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Flucht von Cairon

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AtlanIm Auftrag der Kosmokraten

Nr. 705

Flucht von CaironDie Stahlmänner greifen an

von Hubert Haensel

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Auf Terra schreibt man gerade die Jahreswende 3818/19, als der Arkonide, eben noch dem sicheren Tode nahe, sich nach einer plötzlichen Ortsversetzung in einer unbekannten Umgebung

wiederfindet, wo unseren Helden alsbald ebenso gefährliche Abenteuer erwarten wie etwa in der Galaxis Alkordoom, der bisherigen Stätte seines Wirkens.

Allans neue Umgebung, das ist die Galaxis Manam-Turu. Und das Fahrzeug, das dem Arkoniden die Möglichkeit bietet, die fremde Sterneninsel zu bereisen, um die Spur des Erleuchteten, seines alten Gegners, wieder aufzunehmen, ist ein hochwertiges Raumschiff, das Atlan auf den Namen STERNSCHNUPPE tauft. Das Schiff sorgt für manche Überraschung – ebenso wie Chipol, der junge Daila, der zum treuen Gefährten des Arkoniden wird.

Die Daten des Psi-Spürers der STERNSCHNUPPE bringen Atlan dazu, den Planeten Cairon anzufliegen. In der Maske eines Eingeborenen besucht er diese Welt, deren Bewohner, wie er meint, vom Erleuchteten bedroht werden.

Doch als Atlan ins »Tal der Götter« gelangt, erlebt er die Überraschung seines Lebens. Denn er erkennt, daß Hyptons, Mitglieder des berüchtigten »Konzils«, auf dem Planeten zugange sind.

Für Atlan und seinen jungen Begleiter bleibt jetzt nur die FLUCHT VON CAIRON…

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Die Hauptpersonen des Romans:Atlan und Chipol – Der Arkonide und der Daila auf der Flucht.

Hokkandar – Ein Freier Nomade.

Thykonon – Ein Priester der Bathrer.

Turman und Norphan – Thykonons Schüler.

Yatsundor – Stammesführer der Beryulder.

Karphos – Ein Verkünder der Götter.

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1.Überrascht blickte Yatsundor auf, als der Vorhang vor seinem Zelt zur Seite gezerrt wurde und ein bärtiges Gesicht in der Öffnung erschien.

»Verzeih!« Der Bärtige starrte auf die Jaculruns, die Yatsundor fein säuberlich auf einem Tuch vor sich ausgebreitet hatte. Die erbsengroßen, dunkelbraunen Nüsse erfüllten auf Cairon die Funktion eines einfachen Zahlungsmittels – vor allen Dingen waren sie nicht in beliebiger Menge produzierbar, da die Jaculrunstauden lediglich in abgelegenen Regionen des Planeten wuchsen und zumeist nur unter großer Gefahr abgeerntet werden konnten. Der Besitz einer solch ansehnlichen Menge von Nüssen, wie Yatsundor sie nun rasch in das Tuch einschlug, bedeutete Reichtum.

»Was willst du, Morres? Ich habe nicht darum gebeten, gestört zu werden«, sagte der Sippenführer.

»Es tut mir leid«, erwiderte der Bärtige. »Aber wir haben einen Fremden gefangen, der um das Lager herumschlich.«

»Ein Räuber?« Yatsundors Gesicht verhärtete sich fast schlagartig. Nachdenklich tastete er über die bleiche Narbe, die sich quer über sein Kinn zog. »Gebt ihm zwanzig Stockhiebe auf jede Fußsohle, und dann jagt ihn in die Steppe hinaus.«

Morres schüttelte den Kopf. »Ganz so einfach, fürchte ich, ist es nicht.«

»Was dann?« brauste Yatsundor auf. Er erhob sich zu seiner vollen Größe von 1,86 Meter. Von oben blickte er auf Morres hinab, den er um gut einen Kopf überragte.

»Der Kleidung nach haben wir es mit keinem der Wegelagerer und Strauchdiebe zu tun, die zumeist doch nur Feiglinge sind.«

»Ein Freier also«, seufzte Yatsundor. »Bindet ihn auf ein Reit-Vleeh. Er soll selbst sehen, wie er zurechtkommt.«

Morres zögerte noch immer.

»Was ist?« fügte der Sippenführer der Beryulder schroff hinzu.

»Du kommst besser mit mir«, sagte Morres. »Der Fremde behauptet, ein Verkünder der Götter zu sein.«

»Ist er am Ende einer dieser verweichlichten Stadtbewohner, die unweigerlich verhungern würden, wenn sie nur einige Tage lang allein über die Steppen reiten? Die nicht wissen, daß Käfer und Würmer kleine Köstlichkeiten sind, und daß manche Pflanzen Unmengen von Wasser speichern. Ihre Priester reden von der Großen Harmonie, ohne zu begreifen, daß die Harmonie sich nur in der Natur ausdrücken kann. Und keiner war der Natur je näher als wir Nomaden. Wann wird das endlich in ihre dummen Schädel hineinpassen?« Yatsundor hatte sich in Rage geredet. Mit beiden Händen fuhr er durch sein schulterlanges, rotes Haar, das im Nacken mit einer geflochtenen Kordel zusammengehalten wurde. Hinter Morres trat er auf den freien Platz hinaus, der sich vor seinem Zelt erstreckte. Seit fünf Tagen lagerten sie schon am selben Ort, und die nicht gerade üppige Grasnarbe war von der Herde bis auf die Wurzeln abgefressen. Das bedeutete, daß man bald weiterziehen mußte.

Wie stets galt der Blick des Sippenführers erst der entfernt grasenden Herde. Dann schritt er zwischen den Frauenzelten hindurch dem Rand des Lagers zu.

Seit den letzten Zweikämpfen hatte es keinen so großen Auflauf gegeben. Mehr oder weniger rücksichtslos bahnte Yatsundor sich einen Weg durch die Menge. Erst als man ihn erkannte, wichen die Männer und Frauen zu Seite.

Ein vom Blitz gespaltener Baum ragte einsam aus der Steppe auf. Während die Krone und die obere Hälfte des Stammes verkohlt waren, sprossen aus dem unteren Teil längst wieder junge, frische Triebe.

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Eine heiser krächzende Stimme war zu vernehmen. Yatsundor verstand nur die Hälfte von dem, was der Fremde erregt von sich gab.

Der Fremde war an den Baum gebunden. Er war hager, wirkte bleichhäutig und besaß kaum Bartwuchs. Sein Alter ließ sich schwer schätzen: dreißig, vielleicht sogar vierzig Jahre. Seine geröteten Augen richteten sich auf Yatsundor.

»Wer bist du?« fragte der Sippenführer.

»Ein Mann, der in Frieden kam, um mit euch…«

Yatsundor unterbrach den Redeschwall mit einer schroffen Handbewegung.

»Nenne mir deinen Namen.«

»Ich weiß noch nicht einmal den deinen.«

»Bursche…« Aufbrausend trat Yatsundor auf den Gefangenen zu und hob die Rechte, schien es sich dann aber doch anders zu überlegen und ließ den Arm wieder sinken. In den Augen des Mannes blitzte es belustigt auf.

»Wenn du mich schlagen willst, erlege dir keinen Zwang auf. Die Götter werden dir verzeihen, daß du ihren Boten nicht erkennst.«

Yatsundors Augen verengten sich. Über seinen dicken, buschigen Brauen entstanden tiefe Falten.

»Du wagst es, unsere Götter zu lästern«, sagte er gefährlich leise. »Du mußt ein Narr sein oder des Lebens überdrüssig.«

»Keines von beiden«, entgegnete der Fremde bestimmt.

Ein Raunen ging durch die Menge der Umstehenden.

»Die Boten der Götter sind die Sonne und der Regen, die das Gras wachsen lassen«, betonte der Sippenführer. »Sturm, Hagel und Gewitter zeigen, wenn sie erzürnt sind. Aber kein Mensch kann Sprecher ihres Willens sein.«

»Die Götter sind auf Cairon herabgestiegen…«

»Hör auf!« schrie Yatsundor. »Jeder weiß, daß sie seit Anbeginn der Zeit unsichtbar unter uns weilen. Bist du ein Priester der Bathrer, die uns ihren Großen Geist der Harmonie aufschwatzen wollen?«

Der Gefangene schüttelte heftig den Kopf. »Bis vor wenigen Tagen war ich noch ein einfacher Händler, der von Stadt zu Stadt zog. Dann sprachen die Götter im Schlaf zu mir. Sie verlangten von mir, ihren Willen kundzutun. Jeder Nomadenstamm soll seine Streitigkeiten mit den anderen vergessen. Bald wird es nur eine einzige große Sippe geben.«

Lauthals platzte Yatsundor heraus. Seine Heiterkeit wirkte ansteckend. Erst nach einer ganzen Weile beruhigte er sich wieder.

»Ein Händler willst du sein, Namenloser«, ächzte er. »Wo ist dein Wagen, wo sind die Waren, die du feilbietest?«

»Ich brauche sie nicht mehr.«

»Natürlich«, höhnte Yatsundor und wollte sich erneut vor Lachen ausschütten. »Das ist, als würden wir Nomaden unsere Herden im Stich lassen. Ich weiß jetzt, daß du ein Narr bist.« Er wandte sich um und wechselte einige Worte mit Morres. Der Bärtige zog sich daraufhin zurück.

»Was habt ihr vor?« fragte der Gefangene. »Bindet mich endlich los.«

»Wir schicken dich dorthin zurück, von wo du gekommen bist, Händler«, sagte Yatsundor spöttisch. »Oder soll ich dich Wanderpriester nennen?«

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»Auch dir werden eines Tages die Augen geöffnet werden, du Kleingläubiger.«

Morres kam mit einem Vleeh. Auf den ersten Blick war festzustellen, daß es sich nicht um ein Reit-Vleeh handelte. Der Verlust des Tieres wurde die Nomaden nicht schädigen. Das grobe, kurze Fell war zu mehr als der Hälfte ausgefallen und ließ eine pergamentartige, warzenübersäte Haut erkennen, unter der die Knochen kantig hervorstachen. Das Tier hatte mindestens ein halbes Menschenalter auf dem Buckel, was für Vleehs ungewöhnlich war.

»Hinauf und fort mit ihm!« befahl Yatsundor.

Der Fremde mußte es sich wohl oder übel gefallen lassen, daß man ihn zum Vleeh schleifte. Er wehrte sich nicht, sofern man von seinem nicht enden wollenden Redeschwall absah. Erst beschwor er die Einheit, die zwischen den Nomaden entstehen sollte, dann verlegte er sich aufs Schimpfen, und als auch das herzlich wenig fruchtete, begann er steinerweichend zu jammern. Unter dem Gejohle der Menge wurde er bäuchlings auf das Vleeh gehoben und festgebunden.

»Du findest sicher jemanden, der dich befreit«, stellte Yatsundor in Aussicht. »Mag sein, daß dir sogar die Götter helfen, wenn sie wirklich auf unsere Welt gekommen sind.«

Ein dumpfes, rollendes Geräusch ließ ihn innehalten. Suchend glitt sein Blick über den Himmel. Im ersten Moment glaubte er an ein heraufziehendes Gewitter, doch standen nur einige zerfaserte Schönwetterwolken am tiefblauen Firmament.

»Habt ihr es vernommen?« krächzte der Fremde. »Bindet mich los! Sofort!« Er schrie, als das Vleeh sich aufbäumte.

Erneut rollte dumpfer Donner über das Land.

Unruhe bemächtigte sich der Nomaden.

»Die Götter kommen, um euch zu strafen«, rief der Fremde.

»Unsinn.« Obwohl Yatsundor sich Mühe gab, konnte er seine aufkommende Unsicherheit nicht verbergen.

»Sieh!« Morres deutete nach Osten.

Die Sonne stand erst im frühen Nachmittag. Dennoch schien unmittelbar über der im Dunst versunkenen Kulisse der fernen Bergkette ein einzelner Stern aufzugehen.

Und dieser Stern wurde zusehends größer.

Ein Meteor, dachte Yatsundor, verwarf den Gedanken aber sogleich wieder.

Der Stern fiel nicht aufflammend und dann erlöschend zu Boden, sondern kam in gleichbleibender Höhe näher. Höher als die Wolken, stellte der Sippenführer erschrocken fest. Er schluckte krampfhaft. Sein Gaumen war sie ausgetrocknet.

Der Stern erstrahlte in silbrigem Glanz. Bald besaß er die Größe einer Faust und war doch noch immer meilenweit entfernt. Der Donner mußte weithin zu hören sein.

Etliche Nomaden ließen sich auf den Boden fallen, andere blickten gebannt zum Himmel, unfähig zu fliehen.

»Weshalb hört ihr nicht auf mich?« triumphierte der Fremde trotz seiner unbequemen Lage.

Der Stern wuchs zur ovalen Scheibe, die hoch über der Steppe ihre Bahn zog.

Yatsundor zerrte einem der neben ihm stehenden Männer den Bogen von der Schulter und einen Pfeil aus dem Köcher. Mit sicherem Griff spannte er die Sehne.

»Tu’s nicht!« warnte Morres.

Im selben Moment schien die Welt unterzugehen. Ein schier ohrenbetäubender Knall zerriß die Luft und ließ Yatsundor taumeln. Etwas Unsichtbares warf ihn fast von den Beinen. Ehe er reagieren

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konnte, hatte Morres ihm Pfeil und Bogen aus der Hand geschlagen.

Das Vleeh bäumte sich kreischend auf. Einige Nomaden wurden von den auskeilenden Hufen getroffen. Mit wilden Sprüngen floh das Tier vor dem Unheimlichen, ebenso wie die Herde.

Zugleich entfernte der Stern sich rasend schnell nach Westen. Es sah aus, als würde er von den gelben Strahlen der Sonne Tsybaruul förmlich aufgesogen werden.

Die folgende Stille war geradezu unheimlich. Keiner der Nomaden wagte sich zu rühren. Yatsundor überwand als einer der ersten sein Entsetzen. Mit einem raschen Rundblick überzeugte er sich davon, daß die fliegende Scheibe tatsächlich verschwunden war.

»Ein Zeichen der Götter?« stöhnte Morres neben ihm.

Der Sippenführer zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll.«

»Dann frage den Fremden.« Morres deutete zwischen den Zelten hindurch. Auf der anderen Seite des Lagers war das Vleeh gestürzt und versuchte vergeblich, wieder auf die Beine zu kommen. Die Last auf seinem Rücken machte dies unmöglich.

Yatsundor und Morres rannten gleichzeitig los, einige Männer folgten ihnen zögernd.

Verängstigt schlug das Vleeh mit den Läufen um sich und bäumte sich auf. Daß der Sippenführer beruhigend auf einredete, fruchtete herzlich wenig. Das Tier schnappte nach ihm, als er die Stricke zu lösen begann, mit denen der Fremde festgebunden war. Der Verkünder hatte das Bewußtsein verloren.

Endlich fielen die Fesseln. Yatsundor nahm den Reglosen in die Arme und schleppte ihn zur Seite, ließ ihn behutsam zu Boden gleiten.

»Er kommt wieder zu sich«, stellte Morres fest.

Die Lider des Mannes begannen zu flattern, gleich darauf öffnete er die Augen. Sein Blick fixierte Yatsundor.

»Zweifelst zu noch immer daran, daß die Götter nach Cairon gekommen sind?« brachte er leise hervor. »Ich, Karphos, wurde gesandt, ihren Willen zu verkünden. Die Götter wollen, daß zwischen allen Sippen Friede herrscht. Nur dann kann Cairon wirklich den Nomaden gehören. Reiche Belohung wartet, doch vorher gebt ein Zeichen eures guten Willens.«

»Ein Zeichen?« fragte Yatsundor überrascht. »Wie soll ich das verstehen?«

Karphos stand auf und reckte die Fäuste zum Himmel empor. Weit legte er den Kopf in den Nacken zurück. Er starrte die Sonne an, ohne von ihr geblendet zu werden. Ganz langsam öffneten sich seine Fäuste, er verschränkte die Finger ineinander und drehte die Handflächen nach außen, senkte die Hände, bis sie Tsybaruuls Glutball verdeckten.

»Versöhnt euch mit den Komarchos«, sagte er. »Die Götter wollen es so. Gemeinsam sollen die Sippen der Beryulder und Komarchos gegen die Stadt Ophanalom ziehen.«

»Unmöglich«, stieß Morres erregt hervor. »Niemand kann mit den Komarchos in Frieden leben.«

Karphos’ Bewegung war so schnell, daß kaum jemand sie verfolgen konnte. Mit der Rechten unter seinen Umhang greifen und die Hand wieder hervorziehen, war fast eins. Er schleuderte etwas gegen den Nomaden – eine flüchtige Rauchwolke hüllte Morres ein, verwehte aber sofort mit dem Wind.

Morres stand wie erstarrt.

»Er ist nur für kurze Zeit gelähmt«, sagte der Verkünder. »Die Götter verliehen mir die Kraft dazu. Auch ihr werdet Geschenke erhalten, die euch unüberwindlich machen.«

***

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Der Tag neigte sich dem Abend zu, bis die Nomaden ihre in alle Himmelsrichtungen versprengte Herde wieder eingefangen hatten.

Die Männer und Frauen, ja selbst die Kinder, begegneten Karphos mit wachsamem Mißtrauen. Beide Seiten verhielten sich abwartend. Seit Morres aus seiner Starre erwacht war, empfand er Respekt vor dem Fremden, dessen ungewöhnliche Kräfte offensichtlich sogar denen der Bathrer-Priester in den Städten überlegen waren.

»Was machen wir mit ihm?«

Yatsundor saß im Kreis der angesehensten Kämpfer seiner Sippe und hörte, was sie vorzubringen hatten. Selten war ihm eine ähnliche Ratlosigkeit entgegengeschlagen.

»Entweder ist dieser Karphos ein Scharlatan…«

»… oder er sagt die Wahrheit.«

»Die Bathrer haben ihn geschickt. Er soll uns verwirren.«

»Das ergäbe nur dann einen Sinn, hätten die Städter die Absicht, uns anzugreifen.«

»Warum hört ihr nicht auf mich?« Morres herrschte um Aufmerksamkeit. »Seine Kräfte können nur von den Göttern stammen. Auch wenn es uns schwerfällt, wir müssen uns damit abfinden.« Er hatte noch mehr sagen wollen, verstummte aber, als Hörnerklang durch das Lager hallte. Die dumpfen, vibrierenden Laute bedeuteten Gefahr.

Von Westen her, aus der untergehenden Sonne, näherten sich Reiter. Noch waren sie nur als dunkler Fleck inmitten einer ausgedehnten Staubwolke zu erkennen, doch ziemlich rasch schälten sich einzelne Konturen heraus.

»Das sind keine Nomaden«, stellte Yatsundor fest. Er hatte die Augen zusammengekniffen und mit den Händen beschattet, um besser sehen zu können. »Keiner von uns würde seine Herde im Stich lassen.«

»Aber sie reiten Mandali«, wandte Morres ein.

Die großen Laufvögel hetzten mit ausgreifenden Sätzen über die Steppe. Es mußten mehr als fünfzig Reiter sein.

Aufgescheucht liefen die Nomaden durcheinander. Selbst Frauen und Kinder bewaffneten sich, und wenn nur mit Keulen oder Steinen, die mittels schmalen Lederstreifen geschleudert wurden. Bis die Reiter so nahe heran waren, daß man sie erkennen konnte, hatten sich alle vor den Zelten versammelt.

»Komarchos!« stieß Yatsundor erregt hervor und wog abschätzend seine Steinaxt in Händen. »Die Sandhitze soll mich holen, wenn dieser verdammte Wanderpriester nicht mit denen unter einer Decke steckt.«

In der allgemeinen Aufregung hatte niemand mehr auf Karphos geachtet. Als seine Stimme hinter ihnen ertönte, fuhren die Nomaden herum.

»Die Götter wollen die Versöhnung«, rief er laut. »Nur aus diesem Grund kommen die Komarchos. Empfangt sie mit der Gastfreundschaft, die einem solchen Ereignis gebührt.«

»Jagt ihn in die Wüste!« schrie jemand. Andere stimmten in den Ruf ein.

Karphos ließ sich davon nicht beeindrucken. Breitbeinig, mit verschränkten Armen, stand er da und blickte den Vogelreitern entgegen.

Fünfzig Meter entfernt zügelten die Komarchos ihre Tiere. Der Anführer und zwei seiner Begleiter saßen ab und kamen gemessenen Schrittes näher. Erstaunt stellte Yatsundor fest, daß sie unbewaffnet waren. In ihren Gürteln steckten lediglich kurze, glänzende Stöcke, wie er sie nie zuvor gesehen hatte.

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»Keinen Schritt weiter!« befahl Yatsundor. Er war überrascht, daß die drei tatsächlich stehenblieben. Der Stamm der Komarchos war als räuberisch verrufen.

»Fürchten die Beryulder sich vor uns?« Das klang keineswegs spöttisch, sondern ehrlich besorgt. Dabei war der Anführer der Vogelreiter ein Hüne von einem Mann. Sein nackter Oberkörper offenbarte beachtliche Muskelpakete. Die dunkle Haut glänzte vom Fett, mit dem er sich eingerieben hatte.

»Du schwingst große Worte«, stieß Yatsundor hervor. Das gleichbleibend freundlich Lächeln seines Gegenübers irritierte ihn mehr als er sich eingestand. Er ahnte, daß er Roderick vor sich hatte, von dessen Taten man sich an vielen Lagerfeuern erzählte. »Wir haben euch nicht hergebeten«, fügte er hinzu.

»Kein Komarcho läßt sich jemals bitten oder auch vertreiben. Allerdings ist es an der Zeit, die uralte Feindschaft zwischen uns Nomaden ein für allemal zu begraben. Überall im Land der Bathrer versöhnen sich die Sippen.«

»Ich kann es nicht glauben«, erwiderte Yatsundor ausweichend. »Weder unsere Väter noch die Väter unserer Väter lebten in Freundschaft miteinander.«

»Aber unsere Kinder und Kindeskinder werden erleben, daß Gemeinsamkeit zugleich Stärke bedeutet«, warf der Verkünder ein. »Die Götter sind erschienen, um uns auf den richtigen Weg zu führen.«

»Ihr hört es«, nickte Roderick. »Wir werden nur dann alle Geschenke erhalten, wenn wir gemeinsam wie eine Sippe handeln und denken.« Er schritt weiter auf die Zelte zu. Die Reiter in seiner Gefolgschaft saßen nun ebenfalls ab.

»Seht ihr nicht, daß sie uns überrumpeln wollen?« schrie eine Frau auf. Ein faustgroßer Stein flog durch die Luft, traf den rechts neben Roderick gehenden Mann, der lautlos in sich zusammensank.

Der Bann war gebrochen. Nur einen Augenblick lang zögerten die Verteidiger noch, dann stürmten sie unter lautem Triumphgeheul vorwärts. Es würde kein blutiger Kampf werden, das hatte es auch in der Vergangenheit fast nie gegeben, aber ein Kräftemessen wurde dennoch stets mit äußerster Erbitterung geführt.

Yatsundor ahnte Schlimmes, als er Roderick den seltsamen glänzenden Stab aus seinem Gürtel zerren sah. Jetzt erst bemerkt er, daß dieser innen hohl war und kaum mehr als sechs oder sieben Zentimeter durchmaß.

Roderick richtete den Stab auf den Boden zwischen sich und die heranstürmenden Beryulder. Zuckende Flammen und Rauch brachen aus der Öffnung hervor.

Alles geschah so schnell, daß Yatsundor nicht einmal einen warnenden Aufschrei herausbrachte. Der Boden – Steine, Gras, und Erde gleichermaßen – begann aufzuglühen. Im Nu umfaßte die lodernde Glut eine Fläche von mehreren Quadratmetern. Eine sengende Hitze strahlte davon aus.

Schreiend wichen die Verteidiger zurück. Die meisten von ihnen warfen in blankem Entsetzen die Waffen fort und suchen trügerischen Schutz in ihren Zelten.

Roderick hob den Stab und richtete ihn in den Zenit. Diesmal war Yatsundor darauf vorbereitet, was geschehen würde. Ein winziges glühendes Etwas raste hoch in den Himmel. Vorübergehend schien in der Dämmerung der hereinbrechenden Nacht eine neue Sonne aufzugehen. Aber schon nach wenigen Augenblicken zerfiel der Glutball zu Hunderten winziger Sternschnuppen, die flackernd herabsanken und dich über dem Boden erloschen.

***

»Die Götter haben uns neue Waffen gegeben, und ihre Diener, die Stahlmänner, lehrten uns, sie zu benutzen«, wandte der Anführer der Komarchos sich an Yatsundor, Morres und den Verkünder, die als einzige ausharrten. Auf dem Boden war eine kreisrunde Fläche glutflüssiger Lava

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zurückgeblieben.

»Auch der Stamm der Beryulder wird von den Göttern beschenkt werden. Fang auf!«

Roderick warf ihm den Stab zu. Yatsundor fing ihn geschickt auf. Er empfand Furcht vor diesem Ding, aber er verstand es, sie zu verbergen.

Die unglaubliche Waffe fühlte sich kühl an. Selbst als der Sippenführer sie eine Weile unschlüssig zwischen den Fingern drehte, wurde sie nicht wärmer. Sie war völlig glatt. Überhaupt hatte der Nomade ein solches Material nie zuvor gesehen. Am ehesten erinnerte es noch an Eis.

Endlich entdeckte er die Erhebung, die sich mühelos eindrücken ließ. Aber nichts geschah. Überrascht tastete er mit dem Finger in die Öffnung.

»Das Magazin ist leer«, erklärte Roderick. »Glaubst du, ich habe Lust, mit dir zusammen in die Luft zu fliegen?«

Yatsundor verstand nur soviel, daß die Waffe momentan nicht funktionierte. Zögernd reichte er sie zurück.

»Willst du uns nicht in dein Lager führen?« fragte Roderick.

Die Mandali wurden außerhalb des durch die Zelte begrenzten Platzes angepflockt. Zögernd streckten einige Nomaden die Köpfe aus ihren Behausungen. Von irgendwoher kam ein pralle, dünnhäutige rote Frucht geflogen und traf Karphos mitten ins Gesicht. Ehe der Verkünder es sich versah, war er über und über mit zähflüssigem Saft beschmiert.

Roderick begann herzhaft zu lachen. Etliche seiner Begleiter fielen darin ein. Obwohl Yatsundors Miene unbewegt blieb, war er innerlich aufs Äußerste angespannt. Er wußte, daß sein Stamm gegen die Komarchos so gut wie keine Chance hatte. Zudem verunsicherte ihn das Verhalten der räuberischen Nomaden. Etwas stimmte nicht, das spürte er.

Roderick und seine Sippe gaben sich alle Mühe, jeden Verdacht schon im Keim zu ersticken. Es war seltsam, wie diese ungestümen Gesellen versuchten, wenigstens die einfachsten Regeln der Höflichkeit einzuhalten.

Ein Feuer wurde entfacht. Im Schein der zuckenden, prasselnden Flammen saßen sich Komarchos und Beryulder gegenüber. Allmählich gewann die Neugierde die Oberhand, und immer mehr aus Yatsundors Sippe kamen näher.

»Wo ist eure Herde?« wollte Morres wissen.

»Wir haben keine mehr«, erwiderte Roderick.

»Wie soll ich das verstehen?« Überrascht kratzte Morres sich seinen Bart.

»Wir haben die Tiere freigegeben«, erklärte Roderick zu aller Erstaunen. »Sie wären uns nur hinderlich.«

»Aber…« warf Yatsundor ein. »Wie wollt ihr den kommenden Winter überstehen?«

»Die Götter werden uns mit allem versorgen, was wir zum Leben benötigen.«

»Habt ihr sie gesehen?«

»Wie kannst du noch daran zweifeln?« rief Karphos entrüstet aus.

»Natürlich standen wir ihnen gegenüber«, sagte Roderick. »Jeder von uns hat mit ihnen geredet. Im Tal der Götter warten sie darauf, daß alle Nomaden zu ihnen kommen.«

»Wie sehen sie aus?« fragte Yatsundor.

»Wie…«, Roderick schien zu überlegen. »Ich kann es nicht beschreiben«, gestand er. »Aber sie sagen, daß sie gekommen sind, uns, ihren Kindern, zu Macht und Reichtum zu verhelfen. Auch für dich, Yatsundor, haben sie ein Geschenk.« Einer seiner Männer reichte ihm ein in Felle gehülltes

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handliches Bündel, das er lächelnd an den Sippenführer der Beryulder weitergab.

Yatsundor zögerte einen Moment, ehe er es annahm. Dann schlug er die Felle zur Seite. Ein eigenartiges, mit Leder überzogenes Gebilde kam zum Vorschein. Es bestand aus zwei nebeneinanderliegenden sich verjüngenden Röhren, jede etwas mehr als eine Handspanne lang und an beiden Enden verschlossen.

»Was ist das?«

»Die Götter nennen es Fernauge«, erklärte Roderick. »Du siehst damit den Vogel in den Lüften, als wäre er nur einen Meter vor dir, und des Nachts hat es den Anschein, die Sonne sei niemals untergegangen.«

Mit der gebotenen Vorsicht hob Yatsundor das Ding und hielt die breiten Enden dicht vor seine Augen. Er sah nichts, selbst die Sterne waren schlagartig verschwunden.

»Und?« drängte Morres.

Yatsundor richtete das Fernauge auf das Feuer und die daneben sitzenden Nomaden. Unwillkürlich schrie er auf und ließ das Ding sinken.

Yatsundor blinzelte verwirrt. »Ich konnte euch sehen«, stieß er hervor. »Aber so klein«, mit Daumen und Zeigefinger zeigte er die Größe, »und scheinbar Meilen weit entfernt.«

»Die Stahlmänner haben uns gelehrt, mit den Geschenken richtig umzugehen.« Ein nachsichtiges Lächeln umspielte Rodericks Züge. »Du mußt das Fernauge umdrehen.«

Yatsundor hielt die schmäleren Enden der beiden Röhren an seine Augen. Im nächsten Moment sprang er erregt auf, drehte sich, einmal um sich selbst. Mit zitternden Händen reichte er das Fernauge an Morres weiter, dessen Reaktion nicht einen Deut anders ausfiel. Der Horizont lag plötzlich zum Greifen nahe vor ihnen und war so lichtüberflutet wie zur Mittagszeit. Jeder einzelne Berg im Osten hob sich deutlich von der Silhouette schroffer Gipfel und Zinnen ab. Sogar einige Städte der Bathrer, die wie Vogelnester an den Hängen klebten, waren zu erkennen.

»Unglaublich.« Morres gab das Fernauge an Yatsundor zurück, der es nun fast ehrfürchtig entgegennahm.

»Siehst du Ophanalom?« wollte Roderick wissen.

Yatsundor wurde rasch mit dem Geschenk vertraut. Er suchte das Gebirge ab, bis er am Rand eines gewundenen Taleinschnitts die hohen Mauern der Stadt entdeckte. Ophanalom hatte den Nomaden nie viel Widerstand entgegensetzen müssen. Allein aufgrund ihrer Bauweise war sie so gut wie uneinnehmbar. Yatsundor wußte dies aus eigener Erfahrung. Es lag erst zwei Jahre zurück, daß sein Stamm unmittelbar vor Wintereinbruch versucht hatte, die Mauern zu erstürmen. Nach Tagen sinnloser Belagerung waren sie unter dem Hohngelächter der Bathrer unverrichteter Dinge wieder abgezogen.

»Mit vereinten Kräften werden wir Ophanalom erobern«, sagte Roderick. »Die Götter wollen, daß wir die Priester zu ihnen bringen. Zur Belohung erhalten wir alle neue Waffen.«

Yatsundor schluckte seinen Widerspruch hinunter. In den letzten Stunden hatte sich vieles verändert. Weshalb sollte es nicht möglich sein, Ophanalom einzunehmen?

»Was geschieht mit den Priestern?« hörte er sich fragen. »Sie haben nie unsere Götter geachtet, nur ihren Großen Geist der Harmonie.«

Spöttisch verzog Roderick die Mundwinkel. »Etliche von ihnen wurden inzwischen eines Besseren belehrt, sobald sie das Tal der Götter erreichten.«

***

Spät in der Nacht kehrte endlich Stille ein. Die fünfzig Reiter in Rodericks Gefolgschaft hatten ihre

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eigenen Zelte aufgeschlagen.

Yatsundor war allein mit sich und seinen Gedanken. Nach allem, was er gesehen und gehört hatte, zweifelte er nicht mehr daran, daß Götter nach Cairon gekommen waren – aber waren es wirklich die Götter der Nomaden? Er mußte an die silberne Scheibe denken, von der er nachträglich glaubte, daß es ein Himmelswagen gewesen war. Die Sagen verschiedener Sippen sprachen von solchen Gefährten, die schnell wie der Wind die Welt durchmaßen.

Ein Geräusch ließ ihn aufmerken. Jemand schlich an seinem Zelt vorbei, verharrte und lief dann mit schnellen Schritten weiter.

Im Nu war der Sippenführer auf den Beinen, griff nach dem Fernauge und schlug das Eingangsfell zurück. Draußen herrschte fast stockdunkle Nacht. Wolken waren aufgezogen und verdeckten nahezu den ganzen westlichen Himmel. Nur die Glut des inzwischen in sich zusammengefallenen Feuers beleuchtete noch gespenstisch flackernd das Rund.

Yatsundor lauschte in die Nacht. Das Knistern der glimmenden Holzscheite und die gleichmäßigen Atemzüge der Schlafenden erschienen ihm plötzlich überlaut. Aus der Richtung der angepflockten Laufvögel erklang ein unruhiges Schaben. Er nahm das Fernauge und blickte hindurch. Erneut erschrak er, als er das Lager scheinbar in gleißender Helligkeit vor sich sah. Er erkannte den Mann sofort, der sich gerade an den Satteltaschen eines der Mandali zu schaffen machte. Aber was war in Morres gefahren, daß er solcherart Regeln der Gastfreundschaft verletzte? Seine Nähe versetzte die Tiere zunehmend in Unruhe.

Yatsundor stieß das scharfe Bellen einer Steppenhyäne aus. Sofort hob Morres den Kopf, blickte suchend zu ihm herüber und wühlte noch hastiger in den Satteltaschen. Die Mandali zerrten an den Pflöcken, ihre Krallen rissen tiefe Furchen in das Erdreich.

Endlich schien Morres etwas Außergewöhnliches gefunden zu haben. Als er die Hand zurückzog, hielt er ein etwa faustgroßes Ei umfaßt. Es war von schwarzer Farbe und von netzförmigen Vertiefungen durchzogen. Yatsundor konnte dieses Ei durch das Fernauge so deutlich erkennen, als hielte er es selbst in Händen. Nur der dünne Ring am spitzen Ende irritierte ihn.

In dem Moment, in dem Morres an dem Ring zog und ihn unvermittelt abriß, näherten sich ihm zwei Komarchos mit weiten Sätzen. »Wegwerfen!« schrien sie mit allen Anzeichen deutlichen Entsetzens.

Morres zerrte die Steinaxt aus seinem Gürtel – der erste der Angreifer wurde von seinem Hieb regelrecht von den Beinen gerissen und überschlug sich. Bis er die Axt allerdings wieder hoch brachte, sprang ihn der zweite mit der Geschmeidigkeit einer Wildkatze an. Gemeinsam gingen sie zu Boden. Morres’ abwehrende Bewegung kam zu spät, doch der Komarcho hatte es nur auf das Ei abgesehen. Kaum hatte er es ihm entrissen, schleuderte er es mit weit ausholender Bewegung von sich.

Nicht einmal einen Lidschlag später erfüllte Donnerhall die Luft. Wo das schwarze Ei aufgeschlagen sein mußte, stieg eine Feuersäule empor und wirbelte Dreck und Geröll mit sich.

Schlagartig wurde es im Lager lebendig. Yatsundor mußte sich mühsam Gehör verschaffen, um zu verhindern, daß Beryulder und Komarcho-Sippe sich feindselig gegenübertraten. Zu seiner Überraschung zeigten Roderick und dessen Männer sogar Verständnis, sie warnten aber auch jeden davor, Morres’ heimlichen Versuch zu wiederholen. »Ihr wißt nicht, was euch erwartet«, sagten sie. »Die Waffen der Götter sind für jeden tödlich, der sie nicht versteht.« Roderick hob eines der schwarzen Eier hoch, daß alle es sehen konnten. »Das sind Donnereier«, rief er. »Mit ihrer Hilfe werden wir die Mauern jeder Stadt zum Einsturz bringen. Aber sie können jeden auch in tausend Stücke zerreißen, der eines davon zu lange in der Hand hält.« Ruckartig riß er den Ring ab und schleuderte das Ei. Wo es auftraf, hinterließ es einen mehr als metertiefen Krater im Boden.

»Wenn ihr über solch schreckliche Waffen verfügt«, sagte Yatsundor, »weshalb beraubt ihr uns nicht unserer Herde und laßt uns in Armut zurück, wie ihr es früher getan hättet?«

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Rodericks Lachen klang spöttisch. »Was sollen wir mit den Tieren?« antwortete er. »Jetzt, da wir den Reichtum der Städte haben können. Die Götter wollen, daß alle Nomaden künftig wie eine Sippe sind, und wir achten ihren Willen.«

»Ich will mit den Göttern reden«, sagte Yatsundor.

»Dazu wirst du Gelegenheit bekommen, sobald wir Ophanalom erobert haben«, nickte Roderick. »Wenn die Sonne sich über die Berge erhebt, brechen wir auf. Laß alle Vleehs, die wir nicht zum Reiten benötigen, frei.«

»Nein.«

»Was soll das heißen?«

»Daß ich nicht bereit bin, unsere Herde schöner Worte wegen aufs Spiel zu setzen.«

Verständnislos zuckte Roderick mit den Schultern. »Das ist deine Entscheidung. Du wirst sie über kurz oder lang widerrufen.«

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2.Thykonon schreckte jäh aus seinen Betrachtungen auf und schob das uralte Pergament zur Seite. Er spürte, daß sich etwas verändert hatte, auch wenn er nicht in der Lage war, diese Veränderung im normalen Geschehen zu lokalisieren. Eine düstere Wolke schien über der Stadt zu schweben. Sie störte die Harmonie.

Thykonon starrte in die unruhig flackernde Kerzenflamme vor ihm auf dem Tisch. Der Docht war zu lang und rußte heftig. Aber niemand hatte die Tür geöffnet – woher kam der Wind, der mit der Flamme spielte?

Eine ganze Weile verging, ehe er bemerkte, daß er heftig atmete. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, perlte über die Schläfen.

Eine Woge der verschiedensten Empfindungen überschwemmte ihn, als er seine Sinne nach außen öffnete. Harmonie erfüllte das Leben der Bathrer. Aber da war auch etwas anderes. Es entzog sich seinem Zugriff.

Schnellen Schrittes verließ er den Raum. Der unregelmäßig geformte Gang lag verlassen vor ihm. Kalkstein bildete den Hauptbestandteil des Höhlenlabyrinths. Vor Urzeiten mußten hier verzweigte Wasseradern existiert haben, die den Stein ausgewaschen und ein brauchbares Skelett für den Aufbau der Stadt hinterlassen hatten.

Alles atmete den Geist der Harmonie. Der Kalk, der hier unten in mühsamer Arbeit gewonnen wurde, eigentlich ein Abfallprodukt beim steten Vergrößern der Höhlen, wurde für die Gärten und Felder benötigt, die sich auf den Dächern der Oberflächengebäude erstreckten. Jede Stadt versorgte sich auf diese Weise selbst.

Weit vor sich vernahm Thykonon laute, aufgeregte Stimmen. Jemand schrie. Der Priester durchquerte zwei Höhlen, in denen Nahrungsvorräte gelagert wurden. Quietschend flohen Ratten vor ihm in die Dunkelheit. Auch sie besaßen das Recht zu leben. Der Große Geist der Harmonie war für alle da, für das kleinste Tier ebenso wie für jeden Bathrer, sogar für die Nomaden, auch wenn diese sich bis heute weigerten, das anzuerkennen.

Thykonon seufzte ergeben. Er hoffte, daß die Nomaden eines Tages ihre sinnlosen Angriffe auf die Stadt aufgeben würden und zur Vernunft kamen.

Die Schreie waren lauter geworden, und Thykonon sah eine Gruppe von Bathrern vor sich. Die Männer und Frauen wichen bereitwillig vor ihm zur Seite.

Er erkannte, was sich keine zwanzig Meter entfernt abspielte. Mit einem einzigen Blick erfaßte er die erschreckende Szenerie.

Der hagere, hochgewachsene Mann, der verkrampft eine Hacke in Händen hielt, wie sie zum Kalkabbau benutzt wurden, war ebenfalls ein Priester. Allerdings erinnerte nur seine Kleidung daran. Sein verzerrtes Gesicht und die kampfbereite Haltung hätten eher zu einem Nomaden gepaßt.

Und noch etwas sah Thykonon: zwei Priesterschüler hatten versucht, den Mann zu beruhigen. Einer der Jungen wälzte sich verkrampft am Boden. Sein Umhang war zerrissen, eine blutige Schramme zog sich quer über seinen Oberkörper. Der andere war furchtsam zurückgewichen und versuchte nun vergeblich, den Angreifer von sich fernzuhalten.

»Syrkon!« stieß Thykonon hervor. »Halt ein!«

Ruckartig wandte sich der Priester ihm zu, starrte ihn aus blutunterlaufenen Augen an. Obwohl sie gute Freunde waren, zeigte sich kein Erkennen in ihnen.

»Weiche von mir, Dämon!« kreischte er. »Verlasse Ophanalom, oder ich töte dich.«

Der Frevel war ungeheuerlich. Erst als der andere mit erhobener Hacke auf ihn zukam, überwand Thykonon sein Entsetzen.

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»Ich bin es, dein Freund.«

»Ein Dämon, der seine Gestalt angenommen hat. Ich durchschaue dich.« Syrkon ließ sich nicht aufhalten. Im Kreis schwang er die Hacke über dem Kopf.

Thykonon wich zurück. »Bringt euch in Sicherheit«, rief er den Bathrern hinter sich zu. Es fiel ihm unsagbar schwer, sich zu konzentrieren, seine Sinne, sein Wahakü nur auf den Angreifer zu vereinen. Er wollte noch immer nicht glauben, daß ein Priester zu solchem Tun fähig war.

Syrkon spürte wohl die beginnende Beeinflussung. Er begann zu toben, schlug blindlings um sich. Wo immer die Hacke auf die Wände traf, riß sie groß Kalkbrocken heraus.

»Beruhige dich«, murmelte Thykonon lautlos. Plötzlich war da eine zweite Kraft neben der seinen. Turman, einer der Schüler, hatte eingegriffen. Gemeinsam gelang es ihnen, den Widerstand des Tobenden zu brechen. Thykonon schickte ihm Gedankenbilder, die ihn beruhigen mußten.

Tatsächlich ließ Syrkon kurz darauf die Hacke fallen. Seine Finger verkrallten sich um seinen Schädel, als er langsam und von heftigem Schluchzen geschüttelt in die Knie brach. Augenblicke später verlor er die Besinnung.

»Bindet ihn«, bat Thykonon die ersten Bathrer, die sich wieder heranwagten. »Danke für deine Hilfe«, sagte er im selben Atemzug zu Turman und wandte sich Norphan, dem zweiten Priesterschüler, zu. Es stellte sich heraus, daß dessen Wunde weniger tief war, als es den Anschein gehabt hatte. Sie mochte schmerzhaft sein, aber mit Hilfe geeigneter Kräuter bald verheilen.

***

Syrkons Bewußtlosigkeit hielt ungewöhnlich lange an. Er kam auch dann nicht wieder zu sich, als einige Bathrer ihn in Thykonons Höhle trugen. Die beiden Schüler folgten dem Priester, ohne daß es einer besonderen Aufforderung bedurfte.

Thykonon ließ sich in einem aus rohen Ästen gezimmerten Stuhl nieder. Unablässig ruhte sein Blick auf dem Gefesselten. »Was ist vorgefallen?« wollte er wissen. »So weit ich zurückdenken kann, hat sich kein Priester in solcher Weise gegen die Harmonie versündigt.«

»Er kam von oben«, sagte Turman und meinte damit die zumeist erst in den letzten Generationen errichteten Bauten außerhalb des Kalkfelsens.

»Es kam ganz plötzlich über ihn«, nickte Norphan.

»Aber zuvor murmelte er etwas von einem bösen Geist«, fügte Turman hinzu.

»Ein böser Geist…« überlegte Thykonon. Unwillkürlich entsann er sich der Wolke von Düsternis, die ihn gestreift hatte. Sollte Syrkon mehr gespürt haben?

»Ophanalom ist in Gefahr, hat er gerufen«, entsann sich Norphan. »Dann riß er einem der Arbeiter die Hacke aus der Hand und begann, um sich zu schlagen.«

Thykonon preßte die Lippen aufeinander, bis sein Mund zu schmerzen begann. Er konzentrierte sich auf den Bewußtlosen. Die Schüler verstummten abrupt, als sie das erkannten.

Unvermittelt, fuhr der Priester hoch. Er war außer sich vor Erregung.

»Sein Wahakü ist fort«, rief er.

Turman und Norphan blickten sich aus großen Augen an, dann schüttelten beide wie auf ein geheimes Kommando hin den Kopf. »Das ist unmöglich«, sagte der Verwundete. »Nur wenn ein Priester stirbt, verschwindet sein Wahakü.«

Heftig winkte Thykonon ab. »Syrkon hat seinen Sinn für die Harmonie verloren«, stellte er nachdrücklich fest. »Ich beginne zu ahnen, daß es mit dem bösen Geist zusammenhängt. Hört!« Er legte den Kopf schräg und lauschte. »Was ist das?«

Dumpfe Geräusche drangen von oben herab in die Kalksteinhöhlen. Fast klang es, als sei

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gleichzeitig eine Vielzahl von Gewittern losgebrochen. Und in das Rumoren mischten sich die hektischen Schreie der Bathrer.

Ein Überfall der Nomaden? Zu einer Jahreszeit, da man es am wenigsten erwartete?

»Wir müssen hinauf und helfen!« rief Thykonon. »Die Harmonie darf nicht gefährdet werden.«

***

Zwei Tage und Nächte hindurch waren sie geritten, als wären die Sandgeister hinter ihnen her, und hatten sich und ihren Tieren nur kurze Erholungspausen gegönnt. Dann, in der Morgensonne des dritten Tages, lagen die hohen Mauern von Ophanalom endlich vor ihnen.

Roderick gab das Zeichen zum Halten. Die Nomaden scharten sich um ihn. Auch die Beryulder – ebenfalls fünfzig an der Zahl – waren längst vom Fieber des bevorstehenden Angriffs erfaßt worden. Yatsundor hatte die tapfersten und mutigsten Männer seines Stammes ausgewählt. Frauen und Kinder waren bei der Herde zurückgeblieben und zogen mit dieser südwärts. »Deine Vorsorge in allen Ehren«, hatte Roderick mehrmals zu verstehen gegeben, »aber nach der Begegnung mit den Göttern wirst du erkennen, daß dies unnötig ist.«

Die Sonne stieg höher, stand schließlich in voller Größe hinter dem jenseitigen Ende des Taleinschnitts. Ihre Strahlen hüllten die Stadt in eine flirrende Aura der Helligkeit. Bald wurden die äußeren Mauern von einem fahlen Gelb umflossen, das kräftiger wurde und in Orange überging, je weiter man sich näherte. Ein Regenbogen schien Ophanalom zu umgeben, dessen Farben in raschem Spiel wechselten. Erst als die Nomaden bis auf weniger als eine Meile herangekommen waren und die Sonne gut eine Handbreit über dem Horizont stand, hatte es den Anschein, als verwandelten die Mauern sich in weißen Kalkstein zurück.

Ein einziger Weg führte den Hang hinauf. Er war breit genug, um selbst ein Wagengespann passieren zu lassen.

In Zweierreihen ritten die Nomaden weiter – Roderick und Yatsundor an der Spitze und die Angehörigen beider Stämme bunt gemischt im Anschluß. Ophanalom lag wie ausgestorben vor ihnen, doch das besagte herzlich wenig. Zumindest der Torwächter mußte die Reiter längst bemerkt und Alarm geschlagen haben.

Hundert Meter vor der Stadtmauer verharrten die Nomaden. Trutzig ragte sie gut vier Mannslängen hoch auf, besaß weder Vorsprünge noch Unebenheiten, und das wuchtige Tor stellte die einzige Öffnung dar, durch die man passieren konnte. Nicht nur vor der Mauer, auch auf ihrer Krone wucherte dichtes, dorniges Gestrüpp, das Angreifer abschrecken sollte.

»Verschwindet!« erklang es plötzlich. Das vielfach verhallende Echo machte es unmöglich, zu erkennen, woher der Ruf gekommen war.

Um Yatsundors Mundwinkel zuckte es wütend. »Es ist jedesmal dasselbe«, schimpfte er. »Die Bathrer sind ein feiges Pack, aber hinter ihren Mauern fühlen sie sich sicher.« Trichterförmig legte er die Hände vor den Mund: »Gebt uns von eurem Besitz, oder wir kommen und holen ihn.«

Schallendes Gelächter war die einzige Antwort. Auf einem der peripher gelegenen Dächer wurden Männer sichtbar, die ein hölzernes Katapult hinter Sträuchern hervorrollten.

Einige von Yatsundors Nomaden trieben ihre Vleehs vorwärts. Die unmittelbare Nähe der Stadt ließ sie jede Disziplin vergessen, sie hörten nicht mehr auf die Rufe ihres Sippenführers, der sie zurückhalten wollte.

»Laß sie.« Besänftigend legte Roderick seine Hand auf Yatsundors Arm. »Warum sollen die Bathrer nicht glauben, daß sie uns mühelos zurückschlagen können? Um so größer wird der Spaß werden, den wir dann haben.«

Ein Knarren und Krachen ertönte aus der Höhe, als das Katapult ausgelöst wurde. Die Bathrer hatten genau gezielt – das Geschoß riß einen der Nomaden aus dem Sattel. Zerplatzend gab die prall

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gefüllte Schweinsblase ihren klebrigen Inhalt frei. Nicht nur, daß der Mann nun tagelang stinken würde, daß es niemand in seiner Nähe aushielt, die Flüssigkeit würde auch Schwärme von Insekten anlocken, deren er sich kaum erwehren konnte.

Mit einer Vielzahl von Haken versehene Seile schwirrten durch die Luft. Kaum hatten sie sich im dichten Gestrüpp verfangen, wendeten die Nomaden ihre Vleehs. Die Sträucher wurden regelrecht entwurzelt und mitgeschleift.

Der Weg zur Mauer war frei. Triumphgeheul ausstoßend, ritten immer mehr Beryulder los. Zwei weitere wurden von Geschossen des Katapults getroffen und am Kämpfen gehindert. Die anderen sprangen am Fuß der Mauer von ihren Tieren. Sie schleuderten weitere Seile nach oben. Als die ersten ausreichenden Halt boten, flammten die Büsche an mehreren Stellen auf. Dunkler, rasch aufsteigender Qualm verschleierte die Szene. Er machte es den Bathrern schwer, die Angreifer zu erkennen, die bereits in die Höhe hangelten.

»Sie schaffen es«, triumphierte Yatsundor. »Diesmal waren die Verteidiger nicht auf der Hut.«

Er hatte sich zu früh gefreut. Als der Rauch sich vorübergehend lichtete, gewahrte er kugelförmige rote Gebilde auf den Mauern. Sandwühler, die sich angriffslustig zu einem Vielfachen ihrer Größe aufgebläht hatten. Nur die Dämonen von Cairon mochten wissen, wie es den Bathrern gelungen war, diese Tiere zu fangen.

Enttäuschtes Geheul hallte von der Mauer herüber. Die Nomaden dort waren ebenfalls aufmerksam geworden. Sie zögerten, weiterzuklettern. Es gab Geräusche, als würde ein Unwetter losbrechen, als die Sandwühler schlagartig die Luft aus ihren Körpern herauspreßten. Der erste der Angreifer verlor den Halt, wurde wie ein welkes Blatt im Herbststurm davongewirbelt. Zum Glück konnte er seinen Sturz abfangen, denn er kam sofort wieder auf die Beine und hastete davon.

»Kommt nächstes Jahr wieder«, spotteten die Bathrer lautstark. »Vielleicht habt ihr dann gelernt, euch gesittet zu benehmen.«

Yatsundor sah, daß Roderick die Fäuste ballte. »Pfeife deine Männer zurück!« befahl der Anführer der Komarchos. Er hielt das Feuerrohr in Händen. Flammen und Rauch brachen aus der Öffnung hervor, die Mauer glühte unmittelbar neben dem Tor auf. Aber der Kalkstein war dick genug, um selbst den Waffen der Götter im ersten Ansturm widerstehen zu können.

Roderick gab das Zeichen zum Auffächern. Seine Reiter stoben auseinander. Donnereier wurden geworfen – ihre Wirkung mußte die Bathrer in Angst und Panik versetzen. Erste Durchbrüche entstanden in der Mauer, heftige Detonationen rissen das Tor aus den Verankerungen.

Roderick stieß seinem Mandalon die Hacken in die Seite, daß der Laufvogel einen weiten Satz vorwärts machte. Noch einmal betätigte er das Feuerrohr. Wie von einer Titanenfaust wurden die Reste des Tores zur Seite gewirbelt.

Schreiend flohen die Bathrer vor den Eindringlingen, als sie erkannten, daß das Glück sich gewendet hatte. Das Chaos brach aus. Überall flackerten kleinere Brände auf. Rauch begann, den Himmel über der Stadt zu verdunkeln.

Yatsundor hielt sich dicht hinter Roderick, der sein Mandalon blindlings über den unmittelbar an das Tor anschließenden Marktplatz trieb und sich einen Spaß daraus machte, verängstigte Bathrer zu jagen.

»Treibt sie zusammen!« brüllte der Komarcho. »Allein ein gefangener Städter ist ein guter Städter. Und achtet auf die Priester.«

Panik ließ die Bathrer jede Harmonie vergessen. Steine flogen von mehreren Seiten heran, trafen aber nur in den seltensten Fällen. Aus den Augenwinkeln heraus gewahrte Yatsundor einen Schatten auf sich zukommen. Instinktiv duckte er sich. Es war eine Schweinsblase, die wenige Meter weiter aufschlug und ihren stinkenden Inhalt verspritzte.

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Das Katapult war jetzt auf den Innenhof gerichtet. Doch ehe die Bathrer es erneut spannen konnten, waren Nomaden heran und überwältigten sie.

Roderick hatte ein fast armlanges Rohr von seinem Sattelgurt gelöst. Als er es in die Hüfte stemmte, begann es ratternd aufzubellen. Auf der einen Seite verschluckte das Rohr ein ellenlanges Band mit fingerdicken Hülsen, auf der anderen spuckte es sie wieder aus. Winzige Flammen schlugen aus dem vorderen Ende. Fasziniert verfolgte Yatsundor, was geschah. Wohin Roderick das Rohr auch richtete, überall wurden aus den Wänden faustgroße Brocken herausgerissen, und das mit einer Geschwindigkeit, als würde ein Gott mit einem Flammenschwert den Kalkstein durchschneiden.

Ein helles Klicken zeigte an, daß das Band zu Ende war. Roderick warf es achtlos zur Seite und löste ein zweites von seinem Sattel.

»So ein Rohr möchte ich auch«, brachte Yatsundor tonlos hervor.

»Es ist ein Tausendtöter.« Roderick bedachte ihn mit einem siegessicheren Lachen.

Wieder begann das Rohr zu hämmern. Tack-tack-tack-tack… Ohne Unterbrechung. Und dann konnte Yatsundor sehen, was aus einem Lebewesen wurde, das vor den Tausendtöter geriet. Es war zwar nur ein Sandwühler, der regelrecht zerplatzte, aber der Sippenführer vermochte sich unschwer vorzustellen, was mit einem Bathrer geschehen würde. Er verspürte plötzlich eine würgende Übelkeit. Konnte das der Wille der Götter sein? Selbst den kriegerischen Nomaden hatte ein Leben stets viel gegolten, und sie hatten nie ohne zwingende Notwendigkeit getötet. Doch eine einzige ungeschickte Bewegung Rodericks mochte nun vielen zum Schicksal werden.

Yatsundor beschloß, die Götter darauf anzusprechen, sobald er ihnen gegenüberstand. Die Götter der Nomaden spendeten Fruchtbarkeit, sie gaben Regen und Sonne, Wind und Kälte, aber sie überließen die Entscheidung über Leben oder Tod nicht einem bloßen Zufall.

Die Angreifer drangen unaufhaltsam weiter in die Höhlen, Gänge und Kammern der Stadt vor. Von außen war nicht zu erkennen gewesen, wie tief diese in Wirklichkeit in den Fels hineinreichten. Yatsundor schätzte, daß in Ophanalom gut und gerne 5000 Bathrer lebten, und die Zahl war wohl noch um einiges zu tief gegriffen.

Die ersten Priester fielen den Nomaden in die Hände. Es war in der Tat erstaunlich, wie wenig Widerstand sie boten. Selbst wenn sie die Gelegenheit dazu gehabt hätten, verhielten sie sich passiv.

»Wo ist euer Großer Geist der Harmonie?« polterte Roderick. »Warum hilft er euch nicht, wenn ihr seiner am dringendsten bedürft?«

***

Ophanalom brannte. Eine auffrischende Brise trieb den Rauch tiefer ins Gebirge hinein. An etlichen Stellen stürzten die Höhlen ein.

Viele Bathrer waren geflohen. Die Nomaden hatten sie nicht verfolgt, denn sie waren mit ihrer Beute überaus zufrieden. Zwei Dutzend Priester und Säcke voll metallener Gegenstände. Die Götter würden das zu würdigen wissen.

Rodericks Blick schweifte über die Ruinen und verharrte auf den verängstigten Männern, Frauen und Kindern, die man im Tal zusammengetrieben hatte. »Sie werden nicht verhungern, wenn wir sie zurücklassen«, stellte er mehr für sich selbst fest und gab sich einen merklichen Ruck. »Wir brechen auf. Hier ist nichts mehr zu holen.«

Sie ritten ein Stück in westliche Richtung und schwenkten dann nach Süden ab. Zwischen den Ausläufern des Gebirges und der Steppe wand sich ein seichter Fluß ebenfalls dem Mittag entgegen. An seinem Ufer war ein leichtes Vorwärtskommen.

Die Nomaden rasteten erst, als die Schwärze der Nacht schon über den ’östlichen Horizont heraufstieg. Jene, die mit der stinkenden Flüssigkeit aus den Schweinsblasen in Berührung gekommen waren, wuschen sich ausgiebig und wälzten sich anschließend im feinen Ufersand, um

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den ihnen nach wie vor anhaftenden Geruch so gut wie möglich zu dämpfen. Die Priester wurden gefesselt und streng bewacht, damit sie nicht fliehen konnten.

Mit vergorenem Saft gefüllte Schläuche machten die Runde. Die von den Anstrengungen des Tages ohnehin erschöpften Nomaden waren rasch benommen. Uralte Stammesgesänge erfüllten die Nacht.

»Wir haben einen überwältigenden Sieg errungen«, stellte Roderick fest. »Die Götter werden zufrieden sein, wenn wir ihnen gegenübertreten.«

»Wo liegt ihr Tal?« wollte Yatsundor wissen.

»Im Süden.«

Morres starrte in die allmählich erlöschenden Flammen des Lagerfeuers. »Das ist mir zu ungenau«, stieß er abgehackt hervor. »Wie sollen wir hinfinden?«

»Wir führen euch«, sagte Roderick.

Morres nickte schwer. Er hob den Schlauch, den er in Händen hielt, und ließ den letzten Rest des Getränks ins Feuer tropfen.

Yatsundor rollte sich neben der Asche zusammen, von der eine angenehme Wärme ausging. Zumindest während der frühen Morgenstunden wurde es am Wasser empfindlich kalt. Tanzende Irrlichter in der Glut begleiteten den Sippenführer der Beryulder in den Schlaf.

Aber irgendwann, es konnte noch nicht viel Zeit vergangen sein, schreckte er hoch. Schlaftrunken benötigte er eine Weile, um sich zurechtzufinden. Erst die Erkenntnis, daß er allein war, ließ jäh jede Müdigkeit von ihm abfallen.Über ihm erstrahlten die Sterne. Yatsundor erschauderte unwillkürlich, denn er spürte ihren eisigen Odem. Und war da nicht ein Gesicht? Er versuchte, die Umrisse zu erkennen, aber sie verschwammen immer wieder, sobald er sich darauf konzentrierte.Das Fernauge!Er hob das Geschenk der Götter, um hindurchzusehen. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag: er blickte geradewegs in weit aufgerissene, glühende Augen, die ihn aus der Höhe herab durchdringend musterten.Die Augen eines Gottes!Ächzend ließ Yatsundor sich vornüber in die Knie sinken, vergrub die Stirn im Sand. Er zitterte. Eine Berührung an der Schulter ließ ihn ehrfürchtig erschaudern.

Jemand schüttelte ihn heftig. Dann schlug ein Schwall eisigen Wassers über ihm zusammen. Prustend rang er nach Luft.

»Komm zu dir!« Das was Morres’ Stimme. »Sag schon, was ist geschehen?«

Blitzartig richtete Yatsundor sich auf. Alle standen um ihn herum: Morres, Karphos, Roderick…

»Du hast geschrien, als ginge es mit dir zu Ende«, sagte Morres.

»Ich… ich weiß nicht.« Yatsundor hatte fürchterliche Kopfschmerzen. Mit den Fingerspitzen begann er seine Schläfen zu massieren, ohne jedoch eine Linderung zu erreichen. »Ich muß geträumt haben – aber ich erinnere mich kaum.« Einer jähen Eingebung folgend, blickte er zu den Priestern hinüber. Sie schliefen ruhig. Dennoch traute er ihnen nicht über den Weg. Konnte er ausschließen, daß sie ihn auf irgendeine Art zu beeinflussen versuchten? Er beschloß, auf der Hut zu sein.

***

Der Rest der Nacht verlief ohne weitere Zwischenfälle. Mit den ersten Strahlen der Morgensonne setzten die Nomaden ihren Weg fort. Sie kamen zügig voran.

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Gegen Mittag bog der Fluß, dem sie bislang gefolgt waren, nach Westen ab. Für eine Weile war noch die üppige Vegetation vorherrschend, dann begann das Land zunehmend zu verkarsten.

Roderick ließ Rast machen. »Vor uns liegen die Ausläufer der Großen Wüste«, sagte er. »Wenn wir sie durchquert haben, ist es nicht mehr weit bis zum Tal der Götter.«

»Dazu brauchen wir jedoch mindestens drei Tage«, stellte Yatsundor fest. »Mit den Packtieren und den Gefangenen kommen wir ohnehin nicht so schnell voran, wie ich es gerne hätte.«

»Ungeduldig?« wollte Roderick wissen. Er erhielt keine Antwort.

Das Gras wuchs spärlicher; Bäume und Blumen verschwanden gänzlich. Dafür zeichneten sich am Horizont die ersten sanft geschwungenen Dünen ab. Dornenbewehrte, dickhäutige Gewächse prägten bald das Bild. Es wurde drückend schwül. Erst der Abend brachte mit einem auffrischenden Ostwind Erleichterung.

Die Nomaden lagerten am Rand der Großen Wüste. Die Nacht barg kaum Geräusche. Hier gab es wenig jagdbares Getier, von den Heerscharen von Springmäusen einmal abgesehen, die wie lautlose Geister über den Sand huschten.

Der Morgen erlebte ein ungewöhnliches, höchst seltenes Naturschauspiel. Mit unglaublicher Schnelligkeit ballten sich Wolken zusammen. Die Tiere, die das Unwetter schon vorher geahnt haben mußten, ließen sich von ihren Reitern kaum beruhigen. Man hatte nicht einmal eine Meile zurückgelegt, als, begleitet von tosendem Donner, die ersten verästelten Blitze das Firmament spalteten. Der Himmel öffnete seine Schleusen. Es goß in Strömen. Aber die Wassermassen waren einfach zu viel, als daß das ausgedörrte, durstige Land sie schnell genug hätte aufnehmen können. Im Nu wälzte sich eine schmutzigbraune Flut die Dünen hinab. Überall stand das kostbare Naß gut eine Handspanne tief.

So plötzlich wie er begonnen hatte, endete der Gewitterguß wieder. Das Wasser versickerte blasenwerfend im Sand. Stechend brach die Sonne durch die aufreißende Wolkendecke hindurch. Ihre Strahlen sogen den Rest von Feuchtigkeit auf. Dunstschwaden breiteten sich über der Wüste aus. Schemenhaft tauchten die Nomaden darin ein. Den Vleehs und Mandali hing der Atem fast unbewegt vor den Nüstern. Jedes Schnauben, jeder laute Zuruf, wurde vom Nebel dumpf verzerrt wiedergegeben. In der Wüste regte sich neues Leben. Sporen und Samen von Pflanzen, bislang unsichtbar im Sand verborgen, begannen in erstaunlicher Schnelligkeit zu keimen. Überall entstand zartes, helles Grün, das sich über das triste Graubraun ausbreitete.

Die Wüste blühte. Vor den Nomaden erstreckte sich ein Meer der unterschiedlichsten Pflanzen, das jedoch spätestens in der Mittagsglut wieder verdorrte.

»Die Harmonie ist gestört«, seufzte einer der gefangenen Priester.

Flirrender Sonnenglast lag über dem nahen Horizont. Von den Dünen wehte stetig eine feine Sandschicht herab. Sie ließ den Eindruck unablässiger Bewegung entstehen.

Jemand stieß einen überraschten Ausruf aus. Von Osten her näherte sich eine Staubwolke. Für eine Windhose war die Erscheinung zu ausgedehnt. Sie zog sich mindestens über eine Meile hin.

Roderick richtete sich im Sattel auf. »Gib mir das Fernauge, schnell«, forderte er Yatsundor auf. Er blickte nur flüchtig hindurch und zuckte zusammen. »Es sind Tiere«, stieß er hervor. »Eine unüberschaubare Herde. Was immer sie in Panik versetzt hat: Sie werden nicht aufzuhalten sein.« Sein Gesicht wirkte verzerrt, als er sich Yatsundor wieder zuwandte. »Uns bleibt kaum Zeit, uns in Sicherheit zu bringen. Die einzige Chance ist, vor der Stampede zu fliehen. Vorwärts!« Mit der flachen Hand schlug er auf den Hals seines Laufvogels ein. Alle anderen hatten inzwischen ebenfalls erkannt, welche Gefahr ihnen drohte.

Sie ritten nach Westen. Ausweichen zu wollen, war so gut wie unmöglich. Aber sooft sie sich umwandten, sahen sie die riesige Herde hinter sich näherkommen. Die wogenden und stampfenden Leiber bildeten eine schier undurchdringliche Mauer.

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»Es hat keinen Sinn«, schrie Yatsundor. Verzweifelt schlug er aufsein Vleeh ein, die letzten Nomaden wurden bereits von der herandonnernden Stampede erfaßt und mitgerissen. Einige Komarchos schleuderten Donnereier hinter sich, vermochten das Unheil damit aber nicht aufzuhalten. In blinder Panik stürmten die Tiere durch die entstehenden Sandkrater. Wo eines stürzte, trampelten die anderen darüber hinweg.

Yatsundor sah ein Vleeh neben sich zusammenbrechen. Der Reiter wurde in hohem Bogen aus dem Sattel geschleudert. Unschwer, sich auszumalen, was mit dem Mann geschehen würde.

»Hier!« brüllte Yatsundor und riß sein Reittier herum. Hilfesuchende Arme reckten sich ihm entgegen. Er zerrte den Mann vor sich auf das Vleeh, obwohl er genau wußte, daß sie nun beide kaum eine Chance hatten.

Niemand achtete mehr auf den Himmel, wo sich turmhohe, schwarze Wolken zusammenballten. Erst als die Sonne sich schlagartig verdunkelte, wurden die Nomaden aufmerksam. Gleichzeitig brach der Sandsturm mit verheerender Gewalt los, die Sicht reichte kaum noch wenige Schritt weit.

Schmerzhaft peitschte der Sand ins Gesicht. Schon im ersten Moment glaubte Yatsundor, ersticken zu müssen. So gut es ging, beugte er sich über den Hals seines Vleehs und verbarg das Gesicht unter den weit fallenden Tüchern seines Umhangs. Aber der Sand fraß sich auch zwischen den Stoffen hindurch.

Yatsundor hatte Mühe, sich im Sattel zu halten und dem heftiger werdenden Sturm zu trotzen. Doch irgendwie schaffte er es. Der Gedanke, daß die Stampede nun in alle Winde verstreut werden würde, gab ihm die Kraft dazu.

Er verlor jeglichen Sinn für die Zeit. Als sein Vleeh irgendwann stürzte, konnte er längst keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er wußte nur, daß er überleben wollte. Sein Körper brannte wie Feuer. Das unvermindert heftige Heulen des Sturmes, das Prasseln des Sandes nahm er nur gedämpft und wie aus weiter Ferne wahr. Irgendwie schaffte er es, sich auf den Bauch zu wälzen und den Kopf zwischen den Armen zu bergen. Etwas Warmes, Weiches hüllte ihn ein, bevor er endgültig die Besinnung verlor.

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3.Wir passierten den Taleingang, ohne daß uns jemand folgte. Wohin Chossoph geritten war, wußte ich nicht – mir war nur klar, daß die Verfolger nun ihre Kräfte verzetteln mußten. Gerne hätte ich mit dem Nomaden noch einige Worte gewechselt. In meinen Gedanken hallte sein wilder Schrei nach, als er die hochmoderne Strahlwaffe gehoben und auf die Hyptons gefeuert hatte: »Tod den falschen Göttern!« War Chossoph überhaupt ein Nomade?

Du hast deine Chance fürs erste vertan, Atlan. Wer weiß, ob es zu einer erneuten Begegnung kommt.Mein Logiksektor hatte recht. Zuallererst galt es, eine sichere Zuflucht zu finden, von wo aus wir weitere Schritte unternehmen konnten. Ich hatte den Schock noch immer nicht gänzlich überwunden, den der Anblick der Hyptons in mir ausgelöst hatte. Die Anwesenheit Angehöriger des Konzilvolks auf Cairon an sich war schon schlimm genug; falls sie als Handlanger des Erleuchteten fungierten, wäre das für mich einer kleinen Katastrophe gleichgekommen. Konnte ich daraus auf die relative Nähe der Galaxis Manam-Turu zur heimatlichen Milchstraße schließen?

Du besitzt bisher keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Menschheit durch die Machenschaften des Erleuchteten unmittelbar gefährdet ist.Ich lachte bitter. Logik! Was besagte das schon? War nicht allein die Tatsache, daß die Kosmokraten mich in den Kampf gegen den Erleuchteten und EVOLO geschickt hatten, Beweis genug, daß die Menschheit gefährdet war?

»Was hast du, Atlan?« fragte Chipol, mein junger Begleiter.

»Nichts«, erwiderte ich kurz.

»Immer wenn du so lachst, stimmt etwas nicht«, begann er zu bohren. In der lediglich vom Sternenschein erhellten Nacht tanzte sein Gesicht als fahler Fleck neben mir auf und ab.

»Verschone mich bitte mit deinen Spitzfindigkeiten«, erwiderte ich barsch. »Ich habe andere Sorgen.« Gleich darauf bedauerte ich meine schroffen Worte, doch es war zu spät, sie zurückzunehmen. Chipol, der äußerlich einem Terraner mit asiatischem Einschlag ähnelte, schwieg betreten. Auch er hatte Sorgen, mußte annehmen, daß seine Familie vom Erleuchteten getötet worden war. Das war einer der Gründe, weshalb er mir folgte.

Hinter uns erstrahlte das Tal der Götter im gleißenden Licht der Scheinwerfer. Wir verlangten unseren Vleehs das Letzte ab. Soweit ich erkennen konnte, erstreckte sich voraus eine hügelige, spärlich bewachsene Landschaft. Keineswegs der rechte Ort, um ungesehen zu bleiben.

Die Roboter, von den Nomaden treffend Stahlmänner genannt, würden über kurz oder lang Gleiter und Infrarotoptiken einsetzen.

Chipol schien meine Gedanken zu erraten. »Es wäre besser, wenn wir uns trennen«, sagte er.

Er hat recht, erklärte mein Extrasinn. Wie willst du deine Mission erfüllen, wenn die Roboter dich erwischen? Nimm Chipols Vorschlag an. Du erhöhst damit deine Chancen.Bist du verrückt? gab ich in Gedanken zurück. Ich werde den Jungen nicht opfern.

Die Hügel schienen sich endlos zu dehnen. Ich kannte mich auf Cairon noch zu wenig aus, um sagen zu können, was uns dahinter erwartete. Auch Chipol mußte eingestehen, daß er keine Ahnung hatte. In dieser Ecke des Planeten war er vorher nie gewesen.

Also hielt ich mich wieder mehr auf die Berge zu. Die Morgendämmerung kündete sich bereits an.

Das Gelände stieg merklich an. Dürres Gestrüpp säumte unseren Weg. Unwillkürlich zuckte ich zusammen, als der Wind mir Motorengeräusche zutrug. Auch Chipol versteifte sich. Abschätzend wog er zwei Donnereier in Händen. Ich hatte keine Ahnung, wie er in ihren Besitz gelangt war, nachdem wir die uns von den Robotern ausgehändigten Handgranaten inzwischen verbraucht

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hatten. Aber es tat gut zu wissen, daß wir im Notfall nicht völlig wehrlos waren.

Der Motorenlärm kam näher, bog jedoch nach gut zwei Minuten ab und verlor sich schließlich mit dem Wind.

»Hier, nimm.« Chipol warf mir eines der Donnereier zu, das ich geschickt auffing. »Mehr konnte ich leider nicht bekommen.«

Würde der Gleiter wiederkommen? Wir taten besser daran, ins Gebirge zu reiten.

Unsere Vleehs waren klatschnaß. »Wenn wir nicht wollen, daß die Tiere unter uns zusammenbrechen, müssen wir ihnen eine Pause gönnen«, sagte Chipol.

Ich nickte zustimmend. »Suchen wir uns einen geschützten Platz.«

Nur wenige hundert Meter weiter plätscherte ein schmales Rinnsal über die Felswand zu unserer Linken und bildete einen kleinen, von Grün umrankten Weiher, ehe es in Gesteinsspalten versickerte. Mehr als mannshohe Monolithe ragten im Halbrund auf.

Die Nähe des Wassers ließ unsere Vleehs unruhig werden. Wir hatten Mühe, sie vom Ufer fernzuhalten. Unsere Ausrüstung war fast vollständig im Tal der Götter zurückgeblieben. Nur einige grobe Decken und Felle hatten wir bei uns – genug jedenfalls, um die dampfenden Tiere trockenzureiben. Dann erst durften sie trinken. Einmal mehr fühlte ich mich an terranische Kamele erinnert,’ denn die Vleehs besaßen nicht nur ungefähr deren Größe, sie vertrugen auch Unmengen an Flüssigkeit.

Anschließend füllten wir unsere Wasserflaschen. Mittlerweile war die Sonne aufgegangen. Spätestens jetzt würde die Jagd nach Chossoph und uns voll im Gang sein.

Ein leises Platschen ließ mich aufmerken. Kreisförmige Wellen verliefen sich auf der Wasseroberfläche. Aber kein Fisch konnte die Bewegung hervorgerufen haben. Mein Blick wanderte den Felshang hinauf, der zu steil war, um ihn zu erklettern.

Ihr werdet beobachtet.Ich warf Chipol einen warnenden Blick zu. Er verstand. Den Tieren die Flanken tätschelnd, sah ich mich suchend nach allen Seiten um. Mit wem hatten wir es zu tun?

Aus den Augenwinkeln heraus gewahrte ich einen huschenden Schatten. Auf alles gefaßt, warf ich mich herum. Zwei, drei schnelle Sprünge brachten mich zwischen die Felsen. Die Stelle, an der ich den Unbekannten vermutet hatte, war leer. Nur einige Abdrücke im feuchten Moos bewiesen, daß hier noch vor kurzem jemand gestanden hatte.

»Du mußt Atlan sein.«

Die Stimme kam von überall und nirgends, es war unmöglich, ihren Ausgangspunkt zu lokalisieren. Für einen kurzen Moment glaubte ich, den Sprecher zu kennen. Aber das war schlichtweg unmöglich. In letzter Zeit neigte ich offenbar zu solchen Déjà-vu-Erlebnissen. Ein Versuch meines Unterbewußtseins, mit der veränderten Situation fertig zu werden?

»Wer bist du?« fragte ich, um Zeit zu gewinnen.

»Mein Name würde dir nichts sagen«, klang es belustigt.

»Dann zeige dich wenigstens.« Ich glaubte, ungefähr die Richtung erkannt zu haben, in der der Fremde sich verbarg.

Du wirst alt, Arkonide.An Chipols ungläubigem Gesichtsausdruck las ich ab, was der Extrasinn meinte. Also doch ein Bekannter. Der Junge wirkte in dem Moment, als stünde er einem Geist gegenüber. Er öffnete den Mund, brachte aber nicht einen Laut heraus.

Ich wirbelte erneut herum.

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»Takkarat«, entfuhr es mir unwillkürlich.

Der Mann, der keine fünf Schritt vor mir zwischen den Felsblöcken stand, war zweifellos ein Nomade. Sein Alter ließ sich schwer schätzen, aber nicht nur die grauen Haare bewiesen, daß er die beste Zeit seines Lebens längst hinter sich hatte. Auf gewisse Weise wirkte er verklärt, er strahlte Sympathie und Gelassenheit aus.

Die Sache hatte nur einen Haken: Takkarat, der Sippenführer der Freien Nomaden, den wir im Tal der Götter kennengelernt hatten, war tot. Er hatte sich geopfert, um die Stahlmänner von mir abzulenken, als ich in den Kuppelbau eingedrungen war.

»Eine Falle«, stöhnte Chipol. »Wer immer dieser Mann wirklich ist, er kann uns gefährlich werden.« Auf bedrohliche Weise begann er, mit seinem Donnerei zu spielen.

»Laß das!« herrschte ich ihn an.

Anklagend deutete er auf den Nomaden. »Wieso konnte er uns aufspüren, wenn nicht die Stahlmänner hinter ihm stehen? Sag, daß ich das Ei werfen soll.«

Der Fremde blieb reglos, als berühre ihn das alles nicht.

»Er ist ein Wesen aus Fleisch und Blut und hat als solches ein Recht auf Leben«, sagte ich ruhig. »Ganz genau so wie deine Familie.« Das hatte gesessen. Chipol lief puterrot an, dann ließ er das Donnerei in einer Tasche seiner Kleidung verschwinden.

Ich fragte mich ebenfalls, welchem Umstand wir die unverhoffte Begegnung zu verdanken hatten. Im Gegensatz zu meinem jungen Freund glaubte ich nicht daran, daß die Roboter uns aufgespürt hatten.

Der Fremde lächelte geheimnisvoll. »Du bist nicht viel anders, als ich dich mir vorgestellt habe. Takkarat sagte…«

»Ich habe dich nicht im Lager der Nomaden gesehen«, unterbrach ich ihn. »Weder bei den Freien noch bei den anderen Sippen. Wer bist du?«

»Sieht man das nicht?« lautete die Gegenfrage. »Takkarat war mein Zwillingsbruder. Ich, Hokkandar, bin der ältere von uns beiden. Das heißt, ich war es.«

Spontan streckte ich ihm meine Rechte entgegen. Im selben Moment, in dem unsere Handflächen sich berührten, wußte ich, daß ich auf dieser Welt einen neuen Freund gefunden hatte.

»Ich weiß viel von dir, aber leider nicht alles«, begann Hokkandar. »Warum versuchst du, die falschen Götter zu entlarven? Was sind deine Beweggründe?«

»Dasselbe könnte ich dich fragen«, erwiderte ich. »Der Tod deines Zwillingsbruders schmerzt mich. Wenn es etwas gibt, womit ich dir helfen kann…«

Er nickte schwer, wischte sich verstohlen die Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln. Manchmal ist es keine Schande, wenn ein Mann weint. »Was immer deine Pläne sein mögen, verfolge sie weiter. Mein Bruder ist gestorben, ohne es zu spüren, der Flammenstrahl des Stahlmanns hat sein Leben im Bruchteil eines Augenblicks ausgelöscht. Ich weiß es, denn ich war bis zum letzten Moment bei ihm.«

Vorübergehend reagierte ich verblüfft. Dann begann ich zu verstehen, daß zwischen den Brüdern eine besondere Beziehung bestanden haben mußte. Nach einigem Hin und Her fand ich meine Annahme bestätigt, daß diese Verbindung parapsychischer Natur gewesen war. Am ehesten ließ sie sich noch mit einer Art besonderem Wahakü erklären, wie ihn die Priester der Bathrer besaßen. Die Psi-Begabung mußte auch der Grund sein, weshalb Chipol sich bis zu einem gewissen Grad abweisend verhielt.

Hokkandar stand den vermeintlichen Göttern von Anfang an mißtrauisch gegenüber. Er spürte, daß die Nomaden lediglich benutzt werden sollten, und er fürchtete sich vor dem Tag, an dem das böse

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Erwachen kommen mußte. Wahrscheinlich würde Cairon dann eine zerstörte, triste Welt sein. Dabei wußte er weder vom Erleuchteten noch von den fledermausähnlichen Hyptons.

Unser Zusammentreffen war tatsächlich mehr oder weniger zufällig erfolgt. Hokkandar hielt sich schon seit Wochen in der Nähe der Berge auf. Er wartete darauf, daß sich ein Ereignis wiederholte, dessen Zeuge er geworden war.

»Erzähle weiter«, forderte ich ihn auf, als er unvermittelt stockte. »Jede Einzelheit kann wichtig sein.«

»Es ist viele Tage her und war mitten in der Nacht, als ich durch ein ungewöhnliches Geräusch aufschreckte«, sagte er. »Ein Stern fiel vom Himmel, jedenfalls hatte ich anfangs keine andere Erklärung dafür. Er wurde größer und größer und schwebte langsam über die höchsten Gipfel des Gebirges hinweg, bis hinaus in die Ebene.« Aufgeregt deutete er in die Richtung, die er meinte. Selbst jetzt schien die Erinnerung ihn noch innerlich aufzuwühlen. »Dort ging das Gebilde auf einer Vielzahl von Stelzen nieder. Ich sah, daß es größer war als ein Dutzend großer Häuser miteinander, und auf seiner Unterseite öffnete sich ein riesiges Tor, aus dem Helligkeit fiel. Zuerst glaubte ich, die wahren Götter seien gekommen, um uns beizustehen, aber dann erschienen die Stahlmänner. Sie schleppten schwere Lasten.«

»Luden sie das Schiff aus?« fragte Chipol schnell.

»Schiff?« machte Hokkandar verständnislos.

»Nun, das große Ding, das von den Sternen kam«, berichtigte der Junge sich.

»Ich weiß nicht«, gestand Hokkandar. »Als die Fliegenden Scheiben wie Raubvögel über der Ebene zu kreisen begannen, bin ich einfach gerannt. Schneller noch, als wären Räuber hinter mir hergewesen.«

»Kannst du uns jene Stelle zeigen?« Chipol entwickelte einen erschreckenden Eifer. Im selben Atemzug wandte er sich an mich: »Was glaubst du, haben die Roboter ausgeladen? Mit einem Gleiter ist es nicht weit bis zum Tal der Götter.«

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Außerdem steht noch gar nicht fest, daß wir uns den Ländeplatz ansehen werden.«

Chipol wirkte nicht die Spur enttäuscht. »Ich dachte, deine Entscheidung sei schon gefallen«, meinte er.

***

Hokkandar führte uns in sein Versteck, eine geräumige Höhle, die tief in den Fels hineinreichte. Wir taten gut daran, von der Oberfläche zu verschwinden, denn nur wenig später donnerten Gleiter nicht allzu hoch über uns hinweg. Wir konnten von Glück reden, daß die Felsen die Hitze des Tages speicherten und so die von uns zurückgelassenen Wärmeabdrücke überlagerten. Die Geräusche der Gleiter kehrten in regelmäßigen Abständen wieder – offenbar suchten sie das Gelände in gleichbleibenden Kreisen nach uns ab.

»Wann werden sie die Suche aufgeben?« wollte Chipol wissen.

»Je eher, desto besser«, antwortete ich. Ich konnte nur hoffen, daß die Roboter und Hyptons uns lediglich für zwei allzu neugierige Nomaden hielten. Der Aufwand einer großangelegten Suchaktion lohnte in dem Fall nicht.

Meine Erwartungen wurden enttäuscht. Den ganzen Tag über vernahmen wir die Motorengeräusche. Erst zum Abend hin trat Stille ein. Als ich die Höhle verließ, folgte Chipol mir. Er zeigte nach Westen.

»Irgendwo dort draußen liegt vielleicht die Antwort auf viele Fragen, Atlan. Weshalb willst du achtlos daran vorübergehen.«

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»Wer sagt dir, daß ich das tue?«

Sofort schwenkte er um:

»Wann brechen wir auf?«

»Sobald ich Hokkandar gefragt habe, ob er uns begleiten will.«

»Nicht nötig, Atlan«, erklang es hinter uns. »Ich bin es meinem Bruder schuldig, daß ich euch unterstütze.«

Eine knappe Stunde später ritten wir los. Chipol hatte den Nomaden hinter sich aufsitzen lassen. Anfangs kamen wir in dem felsigen, abschüssigen Gelände nur langsam voran, später verfielen die Vleehs von selbst in einen ausdauernden Trab.

Das breite Band der Sterne war mir mittlerweile vertraut. Ihr Schein tauchte die Steppe in milchiges Licht. Zum Teil mannshohe Sträucher waren der einzige Bewuchs. Es gab keine Bäume.

»Hier stinkt’s«, stellte Chipol unumwunden fest.

Es roch nach Rauch und erkalteter Asche und…

Gas! behauptete der Extrasinn.

Prüfend sog ich die Luft ein. Der schwere, süßliche Beigeschmack war kaum wahrzunehmen. Außerdem vermochte ich ihn nicht einzuordnen.

»Was du riechst, sind die Feuerquellen«, sagte Hokkandar. »Sie werden nur von Zeit zu Zeit aktiv.«

»Heißt das, wir befinden uns über vulkanischem Gebiet?« erschrak Chipol.

»Das nicht«, wehrte der Nomade ab. »Damit Feuer entstehen kann, muß es weit stärker riechen.«

Das Gas reagiert bei einer bestimmten Konzentration mit dem Sauerstoff der Atmosphäre, bemerkte der Extrasinn.

Die Ursache der Gasausbrüche interessierte mich im Moment herzlich wenig. Ich hätte schon eine umfangreiche geologische Ausrüstung mit mir herumschleppen müssen, um das herauszufinden.

Trotz allem durfte ich nicht vergessen, daß unser Gegner überall lauern konnte. Inzwischen handelte es sich nicht mehr bloß um eine Auseinandersetzung zwischen den Kosmokraten und dem Erleuchteten und der womöglich noch größeren Gefahr namens EVOLO. Diese Auseinandersetzung war mehr und mehr zu meinem persönlichen Kampf geworden, ohne daß mir eine Wahl blieb. Einer von uns würde auf der Strecke bleiben. Ich hoffte zwar, daß dieser eine nicht gerade Atlan heißen würde, aber sicher war ich mir dessen längst nicht mehr.

In den Hufschlag unserer Vleehs mischte sich ein fernes Summen. Ruckartig hob ich den Kopf, suchte das Firmament ab. Wo der Himmel scheinbar mit der Erde verschmolz, blinkte ein besonders heller Stern. Seine Farbe wechselte in Sekundenabständen von Rot zu Blau.

Chipol war meinem Blick gefolgt.

»Ein Gleiter, Atlan?«

Er erwartete keine Antwort. Der Lichtpunkt wurde zusehends größer. Kein Zweifel, die Maschine flog in unsere Richtung.

Weit und breit gab es kein Versteck. Egal, wie empfindlich die Ortungen des Gleiters waren, sie mußten uns einfach erfassen.

»Runter vom Vleeh!« stieß ich hervor und schwang mich bereits aus dem Sattel.

Chipol blickte mich verständnislos an. Ich zerrte ihn kurzerhand zu mir herab. »Nimm die Decken mit«, raunte ich ihm zu.

»Willst du dich darunter verstecken?«

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»So ähnlich. Wir graben uns ein.«

»Die Vleehs auch mit?« Entgeistert sah er zu, wie ich mit bloßen Händen zu graben begann. Der Boden war tief von Sand durchsetzt und entsprechend locker. Ich schaufelte wie ein Verrückter.

»Es laufen genügend herrenlose Reittiere auf Cairon herum«, erklärte ich. »Zwei mehr oder weniger fallen da wohl kaum auf.«

Chipol schüttelte zwar den Kopf, begann aber ebenfalls zu graben. Ein flüchtiger Blick überzeugte mich davon, daß der Gleiter noch mindestens drei Minuten benötigte, bis er über uns war.

»Sie finden uns mit Infrarot, ob wir uns die Decken über den Leib ziehen oder nicht.«

»Auch wenn die Steppe brennt?«

»Du willst uns rösten? Nein, das darf nicht wahr sein. Lieber kämpfe ich.«

»Du hältst den Mund und tust, was ich dir sage.« Ich wurde ernsthaft ärgerlich.

Hokkandar verfügte offenbar über mehr Erfahrungen mit Steppenbränden. Seine Mulde war bereits groß genug, daß er sich darin zusammenrollen konnte. Hastig schaufelte er Erde auf seine Decke und zog sie dann über sich. »Ich helfe dir«, sagte ich. Sekunden später war von dem alten Nomaden nichts mehr zu sehen.

Endlich hatte Chipol begriffen. »Der Rauch dürfte uns nichts anhaben«, erklärte ich ihm. »Du solltest dennoch möglichst flach atmen. Und vor allen Dingen: bleib unter der Decke, bis ich es dir sage.«

Der Gleiter war fast heran. Ich entzündete einige Feuerhölzer und warf sie ins dürre Gestrüpp. Sofort züngelten kleine Flammen auf und griffen schnell um sich.

Dann ging ich ebenfalls auf Tauchstation.

Bist du sicher, daß sie euch nicht längst ausgemacht haben?Der Extrasinn besaß ein ausgeprochenes Talent, mir in bestimmten Situationen Mut zu machen.

Was soll schon schiefgehen? erwiderte ich lautlos.

Alles. Seine Offenheit war schlichtweg umwerfend.

Die Triebwerksgeräusche schienen auf der Stelle zu verharren. Täuschte ich mich, oder sank der Gleiter tiefer herab? Ich ertappte mich dabei, daß ich die Sekunden zu zählen begann.

Aber ich hörte noch etwas. Das dumpfe Brausen des Feuers, das jäh an Intensität gewann. Die Flammen hatten endlich eine der Gasquellen entfacht. Trotz der Decke und der darübergeworfenen Erde spürte ich die stärker werdende Hitze. Das Atmen fiel schwerer, weil das Feuer allen Sauerstoff an sich zog.

Verschwindet schon! dachte ich intensiv. Der Gleiter war noch immer über uns. Hoffentlich wußte die Besatzung, daß natürlich entstehende Brände in diesem Gebiet keine Seltenheit darstellten.

Die Hitze begann, sich unangenehm bemerkbar zu machen. Mein Gesicht juckte schier unerträglich. Aber ich durfte mich nicht einmal kratzen. Wahrscheinlich waren jetzt hochempfindliche Optiken auf diesen Teil der Steppe gerichtet.

»Atlan«, vernahm ich Chipols Stimme neben mir.

»Ja?«

»Wie lange müssen wir noch aushalten? Mir wird allmählich übel.«

»Bis denen da oben einfallt, weiterzufliegen.«

Der Gleiter entfernte sich kurz darauf.

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»Warte noch eine oder zwei Minuten«, riet ich. »Dann können wir halbwegs sicher sein, daß sie nicht zurückkommen.«

Die Hitze und die stickige Luft wurden nahezu unerträglich. Ich glaubte, daß es für Chipol unangenehm war, aber ich konnte ihm das Warten nicht ersparen.

Ächzend fuhr er in die Höhe. »Du meine Güte…«, war alles, was er im ersten Erschrecken hervorbrachte.

Zentimeterhoch lastete Asche überall. Das Feuer war erloschen, nachdem es die Pflanzen in weitem Umkreis verkohlt hatte. Nirgendwo zeigte sich noch frisches Grün. Unsere Vleehs waren ebenfalls verschwunden.

»Willst du wirklich, daß wir zu Fuß weitergehen?« fragte Chipol.

»Bewegung hat noch niemandem geschadet«, gab ich zurück.

»Wie weit ist es noch?« wandte ich mich an Hokkandar, der wortlos seine Decke ausschüttelte und zusammenrollte.

»Fünf oder sechs Meilen, genau weiß ich es nicht.«

»Ich glaube nicht mehr daran, daß wir Erfolg haben werden«, sagte Chipol.

»So plötzlich?« machte ich verwundert. »Was ist in dich gefahren?«

»Unsere ganze Ausrüstung sind zwei Donnereier und ein paar mottenzerfressene Decken. Sogar die Vleehs sind weg.« Er stieß ein kurzes, bedrücktes Lachen aus. »Wenn wir weiter Stück für Stück verlieren, laufen wir bald nur im Hemd herum.«

Das war wahr. Erfolge hatten wir nicht gerade zu verzeichnen. Ich deutete auf mein Armband, das man für ein gewöhnliches Schmuckstück halten konnte. »Solange wir jederzeit in der Lage sind, unser Raumschiff zu rufen, ist alles offen. Also vorwärts. Bis die Sonne aufgeht, möchte ich am Ziel sein.«

***

Es waren gute fünf Meilen, die wir zurückzulegen hatten. Die Sterne verblaßten bereits, als wir unser Ziel erreichten. Aber noch ließ der Morgen auf sich warten.

Die Landschaft hatte sich nur unwesentlich verändert. Das Gras war weitgehend verdorrt – Moose und Flechten hatten den größten Anteil am ohnehin spärlich gesäten Grün. Die Ebene mochte Überrest einer Eiszeit sein. Das überall zu findende glattgeschliffene Geröll war typisch für Moränenbildung. Vereinzelt ragten verkrüppelte Bäume wie stumme Wächter auf.

Hokkandar blieb stehen, streckte die Arme aus und drehte sich einmal um sich selbst. »Hier irgendwo muß es gewesen sein«, sagte er. »Es gibt kaum Anhaltspunkte, nach denen man sich richten könnte.«

Nazca, wisperte der Extrasinn, während ich mich ebenfalls umblickte.

Bitte? Ich verstand nicht, worauf er anspielte.

Milchstraße… Solsystem… Terra… Südamerika… Peru… Begreifst du jetzt?Natürlich. Der Extrasinn meinte die Ebene von Nazca mit ihren geheimnisvollen Bodenmarkierungen, die im 20. Jahrhundert entdeckt worden waren. Die vollkommen ebene Steinwüste, die sich über ein fünfzig Kilometer langes Gebiet erstreckte, hatte seinerzeit den Archäologen etliches Kopfzerbrechen bereitet. Immer wieder war die These laut geworden, daß die geometrischen Linien, Zeichnungen und Gesteinsbrocken einen ausgedehnten Flughafen mit strahlenförmig zusammenlaufenden Pisten dargestellt hatten.

Wenn ich es genau betrachtete, war die Ebene nicht völlig plan. Weshalb war mir dieser Umstand nicht schon eher aufgefallen? Es gab eine Vielzahl von Senken und Erhebungen, keine mehr als

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dreißig Zentimeter vom Niveau abweichend, und alle mehr oder minder geradlinig verlaufend. Im Sternenschein waren sie nicht zu erkennen gewesen, auch am hellen Tag mußten sie einem oberflächlichen Beobachter verborgen bleiben. Aber jetzt, daß die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont tasteten und lange Schatten warfen, zeichnete sich ein verschwommenes Muster von Licht und Dunkel ab. Die sich ergebenden Linien waren mit Sicherheit nicht natürlichen Ursprungs.

Ich versuchte, mich zu orientieren. Das Tal der Götter lag nordwestlich. Keine hundert Meter von uns entfernt verlief eine der breitesten Senken exakt in diese Richtung.

Chipol stolperte irritiert neben mir her, als ich mit schnellen Schritten weiterging. »Was ist, Atlan, hast du etwas gefunden?«

Zwei Erhebungen kreuzten die Senke, deren parallele Ränder in der Ferne zusammenzulaufen schienen. Fragend wandte ich mich zu Hokkandar um.

»Hier könnte es gewesen sein«, bestätigte er.

»Willst du mir nicht endlich sagen; was du herausgefunden hast?« murrte Chipol.

»Dies ist ein Landeplatz der Götter«, erwiderte ich.

»Das wissen wir.«

Ich schüttelte den Kopf. »Anders als du denkst. Vor Tausenden von Jahren müssen Raumfahrer auf Cairon gewesen sein. Die damals noch primitiven Eingeborenen haben sie als Götter verehrt und, als sie wieder abgeflogen waren, diese Linien und wer weiß welche Zeichnungen noch angelegt, damit die Götter bei ihrer Rückkehr den geheiligten Ort wiederfanden. Oder sie taten es, um die Götter überhaupt erst zur Rückkehr zu bewegen.«

»Du meinst also, der Erleuchtete war schon früher auf Cairon.«

»Nein.« Ich legte Chipol meine Hand auf die Schulter, er sah mich aus seinen schmalen, dunklen Augen forschend an. »Es mögen irgendwelche Raumfahrer gewesen sein. Vielleicht war ihre Ethik so ausgeprägt, daß sie die Harmonie predigten. Der Erleuchtete – oder auch die Hyptons haben diese Tatsache nur für sich ausgenutzt.«

»Hm.« Chipol blieb skeptisch.

»Hier, Atlan, sieh dir das an.« Hokkandar hatte einen runden, zwei Meter durchmessenden Abdruck im Boden entdeckt, der zweifellos vom Landeteller eines Raumschiffs stammte. Kreisförmig angeordnet fanden wir in gleichbleibenden Abständen sechs weitere identische Prints. Ich schloß daraus, daß das Schiff etwa achtzig Meter groß gewesen sein mußte.

»Wohin sind die Stahlmänner gegangen?« wollte ich von Hokkandar wissen.

Der Nomade zeigte nach Nordwesten. »Sie haben sich nicht weit von dem… vom Schiff entfernt und sind im Boden verschwunden.«

Offenbar war ihm das erst jetzt wieder bewußt geworden. Ich hatte ohnehin bereits mit dem Vorhandensein einer unterirdischen Station gerechnet. Auch Chipol zeigte sich keineswegs überrascht.

Die Sonne stieg in voller Größe über die Berge herauf. Es wurde Zeit, daß wir von hier verschwanden.

Jeden Fußbreit Boden sah ich mir aufmerksam an. Ich verhielt meinen Schritt, als ich auf Flechten stieß, die heller gefärbt waren als die anderen in der unmittelbaren Umgebung. Als bekämen sie nicht genügend Nährstoffe. Und sie bildeten eine nahezu kreisförmige Fläche von drei Metern Durchmesser.

»Hier«, rief ich meinen Begleitern zu. Ich hatte gefunden, wonach wir suchten.

Rasch kratzte ich das Erdreich beiseite. Tatsächlich stieß ich schon nach wenig mehr als dreißig

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Zentimetern auf blanken Stahl.

»Und?« sagte Chipol. »Wie willst du das Ding aufkriegen?«

»Damit.« Ich hielt ihm mein Armbandfunkgerät hin. »Ich bin sicher, daß der Schacht auf einfache Funkimpulse reagiert.«

»Kennst du den Kode?«

»Das wird nicht nötig sein. Schließlich befinden wir uns auf einer Welt ohne Technik. Warum sollten die Raumfahrer, die diese Station angelegt haben, sich unnötige Mühe machen?«

»Das leuchtet ein«, nickte Chipol.

Ich reduzierte die Abgabeleistung meines Funkgeräts auf geringste Distanz. Immerhin war mir nicht daran gelegen, Hyptons und Stahlmänner auf den Plan zu rufen.

Was geschieht, wenn das Öffnen registriert wird?Ich glaubte nicht daran. Nacheinander spielte ich verschiedene Frequenzen durch. Ich kann nicht sagen, ob schon die erste den Mechanismus aktivierte, oder alle zusammen – jedenfalls verspürte ich gleich darauf ein stärker werdendes Vibrieren unter meinen Füßen. Knirschend senkte sich die Platte. Chipol und Hokkandar sprangen auf. Noch konnten wir allerdings nicht erkennen, was uns erwartete. Der Junge sah mich unsicher an. Denselben Ausdruck hatte er in den Augen gehabt, als ich ihm auf Joquor-Sa zum erstenmal begegnete.

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4.Irgendwann wich die Stille, die ihn barmherzig umfangen hatte. Das Pochen des Blutes in seinen Schläfen wurde schier unerträglich laut. Trotzdem dauerte es lange, bis er sich zu bewegen begann. Ein Berg von Sand lastete auf ihm, den er mühsam abschüttelte. Allmählich kehrte die Erinnerung zurück – an den vorausgegangenen Wolkenbruch, die Stampede und schließlich den verheerenden Sandsturm. Zu begreifen, daß er noch am Leben war, fiel schwer.

Yatsundor stemmte sich hoch. Auch das Vleeh, das ihm mit seinem Körper Schutz geboten hatte, begann sich zu bewegen. So gut er konnte, säuberte der Sippenführer der Beryulder dem Tier die Nüstern und das Maul. Dann erst versuchte er, sich selbst den verkrusteten Sand aus dem Gesicht zu wischen, der sich zum Teil mit dem geronnenen Blut aus etlichen Schürfwunden vermischt hatte.

Sein Körper juckte und brannte wie Feuer. Yatsundor ignorierte die Schmerzen so gut er konnte. Beruhigend redete er auf das Vleeh ein.

War er die ganze Nacht hindurch ohne Besinnung gewesen? Es schien so, denn die Sonne stand gerade erst eine Handbreit über dem Horizont, und ihre Strahlen waren noch erträglich.

Yatsundor begann, dem Tier den Sand aus dem Fell zu klopfen. Regungslos ließ es alles mit sich geschehen.

War er allein? Hatte der Sandsturm nicht nur die Stampede, sondern auch die Nomaden in alle Richtungen verstreut? Keine fünf Schritt entfernt entdeckte Yatsundor ein Stück Stoff, das aus dem Sand herausragte. Mit beiden Händen begann er zu graben, bis er auf Widerstand stieß. Ein Körper. Obwohl er ahnte, daß es sinnlos war, verstärkte er seine Bemühungen. Der Mann, den er zu sich auf den Sattel gezogen hatte, kam zum Vorschein. Er war tot!

Von jähem Schmerz überwältigt, umklammerte Yatsundor seine Stirn mit der Linken. Tief atmete er ein. In seinen Lungen brannte es wie Feuer. Auch sein Fernauge war verschwunden. Es hatte wenig Sinn, danach zu suchen.

Eine ziemlich unsanfte Berührung ließ ihn zusammenzucken. Das Vleeh stieß ihm mit dem Kopf in die Seite. Für Yatsundor erschien es, als erwache er aus einem Alptraum.

»Du hast recht«, murmelte er leise.

»Wir müssen weiter.« Mit zitternden Fingern löste er den Wasserschlauch vom Sattel. Im nächsten Moment schleuderte er ihn von sich. Nicht ein Tropfen Wasser war noch darin.

Ein prüfender Blick galt dem Horizont. Die Luft begann bereits zu flimmern.

Drei Tage würde er benötigen, vermutlich noch mehr, um die Große Wüste zu durchqueren. Yatsundor wußte, daß es einzelne Oasen gab, aber er war selbst nie in dieser Region gewesen. Er mußte sich auf sein Glück verlassen, und das schien recht launisch zu sein.

»Heda, hallo«, rief er heiser. »Ist da noch wer?« Niemand antwortete ihm. Nur das feine Knistern des unablässig über den Boden wehenden Sandes war zu vernehmen.

Er konnte nicht glauben, daß er allein mit dem Leben davongekommen war. Vermutlich hatte er sich während des Sturmes nur weit von den anderen entfernt. Er orientierte sich nach dem Stand der Sonne, dann saß er auf und lenkte sein Vleeh in südliche Richtung.

Die zunehmend höher aufragenden Dünen waren von monotoner Gleichmäßigkeit. Schon nach kurzer Zeit gewahrte Yatsundor mehrere flache Aufwerfungen. Von unguten Vorahnungen erfüllt, begann er erneut, den locker angehäuften Sand beiseite zu scharren. Nacheinander stieß er auf zwei tote Mandali und hielt erschüttert in seinen Bemühungen inne. Vermutlich lagen Angehörige der Komarcho-Sippe unter dem Sand begraben. Er wollte ihr Ruhe nicht stören.

Die zunehmende Schwüle ließ ihm den Schweiß ausbrechen. Sein Körper begann stärker zu jucken und zu brennen.

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Das in Ophanalom erbeutete Metall klirrte leise bei jeder Bewegung des Vleehs. Yatsundor öffnete den Sack, der alle möglichen Gegenstände enthielt. Mit einer Vielzahl davon wußte er nichts anzufangen, lediglich ein Messer mit doppelter Schneide nahm er an sich. Die Nomaden besaßen höchst seltene Waffen aus diesem Material – zumeist nur dann, wenn es ihnen gelang, bei einem Händler solche zu Wucherpreisen einzutauschen.

Flüchtig zögerte er. Der Inhalt des Sackes war für die Götter bestimmt. Aber er wußte nicht, wo er sie finden sollte. Außerdem mußte die Last seinem Vleeh zu schaffen machen, je heißer der Tag wurde. Kurzentschlossen löste er den Sack und ließ ihn in den’ Sand fallen. Alles war umsonst gewesen. Der Rest seines Stammes, die Frauen, Kinder und Greise, warteten bei der Herde darauf, daß er mit Geschenken zurückkam. Statt dessen würde er die Botschaft vom Tod bringen. In jäh aufwallendem Zorn ballte er die Fäuste. Was hatte er getan, daß die Götter ihn derart straften?

Der Wind trug ihm den Klang von Stimmen zu. Er benötigte einige Augenblicke, um sich sicher zu sein. Dann zog er das Vleeh herum, trieb es eine der hohen Dünen hinauf. Von der Höhe aus sah er sie keine fünfzig Meter unter sich: fünf unter wehenden Tüchern verborgene Gestalten, die in schnurgerader Linie hintereinander ritten.

»He«, rief er und zwang das Vleeh den Hang hinab. Die Reiter schienen ihn nicht bemerkt zu haben.

»Wartet!« Er stieß seinem Tier die Hacken in die Flanken. Im nächsten Moment stürzte es. Yatsundor wurde aus dem Sattel geschleudert, doch er raffte sich sofort wieder auf und hastete den Reitern hinterher, die unbeirrt ihren Weg fortsetzten. Keuchend, mit zitternden Gliedern erreichte er den letzten von ihnen, hing sich halb an dessen Vleeh und zwang ihn zu sich herum. Er blickte in das ausdruckslose Gesicht eines Priesterschülers. In einer sicherlich ungewollten Reflexbewegung stieß der Junge ihn zur Seite. Yatsundor war davon so überrascht, daß er rücklings in den Sand stürzte. Wie auf ein geheimes Kommando hin wandten sich alle ihm zu.

»Morres!« Er glaubte, nicht richtig zu sehen. Der Freund war einer der Reiter. Sein Bart war von Sand verkrustet, ebenfalls sein schwarzes Haar, das ihm in Strähnen in die Stirn hing. Während ihre Blicke einander trafen, kam Leben in Morres’ Augen, verlor er seine Lethargie. Mit einem einzigen Satz schwang er sich vom Vleeh und half Yatsundor auf die Beine.

»Wie viele haben überlebt?« fragte der Sippenführer tonlos.

»Ich weiß nicht.« Morres zuckte mit den Schultern. »Außer Karphos noch die drei Priester. Wir haben beschlossen, Thykonon und seine beiden Schüler den Göttern zu bringen, wie es beabsichtigt war.«

Yatsundor zuckte unmerklich zusammen. Er hatte den Eindruck, daß längst nicht entschieden war, wer wen als Gefangenen betrachtete. Aber daran konnte er vorerst herzlich wenig ändern. Außerdem waren die Priester wie alle Bathrer Feiglinge. Was sollte also geschehen?

»Wißt ihr, wo das Tal der Götter liegt?« fragte er hoffnungsvoll.

»Das nicht«, sagte Morres. »Karphos ist der Meinung, daß die Götter uns finden werden. Er ist überzeugt davon, daß sie ihn nicht im Stich lassen.«

»Habt ihr Wasser? Ich bin völlig ausgedörrt.«

Morres schüttelte den Kopf. »Wir hoffen, bald eine der Oasen zu erreichen.«

Yatsundor ging zu seinem Vleeh zurück, das mit bebenden Flanken am Fuß der Düne verharrte, und saß auf. Langsam schloß er zu den Reitern auf. Immer wieder glitt sein Blick zu dem Priester und dessen Schüler hin. Ihre Nähe behagte ihm nicht. Aber sie wirkten selbst erschöpft, zudem besaßen sie keine Waffen. Yatsundors Rechte tastete nach dem Dolch, der in seinem Gürtel steckte. Das Gefühl des kühlen Metalls zwischen den Fingern gab ihm seine Zuversicht zurück.

***

Page 34: Flucht von Cairon

»Da sind Spuren.« Weit beugte Karphos sich im Sattel vor, um die schon halb verwehte Fährte genauer in Augenschein zu nehmen. »Es kann nicht lange her sein, daß hier jemand geritten ist.«

Die Spur wand sich zwischen den Dünen dahin.

»Das müssen mindestens zehn Reiter gewesen sein«, stellte Yatsundor fest. »Am besten, wir folgen ihnen.«

»Sie sind nach Südwesten«, wandte Karphos ein. »Das Tal der Götter liegt auf jeden Fall im Süden.«

»Und wenn schon«, Yatsundor wußte selbst nicht, weshalb er derart verärgert reagierte. »Die Götter müssen eben auf uns warten.«

Nicht eine Wolke stand am Firmament. Zum Mittag hin verstummte das stete Säuseln des Windes. Es wurde fast unerträglich heiß. Sie mußten rasten, rollten sich im Schatten der Tiere unter den wenigen Decken zusammen, die sie noch besaßen. Trotzdem konnten sie nicht verhindern, daß ihre Körper zunehmend Flüssigkeit verloren. Yatsundor fühlte die Schwäche immer deutlicher. Am liebsten wäre er liegengeblieben, aber dann, als das Gestirn schon gut drei Handbreit weitergewandert war, stemmte er sich hoch.

Thykonon und seine Schüler hatten die ganze Zeit über geschwiegen. »Da kommt ein einzelner Reiter mit Packtieren«, sagte der Priester unvermittelt.

Der Mann hatte sie bereits entdeckt. Es war Worland, einer aus ihrer Sippe. Die fünf Mandali, die er mit sich führte, waren mit Beute aus der Stadt Ophanalom beladen. Und mit Wasserschläuchen.

»Ich fürchtete schon, der einzige zu sein«, gab Worland zu verstehen. Er wirkte seltsam frisch und ausgeruht, sogar sein Gesicht schien er sich dürftig gewaschen zu haben. Er saß ab und löste Wasserschläuche vom Rücken eines Mandalons. »Trinkt«, sagte er. »Es ist genügend vorhanden.«

Das Wasser war nicht nur warm, es schmeckte schal und brackig. Dennoch ließ Yatsundor jeden Tropfen wie eine unwägbare Köstlichkeit auf der Zunge zergehen. Den anderen erging es ähnlich.

»Die Welt sieht gleich wieder besser aus«, stellte Morres unumwunden fest.

»Noch sind wir nur sieben von hundert«, winkte Yatsundor ab. »Sehen wir zu, daß wir die anderen einholen.«

Sie saßen wieder auf. Karphos zwängte sich an Yatsundors Seite. »Was gedenkst du zu tun?« wollte der Verkünder wissen.

»Zuerst sollten wir diese verdammte Wüste überwinden.«

»Und dann? Willst du die Priester laufen lassen und die restliche Beute wegwerfen? Wozu haben wir alles auf uns genommen?«

Yatsundor preßte die Lippen aufeinander und schwieg.

»Du kannst dich vor den Gegebenheiten nicht verschließen«, drängte Karphos. »Irgendwann wirst du dich entscheiden müssen.«

»Aber nicht jetzt. Wie es aussieht, habe ich die meisten Männer verloren.«

»Gerade deshalb darfst du nicht aufgeben. Die Zurückgebliebenen vertrauen darauf, daß du mit den versprochenen Waffen wiederkehrst. Soll zu ihrem Leid noch die Enttäuschung hinzukommen, daß du versagt hast?«

»Ich werde mir die Waffen der Götter holen, wenn du das meinst«, stieß Yatsundor heftig hervor. »Verlaß dich darauf.«

Schweigend ritten sie weiter. Vor ihnen begann die Luft stärker zu flimmern, und plötzlich zeichneten sich die Umrisse einer riesenhaften Gestalt ab.

Page 35: Flucht von Cairon

»Ein Stahlmann!« schrie Karphos auf. »Die Götter haben uns gefunden.«

Die Erscheinung war mindestens fünf Meter hoch und von derselben silbernen Farbe wie die Fliegende Scheibe, die Yatsundor deutlich in Erinnerung hatte. Hinter ihr schien sich eine Kuppel aufzuwölben. Ihre Konturen waren jedoch unablässig in Veränderung begriffen.

Der Stahlmann hob die Arme. Die Geste war eindeutig. Er wollte, daß sie sich ihm näherten.

»Er wird uns retten«, triumphierte Karphos. »Ihr werdet sehen. Es ist wie in dem Traum, als die Götter zu mir sprachen.«

Die Gestalt schien trotz ihrer Größe über dem Wüstensand zu schweben. Jedenfalls konnte Yatsundor nicht erkennen, daß der Stählerne einsank, als er sich bewegte.

»Gebt ihm die Beute«, rief Karphos.

»Was ihr habt, gehört uns Bathrern«, sagte Thykonon bestimmt.

Karphos drohte ihm mit der Faust. »Wir können auch anders.«

»Du tust mir leid. Nichts in deinem Leben ist von Harmonie geprägt…«

»Halt!« befahl Yatsundor unmißverständlich, als Karphos sich auf den Priester stürzen wollte. Karphos zögerte nur einen Moment. In dieser winzigen Zeitspanne verschwand der Stahlmann.

»Er ist gegangen«, stieß der Verkünder erregt hervor. »Weil du ihm die Gabe für die Götter verweigert hast. Wenn sie uns nun verstoßen, ist das einzig und allein deine Schuld. Ich könnte dich dafür…« Er riß seine Steinaxt hoch, aber diesmal war es Morres, der sich zwischen ihn und Yatsundor drängte. »Wenn wir uns gegenseitig ans Leder gehen, tun wir diesem Priester den größten Gefallen. Außerdem – sieh dort hinüber.«

Der Stahlmann war nicht gegangen, er hatte sich lediglich zurückgezogen und stand nun gut zweihundert Meter entfernt, halb hinter einer Düne verborgen. Karphos zog sein Vleeh herum und trieb es auf die silberne Gestalt zu. Aber bevor er den Diener der Götter erreichte, begannen dessen Umrisse zu verschwimmen. Er löste sich von unten her auf.

»Ein Trugbild der Wüste«, stellte Thykonon belustigt fest. »Ich hätte nie gedacht, daß Nomaden darauf hereinfallen.«

Obwohl der Stahlmann verschwunden war, begann Karphos aufgeregt, ihm zu winken.

»Was hat er?« wollte Morres wissen.

»Wieso fragst du mich?« wehrte Yatsundor ab. »Frage ihn!«

Die Vleehs, ebenso wie die Mandali, waren zu keiner schnellen Gangart mehr zu bewegen. Karphos wartete nicht erst, bis sie ihn eingeholt hatten, sondern ritt vor ihnen her.

Und dann sahen Yatsundor, Morres und die anderen, was den Verkünder zur Eile anspornte:

Nicht allzu weit entfernt durchbrach das üppige Grün einer Oase die Dünenlandschaft.

***

Hunderte von Bäumen wuchsen auf engem Raum beieinander. Eine Vielzahl von Schlingpflanzen hatte ebenfalls von diesem Flecken Erde Besitz ergriffen. Es fiel nicht gerade leicht, sich durch das entstände Dickicht hindurchzuzwängen.

Ein ausgedehnter Tümpel erstreckte sich vor den Nomaden. Wegen des steinigen Uferstreifens kamen die Pflanzen nicht bis ans Wasser heran.

Der freie Platz war groß genug, um hier zu lagern.

Überrascht stellte Yatsundor fest, daß sie nicht die ersten waren, die in der Oase Schutz und Zuflucht gesucht hatten.

Page 36: Flucht von Cairon

»Was willst du mehr?« fragte Karphos lauernd. »Die Götter haben Einsicht und geben dir immer mehr von deinen Männern zurück.«

Die Nomaden, deren Spuren sie eine Zeitlang gefolgt, und die sie irgendwann wieder verloren hatten, waren hier versammelt. Yatsundor bedachte sie mit einem erleichterten Blick. Alle zwölf waren Angehörige seiner Sippe. Ihre Tiere hatten sie mit den Zügeln an tiefhängende Äste gebunden. Aber Yatsundor zählte nur zehn Vleehs.

»Geht nicht ans Wasser«, wurde ihm und seinen Begleitern als Begrüßung zugerufen. »Dieser Ort ist verflucht.« Die Nomaden zeigten auf die reglosen Körper zweier Tiere. »Sie hatten kaum getrunken, als sie unter Krämpfen verendeten.«

»Die Götter zürnen uns«, rief jemand.

»Wie kannst du solchen Unsinn behaupten«, fuhr Karphos auf. »Wir sind ihre Kinder. Würden sie uns sonst beschenken?«

»Wenn du es so genau weißt, sag, wo sind die Geschenke? Ich sehe nicht einmal mehr das Fernauge um Yatsundors Hals hängen.«

»Wahrscheinlich ist der Riemen während des Sandsturms gerissen«, sagte der Sippenführer.

»… oder die Götter haben dir das Fernauge wieder genommen«, fuhr der Nomade fort.

»Sie verlangen von uns, daß wir ihnen Metalle bringen und die Bathrer-Priester«, warf Worland ein, der als letzter absaß und seine Packtiere anband, die wie alle anderen das Wasser witterten und zunehmend unruhig wurden. »Dafür erhalten wir dann ihre Waffen. Das ist ein einfacher Handel, wie wir ihn oft mit allen möglichen Dingen abschließen. Aber – ich frage euch – hätten unsere Götter es wirklich nötig, Tauschgeschäfte abzuschließen?«

Yatsundor beherrschte sich nur mühsam. »Du lästerst die Götter«, stieß er warnend hervor. »Fürchtest du ihren Zorn nicht?«

»Wenn es wirklich unsere Götter sind, werden sie mich verstehen.«

Yatsundor sah nicht das Aufleuchten, das über Thykonons Gesicht huschte, er bemerkte nicht, daß die beiden Priesterschüler sich aufmunternd zunickten. Er befahl Worland, ein Drittel seines Wasservorrats zu verteilen und auch den Tieren davon zu geben. »Wir rasten nur kurz«, sagte er. »Bis die Sonne untergegangen ist und der Sand anfängt, sich abzukühlen. Dann reiten wir weiter. Wenn wir eine Chance haben, nur so. Wir suchen das Tal der Götter – und ich werde nicht eher aufgeben, bevor ich es gefunden habe. Ich will wissen, was uns erwartet. Du, Worland, nimm die Lasten von zwei deiner Mandali. Die Männer, die ihre Vleehs verloren haben, sollen sie reiten.«

»Die anderen Packtiere sind zu schwach, um die zusätzlichen Säcke lange tragen zu können«, gab Worland zu bedenken.

»Dann laß das Zeug hier zurück«, bestimmte Yatsundor. »Wir haben noch genug Beute, um nicht mit leeren Händen dazustehen.«

Sie lagerten im Schatten der Bäume. Immer wieder glitt Yatsundors Blick zum Tümpel hin. Wenn das Wasser schon nicht genießbar war, konnte man sich damit zumindest den Sand abwaschen, der das Reiten zur Qual machte. Aber noch während er hinsah, stiegen schäumende Blasen an die Oberfläche und verbreiteten einen intensiven Schwefelgeruch.

Allmählich wurden die Schatten länger.

***

Fahl wie ein Leichentuch erstreckte sich die Große Wüste nach allen Richtungen bis an den Horizont.

Sie ritten durch die sternenklare Nacht – ihre Schatten schienen mit ihnen und dem Sand zu

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verschmelzen. Sobald ihre Tiere in eine langsamere Gangart verfielen, trieben die Nomaden sie von neuem an. Jeder wußte, daß sein Leben vor allen Dingen davon abhing, wie schnell sie vorankamen. Die wenigen Stunden der kühlen Nacht galt es auszunutzen – der Morgen würde erneut eine drückende Schwüle bringen, die den Körper auslaugte und das Denken zur Qual werden ließ.

Einmal trug der Wind aus weiter Ferne ein dumpfes Summen heran, das aber rasch wieder verklang.

Der schaukelnde Gang der Tiere wirkte einschläfernd. Manchem fielen für kurze Zeit die Augen zu, bis er, von Alpträumen gequält, hochschreckte.

Auch Yatsundor bildete keine Ausnahme. Er phantasierte. So sehr er sich dagegen sträubte, die Bilder, die er sah, kehrten immer wieder: Erschöpft und am Ende ihrer Kräfte, erreichten sie das Tal der Götter, überbrachten den Stahlmännern die Beute aus Ophanalom sowie den Bathrer-Priester und seine Schüler. Aber die Götter verlangten mehr, zeigten sich unersättlich. Die Waffen, die sie als Geschenk vorgesehen hatten, richteten sie gegen die Nomaden. Yatsundor schrie auf, als er einen Feuerstrahl auf sich zukommen sah. Im nächsten Moment verspürte er einen schmerzhaften Schlag gegen die linke Schulter. Benommen taumelte er, stürzte…Plötzlich war Sand um ihn her. Schwerfällig richtete Yatsundor sich auf die Knie auf. Sein Vleeh war abermals in den Bau eines Sandwühlers getreten. Aber diesmal sah es schlimm aus. Auf den ersten Blick erkannte er, daß das Tier sich den Fuß gebrochen hatte. Ohne zu überlegen, tastete er nach dem Messer. Einen kurzen Moment lang zögerte er. Das Vleeh sah ihn an, als wüßte es genau, was er tun mußte.

»Tut mir leid«, murmelte er gepreßt und tätschelte dem Tier ein letztes Mal den Hals. »Deine Qual würde kein Ende finden. Ich kann dir nur so helfen.«

Die stählerne Klinge zuckte herab. Ein kurzes Aufbäumen, dann lag das Vleeh ruhig.

Abrupt wandte Yatsundor sich ab. Er wollte nicht sehen, wie die anderen die Adern des Tieres öffneten und gierig das warme Blut tranken. Er ging zu einem der Laufvögel, durchtrennte mit kräftigen Schnitten die Schnüre, die die Beutesäcke hielten. Dann schwang er sich auf den Rücken des Mandalon.

Das Knistern des Sandes, das Schnauben der Tiere und ab und zu ein gequältes, heiseres Husten waren die einzigen Geräusche, die sie begleiteten. Yatsundor schrak zusammen, als einer der Nomaden zu ihm aufschloß.

»Du solltest deinen Plan aufgeben.«

»Ich verstehe nicht.«

»Warum kehren wir nicht zu unseren Frauen und der Herde zurück?«

»Weil die Götter uns gerufen haben.«

»Glaubst du wirklich daran?«

Als Yatsundor nicht antwortete, fuhr der Mann fort: »Bist du sicher, daß die Götter mit allem einverstanden sind, was wir tun? Wie oft wollen wir ihre Warnungen noch übersehen?«

»Wovon sprichst du?«

»Vom Sandsturm, von der verfluchten Oase mit ihrem ungenießbaren Wasser, von deinem Vleeh.«

Schroff winkte Yatsundor ab. »Wir sollten Thykonon und seine Schüler im Auge behalten. Das ist alles.«

»Du willst die drei dafür verantwortlich machen? Solche Kräfte besitzt kein Bathrer-Priester, und wenn, seine Lehre verbietet ihm nicht nur, zu töten, sondern auch die Teilnahme an Kämpfen.«

»Es gibt Ausnahmefälle.« Indem er sein Mandalon zu größerer Eile antrieb, zeigte Yatsundor

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deutlich, daß für ihn die Unterhaltung beendet war.

Sie ritten ohne Rast die ganze Nacht durch bis weit in den Tag hinein. Erst als die Sonne sich schon dem Zenit näherte, saßen sie ab und verkrochen sich unter ihren Decken. Yatsundor ließ erneut Wasserrationen austeilen.

Der Vorrat in den Schläuchen schrumpfte beängstigend schnell.

Die Erschöpfung forderte ihr Recht. Manche Nomaden und auch die Bathrer schliefen wie Tote. Yatsundor hatte Mühe, sie wachzubekommen, als er nach mehreren Stunden den Ritt fortsetzen wollte.

»Ich habe geträumt«, sagte Morres zögernd. »Davon, daß wir den Göttern endlich gegenübertraten. Aber sie waren ungehalten, richteten ihre Waffen auf uns und jagten uns davon.«

»Du tätest gut daran, diesen Unsinn zu vergessen.«

»Aber…«

»Ich habe gestern ähnliches geträumt. Und vermutlich werden die anderen ebenfalls davon reden, wenn wir sie fragen.« Yatsundor deutete auf den Priester und seine Schüler, die sich leise miteinander unterhielten. »Sie versuchen, uns zu beeinflussen«, stieß er hervor. »Dagegen müssen wir uns zur Wehr setzen.«

»Warum läßt du sie nicht fesseln?«

»Weil das wenig Sinn hätte. Du kannst ihr Wahakü nur unschädlich machen, indem du sie tötest.«

***

Sie ritten auch die zweite Nacht hindurch ohne Unterbrechung. Die Wasservorräte wurden aufgebraucht.

Im Morgengrauen kreiste ein Vogel über ihnen. Seine kurzen, schrillen Schreie mußten weithin zu vernehmen sein. Die buntgefiederten, mannsgroßen Tiere galten bei den Nomaden als Glücksbringer. Sie tauchten äußerst selten am Himmel auf, aber wenn einzelne von ihnen erschienen, kamen zumeist freudige Ereignisse in ihrem Gefolge.

Yatsundor blickte dem Vogel hinterher, als dieser kreischend in südlicher Richtung verschwand. Im nächsten Moment zuckte er jäh zusammen, beschattete sein Auge mit den Händen. Ein undefinierbarer, dunkler Fleck zeichnete sich am Horizont ab.

»Wofür hältst du das?« wandte er sich an Morres.

»Ich weiß nicht«, antwortete der Freund zögernd. »Es kann alles Mögliche sein.«

Der Fleck wuchs, wurde breiter, zerfiel in unzählige einzelne Punkte.

»Das sind Bäume! Ein Wald!« Niemand vermochte später zu sagen, wer den Ausruf zuerst ausgestoßen hatte. Die Nomaden wußten nur, daß sie es geschafft hatten.

Erschöpft, dreckverkrustet, übersät von Abschürfungen, Schwielen und eitrigen Geschwüren, aber doch erfüllt von neuer Hoffnung und Lebensmut, erreichten sie eine Stunde später den Wald. Sie ließen sich ins feuchte, weiche Moos fallen, vergruben die Gesichter in den grünen Kissen, die das Leben bedeuteten. Außer sich vor Erregung, begann Karphos, das Erdreich aufzureißen. Daß er sich dabei sämtliche Fingernägel abbrach und das Fleisch aufschürfte, bemerkte er nicht einmal. Schon nach wenigen Zentimetern sammelte sich Wasser in der entstandenen Mulde. Gierig trank er. Die anderen drängten ihn zur Seite, begannen, sich um das bißchen Wasser zu streiten. Auf Yatsundors beschwichtigende Worte hörte keiner. Erst als das Loch verschlammt war, hielten sie inne.

»Hier gibt es genügend Wasser für jeden«, rief der Sippenführer. »Ihr müßt nur danach graben.«

Alles, was irgendwie als Werkzeug zu verwenden war, wurde von den Nomaden genommen, um die Krume aufzureißen. Schließlich hob ein wahrer Freudentaumel an.

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Ein donnernder Knall ließ Yatsundor erschreckt zusammenzucken. Mit wenigen Sätzen war er am Waldrand und starrte suchend zum Himmel hinauf. Aber da war nichts zu sehen außer einem dünnen, milchigen Streifen, der rasch zerfaserte.

»Die Götter zürnen«, sagte jemand hinter ihm.

Der Sippenführer fuhr herum. Er blickte geradewegs in Worlands weit aufgerissene Augen.

»Sie sind mit unserem Tun nicht einverstanden«, erklärte Worland. »Am Ende unserer Wanderung warten fremde Götter auf uns.«

»Wer sagt das?« brauste Yatsundor auf.

»Alle. Es gibt genügend Anzeichen dafür. Weshalb werden wir vom Unglück verfolgt, seit wir Ophanalom eroberten? Du mußt davon ausgehen, daß wir die einzigen Überlebenden unserer Hundertschaft sind. Und dann die fremden Waffen. Hast du das Fernauge, die Donnereier und den Tausendtöter schon vergessen? Niemand kennt das Material, aus dem sie geschaffen wurden. Falls sie wirklich Geschenke unserer Götter sind, weshalb hatten nicht schon unsere Vorfahren das Glück, solche Dinge zu bekommen?«

»Die Antworten darauf werden wir bald erhalten.« Yatsundor wollte sich abwenden, doch Worland hielt ihn mit eisernem Griff zurück.

»Möglicherweise ist es gefährlich, sich neuen, fremden Göttern zuzuwenden. Die, denen wir bisher dienten, könnten rachsüchtig sein.«

Yatsundor stieß ein abgehacktes Lachen aus. »Der Priester hat euch den Kopf verdreht, bemerkst du das nicht? Er will uns gegeneinander aufwiegeln, um Gelegenheit zur Flucht zu erhalten. Bisher konnte er nichts ausrichten, weil er und seine Schüler auf uns angewiesen waren.«

»Du bist verblendet, Yatsundor. Ich verlange, daß du dich dem Ratschluß aller beugst. Es ist altes Recht…«

»Ich weiß«, nickte der Sippenführer. »Du brauchst mich nicht zu belehren.«

Röhrend raste etwas dicht über die höchsten Wipfel dahin. Es war eine silberne Scheibe, die sich in Richtung auf die Große Wüste entfernte. Eine zweite Scheibe folgte ihr. Wie ein turtelndes Vogelpärchen schraubten sie sich in den Himmel hinauf, stießen dann aber wie Falken wieder herab. Blitze zuckten auf.

»Die Götter bekämpfen sich«, brachte Worland tonlos hervor.

Yatsundor konnte ebenfalls erkennen, daß von jeder der Scheiben Blitze ausgingen. Wo sie im Boden einschlugen, wirkten sie verheerender als Donnereier.

Plötzlich begann der zweite Streitwagen zu taumeln. Flammen loderten aus seiner silbrigen Oberfläche hervor. Im nächsten Moment brach er unter ohrenbetäubendem Getöse auseinander. Seine Trümmer regneten wie Sternschnuppen aus der Höhe herab.

Aber auch der andere Wagen hatte Feuer gefangen. Schlingernd, ein welkes Blatt im Herbstwind, senkte er sich herab.

»Er kommt auf uns zu!« Worland war wie gelähmt. Erst als Yatsundor ihn anstieß, begann er zu rennen. »Flieht!« brüllte er aus Leibeskräften. »Die Götter nahen, um Rache zu nehmen!«

Die ersten Nomaden waren bereits aufgesessen. Blindlings trieben sie ihre Tiere zwischen den dicht stehenden Bäumen hindurch. Die Mandali mit der Beute aus Ophanalom beachtete niemand mehr. Auch Thykonon und seine Schüler suchten ihr Heil in der Flucht. Seltsamerweise verspürte Yatsundor Genugtuung, als er flüchtig das Gesicht des Priesters sah. Thykonon empfand offenbar dieselbe kreatürliche Furcht wie jeder der Nomaden auch.

Page 40: Flucht von Cairon

5.Langsam sanken wir in die Tiefe. Als die Plattform erschütterungsfrei zum Stillstand kam, schätzte ich, daß wir etwa zwanzig Meter Höhenunterschied überwunden hatten. Licht flammte aus verborgenen Beleuchtungskörpern auf.

Wir befanden uns in einer geräumigen Halle. Ob die unbekannten Erbauer natürliche Gegebenheiten ausgenutzt oder Desintegratoren eingesetzt hatten, war nicht zu erkennen. Einfache, aber überaus widerstandsfähige Kunststoffelemente im Baukastenprinzip bildeten die Wände, Decke und Boden.

Kaum hatten wir die Plattform verlassen, als sie sofort wieder in die Höhe stieg. Hokkandar zeigte nur flüchtiges Erschrecken. Für einen Nomaden, der zum ersten Mal mit einer derart technisierten Umgebung konfrontiert wurde, hielt er sich überraschend gut.

»Das alles ähnelt verdammt einer Raumschiffszentrale«, stellte Chipol fest.

Ich mußte ihm beipflichten. Wir standen in der Mitte des Raumes, auf einem erhöhten Podest. Trotz der günstigen Platzverhältnisse hatten die Unbekannten eine asymmetrische Aufteilung vorgezogen. Zu unserer Rechten erstreckte sich eine Reihe einfacher, meterhoher Aggregate. Sie waren unschwer als Datenspeicher zu erkennen. Vor uns gab es eine Bildschirmgalerie. Über einer Vielzahl einzelner, veralteter Mattscheiben verlief das breite Band eines Panoramaschirms. Mehrere pneumatische Sessel standen davor – acht an der Zahl. Auf der entgegengesetzten Seite des Raumes gab es ein großes Schott. Entschlossen ging ich darauf zu. Der Öffnungsmechanismus bestand aus einer einfachen Kontaktplatte. Gerade wollte ich sie betätigen, als mich ein lautes Kreischen herumwirbeln ließ.

»Nicht, Chipol!« rief ich.

Der Junge verschwand fast in dem Sessel, in dem er Platz genommen hatte. Als Folge seiner eifrig durchgeführten Schaltungen leuchtete bereits ein halbes Dutzend der kleinen Bildschirme auf.

Er wandte sich nur flüchtig zu mir um. »Alles funktioniert noch bestens«, stellte er fest. »Gleich werden wir sehen, welchem Zweck diese Station dient.«

»Nichts wirst du«, wehrte ich verärgert ab. »Schalte aus.«

»Aber Atlan…«

»Sofort!« Ich war nicht gewillt, mich vorschnell auf Experimente einzulassen. »Du hast keine Ahnung, welche Vorgänge du wirklich auslöst.«

Er seufzte ergeben, begann aber doch, seine Schaltungen rückgängig zu machen.

»Warte!« Auf einem der letzten Bildschirme war eine Rißzeichnung erschienen. Es gehörte nicht viel dazu, zu erkennen, daß es sich um eine unterirdische Anlage handelte. Vermutlich sogar um die Station, in der wir uns befanden.

»Siehst du«, frohlockte Chipol.

Mehrere horizontale und vertikale Schnitte wechselten einander ab. Die begleitenden Symbole waren in einer skurrilen Schrift abgefaßt, die ich nicht kannte. Am ehesten hatten die Zeichen Ähnlichkeit mit Hieroglyphen. Einige davon ergaben sogar einen Sinn.

Spätestens jetzt war ich davon überzeugt, daß die Station uralt sein mußte.

Du stellst rein gefühlsmäßige Spekulationen an, warnte der Extrasinn. Das ist nicht gut.»Ich glaube nicht, daß du mit Logik mehr herausfindest«, gab ich zurück.

Gefahr!Hokkandar ließ fast gleichzeitig einen entsetzten Ausruf vernehmen. Ich wirbelte herum. Lautlos

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hatte sich in der Wand hinter uns eine Öffnung gebildet. Ich war sicher, daß ich an dieser Stelle vorher nichts Auffälliges bemerkt hatte. Ein Roboter schwebte heran – kugelförmig, einen Meter durchmessend, mit einer Vielzahl kranzförmig angeordneter Greifarme und Tentakel ausgestattet. Sein gesamtes oberes Drittel bestand aus reflektierenden Sensoren. Meine Rechte verkrampfte sich um das Donnerei. Falls die Maschine auf die dumme Idee kam, uns anzugreifen… Der Roboter schwebte nicht mehr als einen Meter entfernt an mir vorbei. Vergeblich gab ich Chipol Zeichen, er solle endlich vom Schaltpult verschwinden. Wie hypnotisiert starrte er der Maschine entgegen, die sich ausgerechnet seinen Sessel als Ziel erwählt hatte. Erst im letzten Moment ließ er sich nach vorne von der Sitzfläche rutschen und wälzte sich zur Seite. Ich saß, daß auch er seine Handgranate wurfbereit hielt. Eine Explosion würde allerdings beträchtlichen Schaden anrichten und sogar uns selbst gefährden.

Der Roboter verharrte unmittelbar über dem Sessel und ließ seine Tentakel über die Konsole gleiten. Der Bildschirm erlosch.

»He«, machte Chipol überrascht. »So haben wir nicht gewettet.«

Die Maschine reagierte nicht. Langsam schwebte sie zu der Öffnung in der Wand zurück und glitt hindurch. Sekunden später zeugte nichts mehr davon, daß hier mehr war als glatter Kunststoff.

»Die Stahlmänner sehen anders aus«, sagte Hokkandar ergriffen. »War das ein Helfer der wirklichen Götter?«

»Es war ebenfalls nur eine von Menschenhand geschaffene Maschine«, erklärte ich und wandte mich dem Schott zu. »Kommt.«

»Wohin willst du?« fragte Chipol. »Sehen wir uns lieber noch einmal den Plan an.«

»Unnötig.« Ich tippte mit dem Zeigefinger an meine Schläfe. »Hier ist jedes Detail gespeichert.«

***

Ein unterirdisches Labyrinth erwartete uns. Manchmal hätte man sich wirklich in die Gänge und Kammern einer Pyramide versetzt glauben können. Die Luft war gut atembar. Entweder existierte ein ausgeklügeltes Belüftungssystem, oder eine verborgene Klimaanlage sorgte für regelmäßige Umwälzung.

Keine Spur von Stahlmännern oder gar Hyptons. Allmählich begann ich daran zu zweifeln, daß meine Vermutungen den Tatsachen entsprachen.

Mehrmals begegneten wir kugelförmigen Robotern, die offenbar Wartungsarbeiten ausführten. Solange wir ihnen rechtzeitig aus dem Weg gingen, nahmen sie keinerlei Notiz von uns.

Irgendwann mußte ich dann eine falsche Abzweigung gewählt haben, denn urplötzlich endete unser Weg vor einem kreisrunden Antigravschacht. Ich bekam Chipol gerade noch am Kragen zu fassen, bevor er hineinspringen konnte.

»Wieso hältst du mich zurück?« wollte er wissen.

Ich deutete über die Schulter. »Wir suchen lieber die Treppe, die nach oben führt.«

»Aber der Schacht ist aktiviert«, widersprach er.

Ich vollführte eine ablehnende Handbewegung. »Du wirst nicht bezweifeln wollen, daß ich mehr Erfahrung besitze. Also komm.«

Chipol begann, in seinen Taschen zu kramen, und brachte eine Handvoll Jaculrun-Nüsse zum Vorschein – der Rest des Futters, das er für die kleine Wildkatze Fumsel aufgespart hatte, und zugleich ein bescheidener Reichtum. Spitzbübisch schürzte er die Lippen, als er lediglich zwei Jaculruns nahm und die anderen sofort wieder verschwinden ließ. Er warf die beiden in den Antigravschacht. Langsam stiegen sie in die Höhe…

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… und vergingen aufflammend von einer Sekunde zur anderen.

Eine unsichtbare Energiesperre. Chipol wurde blaß. Ächzend wandte er sich zu mir um. »Worauf wartest du, Atlan? Gehen wir zurück.«

Wir fanden die Treppe und wenig später, auf der obersten Etage, den Hangar, nach dem ich gesucht hatte. Die gesamte Einrichtung erinnerte an die eines Flugzeugträgers des 20. Jahrhunderts. Vier Aufzüge, jeder dreißig mal dreißig Meter messend, sollten die hier untergebrachten Maschinen an die Oberfläche bringen. Stellplätze waren für gut hundert Gleiter verschiedener Größen vorhanden. Tatsächlich standen jedoch nur drei scheibenförmige Fahrzeuge hier.

»Die Gefährte der Götter«, stieß Hokkandar hervor. Es fiel ihm sichtlich schwer, alle neuen Eindrücke zu verarbeiten.

»Genau darauf habe ich gehofft«, sagte ich. Das Aufleuchten, das jäh über Chipols Gesicht huschte, amüsierte mich. Offenbar sprach ich ihm aus der Seele.

»Ich will, daß du dir die Kontrollen ansiehst, um notfalls allein mit einer solchen Maschine umgehen zu können. Aber laß noch die Finger davon. Vorerst starten wir nicht.«

»Was hast du vor?« erkundigte Hokkandar sich zögernd.

»Wir spielen Götter«, antwortete ich leichthin.

Narr!Auch ohne die Bemerkung des Extrasinns hätte ich meinen Fehler sofort erkannt. Der Nomade zuckte verängstigt zusammen, seine Haltung versteifte sich unwillkürlich.

»…falsche Götter«, fügte ich deshalb rasch hinzu.

Die Kontrollen des Gleiters wirkten antiquiert und waren infolgedessen leicht zu bedienen. Ich begann zu verstehen, daß die Hyptons und ihre Roboter sich absichtlich dieser Maschinen bedienten und auf ihre zweifellos vorhandene modernere Ausrüstung verzichteten. Diese Flugscheiben symbolisierten in gewissem Sinn die Anwesenheit der Götter. So war es einst gewesen, und ihre Beschreibung mußte sich über Jahrtausende hinweg in den Mythen der Bathrer und Nomaden erhalten haben.

Die Aufzüge waren rein mechanischer Natur. Sie ließen sich von den Gleitern aus in Gang setzten. Zufrieden, Arkonide? raunte der Extrasinn. Ich nickte. Immerhin besitzen wir nun einen brauchbaren Fluchtweg, erwiderte ich lautlos.

Du glaubst, daß du ihn benötigen wirst? – Natürlich glaubst du es.Die Flugscheiben waren mit starren Energiegeschützen ausgerüstet, andere Waffen fanden wir nicht. Wir verließen den Hangar wieder, um auf derselben Ebene weiterzusuchen. Gut bestückte Ersatzteillager schlossen sich an. Sie enthielten auch Maschinen für die Bodenbearbeitung sowie landwirtschaftliche Fahrzeuge für Aussaat und Ernte. Alles sah so aus, als hätten die unbekannten Raumfahrer vor langer Zeit geplant gehabt, Cairon zu besiedeln. Der Grund, weshalb sie es schließlich nicht getan hatten, würde wohl für immer vergessen bleiben. Oder hatten sie tatsächlich eine erste Siedlung gegründet, sich dann aber mit den Eingeborenen vermischt? Das wäre eine Erklärung für das Vorhandensein zweier verschiedener Kulturkreise gewesen, wenn auch eine äußerst dürftige.

Je mehr Zeit verstrich, desto deutlicher glaubte ich, ein gewisses Unbehagen zu verspüren. Mir wäre wahrscheinlich wohler zumute gewesen, wäre irgend etwas Unvorhersehbares geschehen. Aber so… Abgesehen von den kugelförmigen Robotern schien die Station herrenlos zu sein.

Die Gänge und anderen Räumlichkeiten, durch die wir kamen, lagen ringförmig um die Hangars herum angeordnet. Bisher hatten wir nicht viel mehr als verstaubte Technik zu Gesicht bekommen. Erst das sechste Schott, das sich knirschend öffnete, barg die – erwartete – Überraschung. Der von

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endlos scheinenden Regalreihen unterteilte Raum war ein ausgesprochenes Waffenarsenal. Auf den ersten Blick fiel auf, daß die Veränderungen nachträglich installiert worden waren.

»Donnereier«, jubelte Chipol und war nicht mehr zu halten. Mit beiden Händen griff er in die geöffnete Kiste, die neben einem Stapel gleichartiger Behälter stand, und stopfte sich die Taschen mit Handgranaten voll. Dann erst sah er sich weiter um. Der Raum barg einfach alles, angefangen vom einfachen Feuerzeug über die Stablampe bis hin zu hochmodernen Schnellfeuergewehren und kleineren Granatwerfern. Hier lagen genug Waffen und Munition herum, um ein Heer auszurüsten.

»Teufelszeug!« Hokkandar spie verächtlich aus.

Ich nickte zustimmend. »Wenn all diese Waffen jemals in die Hände deines Volkes gelangen sollten, wird dies den Anfang vom Ende bedeuten.«

Chipol achtete nicht darauf, was ich sagte. Sein Gesicht glühte vor jugendlichem Eifer. Er zog aus einem der Regale einen Karabiner mit Infrarotoptik heraus und hielt ihn mir stolz entgegen. »Was meinst du, Atlan, soll ich den nehmen?«

»Mir wäre lieber, du würdest die Finger von den Waffen lassen«, antwortete ich.

Er schien meinen bedrückten Tonfall richtig zu deuten, denn er sah mich verwundert an. »Wir müssen uns verteidigen können, wenn wir angegriffen werden«, stellte er fest. Wie oft in meinem mehr als zwölftausendjährigen Leben hatte ich diese Phrase schon vernommen?

Willst du wirklich ohne Waffen bleiben, bemerkte der Extrasinn zynisch. Habe ich kein Recht darauf, daß du meine Existenz verteidigst?Am liebsten hätte ich eine Strahlenwaffe besessen. Aber die gab es hier nicht. Offenbar fürchteten Hyptons und Stahlmänner, die Nomaden könnten sich eines Tages auch gegen sie wenden. Ich mußte zugeben, allzu abwegig erschien diese Annahme nicht, obwohl die Hyptons aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten durchaus in der Lage waren, sich zu schützen.

»Hier, Atlan, wie wär’s damit?« Chipol warf mir einen großkalibrigen Karabiner zu, den ich instinktiv auffing.

Niemand kann seine Abstammung verleugnen, Barbar, raunte es in meinen Gedanken. Wenn du konsequent wärst, müßtest du die Waffe ablehnen. Aber dir ist auch nur daran gelegen, Stärke und Macht zu beweisen.Der Karabiner war für den Abschuß der Raketen ausgelegt. Ich suchte mir die entsprechenden Teile fürs Umrüsten heraus und steckte zudem fünf faustgroße Geschosse ein. Hokkandar trat neben mich hin und beobachtete jeden meiner Handgriffe. »Willst du damit die falschen Götter besiegen?« fragte er zweifelnd.

Wie recht er doch hatte. Weder den Hyptons noch ihren Robotern konnten wir die Stirn bieten. Vom Erleuchteten, der irgendwo in diesem Sonnensystem sein mußte, ganz zu schweigen.

Ein leises Summen lag plötzlich in der Luft. Noch während ich die Quelle des Geräuschs zu lokalisieren versuchte, schrie Chipol entsetzt auf.

Keine dreißig Meter entfernt, am Ende einer Regalreihe, erschien ein Stahlmann. Ich reagierte, ohne zu überlegen, riß den Karabiner hoch und feuerte. Das Geschoß entwickelte einen ziemlichen Rückstoß, als es jaulend die Mündung verließ. Sekundenbruchteile später erfolgte die Detonation. Eine Glutwelle fauchte den Gang entlang, raubte uns die Luft.

»Zurück!« schrie ich. »Zum Gleiter!«

Hinter uns kamen weitere Roboter. Blindlings schleuderte Chipol drei Donnereier. Jedes andere Geräusch wurde von dem losbrechenden Lärm verschluckt. Regale wurden aus ihren Verankerungen gerissen und brachen berstend in sich zusammen, irgendwo detonierte Munition in nicht enden wollendem Stakkato.

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»Hier entlang!« Hokkandar hatte offensichtlich die Orientierung verloren. Ich wollte ihn vor mir herschieben, doch er blieb abrupt stehen und schüttelte den Kopf.

»Warum fliehen wir, Atlan?« fragte er.

Ich stutzte. Seine Augen waren zwar ein klein wenig geweitet, aber sie blickten freundlich wie stets. »Die Roboter werden uns töten«, erwiderte ich.

»Sie wurden angegriffen und glauben, sich verteidigen zu müssen. Was ist daran schlimm?«

»Nur die Tatsache, daß sie uns an den Kragen wollen. Es sind Maschinen, Hokkandar, aus Metall geschaffene Werkzeuge, die weder Gefühle noch Schmerzen kennen, sondern nur ihre Aufgabe.«

»Trotzdem«, beharrte der Nomade und löste sich mit überraschender Geschmeidigkeit aus meinem Griff. Fordernd streckte er die Rechte aus. »Gib mir deine Waffe, Atlan. Wenn du unbehelligt bleiben willst, verzichte auf jede Gewaltanwendung.«

Ich verspürte etwas wie eine sanfte, zögernde Berührung, ein Tasten mehr, aber nicht körperlich. Jemand versuchte, in mein Bewußtsein einzudringen, zog sich jedoch ebenso rasch wieder zurück, als er auf Widerstand stieß.

Sieh nach links hinüber! Unter der Decke.Eine Traube 60 bis 70 Zentimeter großer, fledermausartiger Wesen hing dort. Ihre Flughäute hatten sie eng angelegt. Sie starrten uns aus ihren großen, runden und weit hervorquellenden Augen an. Wie lange sie sich schon da befanden, konnte ich nicht sagen, ich war viel zu sehr von den Stahlmännern abgelenkt gewesen.

Am anderen Ende des Raumes tauchten erneut Roboter auf.

»Bitte, Atlan, gibt mir deine Waffe«, verlangte Hokkandar von neuem. Er spürte nichts von der Beeinflussung durch die Hyptons, glaubte zweifellos, aus eigenem Antrieb zu handeln.

Chipol begann, aus seinem Karabiner zu feuern. Querschläger sirrten durch die Halle. So konnte er die Stahlmänner jedenfalls nicht aufhalten. Ich schoß eine zweite Rakete ab, die beträchtliche Verwüstungen anrichtete. Dichter Qualm versperrte die Sicht. Aber schon nach Sekunden brachen Roboter daraus hervor. Warum setzten sie ihre Waffen nicht ein? Wollten sie uns gefangennehmen?

Hokkandar sprang mich an, versuchte, mich zu Boden zu werfen. Chipol rief mir etwas zu, was ich nicht verstand. »Verschwinde!« schrie ich. »Bringe dich in Sicherheit.« Er hatte die Hyptons ebenfalls entdeckt, riß die Waffe hoch. Im nächsten Moment mußte ihm klar werden, daß er die Gegner unterschätzte. Ein Schutzschirm flammte auf und hüllte die Traube aus mindestens zehn Geschöpfen ein.

Die Stahlmänner waren fast heran. Endlich gelang es mir, mich von Hokkandar zu lösen. Ich hätte ihn mit einem einzigen Griff fällen können, schreckte aber unbewußt davor zurück. Der Nomade war mir zum Freund geworden.

»Atlan, komm endlich!« brüllte Chipol. Er schleuderte seine letzten Donnereier.

Ich zögerte, konnte Hokkandar nicht zurücklassen.

Sie werden ihn für einen neugierigen Eingeborenen halten, was er letztlich auch ist. Ihm wird nichts geschehen – das läge nicht in der Mentalität der Hyptons.»Aaatlan!« schrie Chipol.

Wütend auf mich selbst, warf ich mich herum. Ich würde es mir nie verzeihen, einen Freund im Stich gelassen zu haben. Nur um Haaresbreite entging ich dem Zugriff zweier Stahlmänner, die überraschend aus einem Seitengang zwischen den Regalreihen herankamen.

Sentimentaler Narr, schimpfte der Extrasinn. Hokkandar wird besser davonkommen als du.Ich sprintete los. Chipol gab noch eine wirkungslose Salve auf die Roboter ab, dann schlug das

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Schott hinter uns zu. Wir konnten von Glück reden, daß wir in dem schmalen Korridor nicht schon erwartet wurden. Auch der Hangar war leer. Wir schwangen uns in den erstbesten Gleiter. Ich warf Chipol meinen Karabiner und zwei der Raketen zu: »Halte sie auf!« Er grinste, während meine Finger bereits über die Schalter des Pilotenpults huschten, als hätte ich nie etwas anderes getan. Nur von Antigravfeldern getragen, hob der Gleiter ab und schwebte auf die nächste Aufzugskabine zu. Die ersten Stahlmänner erschienen unter uns, wurden aber von der Druckwelle einer explodierenden Rakete durcheinandergewirbelt.

Noch einmal schoß Chipol aus der offenen Luke, dann glitten wir in den stählernen Tunnel über dem Hangar.

Sekunden später sahen wir wieder den blauen Himmel. Wolken türmten sich auf. Ich beschleunigte den Gleiter, blieb aber dicht über dem Boden, um die Gefahr einer Ortung möglichst gering zu halten. Den Kurs wählte ich willkürlich in Richtung auf das Gebirge.

Wir wurden verfolgt. Zwei winzige Punkte erschienen auf einem Monitor. Egal, welche Manöver ich einleitete, sie erwiesen sich so anhänglich wie Kletten. Wir hätten die anderen Gleiter im Hangar zerstören oder zumindest flugunfähig machen sollen. Allerdings war es jetzt zu spät für Selbstvorwürfe. Ich nahm an, daß Stahlmänner die Maschinen flogen.

Langsam, aber sicher holten sie auf.

»Gib mir noch eine Rakete«, verlangte Chipol.

Ich wehrte ab. »Wenn du jetzt die Luke öffnest, wird der Sog dich nach draußen ziehen.«

Eine Schlucht lag vor uns. Dicht über dem felsigen Boden ließ ich den Gleiter hineinrasen. Zwei, drei Kilometer, dann traten die Wände enger zusammen. Mächtige Felsnadeln ragten zu beiden Seiten auf. Mittlerweile hatte ich die Maschine hinreichend im Griff, um auch riskante Flugmanöver wagen zu können. Mit Höchstwerten verzögernd, riß ich den Gleiter aus dem Kurs. Kaum mehr als einen Meter hoch, rasten wir über schroffe Zacken hinweg, aber ich schaffte es, einen der Felsen zwischen uns und die Verfolger zu bringen und mich hinter sie zu setzen. Noch ehe sie bemerkten, was geschah, löste ich den starr eingebauten Thermostrahler aus. Einer der Gleiter geriet ins Trudeln und zerschellte. Der aufsteigende Explosionspilz nahm mir vorübergehend jede Sicht.

Steil zog ich unsere Maschine in die Höhe, bog nach Norden ab. Irgendwo rechter Hand mußte das Tal der Götter liegen. Mein waghalsiger Zickzack-Kurs ließ die Schüsse des Verfolgers ins Leere gehen. Ich schätzte die Höchstgeschwindigkeit der Gleiter auf sieben- bis achthundert Stundenkilometer.

Vor uns tauchte ein kleines Waldgebiet auf, dahinter erstreckte sich eine ausgedehnte Wüste. »Festhalten, Kleiner!« rief ich Chipol zu. Unser Gleiter sackte bis fast auf die Baumwipfel durch. Dann zog ich ihn steil in die Höhe. Ein Looping – zwischen den Wolken. Die Sonne blendete; vorübergehend konnte ich nur noch Schatten erkennen. Jetzt! bestimmte der Extrasinn. Ich ahnte, daß ich den Verfolger im Fadenkreuz hatte und löste die Bordkanone aus. Strahlschüsse durchbrachen die Wolken, rissen glühende Krater in die Dünen.

»Wir haben ihn«, jubelte Chipol. Leider zu früh, denn Sekundenbruchteile später wurden wir von einer Strahlbahn gestreift. Der Gleiter war kaum noch zu beherrschen. Trotzdem gelang es mir aus unserem Absturz ein halbwegs kontrolliertes Taumeln zu machen. Daß die andere Maschine noch in der Luft explodierte, war ein schwacher Trost.

Unverhofft begann der Antigrav wieder zu arbeiten – unmittelbar bevor wir aufschlugen. In unseren Sesseln merkten wir nicht allzu viel davon. Brennend schlitterte der Gleiter über den Boden, entwurzelte Sträucher und Pflanzen, bis erst unmittelbar am Waldrand alle kinetische Energie aufgezehrt war.

Die Luke war von selbst aufgesprungen, hatte sich aber nur halb geöffnet. Chipol zwängte sich als

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erster hinaus. »Nomaden«, rief er mir zu. »Sie fliehen, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her.«

Wir rannten ebenfalls tiefer in den Wald hinein. Die Flammen breiteten sich rasend schnell über den Gleiter aus. Wir hatten Glück gehabt. Doch mir war auch klar, daß die Roboter, nachdem sie nun wußten, wo sie zu suchen hatten, Chipol und mich ziemlich bald entdecken würden. Der Wald würde uns nicht schützen.

»Mandali«, stieß Chipol hervor. Fast gleichzeitig entdeckte ich die am Rand eines Dickichts angebundenen Laufvögel. Die Nomaden mußten sie zurückgelassen haben. Im Nu verwarf ich mein Vorhaben, mit Hilfe des Armbandgeräts die STERNSCHNUPPE, mein Raumschiff, herbeizurufen. Vielleicht waren wir doch noch nicht gezwungen, Cairon zu verlassen. Wir mußten Zeit gewinnen und möglichst schnell Abstand von den Gleiterwracks.

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6.Die beiden Laufvögel trugen schwere Lasten. Als ich einen der Jutesäcke öffnete, fielen mir alle möglichen Gegenstände aus Metall vor die Füße. Demnach befanden die Nomaden sich mit ihrer Beute auf dem Weg zum Tal der Götter. Wir hätten es kaum besser treffen können. Wer würde uns schon in der Nähe einer solchen Karawane vermuten? Hastig lösten wir die Säcke, ließen sie ins Moos fallen und schwangen uns in die Sättel.

»Was machen wir mit den Waffen?« wollte Chipol wissen.

»Versuche, die deine ebenfalls unter der Satteldecke zu verbergen«, sagte ich. »Wenn sie auffällt, ist es aus mit unserer Tarnung.«

Die Nomaden hatten unübersehbare Spuren hinterlassen, denen wir leicht folgen konnten. Die Vögel erwiesen sich als kräftige, ausdauernde Läufer, und obwohl sie anfangs in uns Fremde zu wittern schienen, folgten sie bald willig jedem Zug am Zügel.

Der Wald lichtete sich, ging in eine Art Savanne über, aus der nur vereinzelt riesige, weit ausladende Bäume aufragten. Es gab Grasinseln, wo die an Schilf erinnernden Pflanzen mehr als mannshoch wuchsen. Immer wieder ertappte ich mich dabei, daß ich den Himmel absuchte. War es ein gutes Zeichen, daß sich noch keine Gleiter zeigten?

Wir schlossen zu den Nomaden auf. In ihrer Panik achteten sie kaum auf uns – und wenn, so hielten sie uns der Kleidung wegen für ihresgleichen.

Ich wurde ziemlich bald auf die drei Bathrer aufmerksam, die einen nicht minder entsetzten Eindruck machten als die Nomaden. Es mußten Priester sein, die den Göttern ausgeliefert werden sollten.

»He, du.« Ein rothaariger, kräftiger Bursche zwängte sein Vleeh an meine Seite. »Wer bist du?«

Ich nannte meinen Namen und fügte sofort hinzu: »Mein Gefährte und ich sind auf dem Weg zum Tal der Götter. Aber offenbar haben die Götter Streit miteinander.«

Der Rothaarige gab sich damit zufrieden. »Kennst du den Weg?« wollte er wissen. Als ich nickte, huschte ein Aufleuchten über seine Züge. Hatte er bis eben mein Mandalon mißtrauisch gemustert, schien er jetzt nicht mehr darauf zu achten. »Dann führe uns«, verlangte er.

Das hatte mir allerdings gerade noch gefehlt. Schließlich waren es einige Tagesmärsche, und ich hegte nicht die Absicht, lange bei den Nomaden zu verweilen.

Am Horizont tauchten felsige Hügel auf. Anfangs kamen wir noch flott voran, dann wurde das Gelände schwieriger. Zeitweise waren wir sogar gezwungen, hintereinander zu reiten, weil Morast und dichtes Gestrüpp uns behinderten.

»Hörst du?« raunte Chipol mir zu. Unruhig tastete er über seine Satteldecke und den darunter verborgenen Karabiner.

Das ferne Summen lag schon eine Weile in der Luft. Das einzige, was wir dagegen tun konnten, war, unauffällig zu bleiben. Mein Blick bedeutete dem Jungen, stur weiterzureiten. In der Begleitung der Nomaden waren wir am sichersten. Selbst wenn unsere Waffen geortet wurden, mußten die Roboter sie für Erze oder andere aus Metall gefertigte Gaben für die Götter halten.

Das Gelände stieg merklich an. Ein schmaler Saumpfad war bald der einzige passierbare Weg. Wir hätten sowohl nach Osten wie auch nach Westen ausweichen können, dabei aber sicherlich einige Tage verloren. Außerdem schienen die Nomaden an solche Schwierigkeiten gewöhnt zu sein. Loses Geröll machte das Vorwärtskommen bald zu einer halsbrecherischen Kletterpartie. Wir mußten absitzen und die Tiere am Zügel hinter uns herführen.

Da war es wieder. Das Summen, für eine Weile abgeklungen, kam näher. Diesmal wurden auch die Nomaden aufmerksam.

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»Seht doch nur!«

»Ein Streitwagen der Götter.«

»Er ist kaum schneller als unsere Vleehs.«

Sie schrien aufgeregt durcheinander.

Der Gleiter schwebte langsam und höchstens dreißig Meter über unsere Köpfe hinweg und verschwand jenseits des vor uns liegenden Hügels. Er mußte gelandet sein.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Chipol zögernd.

»Sie suchen uns«, antwortete ich. »Und ich fürchte fast, sie haben uns.«

Wir waren gezwungen, weiterzugehen. Eine günstigere Stelle, uns abzufangen, hätten die Stahlmänner kaum finden können. Der schmale Pfad endete auf der Höhe. Dahinter verlief das Gelände wieder normal. Dort befand sich der Gleiter. Zwei Stahlmänner hatten die Maschine verlassen und starrten uns unbewegt entgegen.

Die Nomaden verharrten zögernd. In ihren Gesichtern mischten sich Furcht und Neugierde, vielleicht auch die Hoffnung, von den vermeintlichen Göttern belohnt zu werden.

»Zwei Fremde sind in eurer Mitte«, erklang eine dröhnende Stimme, die ihren Eindruck keineswegs verfehlte. »Sie haben es gewagt, sich unserem Willen zu widersetzen.«

Die Roboter bluffen, durchzuckte es mich. Doch wie sollte ich das den Nomaden klarmachen, die bereits merklich von uns abrückten? Liebend gern hätte ich ein erneutes Feuerwerk vermieden – leider sah es so aus, als würde sich ein Kampf nicht umgehen lassen. Kaum merklich nickte ich Chipol zu, während ich nach meinem Karabiner tastete und das letzte Raketengeschoß aufsteckte. Ich durfte nicht zögern, solange ich sicher sein konnte, beide Roboter miteinander auszuschalten.

Ich feuerte, ohne zu zielen. Die Rakete brachte den einen Stählernen zur Explosion und beschädigte den anderen so schwer, daß er zu keiner koordinierten Bewegung mehr fähig war. Auch der Rumpf des Gleiters wurde aufgerissen. Krachende Entladungen huschten wie Irrlichter über die Hülle.

Ebensogut hättest du den Hyptons und ihren Helfern ein Leuchtfeuer entfachen können, schimpfte der Extrasinn.

Was sollte ich dann tun?

Mehr auf mich hören. Ich meine es nur gut mit dir.Keiner der Nomaden achtete noch auf Chipol und mich. Blinde Panik hatte sie erfaßt. Einige rannten zurück, von wo sie gekommen waren, oder tiefer zwischen die Felsen hinein. Sie schienen vollkommen vergessen zu haben, daß ihre Tiere schneller und ausdauernder waren. Andere schwangen sich auf Vleehs und Mandali und feuerten diese mit lauten Rufen zu größter Eile an.

»Hinterher!« rief ich Chipol zu. »Wir müssen in ihrer Nähe bleiben.«

Weit draußen über der Ebene erschienen Gleiter. Noch Kilometer entfernt, begannen ihre Thermogeschütze zu feuern. Armdicke Glutstrahlen fraßen sich durch die Steppe, huschten die Felsen hinauf und brachten das Gestein zum Schmelzen. Ich besaß keine Raketen mehr, schleuderte den nutzlos gewordenen Karabiner mit weit ausholender Bewegung von mir. Die Waffe verschwand zwischen schroffen Felszacken.

Thermostrahlen schlugen vor und neben uns ein. Aber keiner lag näher als zehn Meter. Die Roboter wollten uns lebend haben. Ein unschätzbarer Vorteil, der die Flucht erleichterte.

Das unwegsame Gelände erwies sich ausgedehnter, als ich anfangs vermutet hatte. Dem Stand der Sonne nach zu schließen, zog es sich weit nach Westen hin. Vom Gleiter aus hatten wir kaum etwas davon gesehen.

Ein Gewirr zyklopenhafter Felsen erwartete uns. Zum Teil traten sie so eng zusammen, daß die

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Stahlmänner abdrehen mußten.

»Sie geben auf«, jubelte Chipol. »Siehst du.«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie suchen nach einem geeigneten Landeplatz. Roboter können das Hartnäckigste sein, was es im Universum gibt. Sie werden uns zu Fuß verfolgen.«

Der Junge ballte die Fäuste. »Sollen sie nur kommen«, fauchte er. »Ich fürchte mich nicht.«

Die Nomaden waren zwischen den Felsen verschwunden. Zurückblickend sah ich mehrere Reiter in die Steppe hinaus fliehen. Sie preschten in alle Richtungen auseinander, als ein Gleiter über ihnen erschien.

Auch vor uns waren drei Reiter. Ihr Vorsprung schrumpfte rasch zusammen, weil unsere Mandali schneller waren als ihre Vleehs. Die drei schienen nicht gerade mit den Tieren aufgewachsen zu sein. Kein Wunder, handelte es sich doch um die Bathrer, die bereits die erste Verwirrung zur Flucht genutzt hatten.

»Priester«, machte Chipol geringschätzig. »Von denen wollen wir gewiß nichts.«

»Warum eigentlich nicht?« erwiderte ich. »Wenigstens vorerst sollten wir in ihrer Nähe bleiben.«

Ob die Roboter in der Lage waren, die richtige Spur aufzunehmen? Mindestens drei oder vier Gruppen hatten sich gebildet, die, jede für sich, zu entkommen suchten.

***

Er hatte lange Zeit benötigt, um sich darüber klarzuwerden, daß er gegen die Gesetze der Großen Harmonie verstoßen hatte. Aber noch immer sträubte sich alles in ihm dagegen, dieses Vergehen anzuerkennen. Der Überfall auf Ophanalom, die Gefangennahme und die Plünderung durch die Nomaden, dann die beklemmende Nähe der Ungläubigen – all das hatte dazu beigetragen, hatte sein Handeln entscheidend beeinflußt. Eine Entschuldigung indes gab es nicht. Niemals hätte er versuchen dürfen, Zwietracht und Streit zu säen, die in Gewalttätigkeit auswarten konnten.

Niemals! Und nun floh er vor den aufgebrachten Göttern der Nomaden, die durch die Luft flogen und mit Blitzen warfen. Er reagierte zunehmend verwirrt. War das die Strafe für sein verwerfliches Tun?

Weshalb habe ich nicht versucht, in Freundschaft mit den Nomaden zu reden? durchzuckte es ihn. Wieso wollte ich sie quälen?

Die Bilder vom Fall Ophanaloms ließen ihn nicht ruhen. In seiner Erinnerung sah er wieder die Mauern bersten, hörte die siegessicheren Schreie der Angreifer, sah verzweifelte Bathrer fliehen… Er wollte Rache.

»Nein!« Eisige Schauder überliefen ihn. Hilflos schlug er sich die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Welcher böse Geist trieb ihn zu solchen Überlegungen? Von frühester Kindheit an war er für das Priesteramt erzogen worden, hatte gelernt, gütig zu sein und selbst jenen Liebe zu schenken, die zu den Unbelehrbaren gehörten. Bis vor wenigen Tagen war er wirklich vom Geist der Harmonie erfüllt gewesen. Nun besaß er Grund genug, an sich selbst zu zweifeln.

Nur wenn er in sich ging und Buße tat, würde der Große Geist der Harmonie an ihm Gefallen finden. Aber dazu benötigte er Ruhe, die er nicht hatte.

Obwohl auch seine Schüler glaubten, in dem entstandenen Durcheinander die Nomaden abgeschüttelt zu haben, waren plötzlich zwei Reiter auf Mandali hinter ihnen. Thykonon erkannte in ihnen die beiden, die erst nach dem Erscheinen der Götter zu ihnen gestoßen waren.

Es bedurfte keiner Worte zwischen ihm und den Schülern. Stillschweigend waren sie sich darüber einig, daß sie die Nomaden abschütteln mußten. Mit Zurufen versuchten sie, ihre Vleehs zu größerer Eile anzutreiben.

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Aber die beiden Reiter auf den Laufvögeln blieben hinter ihnen. Sie kamen sogar näher.

Kehrt um! dachte Thykonon intensiv. Steigt ab und gebt euch dem Frieden hin, der tief in euch verschüttet liegt.Er war zu aufgeregt, um sein Wahakü wirkungsvoll einzusetzen. Die Nomaden machten jedenfalls keine Anstalten, die Verfolgung aufzugeben.

»Wir haben uns gegen die Gesetze der Harmonie versündigt«, murmelte der Priester bedrückt. »Wie immer die Strafe dafür ausfällt, wir müssen sie annehmen.«

Die Streitwagen der Götter waren längst vom Himmel verschwunden. Rauch quoll aus vereinzelten Felsspalten hervor. Es roch nach Schwefel und feuchtem Erdreich. Der Weg teilte sich. »Nach links«, entschied Thykonon spontan. Während auf der anderen Seite ein von Geröll übersäter Hang in eine im Dunst verborgene Tiefe führte, gab es hier unzählige Durchlässe und Höhlen, in denen man sich verbergen konnte.

Die Sicht wurde zunehmend schlechter. Die Sonne verschwand hinter tief hängenden, gelblichen Wolkenschleiern. Ihr milchiger Schein zeichnete fahle, verschwommene Schatten.

»Das ist unsicheres Land«, stellte Norphan fest, dessen Wunden inzwischen nahezu verheilt waren.

»Es strahlt eine besondere Harmonie aus«, erwiderte Thykonon. »Gib dich dem Zusammenspiel der vielen Kräfte hin, die hier schlummern, öffne deine Sinne für alles, was auf dich einströmt. Dann findest du ungeschoren hindurch.« Er deutete auf den düsteren Eingang einer Höhle. »Dort drinnen warten wir, bis die Nomaden weitergezogen sind.«

Sie ritten in eine nahezu vollkommene Finsternis hinein, die nur durch das irisierende Leuchten von Moosen spärlich erhellt wurde. Weit vor ihnen brach sich Hackender Feuerschein an den Wänden. Doch sie kamen kaum tiefer als zehn Meter in die Höhle, bis ein brodelnder See ihnen den Weg versperrte.

»Das Wasser kocht«, stellte Turman überrascht fest.

»Setzte deine Sinne ein«, sagte der Priester. »Du wirst feststeilen, daß die Erde unter uns so heiß ist, daß selbst Gestein schmilzt.«

Das Wasser begann, blasenwerfend aufzuwallen.

»Zurück!« stieß Thykonon hervor. Ein dumpfes, anschwellendes Dröhnen aus der Tiefe unterstrich seine Warnung. Sie wendeten ihre Vleehs, als hinter ihnen bereits die erste Fontäne in die Höhe stieg. Eine unerträgliche Hitze breitete sich aus.

Thykonon und seine Schüler wurden vor der Höhle erwartet. Verwirrt blickte der Priester in die grinsenden Gesichter der Nomaden.

»Ihr habt sicher nichts dagegen, wenn wir euch begleiten«, sagte der ältere von beiden, dessen Alter auf seltsame Art unbestimmbar erschien.

Plötzlich wußte Thykonon, daß dies die Strafe war, die ihm der Geist der Harmonie auferlegte: Er mußte sich noch einmal gegen das Gesetz der Harmonie vergehen, diesmal jedoch bewußt. Er mußte die beiden Nomaden töten. In dem Gebiet mit heißen Quellen, kochendem Schlamm und giftigen Dämpfen würde es leicht sein, sie in die Irre zu führen.

***

Atlan zögerte nicht, den Bathrern tiefer in die vulkanisch aktive Zone zu folgen. Wegen der aufsteigenden Dämpfe, der zyklopenhaften Felsen und Adern geschmolzenen Gesteins würden die Roboter der Hyptons es schwer haben, sie zu orten.

Sie kamen nur langsam voran. Mehrmals hatte es den Anschein, als würde der Weg an einem unvermutet aufgetauchten Hindernis enden, doch stets fand der Priester einen sicheren Übergang.

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Er setzt seine Psi-Sinne äußerst geschickt ein, kommentierte der Extrasinn. Du wolltest auf der Hut sein.Hast du Angst? erkundigte ich mich amüsiert.

Unsinn, kam es schroff. Wenn du mehr Zeit darauf verwenden würdest, diesen Thykonon zu beobachten, würdest du ihm ebenfalls mißtrauen.Ich weiß, daß du das für mich tust, erwiderte ich. Ich schenkte in der Tat mehr Aufmerksamkeit dem zunehmend trügerischen Boden als dem Priester. Ringsum kochte und brodelte es, Rauch und Wasserdampf quollen unter hohem Druck aus Felsspalten und Höhlen hervor, Schlammseen spuckten blasenwerfend glühende Lava aus. Die Sicht reichte manchmal kaum weiter als hundert Meter – genug jedoch, um uns ein wahrhaft faszinierendes Panorama erkennen zu lassen. Einzelne Gesteinsformationen sahen aus, als hätten Riesen sie mit ihren Äxten in meterdicke Scheiben geschnitten. Die Bruchstellen wirkten wie poliert und funkelten in vielen Farben. Dazwischen ragten verkrüppelte, in den Dämpfen längst abgestorbene Bäume auf. Im Lauf langer Zeiträume hatten sich metallische Partikel auf ihrem Holz niedergeschlagen und verliehen ihnen das Aussehen bizarrer Kunstwerke.

Unvermittelt standen wir am Rand eines brodelnden Schlammbeckens. Nur ein schmaler, brüchiger Pfad führte hindurch. Wenn wir auf die andere Seite wollten, mußten wir unsere Tiere hier zurücklassen.

»Nein!« stieß Chipol krampfhaft hervor. »Lieber kehre ich um.«

»Hinter uns warten die Stahlmänner«, gab ich zu bedenken.

»Und wenn schön. Merkst du nicht, was dieser Bathrer vorhat?«

Ich konnte Chipols Abneigung gegen den Priester und seine Schüler verstehen. Von Anfang an hatte er daraus keinen Hehl gemacht. Ihm waren ihre Psi-Kräfte suspekt.

Thykonon schien sich seiner Sache sicher zu sein. Als erster überquerte er das Schlammbecken, ohne auch nur ein einziges Mal zu zögern. Ich schob den widerstrebenden Chipol einfach vor mir her.

Die Augen des Priesters verrieten mir genug. Er hoffte, daß wir über kurz oder lang die Nerven verloren, und ahnte nicht einmal, daß er alles andere als Nomaden vor sich hatte. Umgebungen wie diese Schluchten waren mir keineswegs fremd.

Der schwache, kaum wahrnehmbare Druck im Schädel, den ich seit einer Weile verspürte, wurde stärker. Sollte Thykonon ruhig versuchen, mich zu beeinflussen – er würde sein blaues Wunder erleben. Nur auf Chipol mußte ich achten. Der Junge war nicht mentalstabilisiert.

Es bedurfte keiner besonderen Menschenkenntnis, um zu erkennen, daß der Priester etwas plante.

»Endlich«, seufzte Chipol neben mir. »Es wurde Zeit, daß der Weg wieder besser wird.«

Wir hatten zwar den Schlamm hinter uns gelassen und einen von Flechten überwucherten Erdhügel erreicht, doch führten auch von hier nur glitschige Steige weiter. Irgend etwas in mir schlug Alarm.

»Komm, Atlan. Gleich haben wir es geschafft.« Chipol schritt schneller aus. Bemerkte er nicht, daß keine fünf Meter vor ihm Lava brodelte?

Der Druck unter meiner Schädeldecke wurde stärker. Nur Sekundenbruchteile konzentrierte ich mich darauf und sah schlagartig die Umgebung anders. Thykonon und seine Schüler benutzten ihre Psi-Kräfte, um uns ins Verderben zu schicken. Blitzschnell zerrte ich Chipol zurück.

Der Junge starrte mich verdutzt an. Dann schien er zu begreifen. Sein Blick schweifte über die Felsen, und mit einem heisernen Aufschrei warf er sich auf den überraschten Priester. Zusammen mit dem Bathrer stürzte er zu Boden, rollte sich aber blitzschnell herum und setzte Thykonon sein Messer auf die Brust.

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»Laß deine faulen Tricks!« schrie er. »Ich habe genug von dir und deinesgleichen.«

»Chipol«, mahnte ich. »Steck das Messer weg!«

Heftig schüttelte er den Kopf.

»Wenn du den Priester verletzt, hilft uns das in keiner Weise weiter«, fügte ich hinzu. »Was versprichst du dir davon?«

»Er ist gefährlich.«

»Aber nicht für uns. Denke an die Harmonie der Bathrer. Es gibt Situationen, in denen du mit Großmut und Nachgiebigkeit weit mehr erreichst, als mit einer Waffe in der Hand.«

Chipol blickte mich zweifelnd an. Es kostete ihn sichtlich Überwindung, das Messer wegzustecken. Aber dann erhob er sich und streckte dem Priester die Hand entgegen. »Steh auf, Thykonon«, seufzte er. »Ich Hab’s nicht bös gemeint.«

Seine Worte, unverkennbar spöttisch, verfehlten ihre Wirkung dennoch nicht. Der Bathrer wich einen Schritt zurück und starrte uns ungläubig an. »Wer seid ihr?« wollte er wissen. »Jeder Nomade hätte zugestoßen, ohne zu zögern.«

Sollte ich ihm die Wahrheit sagen? Wenn er mir Glauben schenkte, konnte er zum wertvollsten Verbündeten werden. Immerhin wußte ich, wie groß der Einfluß der Priester auf die Bathrer war.

»Wir sind nicht von dieser Welt«, erklärte ich.

Seine Augen weiteten sich noch mehr. »Ihr… kamt mit den Göttern der Nomaden?«

»Götter? Quatsch!« machte Chipol. »Betrüger sind das. Hochstapler, die sich an Cairons Schätzen bereichern wollen.«

»Dann seid ihr Dämonen«, stieß Norphan hastig hervor. »Nur der Große Geist der Harmonie, die Götter und die Dämonen kommen von den Sternen.«

»Das wird immer besser«, stöhnte Chipol.

»Viele Völker leben zwischen den Sternen, auf Welten, die Cairon ähnlich sind«, sagte ich. »Manche lieben den Frieden, wie die Bathrer, andere sind Krieger, die ruhelos umherstreifen…«

»Wie die Nomaden?«

Der Vergleich hinkte zwar gewaltig, war jedoch die beste Möglichkeit, den Priester und seine Schüler zu überzeugen. Chipol schwieg. Er glaubte nicht, daß ich bei Thykonon Erfolg haben würde. Erst als ich auf die Hyptons zu sprechen kam, zeigten die Bathrer Unruhe und eine zunehmende Nervosität. Möglichst prägnant schilderte ich die besonderen Fähigkeiten des ehemaligen Konzilvolks.

»Der böse Geist über Ophanalom…« stieß Thykonon schließlich hervor. »Syrkon wurde seines Wahaküs beraubt. Das müssen die Hyptons gewesen sein. Weißt du mehr darüber?«

»Vielleicht die Hyptons; vielleicht aber auch eine Macht, die hinter ihnen steht«, sagte ich. »Aber was du erlebt hast, kann nur der Anfang gewesen sein. Wenn sich nicht alle Bewohner Cairons zusammenschließen, steht eurer Welt weit größeres Unheil bevor.« Ich zweifelte nicht daran, daß ein wirksames Vorgehen gegen die heimtückischen Invasoren möglich und erfolgversprechend war. Immerhin hatte ich die außerordentlich starke suggestive Kraft der Bathrer-Priester am eigenen Leib zu spüren bekommen, als sie mich in Umharaton der Geisterprobe unterzogen. Auch wenn einer allein hilflos sein mochte, gemeinsam waren sie in der Lage, eine Gegensuggestion aufzubauen.

Thykonon nickte spontan. »Ich fange an, vieles, was in den letzten Tagen geschehen ist, mit anderen Augen zu sehen. Ganze Sippen stehen offenbar bereits unter dem Einfluß der Hyptons.«

»Nur ihr Priester seid in der Lage, sie von dieser geistigen Fessel zu befreien«, stellte ich fest. Ich hatte nicht mehr auf Chipol geachtet, der völlig überraschend seinen Karabiner hochriß und auf

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etwas feuerte, was ich nicht erkennen konnte. »Die Stahlmänner!« schrie er auf. »Sie haben uns. Atlan, was sollen wir machen?«

»Weiter!« bestimmte ich. »Solange wir in vulkanischem Gebiet bleiben, sind die Roboter unterlegen.«

»Nachts auch?« Das klang zweifelnd.

Ich schaltete an meinem Armbandfunkgerät. »Die STERNSCHNUPPE kann uns jetzt anpeilen und wird uns so schnell wie möglich hier herausholen.«

Thykonon und seine Schüler verschwanden zwischen den Felsen. Chipol und ich folgten ihnen. Mich umwendend, sah ich mindestens zehn Stahlmänner hinter uns. Sie hatten schießen können, taten es aber nicht. Vermutlich waren sie sich ihres Erfolgs sicher.

Eine Wolke heißer Dämpfe hüllte uns ein, raubte uns fast den Atem. Die Hitze brannte wie Feuer auf der ungeschützten Haut. Ich hörte Chipol stöhnen. Dann waren wir hindurch. Hilfreich streckten die Bathrer uns ihre Hände entgegen, zogen uns auf einen schmalen Grat, der steil in die Höhe verlief.

Bald konnten wir von oben auf die Dampfwolke hinabblicken. Wir standen auf einem bizzaren Hochplateau, dessen Gesteinsformation den Eindruck eines im Orkan erstarrten Ozeans erweckten.

»Komm«, ich zog Chipol am Arm mit mir. Das sich nähernde Summen verriet genug. Im letzten Moment fanden wir unter einer überhängenden Felsnase Deckung. Zwei Gleiter zogen dicht über uns enger werdende Kreise.

»Dort!« Thykonon deutete aufgeregt nach rechts, wo soeben fünf Stahlmänner aus dem Dunst erschienen und sich zielstrebig näherten. Mit gemischten Gefühlen sah ich ihnen entgegen. Höchstens noch zehn Meter entfernt, blieben sie stehen. Ein fahles, kaum wahrnehmbares Flimmern hüllte sie ein. Dann begannen sie von innen heraus aufzuglühen und zu zerschmelzen. Das alles geschah in. Sekundenschnelle. Als das Flimmern wich, glichen die Torsi der Stahlmänner abgebrannten Tropfkerzen.

Ein Diskus schwebte über uns hinweg und ging langsam tiefer, wobei sich acht Landestützen aus seinem 40 Meter durchmessenden Rumpf hervorschoben. »Die STERNSCHNUPPE«, jubelte Chipol.

Thermostrahlen rasten auf das Schiff zu. Wo sie auftraten, färbte sich der bislang unsichtbare Schutzschirm blau. Nur Sekunden später trat Ruhe ein.

»Beeilt euch«, rief ich meinen Begleitern zu, überzeugt davon, daß nicht nur die Roboter, sondern auch deren Gleiter kampfunfähig waren. Aus der nur zwei Meter über dem Boden liegenden, geöffneten Polschleuse schob sich die Rampe hervor.

Die Bathrer zögerten. Ihnen mußte das Schiff wie ein Gefährt der Götter erscheinen.

»Nein«, brachte Thykonon gepreßt hervor. »Nicht da hinein.«

»Wenn du deinem Volk wirklich helfen willst, dann komm«, rief Chipol. »Dir geschieht nichts.«

»Ich starte jetzt«, erklang die Stimme des Schiffes, kaum daß sich das Schott hinter uns geschlossen hatte. »Wohin soll ich fliegen, Atlan?«

Furchtsam blickten die Bathrer um sich, versuchten vergeblich herauszufinden, woher die Stimme gekommen war. Auf einem Monitor in der Schleusenkammer konnten wir mitverfolgen, wie das vulkanische Gebiet unter uns zurückblieb. Ich sah einige Gleiter völlig unbeschädigt zwischen den Felsen stehen.

»Ihre Triebwerke wurden lahmgelegt«, erklärte die STERNSCHNUPPE, als könne sie meine Gedanken lesen. »Sie werden frühestens in einer Stunde deiner Zeitrechnung wieder starten.«

Page 54: Flucht von Cairon

Ungläubig starrten die Bathrer auf den Bildschirm, auf dem sich bereits die Gebirgskette im Osten des Kontinents abzeichnete. Nur zögernd wich die Blässe aus Thykonons Gesicht. Und ebenso langsam wandte er sich zu mir um.

»Ich weiß nicht, wie du das machst«, sagte er tonlos. »Aber wenn du kannst, bringe uns nach Ophanalom.«

***

Seit ich die Hyptons im Tal der Götter gesehen hatte, war mir klar, daß diese Wesen kaum allein nach Cairon gekommen sein konnten. Mit ziemlicher Sicherheit existierte eine weitere Macht im Hintergrund, denn sie besaßen weder eigene Raumschiffe noch eine nennenswerte Technik. Zugleich erschien es unwahrscheinlich, daß der Erleuchtete damit zu tun hatte. Immerhin weilte er nicht viel länger als ich in der Galaxis Manam-Turu und war wohl erst im Begriff, seine Fühler auszustrecken, wie die Geschehnisse um Chipols verschollene Familie und die ebenfalls psi-begabten Bathrer-Priester zeigten.

Kaum hatten wir Thykonon und seine Schüler abgesetzt, erfolgten die ersten Ortungen. »Ich messe einen Schwarm kleiner Flugkörper an«, meldete das Schiff. »Sie haben es einwandfrei auf uns abgesehen.«

Das war der Augenblick, Cairon zu verlassen. »Versuche, in den freien Raum vorzustoßen«, befahl ich. »Dann sehen wir weiter.«

Die STERNSCHNUPPE entwickelte eine beachtliche Beschleunigung. Und sie erwies sich als äußerst wendig. Als der Versuch der anfliegenden Raumer, uns einzukreisen, fehlschlug, eröffneten sie das Feuer. Die auftreffenden Impulsstrahlen ließen unseren Schutzschirm in kräftigem Violett schillern. Dann waren wir hindurch, tauchten mit steigender Beschleunigung in die samtene Schwärze des Alls mit seinen Myriaden winziger Lichtpunkte ein. Die Verfolger fielen rasch zurück.

»Was hast du vor, Atlan?« fragte Chipol bedrückt.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Noch nicht.« Immerhin war ich nicht nach Manam-Turu gekommen, um die Hyptons oder irgendwelche andere Mächte zu bekämpfen, sondern mein eigentliches Ziel war der Erleuchtete. Ich war mir durchaus der Möglichkeit bewußt, daß nicht mehr allzuviel Zeit blieb, diesen unheimlichen Gegner auszuschalten. In Gedanken malte ich mir zum wiederholten Male aus, was geschehen mochte, falls er nach der heimatlichen Milchstraße griff. Er würde eine Fülle verschiedener Psi-Potentiale vorfinden.

Der Alarm schreckte mich auf. Ein großes Raumschiff war in unserer unmittelbaren Nähe aus dem Linearraum gekommen. Auf den Schirmen konnte ich erkennen, daß es sich um eine lange, schlanke Röhre mit drei seitlichen Auslegern handelte. Das Schiff maß 1054 Meter in der Länge und war 226 Meter hoch, die Länge der Ausleger betrug jeweils 655 Meter.

»Kennst du den Typ?« wandte ich mich an Chipol. Der Junge zögerte.

Unvermittelt ging ein Ruck durch die STERNSCHNUPPE, den die Andruckneutralisatoren nicht gänzlich auszugleichen vermochten. Wir waren in ein Fesselfeld geraten.

Meßergebnisse wurden auf den Schirmen eingeblendet. »Wenn wir annähernd mit Höchstwerten beschleunigen, haben wir eine Chance zu entkommen«, meldete das Schiff.

»Versuch’s«, nickte ich.

Einige Schüsse vor den Bug gaben uns allerdings deutlich zu verstehen, daß die Fremden uns längst als sichere Beute betrachteten. Obwohl die Strahlbahnen uns nur tangierten und der Großteil ihrer Energien wirkungslos verpuffte, flammten unsere Schutzschirme grell auf.

»Mehrere Volltreffer zur selben Zeit können mich in ein Wrack verwandeln«, lautete die emotionslose Feststellung der STERNSCHNUPPE.

Page 55: Flucht von Cairon

Uns blieb also keine Wahl.

»Du gibst auf?« fragte Chipol ungläubig.

»Wir geben lediglich nach«, berichtigte ich ihn. »Das ist ein großer Unterschied. Man sollte auch aus den negativen Dingen des Lebens stets das Beste zu machen versuchen. Vielleicht bietet sich uns bald eine mehr Erfolg versprechende Gelegenheit zur Flucht.« Ich sah es seinen Augen an, daß er nicht daran glaubte.

Traktorstrahlen zogen uns auf das fremde Schiff. Eine Schleuse öffnete sich. »Es ist die ZYRPH’O’SATH«, las Chipol die kurz zu erkennenden skurrilen Schriftzeichen. Dann wurden wir in einer geräumigen Halle abgesetzt. Noch während das Schott sich hinter uns schloß, beschleunigte die ZYRPH’O’SATH.

Nach wenigen Minuten wiesen die Instrumente aus, daß wir uns mit Überlichtgeschwindigkeit bewegten. Aber wo das Ziel dieser Reise lag, vermochte auch das Kommandogehirn der STERNSCHNUPPE nicht zu sagen.

ENDE

Page 56: Flucht von Cairon

Die Flucht von Cairon endet im Weltraum, denn die STERNSCHNUPPE und ihre kleine Crew wurden von der ZYRPH’O’SATH eingefangen.

Man behandelt Atlan und Chipol an Bord des großen Raumschiffs jedoch mehr als Gäste denn als Gefangene und bringt sie nach Zyrph, einer Welt der Widersprüche…Wie es dort weitergeht mit den beiden, das berichtet H. G. Francis im nächsten Atlan-Band. Der Roman erscheint unter dem Titel: GEHEIMNISVOLLES ZYRPH.