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Religionsunterricht - Ethik - LER Georg Lind Förderung der Moralkompetenz im Ethik-Unterricht Durch die Verbreitung der Arbeiten von Lawrence Kohlberg in den 1980er Jahren in Deutschland (LindjRaschert 1987) hat die Förderung von Moralkompetenz durch Dilemma-Methoden auch im Ethikunterricht E inzug gehal- ten. Inzwischen hat die Forschung über Moralkompetenz zu neuen Erkenntnissen über die Natur und die Bedeu- tung der Moralkompetenz und zur Entwicklung der Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) geführt. Was ist Moralkompetenz? Wie es scheint, gibt es eine mehr oder weniger ausge- sprochene Überzeugung, dass die Beschäftigung mit Ethik zu einem moralisch besseren Verhalten führt, ent- weder weil man glaubt,dass Ethik und moralisches Ver- halten ohnehin dasselbe sind , oder weil sich Menschen ohne gesellschaftlich vermittelte moralische Wert - orientierung nicht moralisch verhalten würden. Beides ist falsch: Moral und Ethik meinen verschiedene Dinge . Mo- ral meint eine Eigenschaft des menschlichen Verhal- tens, ablesbar an moralischen Orientierungen (oder Haltungen, Werten, Einstellungen usw.) und morali- schen Fähigkeiten, die im Verhalten zum Ausdruck kommen, auch wenn der Handelnde darüber keine verbale Auskunft geben kann (oder will). Wenn zum Beispiel eine Person häufig für gute Zwecke Geld spendet oder sich durch selbstlose Arbeit für politi sch Verfolgte einsetzt, wird dies oft als Ausdruck ihrer Moralität bezeichnet. Ethik oder Moralphilosophie hingegen meint die Reflexion über moralisches Ver- halten. Sie beschäftigt sich mit Fragen wie zum Bei- spiel: Ist das Spenden von Geld immer gut? Ist der Einsatz für politisch Verfolgte moralisch geboten? Moralische Grundwerte oder Orientierungen sind, wie neuere Forschung zeigt, nicht gesellschaftlich (durch Eltern, Lehrer, Medien usw.) vermittelt, son- dern sind angeboren. Bereits Sokrates (469-399 v. Chr .) hatte beobachtet, dass jeder Mensch moralisch gut sein will. Levy-Suhl (1912) fand in einer Unter- suchung an jugendlichen Straftätern, dass sie diesel- ben moralischen Prinzipien wie andere Jugendliche hatten. Plaget zeigte (1964), dass Kinder sich gemäß Regeln verhalten, die ihnen nicht bewusst sind, und dass sie erst mit einiger zeitlicher Verzögerung ein bewusstes, verbales moralisches Urteil entwickeln. Er nahm abe r an, dass sich bewusstes ethisches Ur- teilen und unbewusstes moralisches Verhalten zwar zeitlich verzögert, aber parallel entwickeln, und bei- des zunächst aus der Nachahmung und Unterwerfung unter äußere Regeln entsteht. Wie wir heute wissen, lehren & lern en • 819 - 2015 hat nur das verbalisierte moralische Urteil des Kin- des einen sozialen Ursprung, nicht seine moralischen Orientierungen. Bereits im Verhalten von Primaten (Waal 2008) und präverbalen Kindern (Hamlin et al. 2007) zeigt sich eine Präferenz für grundlegende Moralprinzipien wie Kooperation. Gleichwohl kom- men der Gesellschaft und der Schule eine sehr wich- tige Rolle in der Moralentwicklung zu, nämlich bei der Förderung des Fähigkeitsaspekts der Moral: der individuellen Moralkompetenz. Moralkompetenz Wenn das Wollen des Guten angeboren und bei jedem anzutreffen ist, weshalb gibt es dann so viel Gewalt, Be- trug und Machtmissbrauch? Auch auf diese Frage hatte bereits Sokrates eine Antwort: Es genügt nicht, das Gute zu wollen, man muss es auch können. Wenn wir ein Verhalten verstehen wollen, dürfen wir also nicht nur auf die moralische Orientierung schauen, sondern auch auf die Fähigkeit, gemäß dieser zu handeln. Sokrates nannte die Fähigkeit das "Vermögen, das Gute zu tun" oder "Tugend", dafür hat sich in der neueren Forschung der Begriff Moralkompetenz eingebürgert. Was macht moralisches Verhalten so schwer, dass wir dafür eine besondere Fähigkeit benötigen? Moralisch richtiges Verhalten kann schwer sein, (a) weil unsere moralischen Gefühle allgemein und unspezifisch sind und wir oft erst klären müssen, was sie konkret be- deuten, und (b) weil unsere moralischen Gefühle uns manchmal in knifflige Dilemmasituationen bringen können. Jeder kennt das Problem: Man will in einer bestimmten Situation "irgendwie" helfen, aber dann kommen zwei Fragen auf: Erstens, was soll man kon- kret tun? Wir sehen eine Frau am Boden liegen: Was ist passiert? Was fehlt ihr? Wie kann ich helfen? Zweitens die Frage, wie kann man die gefühlte Pflicht zu helfen mit anderen Pflichten in Einklang bringen: Darf ich hier überhaupt etwas tun, oder sollte ich einen Arzt rufen? Was machen meine Kinder, wenn ich hier helfe, statt sie vom Kindergarten abzuholen? 59 J

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Religionsunterricht - Ethik - LER

Georg Lind

Förderung der Moralkompetenz im Ethik-Unterricht

Durch die Verbreitung der Arbeiten von Lawrence Kohlberg in den 1980erJahren in Deutschland (LindjRaschert1987) hat die Förderung von Moralkompetenz durch Dilemma-Methoden auch im Ethikunterricht Einzug gehal­ten. Inzwischen hat die Forschung über Moralkompetenz zu neuen Erkenntnissen über die Natur und die Bedeu­tung der Moralkompetenz und zur Entwicklung der Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) geführt.

Was ist Moralkompetenz?

Wie es scheint, gibt es eine mehr oder weniger ausge­sprochene Überzeugung, dass die Beschäftigung mitEthik zu einem moralisch besseren Verhalten führt , ent­weder weil man glaubt, dass Ethik und moralisches Ver­halten ohnehin da sselbe sind , oder weil sich Menschenohne gesellschaftlich vermittelte moralische Wert ­orientierung nicht moralisch verhalten würden. Beidesist falsch:

Moral und Ethik meinen verschiedene Dinge. Mo­ral meint eine Eigenschaft des menschlichen Verhal­tens, ablesbar an moralischen Orientierungen (oderHaltungen, Werten, Einstellungen usw.) und morali­schen Fähigkeiten, die im Verhalten zum Ausdruckkommen, auch wenn der Handelnde darüber keineverbale Auskunft geben kann (oder will). Wenn zumBeispiel eine Person häufig für gute Zwecke Geldspendet oder sich durch selbstlose Arbeit für politi schVerfolgte einsetzt, wird dies oft als Ausdruck ihrerMoralität bezeichnet. Ethik oder Moralphilosophiehingegen meint die Reflexion über moralisches Ver­halten. Sie beschäftigt sich mit Fragen wie zum Bei­spiel : Ist das Spenden von Geld immer gut? Ist derEinsatz für politisch Verfolgte moralisch geboten?

Moralische Grundwerte oder Orientierungen sind,wie neuere Forschung zeigt, nicht gesellschaftlich(durch Eltern, Lehrer, Medien usw.) vermittelt, son­dern sind angeboren. Bereits Sokrates (469-399 v.Chr.) hatte beobachtet, dass jeder Mensch moralischgut sein will. Levy-Suhl (1912) fand in einer Unter­suchung an jugendlichen Straftätern, dass sie diesel­ben moralischen Prinzipien wie andere Jugendlichehatten . Plaget zeigte (1964), dass Kinder sich gemäßRegeln verhalten, die ihnen nicht bewusst sind, unddass sie erst mit einiger zeitlicher Verzögerung einbewu sstes, verbales moralisches Urteil entwickeln.Er nahm aber an, dass sich bewusstes ethisches Ur­teilen und unbewusstes moralisches Verhalten zwarzeitlich verzögert, aber parallel entwickeln, und bei­des zunächst aus der Nachahmung und Unterwerfungunter äußere Regeln entsteht. Wie wir heute wissen,

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hat nur das verbalisierte moralische Urteil des Kin­des einen sozialen Ursprung, nicht seine moralischenOrientierungen. Bereits im Verhalten von Primaten(Waal 2008) und präverbalen Kindern (Hamlin etal. 2007) zeigt sich eine Präferenz für grundlegendeMoralprinzipien wie Kooperation . Gleichwohl kom­men de r Gesellschaft und der Schule eine sehr wich­tige Rolle in der Moralentwicklung zu, nämlich beider Förderung des Fähigkeitsaspekts der Moral : derindividuellen Moralkompetenz.

Moralkompetenz

Wenn das Wollen des Guten angeboren und bei jedemanzutreffen ist, weshalb gibt es dann so viel Gewalt, Be­trug und Machtmissbrauch? Auch auf diese Frage hattebereits Sokrates eine Antwort: Es genügt nicht, das Gutezu wollen, man muss es auch können. Wenn wir einVerhalten verstehen wollen , dürfen wir also nicht nurauf die moralische Orientierung schauen, sondern auchauf die Fähigkeit, gemäß dieser zu handeln. Sokratesnannte die Fähigkeit das "Vermögen, das Gute zu tun"oder "Tugend", dafür hat sich in der neueren Forschungder Begriff Moralkompetenz eingebürgert.

Was macht moralisches Verhalten so schwer, dass wirdafür eine besondere Fähigkeit benötigen? Moralischrichtiges Verhalten kann schwer sein , (a) weil unseremoralischen Gefühle allgemein und unspezifisch sindund wir oft erst klären müssen, was sie konkret be­deuten , und (b) weil unsere moralischen Gefühle unsmanchmal in knifflige Dilemmasituationen bringenkönnen. Jeder kennt das Problem: Man will in einerbestimmten Situation "irgendwie" helfen , aber dannkommen zwei Fragen auf: Erstens, was soll man kon­kret tun? Wir sehen eine Frau am Boden liegen: Was istpassiert? Was fehlt ihr? Wie kann ich helfen? Zweitensdie Frage, wie kann man die gefühlte Pflicht zu helfenmit anderen Pflichten in Einklang bringen: Darf ich hierüberhaupt etwas tun , oder sollte ich einen Arzt rufen?Was machen meine Kinder, wenn ich hier helfe, statt sievom Kindergarten abzuholen?

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Lind, G. (2015). Förderung der Moralkompetenz im Ethik-Unterricht. In: lehren & lernen, 41, 8/9, S. 59-62.
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Religionsunterricht - Ethik - LER

Das Problem des moralisch richtigen Verhaltens ist alsonicht ein Mangel an moralischen Gefühlen oder an mo­ralischer Motivation, sondern ein Mangel an Fähigkeit,Probleme und Konflikte auf der Grundlage allgemeinermoralischer Orientierungen durch Denken und Diskus­sion zu lösen, statt durch Gewalt, Betrug und Macht(Lind 2015a).

Wie kann man Moralkompetenz effektiv fördern?

Die meisten traditionellen Methoden der Moral­erziehung zielen auf die Vermittlung ethischer Ein­stellungen und Werthaltungen oder direkt auf dieModifikation des "Verhaltens" , womit die Einhaltungsozialer Regeln und Normen gemeint ist. Ob diese Me­thoden die selbst definierten Ziele erreichen, ist frag ­lich. Die wenigen Studien, die es dazu gibt, weisenkaum Effekte nach . Die Studien von Hartshorne/May(1928) , die von einer kirchlichen Vereinigung in Auf­trag gegeben wurden, zeigte sogar, dass Jugendliche,die am Religionsunterricht teilnahmen, eher zur Über­tretung von Normen neigten als Schüler von Reform­schulen (progressive schools). Auch die Methode der.Werteklärung" konnte der Überprüfung ihrer Wirkungnicht standhalten (Leming 1981).

BlattlKohlberg (1975) schlugen die Methode der Di­lemmadiskussion zur Förderung der Moral vor. EineMeta-Analyse von über 100 Interventionsstudien bestä­tigte, dass sie sehr effektiv ist (Lind 2002). Im Auftragdes Kultusministers von Nordrhein-Westfalen habenJilrgen Raschert, Frit: Oser, Sybille Reinhardt, PeterDobbelstein, Hein; Schirp und ich diese Methode imRahmen des Projekts Demokratie und Erziehung in derSchule (DES) an drei Schulen erfolgreich erprobt (Lind/Raschert 1987, Oser/Althof 1992) . Trotz dieses Erfolgsstand Kohlberg der Dilemmamethode von Anfang anskeptisch gegenüber. Später hat er sich von ihr distan­ziert, weil sie bei Lehrern keine Akzeptanz gefunden habe(Althof 2015). OserlAlthof (2001) nennen einige zen­tralen Kritikpunkte (250L): "Erstens ist die Konstruktionvon Dilemma mit zwei sich wirklich widersprechendenGrundwerten eine äußerst zeitaufwändige Sache [.. .]Zweitens ist es für Lehrpersonen äußerst schwer, das Ba­sismodell der Dilemma-Diskussion durchzuführen [... ](a) Dilemma-Erfahrung, (b) Kontroverse, (c) +l-Konven­tion (Konfrontation mit Argumenten, die eine Stufe hö­her anzusiedeln sind als die Stufe des eigenen Denkens) ,(d) Prozessreflexion, die zu wenig ist, um wirksam inRichtung der nächsthöheren Stufe des sozio-moralischenUrteils zu entwickeln. [... ] Drittens besteht die Gefahr,dass das Argumenationsmaterial einer höheren Stufe, dasLehrpersonen unter Umständen vorbringen, in eine mora­lisierende Bewertung der Schülerargumente abrutscht."

Trotz der Abkehr Kohlbergs von seiner Methode und trotzdieser Kritik gab es für mich wichtige Gründe, an der Di­lemma-Methode festzuhalten und sie zu verbessern:

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Schon die Effektstärke der Blatt-Kohlberg-Methode istviel höher als die jeder anderen Methode der Moraler­ziehung (Lind 2002). Aber sie schien noch verbesserbar.

Die Methode nimmt die Teilnehmer als moralische unddenkende Wesen ernster, als andere Methoden dies tun.Auch hier, schien mir, konnte einiges verbessert wer­den, indem den Schülern noch mehr Gelegenheit zurErprobung und Übung ihrer Moralkompetenz gegebenwird .

Kohlbergs Konzept der "moralischen" Urteilsfähigkeiteröffnete eine neue Perspektive für die Moralerziehung,wenn man sie nicht bloß als Fähigkeit zum verbalen,ethischen Urteilen begreift, sondern als (unbewusste)Fähigkeit, die eigenen moralischen Gefühle in ange­messenes Verhalten umzusetzen. Wir tun oft das Rich­tige, ohne zu wissen, warum (Gigerenzer 2008) .

Die Konstanzer Methode der Dilemma­Diskussion (KMDD) ®

Mit der Weiterentwicklung der Dilemmamethode vor25 Jahren habe ich versucht, sie noch effektiver zu ma­chen, Theorie und Methode besser miteinander in Ein­klang zu bringen und sie besser lehrbar zu machen. DasErgebnis waren zahlreiche Änderungen der Methode:Wir geben den Teilnehmern deutlich mehr Zeit undGelegenheit, sich ihrer moralischen Gefühle bewusstzu werden und sie in eigene Worte zu fassen; statt 45Minuten dauert die KMDD 90 Minuten; statt die Teil­nehmer vier und mehr Dilemmageschichten diskutie­ren zu lassen, gibt die KMDD nur eine Geschichte vor.Dies gibt den Schülern reichlich Zeit zum Nachdenken,zu Gesprächen und zur Reflexion über die eigenen mo­ralischen Gefühle und die Gefühle der Anderen (Lind2006a). Die KMDD stellt die Auseinandersetzung mitGegenargumenten in den Mittelpunkt, nicht die Kon­frontation mit höherstufigen Argumenten.

Die KMDD wird inzwischen weltweit benutzt. Siehat sich als noch effektiver als die Blatt-Kohlberg­Methode erwiesen (Lind 2002, 2015a). Der mittlereAnstieg der Moralkompetenz infolge einer einzigenKMDD-Stunde liegt deutlich höher als der Anstiegin einem ganzen Schuljahr. Allerdings werden solcheLemeffekte nur von Lehrer/-innen erzielt, die in derKMDD gründlich ausgebildet und zertifiziert wurden.(Informationen zu Training und Zertifizierung sind imInternet zu finden : http://www.uni-konstanz.de/ag-mo­rall) . Bei nichtausgebildeten Lehrer/-innen finden sichmeist keine messbaren Fördereffekte, auch wenn ihreSchüler großen Spaß an diesen Sitzungen haben. Wennder gesamte Unterricht nach den Prinzipien der KMDDgestaltet wird, liegt der Zuwachs an Moralkompetenznoch um einiges höher (Lind 2015b). Die Umstellungdes Unterrichts setzt aber längere Erfahrung mit derMethode voraus. ...

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KMDD im Ethikunterricht

KMDD- Veranstaltungen eignen sich nach Erfahrungvieler Lehrer/-innen gut, um neue Themenfelder zu er­öffnen. Die Schüler/-innen lernen dadurch, sich ihrereigenen moralischen Gefühle bewusst zu werden, dievon diesen Themen ausgelöst werden, und sie steigernmeist die Lernmotivation für das Fach (Lind 2006b) .Dazu lernen sie, ihre moralischen Gefühle in der eige ­nen Sprache zu artikulieren und sie in kontroverse Dis­kussionen einzubringen (Lind 2006c; s. Kasten).

Da in KMDD-Stunden zum Teil starke moralische Emo­tionen entstehen können, muss die Lehrperson gründ­lich in der Methode ausgebildet sein. Die Stunde kannsonst entgleisen oder einzelne Teilnehmer schädigen.

Durch die Auseinandersetzung mit ethi schen Theorienund Reflexion im Ethikunterricht oder auch in anderenFächern kommt dann noch eine weitere Artikulations-

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ebene hinzu, nämlich die der jeweiligen Fachsprache.Dies alles fördert die Fähigkeit der Teilnehmer, Pro­bleme und Konflikte durch Denken und Diskussionmit anderen zu lösen, statt durch Gewalt, Betrug undMacht.

Literatur

Althof, W.: Just co mmunity sources and transformations: AconceptuaJ archaeo logy of Kohlberg's approach to moral anddemocratic educa tion. In: Zizek, B., u. a. (Hrsg .): Kohlbergrevisited . Amsterd am 2015, S. 51-90 .

Blatt, M.lKohlberg, L.: The effect of c1assroom moral discus­sion upon children' s level of moral judgment. In: Journal ofMoral Educ ation 4 (1975), S. 129- J61 .

Gigerenzer, G.: Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Un­bewus sten und die Mach t der Intuition. München 2008.

Harnlin, J. K. , et al.: Social evaluation by preverbal infants . In:Nature, Jg . 2007 , Nr. 450 , S . 557-560.

Phasen einer KMDD-Sitzung

(mit [Zeitempfehlungen]; insg. mindestens 90 Minuten)

1. Eine "edukative Dilemma-Geschichte" wird vom Lehrer frei vorgetragen. (Zur Konstruktion solcher Geschichtensiehe Lind 2015a. In der Geschichte wird u. a. ein indirekter Hinweis gegeben - z. B. ,,X zögerte" - , dass demProtagonisten X die Entscheidung schwerfiel.) [5]

2. Stille Beschäftigung mit der Frage: "Weshalb zögerte X? Fiel ihm die Entscheidung schwer? Warum?" (Dazuwird die schriftliche Fassung der Geschichte mit Frage nach Schwere der Entscheidung, auf einer Skala von 0bis 6, verteilt. Jeder hat dadurch Gelegenheit, die eigenen Gefühle zu der Geschichte in Worte zu fassen undkommunizierbar zu machen. Jede Störung gleich - leise - unterbinden.) [5]

3. Gemeinsames Gespräch über dieselbe Frage (Phase der Dilemma-Klärung). Zudem Meinungsabfrage: "War daseine leichte, einfache Entscheidung?" (Bei zu vielen Zustimmungen endet die KMDD-Sitzung hier. Neuer Ver­such später, nicht sofort!) [10]

4. Ers te Abstimmung: "War die Entscheidung von X richtig oder falsch?" (Alle Abstimmungen deutlich auszählenund Ergebnis öffentlich dokumentieren. Bei zu vielen Enthaltungen ein weiterer Versuch:) "Versucht euch zu ent­scheiden. Im Leben müssen wir uns oft entscheiden, auch wenn es schwerfällt. War die Entscheidung von X .. .?"(Erneute Abstimmung und Auszählung. Wenn es nur wenige Enthaltungen gibt, können diese mit Beobachtungs­aufgaben betraut werden.) [5]

5. Einteilung in zwei Lager: "richtig" und "falsch", die sich auch räumlich gegenüber sitzen, mit Gesicht zum Geg­ner. Zunächst Vorbereitung auf die Diskussion in Gruppen von 3 - 4 Personen: "Sammelt gemeinsam Argumentezur Unterstützung eurer Meinung!" [5]

6. Diskussion im Plenum: "Überzeugt die andere Gruppe von der Richtigkeit eurer Meinung über die Entscheidungvon X mit guten Argumenten." Zwei Regeln: a) Freie Rede, aber keine wertende Aussagen über Personen, wederpositiv noch negativ. b) Pingpong-Moderation: Wer mit Sprechen dran war, ruft aus der Gegner-Gruppe jemandenauf. Man darf nur reden, wenn man sich meldet und aufgerufen wird. (Der Lehrer sitzt gut sichtbar für alle underinnert durch Fingerzeichen freundlich und konsequent an die beiden Regeln, wenn sie verletzt werden; greiftaber sonst nicht in die Diskussion ein, auch nicht durch Körpersprache!) [30]

7. "Bestes Argument"-Nominierung: Jeder darf sagen , welches Argument der Gegenseite ihm/ihr am besten gefal­len hat. (Keine Wiederholungen, keine Neuaufnahme der Diskussion und keine negative Aussagen zulassen.) [5]

8. Zweite Abstimmung: Hat X richtig oder falsch entschieden? [2]

9. Reflexion: Fragen: "Hat die Stunde Spaß gemacht? Was hast du/haben Sie dadurch gelernt?" Mögliche Zusatzfra­gen: "War es wichtig , dass die Abstimmung gleich/ungleich ausgefallen ist? Welches Ziel wurde mit der Stundeverfolgt?" [10] ..

Lehren & Lernen · 8 19- 2015 61

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Hartshorne, H./May, Mark A.: Studies in the nature of character.Vol. I: Studies in deceit, Book one and two, New York 1928.

KMDD: Weitere Literatur über die Konstanzer Methode derDilemma-Diskussion: http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/

Leming, J. S.: Curricular effectiveness in moral values educa­tion : A review of research. In: Journal of Moral Education 10(1981 ), S. 147-164.

Levy-Suhl, Max: Die Prüfung der sittlichen Reife jugendl icherAngeklagter und die Reformvorschl äge zum § 56 des deut­schen Strafgesetzbuches. Kriminalpsychologische Studie aufGrund von 120 Ausfrageversuchen. Stuttgart 1912.

Lind, G.: Die Entwicklung moralischer Gefühle durch Vernunftund Dialog. In: Lind, G.lPollitt-Gerlach, G. (Hrsg.): Moral in"unmoralischer" Zeit. Zu einer partnerschaftliehen Ethik inErziehung und Gesellschaft. Heidelberg 1989, S. 7-32 .

Lind, G.: Ist Morallehrbar? Ergebnisse der modemen moralpsy­chologischen Forschung. Berlin 2002 .

Lind, G.: Perspektive "Moralisches und demokratisches Lernen".In: Fritz, A.lKlupsch-Sahlmann, R.lRicken, G. (Hrsg .): Hand­buch Kindheit und Schule. Weinheim 2006, S. 296-309. (a)

Lind, G.: Das Dilemma liegt im Auge des Betrachters. In: Praxi sder Naturwissenschaften. Biologie in der Schule Januar 55(2006), H. I , S. 10-16. (b)

Lind, G.: Teilhabe an der Argumentationsgemeinschaft als Zielder Bildung. In: Grundler, E.lVogt , R. (Hrsg .): Argumentierenin Schule und Hochschule. Tübingen 2006, S. 167-175. (c)

Lind, G.: Moral ist lehrbar. 3., überarb. Auf]. Berlin 2015 (imDruck) . (a)

Lind , G.: Favorable learning environments for moral corn­petence development - A multiple intervention study withnearly 3.000 students in a higher education context. In:International Journal of University Teaching and FacultyDevelopment 4 (2015), No. 4. (b) Volltext im Internet unter(https ://www.novapublishers.comJcatalogiproduccinfo.php?products_id=5341 I)

Lind, G.lRaschert, 1.: Moralische Urteilsfähigkeit. Eine Ausein­andersetzung mit Lawrence Kohlberg über Moral , Erziehungund Demokratie. Weinheim 1987.

Oser, E/Althof, W: Moralische Selbstbestimmung. Modelle derEntwicklung und Erz iehung im Wertebereich. Stuttgart 1992.

Oser, F.lAIthof, W : Die Gerechte Schulgemeinschaft: Lernendurch Gestaltung des Schullebens. In: Edelstein, W., u. a.(Hrsg .): Entwicklungspsychologie und pädagogische Praxis .Weinheim 200 I, S. 233-268 .

Piaget, J.: Das moralische Urteil beim Kinde . Frankfurt 1964.

Waal, F. de: Primaten und Philosophen. Wie die Evolution dieMoral hervorbrachte. München 2008.

Prof. Dr. Georg LindUniversität [email protected]