunktion des transzendentalen Ego zugrunde liegt [14]. Da Kants Philosophiedennoch an der D.-Vorstellung orientiert bleibt, da er auer dem D. der Erfahrung (=Erscheinung) das unerfahrbare D. an sich annimmt und ihm die alte Funktion derAffektion zuweist diese Inkonsequenzen trieben die nachkantische Philosophie weiter.

    FICHTE setzt ein mit der Kritik an der unhaltbaren Lehre vom D. an sich [15]. Erbricht so konsequent wie Plotin mit der Affektionslehre [16] und berhaupt mit derder gemeinen Logik zugrunde liegenden D.-Vorstellung: Kein D. kann etwas anderessein als ein im Ich Gesetztes [17]. Daher kritisiert Fichte die dem D.-Begriff von derStoa her anhaftende Tendenz, Ich und Gott dem angeblich hheren Begriff des D.unterzuordnen [18].

    HEGEL fhrt Fichtes und Schellings Kritik an der Verdinglichungstendenz derOntologie des 18. Jh. fort; ihre Theorie der Seelenvermgen mache das Ich zu einemSeelen-D.. Er analysiert in der Phnomenologie [19] und in der Logik [20] dieDialektik des Verhltnisses von D. und Eigenschaften als eine Phase im Zusichkommendes Wissens. Das Kantische D. an sich ist ihm ein unvollstndiger Gedanke, eine sehr

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    einfache Abstraktion. Bei Hegel kommt es zu einer terminologischen Distinktion vonD. und Sache [21].

    War zu Beginn der Neuzeit fr Cusanus das kompakt erscheinende D. nur dasAufscheinen der einenden Kraft des Verstandes in der Andersheit der Sinnlichkeit, so istfr NIETZSCHE der von Kant systematisch entwickelte subjektive Ursprung der D.-

    Kategorie das Signum der Falschheit; sie ist ein anmaender, sachlich nicht zurechtfertigender Anthropomorphismus [22].HEIDEGGER kritisiert an der europischen Philosophie, sie habe das D. als D.

    verfehlt, weil sie es mit Platon als Gegenstand des Herstellens oder mit Descartes undKant als Gegenstand des Vorstellens fasse [23].

    Anmerkungen.

    [1] DIELS, Frg. der Vorsokr. 67 A 29.

    [2] SVF II, 150, 13ff. (n. 458).

    [3] Vgl. SEXT. EMP., Adv. math. VI, 191.

    [4] M. HEIDEGGER: Holzwege (1949) 305. 306310.

    [5] Einige Belege bei F. AST: Lex. Platonicum (18351838) 162163; vgl. P. NATORP: PlatonsIdeenlehre (21922) s. v. D. im Sachregister.

    [6] Anders M. HEIDEGGER: Vortrge und Aufstze (1954) 166; zur Sache vgl. J.HIRSCHBERGER: Gesch. der Philos. 1 (81965) 97101; zum Problem des Techne-Denkens a.a.O.6466. 78f.

    [7] NATORP, a.a.O. [5] 221.

    [8] ARISTOTELES, Met. I, 6. 9; XIII, 9 u..

    [9] De cat. c. 5.

    [10] SVF II, 123 (n. 359364).

    [11] a.a.O. II, 2126; I, 1719 (n. 5662).

    [12] W. v. OCKHAM, 1 Sent. Prol. q. 1 Z.

    [13] NIKOLAUS VON AUTRECOURT, Texte, hg. J. LAPPE, in: Beitrge zur Gesch. der Philos. des

    M A 6/2 (1908).

    [14] Vgl. KANTS Deduktion der Kategorien und ins besondere die Lehre von den Grundstzen in derKrV; dazu M. HEIDEGGER: Die Frage nach dem Ding (1962).

    [15] J. G. FICHTE, Rezension des Aenesidemus. Werke, hg. MEDICUS 1, 147.

    [16] a.a.O. 6, 128 u..

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    [17] 1, 293.

    [18] 1, 384.

    [19] HEGEL, Werke, hg. GLOCKNER 2, 98.

    [20] a.a.O. 4, 602ff.

    [21] 3, 314315; 4, 30ff.

    [22] FR. NIETZSCHE, Werke, hg. SCHLECHTA 3, 369. 487. 534535. 540. 555.

    [23] M. HEIDEGGER: Das Ding, in: Vortrge und Aufstze (1954) 129144; vgl. Anm. [14].

    K. FLASCH

    [Historisches Wrterbuch der Philosophie: Ding. HWPh: Historisches Wrterbuch derPhilosophie, S. 4309(vgl. HWPh Bd. 2, S. 249 ff.)]