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Folgsamkeit herstellen - Eine Ethnographie der ... · Blick auf Foucaults Konzept der Pastoralmacht und Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt diskutiert. 1.1’ ERKENNTNISINTERESSE’’

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Aus:

Bettina GrimmerFolgsamkeit herstellenEine Ethnographie der Arbeitsvermittlung im Jobcenter

September 2018, 282 S., kart., 39,99 € (DE), 978-3-8376-4610-8E-Book:PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4610-2

Die ›Aktivierung‹ von Arbeitslosen ist das vorrangige Ziel des deutschen Jobcenter-Systems. In einer ethnographischen Studie geht Bettina Grimmer dem Prozess der Arbeitsvermittlung auf den Grund und zeigt, dass die Gespräche zwischen den Ver-mittlern und ihren Klienten eine erstaunliche Eigenlogik besitzen, die sich weder mit der Logik der Gesetze noch mit den subjektiven Deutungen der Teilnehmenden voll-ständig deckt. Das Ziel ist nämlich weniger die Aktivierung der Klienten als vielmehr die interaktive Herstellung von Folgsamkeit: Durch symbolische Gewalt werden die Klienten der symbolischen Ordnung des Jobcenters unterworfen. Das Jobcenter er-scheint in diesem Licht als – wenn auch unvollendetes – neoliberales Projekt.

Bettina Grimmer (Dr. phil.), geb. 1982, ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeite-rin an der Universität Siegen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Politische Soziologie und Verwaltungsforschung, Wissenssoziologie sowie Qualitative Sozialforschung.

Weiteren Informationen und Bestellung unter:www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4610-8

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt  

1   Jobcenter-­Gespräche  beobachten    |  7  1.1   Erkenntnisinteresse und Forschungsperspektive | 10  1.2   Methodische Überlegungen und der Forschungsprozess | 21  1.3   Aufbau der Arbeit | 35

2   Vor  dem  Gespräch    |  37  2.1   Auf Abstand halten: Die räumliche Ordnung des Jobcenters | 38  2.2   Ungleichheit schaffen: die Wissensordnung des Jobcenters | 55  2.3   Räumliche Ordnung, Wissensordnung, Interaktionsordnung | 81

3   Im  Gespräch    | 85  3.1   Interaktion mit Schriftlichkeit | 86  3.2   Selbst-Darstellungen von Klienten und Arbeitsvermittlern | 122  3.3   Kooperation und Überzeugungsarbeit | 156  3.4   Asymmetrische Interaktion | 179

4   Nach  dem  Gespräch    | 183  4.1   Beurteilen und Kontrollieren | 184  4.2   Willkür und Ohnmacht | 203  4.3   Macht und Gegenmacht | 225

5   Folgsamkeit  herstellen    | 229  5.1   Zusammenfassung der Ergebnisse | 229  5.2   Die Eigenlogik der Interaktion | 235  5.3   Ein unvollendetes neoliberales Projekt | 241  5.4   Pastoralmacht, Herrschaft und symbolische Gewalt | 250

Literatur    | 263  

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1   Jobcenter-­Gespräche  beobachten  

»Jobcenter sind der Alptraum der erwerbslosen Menschheit. Keine Behörde, keine Institution ist in der Negativ-Kritik wie die Jobcenter. Pleiten, Pech und Pannen: so kann man die Behörde be-zeichnen, beschreiben. Menschen werden nicht wie Menschen behandelt, sondern wie eine Art Freiwild, Leibeigene der Mitarbeiterin, des Mit-arbeiters…«

Dies schreibt ein Betroffener in einem Leserkommentar zu einem Online-Zeitungsartikel über die Behörden der deutschen Arbeits- und Sozialverwaltung. Wie kommt dieser kritische Autor zu seiner Einschätzung? Behörden und Be-hördengänge mögen von den Bürgern zwar häufig als lästig angesehen werden, aber was macht sie zum »Alptraum«? Welche Pannen fallen dort vor? Warum ist es so wichtig, wie man dort behandelt wird? Und wie kommt er zu der Annah-me, eine rechtsstaatlich eingebettete Form der Ausübung legaler Herrschaft ma-che die Klienten der Behörde zu »Leibeigenen«?

Bereits die Einführung der Jobcenter wurde – vor allem von Seiten der Be-troffenen – von heftiger Kritik begleitet. Und auch, wenn die kritischen Stimmen leiser geworden sind, sind sie in den letzten 15 Jahren nicht verstummt. Dies mag daran liegen, dass die Jobcenter geradezu exemplarisch für einen Umbau des deutschen Sozialstaats stehen, der sich für die Leistungsempfänger vor allem in einer Zunahme von Pflichten äußerte. Und wie das obige Zitat nahelegt, be-trifft die Reform nicht nur die rechtliche Ebene, sondern auch die Art und Weise, wie sich die Gespräche zwischen den Mitarbeitern und ihren Klienten gestalten. Sie hat, so die Ausgangsthese dieser Arbeit, bedeutende Auswirkungen auf das Innenleben der Behörden und auf das, was die Klienten dort erleben.

Im Zuge einer tiefgreifenden Reform der deutschen Arbeitsmarktpolitik wurden vier »Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« imple-

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mentiert, die umgangssprachlich meist nach dem Vorsitzenden der Kommission benannt werden, welche die Vorschläge dazu ausgearbeitet hat: Peter Hartz. Das vierte und letzte Gesetz (»Hartz IV«) trat 2005 in Kraft und beinhaltete eine Zu-sammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Das bis dahin bestehende dreigliedrige Sicherungssystem für Erwerbslose, bestehend aus Arbeitslosenver-sicherung, Arbeitslosenhilfe für Langzeitarbeitslose und Sozialhilfe für diejeni-gen (Bedürftigen), denen keine der beiden anderen Leistungen zustanden, wurde also durch ein zweigliedriges System ersetzt. Durch die Abschaffung der Ar-beitslosenhilfe sollte die Langzeitarbeitslosigkeit eingedämmt werden, zum an-deren sollten die bisherigen Empfänger von Sozialhilfe Zugang zu Maßnahmen der Arbeitsförderung bekommen und näher an den Arbeitsmarkt herangeführt werden. Wer nun lange genug in die Sozialversicherungskasse einbezahlt hat und arbeitslos wird, hat nach wie vor Anspruch auf das Arbeitslosengeld, wel-ches von der Bundesagentur für Arbeit verwaltet wird. Wer erwerbsfähig und bedürftig ist und kein oder nicht genügend Arbeitslosengeld erhält, hat Anspruch auf das steuerfinanzierte Arbeitslosengeld II, welches sich am soziokulturellen Existenzminimum orientiert. Das Arbeitslosengeld II wird in den meisten Städ-ten von Jobcentern verwaltet, die in der Anfangszeit häufig noch ARGE hießen und Arbeitsgemeinschaften der jeweiligen Kommunen mit der Bundesagentur für Arbeit sind. Im Gegensatz zu den Sozialämtern verwalten die Jobcenter nicht nur das Geld für die Leistungsberechtigten, sondern bieten auch verpflichtende Dienstleistungen im Bereich der Arbeitsvermittlung an. Entsprechend sind die Jobcenter in zwei Abteilungen gegliedert: einerseits die Leistungsabteilung, die Ansprüche prüft und Geld ausbezahlt, und andererseits die Arbeitsvermittlung, die die Klienten bei ihrer Suche nach Arbeit unterstützen und überwachen soll.

Gerade der Bereich der Arbeitsvermittlung sorgt bei den Betroffenen des Öf-teren für ein mulmiges Gefühl. Zwischen den Arbeitsvermittlern und ihren Kli-enten finden regelmäßige Termine statt, bei denen ausgehandelt wird, wie es mit der Arbeitssuche der Klienten weitergehen soll. In einem Gespräch von durch-schnittlich vielleicht zwanzig Minuten Länge wird hier entschieden, welche Plä-ne die Klienten verfolgen sollen, zu welchen Aktivitäten der Arbeitssuche oder Weiterbildung sie verpflichtet werden und ob sie diese individuellen Auflagen jeweils einhalten. Tun sie dies nicht, werden sie sanktioniert und verlieren zeit-weise bzw. teilweise ihre Leistungsberechtigung. Es steht für die Klienten also eine Menge auf dem Spiel: nämlich die Frage, ob die Termine so verlaufen, dass die minimale Sicherung ihres Lebensunterhalts weiterhin gewährleistet ist. Inso-fern ist es nicht verwunderlich, dass die Einführung der Jobcenter von jahrelan-gen Protesten begleitet war. Und auch bis heute berichten Betroffene immer wieder von Beleidigungen und Feindseligkeit; in nahezu allen größeren Städten

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gibt es Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaftsgruppen, Arbeitslosenzentren oder Erwerbsloseninitiativen, die Klienten der Arbeitsverwaltung bei ihrem Umgang mit dem Amt beratend zur Seite stehen und teilweise auch anbieten, die Be-troffenen zu den Terminen zu begleiten. Andererseits wird in den Medien re-gelmäßig von Übergriffen von Klienten auf ihre Arbeitsvermittler berichtet. So sind Beleidigungen und Drohungen anscheinend nicht selten, und immer wieder kommt es auch zu körperlichen Angriffen, teilweise bis hin zur Tötung. Die Ge-spräche zwischen Arbeitsvermittlern und Klienten bergen also offenbar ein be-deutendes Konfliktpotenzial.

Wenn man allerdings beachtet, dass es derzeit über vier Millionen Leis-tungsberechtigte gibt, die erwerbsfähig und damit Klienten der Arbeitsvermittler des Jobcenters sind, so wird auch klar, dass es viele Fälle geben muss, in denen die Interaktion bei der Arbeitsvermittlung relativ reibungslos verläuft. Es drängt sich die Frage auf, wie die Arbeitsvermittler und die Klienten also jenseits mas-siver Eskalationen mit der Situation umgehen. Was leisten sie, damit die Ge-spräche trotz diesem Konfliktpotenzial normalerweise gelingen? Diese zentrale Frage nach dem Gelingen weist dabei in zweierlei Richtungen. Zunächst – und aus der administrativen Logik heraus – ist ein gelungenes Gespräch eines, in dem Vereinbarungen getroffen werden und somit ein gewisses Maß an Koopera-tion zustande kommt. Darüber hinaus bedeutet gelingen – aus der Interaktions-logik heraus, wie Goffman (z.B. 1955) immer wieder deutlich gemacht hat –, dass das Gespräch als soziale Situation konfliktfrei abläuft und dabei niemand sein Gesicht verliert. Wie sich im Laufe der Arbeit zeigen wird, sind diese bei-den Bedeutungsdimensionen des Gelingens in der Praxis eng miteinander ver-bunden. Ich werde die These entwickeln, dass es im Gespräch vor allem um die Herstellung von Folgsamkeit geht und dabei nicht etwa rechtliche, sondern vor allem subtile, situative Zwänge wirken. Damit schließt diese Studie an drei aktu-elle Debatten der Soziologie an. Zunächst wirft die hier entwickelte Methodolo-gie neue Gedanken zum Verhältnis von Organisation und Interaktion auf, indem sie deutlich macht, dass die Interaktion eine eigene Dynamik entwickelt, die sich weder durch die Logik der Organisation noch durch die subjektiven Deutungen der Teilnehmer vollständig verstehen lässt. Darüber hinaus leistet sie aber auch einen Beitrag zu der Diskussion um die Aktivierung Erwerbsloser durch die neue Arbeitsmarktpolitik: Vor diesem Hintergrund lässt sich das Jobcenter als ein unvollendetes neoliberales Projekt verstehen. Und über die Arbeitsmarktso-ziologie hinaus ergeben sich aus der interaktiven Herstellung von Folgsamkeit schließlich Überlegungen zur Macht- und Herrschaftssoziologie: Diese relativ ›neue‹ Form bürokratischer Herrschaft wird in ihrer praktischen Ausübung mit

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Blick auf Foucaults Konzept der Pastoralmacht und Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt diskutiert. 1.1   ERKENNTNISINTERESSE    

UND  FORSCHUNGSPERSPEKTIVE   Was geht also zwischen den Arbeitsvermittlern und Klienten in ihren Gesprä-chen vor – und was leisten sie, damit diese gelingen? Mit dieser Fragestellung nimmt die vorliegende Untersuchung die Interaktionsordnung (Goffman 1983a) von Jobcenter-Gesprächen in den Blick. Ihr Interesse an konkreten Gesprächssi-tuationen begründet sich dabei durch drei zentrale theoretische Standpunkte. Erstens verortet sich die Arbeit in der neueren Wissenssoziologie seit Berger und Luckmann (2004), die das Wissen und die Relevanzen der Menschen in ihrem Alltag in den Blick nimmt. Mit dem Thomas-Theorem geht sie davon aus, dass wirklich ist, was die Menschen als wirklich definieren: Indem sie sich kommu-nikativ austauschen, werden in einem Wechselspiel aus Institutionalisierung und Sozialisation subjektive und objektive Wirklichkeiten aktualisiert. Anders aus-gedrückt: Die Konstruktion der Wirklichkeit ist ein fortwährender gesellschaftli-cher Prozess, in dem die Menschen ihr Wissen miteinander teilen, es auf Dauer stellen und sich aneignen. Das Wissen der Akteure in der sozialen Welt wird damit zum zentralen Ausgangspunkt der soziologischen Analyse. Forschungs-praktisch bedeutet dies, einen qualitativen, verstehenden Zugang zu den Teil-nehmern der Jobcenter-Gespräche, also den Arbeitsvermittlern und ihren Klien-ten, zu finden. Dies kann, wie in der wissenssoziologischen Tradition üblich, über Gespräche bzw. Interviews erfolgen, in denen die Teilnehmer ihre Erfah-rungen und Positionen rekonstruieren (z.B. Soeffner 2004; Bohnsack 2014). Ei-ne weitere Möglichkeit besteht darin, der Situation direkt beizuwohnen und die Interaktion der Teilnehmer zu beobachten.

Die vorliegende Studie verfolgt beide Strategien, legt den Schwerpunkt aber auf die zweite, die teilnehmende Beobachtung. Damit deutet sich bereits die zweite Setzung an: Hier wird eine interaktionistische Perspektive eingenommen, welche die genannte wissenssoziologische Perspektive gleichsam präzisiert. Mit den von Blumer (1980) in seinem klassischen programmatischen Text genannten Prämissen gehe ich davon aus, dass die Bedeutung, die Dinge für Menschen ha-ben – also in der oben gebrauchten Terminologie: das Wissen der Teilnehmer – sich weder aus den Dingen selbst, noch aus der Psyche der Menschen, sondern aus der Interaktion zwischen den Menschen heraus konstituiert. Der Ort des So-zialen, also der Bezugspunkt für die Soziologie, liegt demnach weder außerhalb

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der Menschen noch in ihnen, sondern zwischen ihnen. Somit ist soziales Han-deln weder aus psychologischen Motiven noch aus geronnenen sozialen Institu-tionen oder Strukturen erklärbar, sondern folgt einer eigenen Logik, die spezi-fisch für die konkrete Interaktionssituation ist. Demzufolge muss eine Untersu-chung, die sich für die Beziehung zwischen Arbeitsvermittlern und ihren Klien-ten interessiert, die Antworten auf ihre Fragen an dem Ort suchen, an dem sie verhandelt wird: in den Büros der Arbeitsvermittler.

Dieser Zugang hat in der Forschung der vergangenen Jahrzehnte zunehmend an Bedeutung gewonnen. Im Bereich der Verwaltungsforschung hat sich eine solche an der Situation interessierte Perspektive mit der Street-Level-Forschung etabliert. Während ältere Studien, die sich unter dem Begriff der Implementati-onsforschung subsumieren lassen, die Umsetzung von Politik in der Verwal-tungspraxis untersuchten und dabei stets zu dem Schluss kamen, dass die als nachgeordnet verstandene Umsetzung nie so funktionierte, wie theoretisch ge-dacht, nimmt die Street-Level-Forschung ihren Ausgangspunkt in der Praxis (s. dazu Brodkin 2008; Kingfisher 1998). Insbesondere Lipsky (1980) hat mit seiner Studie zum Arbeitsleben der Street-Level-Bürokraten das Interesse der politi-schen Soziologie an den Amtsstuben geweckt, indem er deutlich gemacht hat, dass die praktische Arbeit von Angestellten in personenbezogenen Dienstleis-tungsorganisationen ihrer eigenen Logik folgt: »I argue that public policy is not best understood as made in legislatures or top-floor suites of high-ranking administrators, because in important ways it is actually made in the crowded offices and daily encounters of street-level workers.« (Lipsky 1980: xii) Das zentrale Handlungsproblem der Arbeitsvermittler besteht damit – ethnome-thodologisch ausgedrückt – im »Versuch der angemessenen Bewältigung von anstehenden Arbeitsproblemen« (Wolff 1983: 7). Denn, wie die Implementati-onsforschung gezeigt hat, lassen sich die Handlungsprobleme der Arbeitsver-mittler (und auch der Klienten) jeweils nur unzureichend auf der Ebene der Ge-setze – oder auch allgemeiner: der Diskurse – rekonstruieren. Sie werden vor al-lem in der Vollzugswirklichkeit der Interaktion mit den Klienten deutlich (vgl. S. Hitzler/Messmer 2008; Nadai 2012).

Damit sind bereits drei bedeutende Setzungen erfolgt, die die Perspektive dieser Untersuchung bestimmen: Zunächst ein wissenssoziologischer Zugang, der die Relevanzen der Teilnehmer in den Mittelpunkt rückt, ferner ein interak-tionistischer, der sich dem Gegenstand über die Beobachtung konkreter Interak-tionssituationen annimmt, und drittens eine Street-Level-Perspektive, die sich für die Handlungsprobleme der Beteiligten in ihrem Vollzug interessiert. Es geht

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nun also darum, ein Forschungsprogramm zu entwerfen, das diesen Prämissen Rechnung trägt. Perspektiven  auf  die  Arbeits-­  und  Sozialverwaltung   Ein gesteigertes Interesse der Forschung an den Handlungsproblemen der Ange-stellten in der Arbeits- und Sozialverwaltung hat sich im Zuge der aktivierenden Wende der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik entwickelt. So ist eine ganze Reihe von Studien erschienen, die sich dem Phänomen aus einer verstehenden, mikro-soziologischen Perspektive nähern und an die diese Arbeit anknüpfen möchte. Einerseits wurden unterschiedliche Deutungsmuster, Selbstverständnisse und Arbeitsweisen der Arbeitsvermittler in Deutschland auf der Grundlage von qua-litativen Interviews rekonstruiert (z.B. Ames 2008; Ludwig-Mayerhofer/Behr-end/Sondermann 2009; Grimm/Plambeck 2013; bereits vor den Reformen zum Sozialamt: Harrach/Loer/Schmidtke 2000). Mit einer solchen Perspektive wer-den zwar Erfahrungen und subjektive Deutungen in den Blick genommen, über die Vollzugswirklichkeit der Arbeit mit den Klienten lassen sich damit aber nur begrenzte Aussagen treffen. Andere Autoren stützen ihre Analysen nicht auf die Rekonstruktion von Erzählungen, sondern auf den praktischen Vollzug und ha-ben die Interaktion mit erwerbslosen Klienten teilnehmend beobachtet. Es liegen einige anschlussfähige Studien zur Interaktion zwischen Arbeitsvermittlern bzw. Angestellten der Sozialverwaltung und ihren Klienten aus verschiedenen Län-dern vor, so etwa aus den USA (Miller 1991; Brodkin 1997; Anderson 1999; Finn/Underwood 2000; Watkins-Hayes 2009), Frankreich (Dubois 2010), Groß-britannien (Wright 2003) und der Schweiz (Maeder/Nadai 2004; Magnin 2005).

In Deutschland wurden Gespräche in der Arbeitsverwaltung bisher haupt-sächlich aus der Perspektive der Dienstleistungsforschung untersucht (Baethge-Kinsky et al. 2006; Hielscher/Ochs 2009; Schütz et a. 2011). Auf der Grundlage gesetzlicher Regelungen und Dienstvorgaben der Arbeitsvermittler wird be-obachtet, wie die Arbeitsvermittler die Gesprächsführung gestalten, welche Handlungsspielräume sie nutzen und schließlich der Frage nachgegangen, inwie-fern unter den gegebenen Bedingungen Dienstleistungen als Ko-Produktionen von Arbeitsvermittlern und Klienten im Interesse beider Parteien erzeugt werden können. Obgleich diese Arbeiten zu interessanten Erkenntnissen gelangen, zeigt sich deutlich, wie sehr diese Erkenntnisse durch aus Vorwissen abgeleiteten Ka-tegorien geprägt sind. Die Frage, was von den Arbeitsvermittlern und den Klien-ten interaktiv geleistet wird und wie sie sich gegenseitig verständlich machen, worum es in der Situation geht, wird aus dieser Perspektive nicht beantwortet. Die Autoren folgen den Relevanzen der Organisation und richten dabei ihren

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Blick nicht auf das Implizite, sondern das Explizite: nämlich das Abarbeiten ge-planter Arbeitsschritte, was zwischen den Arbeitsvermittlern variiert. Es zeigt sich dann meist, dass die von Anfang an gesetzten Handlungsprobleme in unter-schiedlicher Weise gelöst werden, was dann häufig zu einer Typenbildung führt. Aus ethnomethodologischer Perspektive ist ein solches Vorgehen scharf kriti-siert worden (z.B. Wolff 1983). Livingston bezeichnete diese Art von Forschung als »studies about work«, welche sich an den Relevanzen der Theorie bzw. des Kontexts orientieren und die beobachteten Arbeitsschritte lediglich benennen (Garfinkel/Lynch/Livingston 1981). Den ethnomethodologischen »studies of work« geht es dagegen darum, die Arbeit in ihrem Vollzug als praktische Tätig-keit nachzuvollziehen und möglichst detailreich darzustellen (z.B. Garfinkel 1986; Garfinkel/Lynch/Livingston 1981; Rouncefield/Tolmie 2011). Damit sind auch profane Handgriffe, Blickrichtungen usw. interessant, die für die Arbeits-ausübung auf den ersten Blick keine direkte Bedeutung haben. An diese for-schungspraktische Tradition, die in der Folge zum Teil unter dem Schlagwort der »workplace studies« (Luff/Hindmarsh/Heath 2000; Knoblauch/Heath 1999) weitergeführt wurde, mit ihrer konsequenten Hinwendung zur praktischen Tä-tigkeit, möchte die vorliegende Untersuchung anschließen.

Ich möchte also gesellschaftstheoretische Annahmen zunächst außen vor las-sen und nur mit einer sozialtheoretischen Konzeption als Linse ans Werk gehen, die es erlaubt, die Praktiken im Jobcenter aus einer kohärenten und dem Gegen-stand angemessenen Perspektive zu fassen. An die Erkenntnisse früherer Studien knüpfe ich dort an, wo meine eigenen Ergebnisse jeweils mit ihnen in Berührung kommen. Und Überlegungen zur Aktivierungsdebatte sowie zur Soziologie der Macht und Herrschaft werde ich am Ende der Arbeit diskutieren. Damit möchte ich gerade nicht der Versuchung erliegen, die Setzung vorzunehmen, dass das, was in den Büros der Arbeitsvermittler geschieht, Aktivierung ist. Diese Setzung ist in der Literatur prominent, und entsprechend ist auch das Ergebnis vieler Stu-dien, dass die Arbeit der Arbeitsvermittler aus Aktivierung bestehe, dass sie un-terschiedliche Zugänge der Aktivierung wählen und dass manche Arbeitsver-mittler mehr, manche weniger aktivieren. Lässt man sich dagegen erst einmal re-lativ unbefangen auf das Feld ein und folgt den Relevanzen der Teilnehmer, so stellt man fest, dass dort so gut wie nie über Aktivierung gesprochen wird. In-wieweit Aktivierung (als analytisches Konzept) dort allerdings praktiziert wird, kann erst in einer theoretischen Auseinandersetzung ex post diskutiert werden. Zunächst gilt es, einfach nur zu beobachten, zu beschreiben und zu analysieren, was eigentlich in der Arbeitsverwaltung zwischen Arbeitsvermittlern und Klien-ten passiert – oder, mit Goffman (1974a: 8) gesprochen, die grundlegendste so-ziologische Forschungsfrage zu stellen: »What is it that’s going on here?«

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Deutlich näher an der Fragestellung dieser Arbeit als die dienstleistungs-soziologische Forschung ist daher die Studie von Böhringer, Karl, Müller, Schneider und Wolff (2012). Die Autoren untersuchen die Gespräche von Ar-beitsvermittlern und ihren jungen Klienten in Jobcentern und greifen dabei auf die ethnomethodologische Konversationsanalyse (Sacks 1995) zurück. Sie gehen davon aus, »dass die Handelnden praktisch gesehen ihre eigenen Probleme ha-ben, nämlich zuallererst, situativ verstehbar zu handeln und situativ zu einer Sinnbestimmung zu kommen« (Böhringer et al. 2012: 16). Insofern liegt hier das gleiche Erkenntnisinteresse vor, nämlich unter Verzicht von Vorannahmen aus den Debatten um Aktivierungspolitik die Jobcenter-Gespräche aus der Situation heraus zu verstehen. Die von den Autoren angewandte Konversationsanalyse hat den Vorteil, dass sie den sequenziellen Aufbau der Gesprächsordnung und die einzelnen Äußerungen sehr genau rekonstruieren kann. Allerdings bringt diese stark mikroskopische Fokussierung auf das Gespräch auch Nachteile mit sich. Zum einen bleibt sie der Situation verhaftet und kann nur nachvollziehen, was dort tatsächlich geäußert wird. Dadurch können Dinge, die vorher oder nachher geschehen und möglicherweise in die Situation hineinspielen, nicht erfasst wer-den (Scheffer 2001: 77ff.). Dabei ist es gerade bei potenziell konflikthaften Situ-ationen interessant, zu sehen, was aus der Situation herausgehalten wird und damit unsichtbar bleibt (S. Hitzler 2012: 257ff.). Zum anderen ist die klassische Konversationsanalyse mit ihrer Fokussierung auf transkribierte Lautäußerungen blind für die visuelle Ebene der Interaktion – und damit auch für jegliche materi-ellen Dinge und Praktiken, die in der Interaktion eine Rolle spielen. Auch dieser Punkt ist von zentraler Bedeutung, geht es doch in einer Behördensituation häu-fig um den nicht immer hörbaren Umgang mit Texten (Smith 2006) in Form von Dokumenten und dem Computer. Wie kann also ein Forschungsprogramm aus-sehen, das die genannten Kritikpunkte in angemessener Weise berücksichtigt? Wie lässt sich – situationsübergreifend – eine behördliche Ordnung ergründen, ohne dabei von einer vorgelagerten organisationalen Logik auszugehen, die mit der praktischen Logik der Gespräche nicht zwangsläufig übereinstimmt?

Praktiken,  Teilnehmer,  Netzwerke   Im Folgenden schlage ich ein Forschungsprogramm vor, das sich den Gesprä-chen zwischen Arbeitsvermittlern und Klienten im Jobcenter aus einer praxis-theoretischen Perspektive nähert. Praxistheorie bedeutet dabei nicht eine singulä-re, kohärente Theorie aus der Feder eines Autors oder einer Schule, sondern vielmehr eine eher lose und nicht ganz trennscharfe Verbindung verschiedener Theorierichtungen, die den Blick zunächst auf die Mikroebene des Sozialen rich-

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ten und in unterschiedlicher Weise versuchen, den theoretischen Dualismus von Struktur und Handeln zu überwinden (für einen Überblick s. Reckwitz 2003; Rouse 2007; Schmidt 2012; Hillebrandt 2014). So betrachtet etwa Schatzki (2002) das Umfeld, in das die Handlungen der Individuen eingebunden sind – oder wie in diesem Fall konkret: die Organisation (Schatzki 2005, 2006) – als eine »site«. Die Site ist der Kontext, in dem die Praktiken in Form von intelligib-len verbalen und körperlichen Äußerungen stattfinden, und die zugleich aus die-sen Praktiken besteht. Sie ist kein vorgängiger Kontext, sondern wird aus der Praxis heraus als Kontext konstituiert. Ohne Praxis in der Organisation gibt es somit keine Organisation. Die Praxis ist fester Bestandteil der Site, und um die Logik der Organisation zu verstehen, muss man die Praktiken nachvollziehen, die darin stattfinden und die Organisation somit prozesshaft konstituieren. In Übereinstimmung mit der Ethnomethodologie, welche die soziale Wirklichkeit als »ongoing accomplishment« (Mehan/Wood 1975) betrachtet, geht es auch bei dieser Perspektive um Praxis als Vollzugswirklichkeit. Doch wie lässt sich eine solche Idee methodologisch anschlussfähig machen?

Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die Interaktion zwischen den Arbeits-vermittlern und ihren Klienten. Eine solche interaktionistische Perspektive geht davon aus, dass Sozialität weder in den individuellen Motiven der Akteure noch in unbelebten Strukturen steckt, sondern in konkreten Situationen und in der ge-genseitigen Bezugnahme der Teilnehmer. In Goffmans (1986a: 9) Worten be-deutet dies: »Es geht hier also nicht um Menschen und ihre Situationen, sondern eher um Situationen und ihre Menschen.« Der Teilnehmer-Begriff (»member«), den Garfinkel in seinen Schriften verwendet und der auch bei Goffman (z.B. 1986a) immer wieder auftritt, drückt dabei eine gewisse Skepsis gegenüber dem handlungstheoretischen Begriff des Akteurs aus. Anstatt subjektive Handlungs-motive in den Mittelpunkt zu stellen, stützt sich der Interaktionismus auf das, was sich die Beteiligten in der Interaktion gegenseitig anzeigen. Die interaktive Deutung einer Äußerung geht aus dem jeweils nächsten Zug, aus der Reaktion des Gegenübers hervor. Damit wendet sich der Interaktionismus ab von einer im Subjekt begründeten, sozusagen übersituativen Intentionalität des Handelns. So eröffnet sich auch die Möglichkeit, körperliche Praktiken, halbbewusste Routi-netätigkeiten, spontane Reaktionen und damit letztendlich das implizite Wissen der Teilnehmer in den Blick zu nehmen. Die interaktionistische Perspektive geht davon aus, dass Handeln mehr ist als ein Sich-Entäußern. Die Situation, in der wir uns befinden und in der wir handeln, macht uns auch zu dem, was wir in die-sem Augenblick sind. Die Teilnehmer treten mit bestimmten Erwartungen an die Situation heran und müssen sich darüber verständigen, worum es in der Situation eigentlich geht. Folglich interessiert sich der Interaktionismus weniger für die

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Handlungsmotive von primär aus sich heraus agierenden Akteuren als für die »Interaktionsordnung« (Goffman 1983a), die von den Teilnehmern Zug um Zug geschaffen wird.

An dieses gegenseitige Einander-Anzeigen, worum es gerade geht, schließen auch die praxistheoretischen Ansätze an, auch wenn sie mehr als die interaktio-nistische Tradition die körperlich-materielle Dimension in den Blick nehmen. Dabei geht es gerade nicht darum, einen behavioristischen Standpunkt einzu-nehmen:

»Für die Praxeologie sind die wahrnehmbaren Körperbewegungen und Objekte ein sinn-haftes Verhalten, das für die Teilnehmer von Praktiken unmittelbar verständlich ist. Eine Praktik zu lernen, heißt immer auch, die jeweilige praktische Intelligibilität zu erwerben, die die öffentlichen Praktiken sinnhaft strukturiert.« (Schmidt/Volbers 2011: 25)

Es geht hier also durchaus um die Deutungen und Definitionen der Interaktions-teilnehmer, allerdings werden diese weniger mit Blick auf das Subjekt als mehr mit Blick auf die konkrete Situation und die dort ausgeübten Tätigkeiten rekon-struiert. Dabei interessiert sich die Praxistheorie insbesondere für das praktische und häufig implizite Wissen der Teilnehmer. Das Postulat der Beobachtbarkeit von Praktiken erfordert methodisch ein ethnographisches Vorgehen, welches »dieses implizite Wissen, den Vollzug und die Darstellung von Praktiken, Fra-gen der Lösung von Handlungsproblemen und der Handlungskoordination zu explizieren versucht« (Breidenstein et al. 2013: 33). In eine solche praxistheore-tische Perspektive lassen sich nicht nur die Annahmen des Interaktionismus in-tegrieren. Sie weist darüber hinaus auf die Bedeutung von Materialität und Zeit-lichkeit hin, womit eine Möglichkeit geschaffen wird, das Dilemma von Hand-lung und Struktur aufzulösen.

Wie kommt aber die Struktur zur Handlung, wenn man einzelne Interaktio-nen betrachtet? Die praxistheoretische Forschung mit ihrer methodischen Be-schränkung auf das Beobachtbare musste sich des Öfteren den Vorwurf gefallen lassen, nicht über eine reine Situationsbeschreibung hinauszukommen (etwa Nassehi 2006: 219ff.; s. dazu auch Hirschauer 2014a). Hirschauer (2014a) iden-tifiziert in der neueren praxistheoretischen Forschung zwei Vorschläge, der sin-gulären Situation zu entkommen und das Handlung-Struktur-Problem zu über-winden, indem man verschiedene Situationen theoretisch und methodisch mitei-nander verknüpft. Hier ist einerseits das Konzept der ›Synthetischen Situationen‹ von Knorr Cetina (2009) zu nennen und andererseits die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour (2005). Ich folge hier dem Vorschlag Latours, womit zu den beiden vorgenommenen Dezentrierungen – von der intentionalen Hand-

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lung zur praktischen Tätigkeit, und vom subjektbezogenen Akteur zum situati-onsbezogenen Teilnehmer – eine dritte tritt: vom Kontext zum Netzwerk.

Als Kontext wird üblicherweise das Arrangement bezeichnet, in das be-stimmte Praktiken bzw. Situationen eingelassen sind. Er weist den Beteiligten Rollen zu, macht bestimmte Handlungen wahrscheinlicher oder unwahrscheinli-cher und gibt den Teilnehmern verschiedene Relevanzen und Handlungslogiken vor. Eine konkrete Definition des Kontexts bringt allerdings erhebliche methodi-sche Probleme mit sich. Was ist der Kontext der Gespräche in einem Jobcenter? Der Ort? Die Zeit? Die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland? Die gängigen Sitten und Gewohnheiten – die ›Kultur‹ also? Diese Variablen werden meist als Kontexte in Studien herangezogen, die historisch oder international bzw. regio-nal vergleichend arbeiten. Beziehen sich Forschungen dagegen auf nur einen Ort und Zeitpunkt, sind dies in der Regel Dinge, die nicht thematisiert werden. Mik-rosoziologische Studien zur Arbeits- oder Sozialverwaltung, die keine verglei-chende Perspektive einnehmen, setzen meist enger am Forschungsfeld an – hier ist dann der Kontext eher der gesetzliche Rahmen (also die Sozialgesetzbücher) (Ludwig-Mayerhofer/Behrend/Sondermann 2009), häufig im Zusammenhang mit der Organisationsstruktur der Behörde (Baethge-Kinsky et al. 2006; Hiel-scher/Ochs 2009; Schütz et al. 2011) oder die sie umspannenden Diskurse (Mae-der/Nadai 2004). Letztendlich ist die Definition des Kontexts als externes, erklä-rendes Element eine relativ willkürliche Setzung der Forscher nach Maßstäben der Plausibilität. Methodisch sind solche Setzungen jedoch riskant – denn sie neigen dazu, etwas in die untersuchte Situation hineinzuinterpretieren, was dort nicht konkret beobachtbar ist. Goffman (1974a) hingegen macht den Kontext nicht als physische, raum-zeitliche oder diskursive Umgebung fest, sondern setzt dem mit seinem Konzept des »Rahmens« ein kognitives Modell entgegen, indem er den Kontext als geteiltes Wissen über die Situation in die Köpfe der Beteilig-ten versetzt. Für den Feldforscher wird dieses Wissen dann greifbar, wenn es in der Situation geäußert wird, also wenn die Teilnehmer sich gegenseitig anzei-gen, in welchem Kontext sie sich befinden. Noch radikaler geht die Ethnome-thodologie vor, die in der beobachteten Situation verbleibt und dabei weder ein Konzept von Kontext noch ein Konzept von Situation selbst hat (Garfinkel 1967a). Gemein ist beiden Ansätzen die forschungspraktische Konsequenz, dem praxistheoretischen Postulat der Beobachtbarkeit zu folgen.

Sowohl aus sozialtheoretischen als auch aus methodischen Gründen ent-scheide ich mich also dafür, jede Form eines Kontext-Konzepts zu verwerfen – wider alle alltagspraktische Intuition. Dabei folge ich der Ethnomethodologie in-sofern, als sie genau das als relevant erachtet, was in der Situation von den Teil-nehmern relevant gemacht wird (Coulter 1996; s. auch Wolff 1983: 43ff.). Das

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können Gesetze, Orte, Diskurse sein, die in der Interaktion thematisiert werden und genau dann zum Tragen kommen. Die Frage ist, was die Teilnehmer »ac-countable« machen (Garfinkel 1967a: 1), was sie also als Sinn für sich heranzie-hen und äußern. Es ist allerdings nicht nur sprachlicher Sinn, der für die Situati-on relevant (gemacht) wird, sondern es kann auch Materie in Form von Objekten und Artefakten sein. An dieser Stelle ist der Rückgriff auf Latour (2001, 2005) hilfreich, der ebenso gegen ein Kontextkonzept plädiert und sich dafür aus-spricht, das Soziale ›flach‹ zu halten. Durch eine theoretische Symmetrisierung von Menschen und Objekten gelangt er zu dem Standpunkt, dass alles den Status eines Akteurs hat, was in der Situation einen Unterschied macht – ganz gleich, ob es sich um einen beteiligten Menschen, ein Schriftstück, ein Möbel oder ein Tier handelt. Die Beteiligten sind auch nicht unbedingt in der Situation physisch präsent, vielmehr tritt durch z.B. einen aufgefundenen Aktenvermerk dessen Au-tor zur Situation hinzu. Materielle Objekte sind dann geronnene Handlungen räumlich und zeitlich Abwesender. Das Soziale besteht somit nicht aus verschie-denen Ebenen – sondern durch das, was einen Unterschied macht (also handelt), kommt es zu einer über-räumlichen und über-zeitlichen Verkettung von Akteu-ren: zu einem Netzwerk.

Auch wenn die Symmetrisierung von Menschen und Objekten und der damit einhergehende schwache Handlungsbegriff aus einer interaktionistischen Per-spektive wenig fruchtbar ist, stellt der Netzwerkbegriff eine gute Ergänzung dar. Er ist deswegen so brauchbar, weil das Netzwerk sich klar beobachtbar abgren-zen lässt und weil gerade im Fall der Arbeitsvermittlung nicht nur entfernte menschliche Akteure wie z.B. der Gesetzgeber durch ein herangezogenes Gesetz anwesend werden, sondern weil auch Materialität eine große Rolle spielt – und zwar insbesondere in Form von Körpern, von Innenarchitektur (Räume, Möbel) und Arbeitsmitteln (Computer, Telefon, Dokumente, Akten). All diese Dinge formieren sich im Gespräch zwischen Arbeitsvermittler und Klient zu einem Netzwerk, das als konzeptionelle Linse besser geeignet ist, die beobachteten Si-tuationen zu beschreiben als ein zwangsläufig immer vage bleibender Kontext-begriff. Der Netzwerkbegriff ermöglicht es, den Dualismus von vordergründiger Interaktion und hintergründiger Ordnung aufzuheben. Wenn ich also im Folgen-den hin und wieder von »der Behörde« oder »dem Jobcenter« spreche, dann ist damit kein einheitlicher, kollektiver Akteur gemeint, sondern ein ebensolches Netzwerk aus Menschen und Dingen, von denen jeweils einige bestimmte an der konkreten Situation beteiligt sind.

Nimmt man Latour ernst, so genügt es nicht, die Objekte und ihre Wirk-macht in der Situation zu betrachten. Im Sinne einer »multi-sited ethnography« (Marcus 1995; Falzon 2009) geht es darum, die Objekte in ihrer Geschichte in

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frühere Situationen zurückzuverfolgen oder sie auf dem Weg zu ihren zukünfti-gen Stationen zu begleiten (z.B. Latour 2010). Da hier jedoch das menschliche Gespräch und nicht die Objekte der Ausgangspunkt sind, verfolge ich eine ande-re Strategie: Die Organisation als Netzwerk kommt außerhalb der Situation dort ins Spiel, wo sich die Beteiligten aufhalten. Ich folge also nicht den Objekten, sondern den Menschen – zeitlich davor und danach (vgl. Breidenstein et al. 2013: 77f.). Denn bereits vor dem Gespräch mit ihren Arbeitsvermittlern werden die Klienten in die Organisation eingespeist, sie werden Teil ihrer räumlichen Ordnung wie ihrer Wissensordnung.1 Diesen Prozess gilt es nachzuvollziehen. Und während die räumliche Ordnung als fester Bestandteil erhalten bleibt, kann sich die Wissensordnung nach dem Gespräch ändern. Es bleiben bei den Betei-ligten Eindrücke und Erfahrungen zurück, die sie deuten, und diese Deutungen vermögen die Wissensordnung zu präzisieren. Sie haben möglicherweise auch einen Einfluss darauf, welche Handlungsstrategien sie in der Zwischenzeit ver-folgen und wie sie einander in zukünftigen Gesprächen begegnen werden.

Im Gegensatz zur konkreten Interaktionssituation werden diese Erfahrungen jedoch nicht explizit gemacht, weil ein Gegenüber fehlt, für das man seine Ein-drücke und daraus gezogenen Konsequenzen rationalisieren müsste. Hier zeigen sich die methodischen Grenzen des Postulats der Beobachtbarkeit, weswegen die Beobachtungen in Kapitel 4 dieses Buches um Erzählungen der Beteiligten er-gänzt werden. Entgegen den gängigen Vorstellungen der traditionellen Inter-viewforschung gehe ich dabei jedoch nicht davon aus, dass anhand der Inter-views rekonstruiert werden kann, was die Interviewten ›wirklich‹ meinen, was ihnen selbst jedoch nur teilweise bewusst ist (z.B. Oevermann et al. 1979; kri-tisch dazu Reichertz 1995), während sie in der Praxis nur etwas ›aufführen‹ (Mannheim 1964). Eine solche Zwei-Welten-Theorie muss aus praxistheoreti-scher Perspektive zurückgewiesen werden. Forscher können die Menschen nicht besser verstehen als sie sich selbst, sie können sich der sozialen Wirklichkeit durch methodische Werkzeuge nur anders annähern. Folglich soll es hier nicht darum gehen, den Befragten ›in die Köpfe zu schauen‹ (Garfinkel 1963: 109), sondern darum, aufzuzeigen, was sie in ihren Erzählungen über die Beziehung problematisieren. Der Rückgriff auf die Interviews für den Zutritt zur »Hinter-bühne« (Goffman 2004: 99ff.) der Interaktion ist somit als methodisches Werk-zeug zu verstehen, als eine alternative Strategie der Sichtbarmachung (vgl. S. Hitzler 2012: 257ff.; Breidenstein et al. 2013: 80ff.). Epistemologisch sind Be-obachtungen und Interviews als gleichwertig zu betrachten. In der Differenz

1 Zum Begriff der Ordnung als analytische Abstraktion dessen, was durch bestimmte

Handlungen und Interaktionen geformt wird, s. Strauss 1993: 59f.

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zwischen Erzählung einerseits und Interaktion andererseits lässt sich aber zei-gen, welche Aspekte nicht Bestandteil der Interaktion sind, was also dort her-ausgehalten wird – und wichtiger noch: der Vergleich kann zeigen, dass subjek-tive Deutungen und interaktiv hergestellte Situationsdefinitionen nicht immer miteinander übereinstimmen. Insofern lässt sich gerade an der Differenz der Deutungen das Spezifische der Jobcenter-Gespräche herausarbeiten.

Aus diesen theoretischen Überlegungen ergeben sich für die Untersuchung folgende Fragen: Zunächst ist in Anlehnung an die Ethnomethodologie zu be-obachten, wie die Teilnehmer sich gegenseitig deutlich machen, worum es geht und welche Probleme situativ bearbeitet werden müssen.

(1) Daran anschließend stellt sich die Frage, wie sich die Teilnehmer als In-teraktionspartner für ihr Gegenüber selbst darstellen und einander deutlich ma-chen, mit wem sie es zu tun haben. Wie inszenieren sich die Arbeitsvermittler als Arbeitsvermittler und die Klienten als Klienten selbst, und welche impliziten gegenseitigen Erwartungen lassen sich daraus ableiten? Hier bietet sich ein Rückgriff auf Goffmans (2004, 1983b) Rollenkonzept an, der mit der funktiona-listischen Perspektive der klassischen Rollentheorie bricht und den Blick auf die Aufführung und die Situativität der eingenommenen Rollen richtet.

(2) Es gilt zu beobachten, wie sich die Teilnehmer darüber verständigen, wo-ran gemeinsam gearbeitet werden soll. Hier hilft als Anschlusspunkt das Kon-zept der Aushandlungen von Strauss (1978, 1993) weiter. Auch wenn sich sein Konzept der ausgehandelten Ordnung durch seinen ausgeprägten Kontextualis-mus nicht vollständig in das hier entworfene Forschungsprogramm integrieren lässt, ist die Frage nach den Aushandlungen empirisch doch fruchtbar: Welche Relevanzen legen die Teilnehmer ihren Zielen bei der Zusammenarbeit mitei-nander zugrunde? Und welche Strategien und Ressourcen nutzen sie, um sich gegenseitig von ihrer Deutung als der richtigen zu überzeugen? Welche Hand-lungsprobleme werden durch die Strategien der Teilnehmer deutlich?

(3) Das Netzwerk-Konzept wirft zum einen die Frage auf, welche materiel-len Objekte in die Interaktion einbezogen werden und wie sie dort wirken. Dies betrifft im Jobcenter vor allem Träger von Schrift wie Computer und Dokumen-te. Was macht der Umgang mit Schrift mit der Situation, welche Rolle spielt der Computer, wann werden Dokumente herangezogen, wie wird Schrift in der Situ-ation produziert und welchen Beitrag leistet sie zur Interaktion?

(4) Darüber hinaus erinnert der Begriff des Netzwerks auch daran, dass sich die Interaktion nicht allein in der Situation erschöpft. Hier wirken sowohl die räumliche als auch die zeitliche Dimension. So ist zu betrachten, mit welchem Wissen die Teilnehmer überhaupt in die Situation gelangen, bevor sie Teil des Netzwerks werden. Hier spielen einerseits der Raum und seine Nutzung und an-

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dererseits die zeitlichen Abläufe vor dem Gespräch eine Rolle. Nach dem Ge-spräch geht es darum, zu ergründen, welche Fragen für die Beteiligten offenge-blieben sind und welche Handlungsprobleme sich für sie in der Folge ergeben.

1.2   METHODISCHE  ÜBERLEGUNGEN  UND  DER  FORSCHUNGSPROZESS  

Methodisch eignet sich für die Beschreibung und Analyse sozialer Praktiken am besten ein ethnographisches Vorgehen. Denn die Ethnographie interessiert sich für »den Bereich öffentlich gelebter Sozialität, dessen Sinnhaftigkeit von einem impliziten Wissen der Teilnehmer bestimmt wird« (Breidenstein et al. 2013: 33). Dieses implizite Wissen aus den Praktiken herauszuarbeiten, ist ihr grundlegen-des Interesse. Ethnographie ist dabei sowohl eine Forschungsmethode als auch das verschriftlichte Produkt der Forschungsarbeit. Diese doppelte Bedeutung weist darauf hin, dass die Ethnographie ihren Beobachtungsgegenstand nicht ob-jektiv abbilden kann, sondern eine Interpretation des Feldforschers ist (vgl. Kalthoff 2003). Sie ist eine Deutung von Praktiken, die den Deutungen der an den Praktiken Beteiligten nicht überlegen ist. In Verwendung von Konzepten aus der soziologischen Theorie kann sie allerdings ihren analytischen Blick schärfen und damit, anders als die Beteiligten, einen Beitrag zu theoretischen Debatten leisten.

Damit zeichnet sich bereits eine methodische Spezifizierung ab: die Ethno-graphie, wie sie hier verfolgt wird, besteht – anders als in der ethnologischen Tradition – nicht in einem langen Aufenthalt in einer fremden Kultur, sondern beschäftigt sich im Sinne einer »fokussierten Ethnographie« (Knoblauch 2001) mit einem spezifischen Ausschnitt der eigenen Kultur, bzw. darin mit ausge-wählten Handlungsaspekten. Damit verfolgt sie das Ziel, einen empirisch fun-dierten Beitrag zur soziologischen Theorieentwicklung zu leisten. Doch auch wenn ihre Erkenntnisse an die großen gesellschaftlichen Diskurse anknüpfen können, geht sie, wie alle Spielarten der Ethnographie, immer mikroskopisch vor: Sie setzt im Kleinen an, richtet ihren Blick auf einzelne Praktiken und klei-ne Details und beobachtet die soziale Wirklichkeit in ihrem Vollzug. Deswegen ist die Ethnographie auch immer teilnehmend. Diese Teilnahme an den Prakti-ken der Beteiligten erfolgt – auch in der eigenen Kultur – über die Strategie der Fremdheit (Amann/Hirschauer 1997). Es geht darum, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, alles zu registrieren, auch wenn es unwichtig erscheint, und vie-le Fragen zu stellen. Dabei steht sie vor der Aufgabe, das Unbekannte im Be-kannten zu entdecken.

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Im Gegensatz zu den im deutschsprachigen Raum nach wie vor dominierenden textbasiert-rekonstruktiven Methoden der qualitativen Sozialforschung interes-siert sich die Ethnographie weniger für einzelne Subjekte und deren persönliche Haltungen als vielmehr für die Deutungen, die die Teilnehmer sich im gemein-samen Handeln gegenseitig verständlich machen. In der Folge des stärkeren In-teraktions- als Subjektbezugs geht es dann auch mehr darum, allgemeine Hand-lungsprobleme zu identifizieren und weniger darum, Typen ihrer Bewältigung zu unterscheiden. Ihr Ziel ist es, eine »dichte Beschreibung« (Geertz 1987) der sozialen Wirklichkeit anzufertigen. Während das Mitschreiben im Feld sich noch auf relativ dünne Beschreibungen beschränkt und sich rein auf das Be-obachtbare mit einer minimalen Bedeutungsdimension konzentriert, werden die-se Beschreibungen im Nachhinein in einem Interpretationsprozess mit Bedeu-tung angereichert und verdichtet, bis am Ende eine Ethnographie entsteht, die eine Geschichte über eine bestimmte soziale Wirklichkeit erzählt.

Felderfahrungen   Vom Herbst 2008 bis Sommer 2009 führte ich im Rahmen eines Drittmittelpro-jekts,2 das sich mit den Teilhabechancen junger Erwerbsloser in Europa beschäf-tigte, eine Reihe von zunächst leitfadengestützten und im Anschluss standardi-sierten Interviews mit Vertretern von politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Wohlfahrtsverbänden, Maßnahmeträgern und Erwerbslosenini-tiativen in einer deutschen Großstadt. Die neue Arbeitsmarktpolitik war auch ei-nige Jahre nach ihrer Einführung heiß umstritten (vgl. Lahusen/Baumgarten 2010). Während einige Akteure fanden, dass nun endlich alles in die richtige Richtung gehe, zeigten sich vor allem die politisch aktiven Betroffenen nach wie vor empört über die neue Gesetzgebung und ihre Umsetzung. Neue politische Initiativen und Gruppen fanden sich, andere organisierten weiterhin Proteste, und einige waren bereits wieder auseinandergegangen. Gerade die erwerbslosen Kritiker, die selbst Klienten der ARGE waren, betonten mir gegenüber immer wieder, dass man die Erfahrung, wie »auf dem Amt« mit einem umgegangen werde, nicht beschreiben könne, man müsse es selbst erleben. Da ich ohnehin schon einige Zeit vorher das ausgiebige Studium der Gesetzestexte und die Ge-spräche mit Experten als unbefriedigenden Zugang empfand, da ich immer noch nicht wusste, was dort eigentlich passiert und was dort eigentlich das Problem

2 Das Projekt »YOUNEX – Youth Unemployment and Exclusion in Europe« wurde

von der Europäischen Union im siebten Rahmenprogramm gefördert.

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ist, wuchs mein Interesse, Gespräche der Arbeitsvermittler mit ihren Klienten zu erleben und zu beobachten.

Ich schloss mich im Frühjahr 2009 einer Gruppe Ehrenamtlicher an, die im Rahmen einer Arbeitsloseninitiative Erwerbslose zu ihren Terminen bei der Ar-beitsverwaltung begleiteten. Die Gruppe bestand aus Freiwilligen, von denen die meisten selbst arbeitslos waren (auch ein ehemaliger Arbeitsvermittler war da-runter). Ich legte meine Rolle als Soziologin sowohl der Gruppe als auch der Leitung gegenüber offen und niemand empfand sie als problematisch. In der Gruppe trafen wir uns regelmäßig, wir tauschten uns über unsere Begleitungen aus und bekamen viele Informationen über die rechtlichen Hintergründe. Wenn sich jemand an die Arbeitsloseninitiative wandte, sich dort beraten ließ und für den nächsten Termin bei der Arbeitsverwaltung eine Begleitung erbat, wurde ein Rundruf unter der Gruppe der Freiwilligen gestartet mit Datum, Uhrzeit und ein paar Stichworten zum Problem. Wer sich bereiterklärte, erhielt dann Name und Nummer der Person, setzte sich mit ihr in Verbindung und verabredete sich zum Termin. Ich traf ›meine‹ Klienten meistens eine viertel oder halbe Stunde vor ih-rem Termin, wir sprachen kurz durch, worum es ging und begaben uns dann zu den Büros. In diesen Vorgesprächen sagte ich den Klienten auch, dass ich Sozio-login sei und zu Arbeitslosigkeit und zur Arbeitsverwaltung forsche. Bis auf we-nige Ausnahmen waren die Gespräche immer bei einer ARGE (und nicht bei der Agentur für Arbeit) und fast immer bei Arbeitsvermittlern (und nicht bei der Leistungsabteilung). Wie ich mich den Behördenmitarbeitern vorstellte, überließ ich den Klienten. Viele hatten überhaupt kein Problem damit, mich als Beistand von einer Arbeitsloseninitiative vorzustellen, während andere befürchteten, dadurch noch mehr Misstrauen auf sich zu ziehen und mich baten, dem Ge-spräch einfach unkommentiert oder als »Bekannte« beizuwohnen. Nach dem Termin rekapitulierten wir das Gespräch zusammen, oft bei einer Tasse Kaffee, und wenn ich das Behördengespräch interessant fand, dann fragte ich die Klien-ten, ob ich mir Notizen machen und diese in anonymisierter Form für meine Forschung verwenden dürfe. Nie bin ich damit auf Widerstände oder auch nur ein Zögern gestoßen, viele begrüßten sogar mein Vorhaben und freuten sich, mit ihrem Fall etwas dazu beitragen zu können.

So fertigte ich von 2009 bis 2011 18 Beobachtungsprotokolle von Jobcenter-Gesprächen an. Zusätzlich besuchte und protokollierte ich einige Informations-veranstaltungen von Jobcentern, die sich an (potenzielle) Klienten richteten und meldete mich zwischen zwei Verträgen selbst arbeitssuchend, um Erfahrungen mit der Arbeitsverwaltung (zwei Termine) auch aus eigener Perspektive zu sammeln. Parallel dazu führte ich 2010 im Rahmen des EU-Projekts eine Reihe von qualitativen Interviews mit Erwerbslosen über ihren Alltag und ihre Erfah-

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rungen mit dem Jobcenter. Unabhängig von direkten Beobachtungen wird die Perspektive der Klienten somit über 20 ausführliche Interviews greifbar, womit der im vorigen Teil formulierte Anspruch erfüllt werden kann, die Gespräche mit Blick auf das in der Interaktion Unsichtbare auch aus der Rückschau zu be-trachten. So hatte ich im Frühjahr 2011 vielerlei Felderfahrungen gesammelt und verschriftlicht: Einerseits das Studium der Dokumente und Gesetzestexte inklu-sive der Selbstdarstellung der Arbeitsverwaltung, die Positionen politischer und zivilgesellschaftlicher Akteure zum Thema, andererseits die Betroffenenperspek-tive durch Interviews und Treffen mit Erwerbslosen und auch erwerbslosen poli-tischen Aktivisten.

Was allerdings fehlte, war die Perspektive der Arbeitsvermittler selbst. Und auch die Protokolle der von mir begleiteten Jobcenter-Gespräche blieben in zweierlei Hinsicht für mich fragwürdig. Einerseits war es moralisch nicht un-problematisch, denn die Arbeitsvermittler wussten nicht, dass sie von mir be-forscht wurden. Und auch die Klienten hatten erst im Nachhinein ihr Einver-ständnis gegeben – möglicherweise aus Dankbarkeit – und sich nicht frei dafür entschieden, mit einer Forscherin zum Amt zu gehen. Zweitens war die Auswahl der Gespräche höchst selektiv, denn es handelte sich fast ausschließlich um problematische Gespräche. Ich entschied mich also dafür, dieses Material für die vorliegende Arbeit nicht zu zitieren. In den Umgang mit dem später gesammel-ten Material fließen die dort gesammelten Erfahrungen natürlich mit ein. Es hat mich für die Probleme, die im Gespräch zwischen Arbeitsvermittlern und Klien-ten auftreten können, sensibilisiert und meinen Blick für die Gesprächsdynamik geschult. Ich nutze die Protokolle aber nicht, um etwas daran zu zeigen.

Da sich schon länger abgezeichnet hatte, dass die Gespräche der Kern mei-nes Interesses waren, brauchte ich einen geregelten Zugang zu ihnen, um einer-seits die genannten Probleme zu vermeiden und andererseits im Forschungspro-zess »vom Rundblick zur analytischen Selektivität« (Scheffer 2001: 26f.) zu ge-langen. Der Zugang sollte diesmal nicht über die Klienten erfolgen, sondern über die Behörde selbst. Im Frühjahr 2011 nahm ich Kontakt zum Teamleiter eines Jobcenters in einer Großstadt auf. Er versprach mir, mein Anliegen weiter zu tragen und schrieb mir einige Zeit später, dass mein Vorhaben aus datenschutz-rechtlichen Gründen einen derart hohen Verwaltungsaufwand bedeuten würde, dass es nicht durchführbar sei. Das Jobcenter misstraute mir also, sie wollten keinen zusätzlichen Aufwand und vor allem keinen Ärger haben.3 Ich verlegte meine Suche auf die Jobcenter kleinerer Städte und wandte mich direkt an die

3 Siehe zu den Problemen des Feldzugangs zur Sozialverwaltung auch Lau/Wolff

(1983).

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Leitungsebene. Im Herbst 2011 wurde ich fündig. Der Leiter eines Jobcenters unterstützte mein Vorhaben und verwies mich an den Leiter eines ländlich gele-genen, kleinen Standorts in seinem Kreis: das Jobcenter Spatenfeld. Welche Überlegungen bei dieser Auswahl eine Rolle spielten, konnte ich nicht heraus-finden. Vermutlich handelt es sich bei Spatenfeld um eine Art Vorzeige-Fall, ei-ne kleine, beschauliche, relativ unbürokratische Organisation, die genügend Res-sourcen hatte, ihre Klienten vorbildlich zu betreuen. Als Kontrastfall zu meinen bisherigen Erfahrungen kam mir eine solche Konstellation entgegen. Ich traf den Standort-Leiter zu einem Interview. Er unterstützte mein Vorhaben und delegier-te mich an seine Teamleiterin. Ich telefonierte mit ihr und sie sagte mir direkt zu, dass ich »nächste Woche« beginnen könne.

So begleitete ich im Dezember 2011 und Januar 2012 neun verschiedene Ar-beitsvermittlerinnen und Arbeitsvermittler sechs Wochen lang bei ihrer Arbeit. Sowohl der Ort als auch der Zeitpunkt hatte seine eigene Logik. Die Arbeitslo-senquote in Spatenfeld entspricht weitgehend dem Bundesdurchschnitt. Da die Arbeitsmarktlage zu diesem Zeitpunkt gut war, konnten in den Monaten zuvor viele Klienten in eine Beschäftigung vermittelt werden. Die Folge waren gesun-kene Klientenzahlen, die sich in einem Betreuungsverhältnis von etwa 130 bis 180 Klienten pro Arbeitsvermittler niederschlugen. Außerdem teilten mir ver-schiedene Arbeitsvermittler immer wieder mit, dass damit der Anteil der gut vermittelbaren Klienten weitgehend abgeschöpft sei, und dass diejenigen, die nach wie vor keine Arbeit gefunden hatten, eher zu den schwierigeren Fällen ge-hörten, deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt aus verschiedenen Gründen gene-rell schlecht seien. Dabei gab es in Spatenfeld keine personelle Trennung in Ar-beitsvermittler für die ›leichten‹ und Fallmanager für die ›schweren‹ Fälle. Alle Arbeitsvermittler betrieben bei einem gewissen Anteil ihrer Klienten also auch Fallmanagement. Der Zeitpunkt im Winter und zwischen den Jahren hatte au-ßerdem zur Folge – was einige Arbeitsvermittler im Hinblick auf meinen Auf-enthalt bedauerten –, dass die Qualifizierungs- und Aktivierungsmaßnahmen, deren Angebot ohnehin rückläufig war, für 2011 bereits ausgeschöpft waren, die Zuweisungen für 2012 allerdings erst im Februar oder März beginnen konnten, nachdem das Budget klar und die Vergabe geregelt war. Mein Feldaufenthalt fiel also in diejenige Zeitperiode, in der aus organisatorischen Gründen kaum Klien-ten in Maßnahmen vermittelt werden können. Einige Zuweisungen konnte ich jedoch beobachten. Insgesamt bildete Spatenfeld einen guten Kontrast zu dem, was ich zuvor in der Großstadt bei meinen Begleitungen erlebt hatte (hohe Ar-beitslosenzahlen, eher gut qualifizierte, informierte Klienten, hohe Fallzahlen, ein diffuses, teils unüberschaubares Angebot an Maßnahmen und entsprechend ein anonymer und wenig familiärer Umgangston). An dieser Stelle ist dennoch

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die Frage berechtigt, ob die Konzentration der Interaktionsbeobachtungen auf ein einziges, nämlich dieses spezielle Jobcenter überhaupt in einer Weise verall-gemeinerbar ist, um Aussagen über die Spezifik von Zeit und Ort hinaus treffen zu können. Im Vergleich der beiden Felderfahrungen wurde allerdings schnell klar, dass mein Forschungsinteresse von solchen Spezifika relativ unabhängig war. Denn es ging mir nicht etwa darum, eine umfassende Typologie von Ar-beitsweisen der Arbeitsvermittler darzustellen, die sich in Abhängigkeit be-stimmter Kontextfaktoren sicherlich ändern, sondern es geht, wie oben erläutert, um etwas Allgemeineres: nämlich die basale Interaktionsordnung der Gespräche. Die grundlegenden Handlungsprobleme dieser Interaktionsordnung sind relativ unabhängig von der Häufigkeit und Intensität bestimmter Arbeitsschritte, und damit auch von der Arbeitsmarktsituation, dem Betreuungsverhältnis, den För-dermöglichkeiten usw.4

Der  Aufenthalt  in  Spatenfeld   An meinem ersten Tag im Jobcenter führte mich die Teamleiterin durch die Bü-ros aller Mitarbeiter und stellte mich vor. Ich erhielt einen Plan, nach dem ich an jedem Tag einem Arbeitsvermittler zugeteilt war, und bei jedem der zehn Ar-beitsvermittler im Laufe der Zeit drei Tage verbringen sollte. Der Plan ging nicht immer auf, manchmal kamen nicht bedachte Fortbildungen oder Krankheitsfälle dazwischen, so dass spontan getauscht werden musste. Einer Arbeitsvermittlerin gelang es, sich komplett meiner Anwesenheit zu entziehen, indem sie sich beim ersten Mal krankmeldete, beim zweiten Mal spontan Urlaub nahm und beim dritten Mal eine Kollegin bat, mich an ihrer Stelle aufzunehmen, da sie keine Zeit habe. So konnte ich nur neun der zehn Arbeitsvermittler beobachten und verbrachte bei allen mindestens zwei Tage. Ich kam morgens um acht Uhr, be-vor die ersten Klienten kamen und blieb bis zwölf Uhr, bis die Mittagspause an-brach. Die Nachmittage, an denen die Arbeitsvermittler keine Kliententermine hatten und ihre Schreibtischarbeit erledigten, verbrachte ich nicht im Jobcenter, sondern nutzte die Zeit, um meine Notizen vom jeweiligen Vormittag aufzu-schreiben.

Die Arbeitsvermittler begegneten mir offen und freundlich und ließen sich zumindest nicht anmerken, dass sie durch meine Anwesenheit gestört waren.

4 Dies soll jedoch keineswegs heißen, dass damit der Anspruch verbunden wäre, den

Gegenstand als repräsentativ für eine Gesamtheit abzubilden. Wie eingangs erwähnt, ist sich die Ethnographie gewahr, dass sie nur eine mögliche Geschichte des Gesche-hens erzählen kann – was sie nur eingeschränkt verallgemeinerbar macht.

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Anfangs stellte ich wenige Fragen und versuchte nur, alle Eindrücke festzuhal-ten, die sich mir boten. Gewöhnlich fragten die Arbeitsvermittler mich nach meinem Vorhaben, meiner Arbeit und meinem Studium und erzählten etwas von ihrer eigenen Biographie. Wo ich Platz nahm, überließ ich den Arbeitsvermitt-lern. Wenn sie größere Büros hatten, in denen es einen separaten Besprechungs-tisch gab, baten sie mich meist, dort Platz zu nehmen. In kleineren Büros saß ich zumeist auf einem Stuhl schräg hinter ihnen an der Wand. Diese beiden Perspek-tiven wirkten sich auch auf meine Beobachtungen aus. Während ich am Bespre-chungstisch eher als dritte Beobachterin außen vor war und nicht mehr mitbe-kam als die Klienten, hatte ich in der Position hinter den Arbeitsvermittlern di-rekten Einblick in den Computer und konnte sehen, was sie schrieben. Der Wechsel der räumlichen Perspektive hatte also auch einen Wechsel meiner Per-spektive als Beobachterin zur Folge, die sich gut ergänzten.

Ich bat die Arbeitsvermittler, einfach ihrer Arbeit nachzugehen, während keine Klienten im Raum waren. Allerdings stellte ich fest, dass die wenigsten mit der dabei entstehenden Stille umgehen konnten, und so erzählten sie mir in den Pausen zwischen den Terminen entweder allgemein von ihrer Arbeit oder von bestimmten Klienten, oder sie kommentierten die Arbeit, die sie gerade er-ledigten und erklärten mir, was sie taten und warum. Ohne viele Fragen zu stel-len, hatte ich dadurch schnell einen Einblick in die Sichtweisen der Arbeitsver-mittler. Durchschnittlich hatten die Arbeitsvermittler an den Tagen, an denen ich bei ihnen war, ungefähr drei Termine. Manchmal erwähnten sie, dass sie extra noch Klienten eingeladen hatten, damit ihr Tag nicht so leer war und ich auch etwas zu sehen hatte (und eigentlich hätten sie ohne meine Anwesenheit mehr administrative Aufgaben erledigt). Gegen Ende meines Aufenthalts, als ich mit den Arbeitsvermittlern vertrauter war, kam es auch vor, dass sie, wenn sie wuss-ten, dass ich kommen würde, teilweise auch ganz bestimmte Klienten einluden, um sie mir zu »zeigen«, weil sie sie interessant fanden oder wissen wollten, was ich von ihnen halten würde. Andererseits wurde teilweise auch erst morgens spontan entschieden, in wessen Büro ich den Vormittag verbringen würde, so dass die Arbeitsvermittler, selbst wenn sie das gewollt hätten, nicht vollständig steuern konnten, mit wem ich sie beobachten würde.

Wenn die Klienten kamen, stellten die Arbeitsvermittler mich vor, fragten sie nach ihrem Einverständnis und baten sie, eine Einverständniserklärung zu unterschreiben. Die meisten Klienten zeigten sich äußerst desinteressiert an mir, meiner Arbeit und meiner Anwesenheit. Kaum einer las sich den Inhalt der Ein-verständniserklärung wirklich durch. Nur in einem einzigen Fall bat mich eine Klientin, kurzzeitig aus dem Raum zu gehen, weil sie mit ihrer Arbeitsvermittle-rin etwas Persönliches zu besprechen habe. Niemand verweigerte mir die Teil-

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nahme am Gespräch. Ich wohnte den Gesprächen also als stille Beobachterin bei. Deswegen von einer nicht-teilnehmenden Beobachtung zu sprechen, halte ich jedoch methodisch für naiv (vgl. Hammersley/Atkinson 1983: 14ff.; s. auch Sowa et al. 2013). Alleine die körperliche Präsenz einer dritten Person, auch wenn diese sich nicht beteiligt, hat Auswirkungen auf eine dyadische Interakti-on. Auch wenn sich die Beteiligten natürlich in erster Linie ihrem Gesprächs-partner gegenüber darstellen und plausibel machen müssen, kann man von einem harmonisierenden Einfluss einer dritten Person ausgehen. Dies hat sich ganz praktisch an den Erfahrungen der begleiteten Klienten über die Arbeitslosenini-tiative gezeigt (es war ja auch der Sinn dieser Begleitungen) und gilt auch für die Beobachtungen in Spatenfeld. Während im ersten Fall eher die Arbeitsvermittler freundlicher und korrekter reagierten, weil ihr Klient auf einmal einen Zeugen bei sich hatte, diente ich als Beobachterin in Spatenfeld, die vor den Klienten be-reits im Büro war und sozusagen zum Inventar des Büros gehörte, eher als Un-terstützung für die Arbeitsvermittler, was dazu führte, dass die Klienten freund-licher und korrekter reagierten, weil die Arbeitsvermittler nun für jedes Fehlver-halten einen Zeugen hatten. Diese Meinung vertraten zumindest die Arbeitsver-mittler, die es auch gewohnt waren, dass von Seiten der Behörde eine dritte Per-son anwesend war, sei es ein neuer Kollege zum Einlernen oder die Teamleite-rin, die regelmäßige Hospitationen durchführte. Aber natürlich waren auch die Arbeitsvermittler bemüht, vor mir als Forscherin eine möglichst gelungene und professionelle Arbeit mit den Klienten aufzuführen. Wenn ich also während der Gespräche versuchte, so wenig wie möglich aufzufallen, dann mit dem Wissen, dass diese Unauffälligkeit ihre Grenzen hat. Eine Situation unverfälscht zu be-obachten, ist eine Illusion – dessen ist sich die Ethnographie seit langem be-wusst. Dennoch lassen sich Aussagen über einen Typus von Situationen treffen, auch wenn diese ohne einen anwesenden Beobachter möglicherweise zum Teil etwas anders verlaufen würden: Es sind und bleiben dennoch erkennbar für alle Beteiligten Arbeitsvermittler-Klienten-Gespräche.

Wenn keine Klienten in den Büros der Arbeitsvermittler anwesend waren, war meine Rolle deutlich involvierter. Wie bereits erwähnt, sprachen die Ar-beitsvermittler viel mit mir, entweder über ihre oder meine Arbeit, über be-stimmte Klienten oder über die Termine, die gerade stattgefunden hatten. Wäh-rend ich in den ersten Tagen nicht viele Fragen stellte, änderte sich dies zuneh-mend, je mehr ich den Eindruck hatte, die Routinen und Abläufe der Arbeits-vermittler zu verstehen. Ich wechselte im Laufe der Zeit von einem Modus der deskriptiven zu einem Modus der fokussierten Beobachtung (Spradley 1980: 100ff.). Was sich mir nicht erschloss, fragte ich nach. Dies konnte Regelungen zu ihrer Arbeit betreffen, Arbeitsschritte, die sie ausführten oder auch Äußerun-

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gen, die im Gespräch mit den Klienten gefallen waren. Oftmals rekapitulierten wir die Klienten-Gespräche im Anschluss gemeinsam, oder sie erzählten mir, was aus ihrer Sicht das Problem des jeweiligen Klienten oder ihr eigenes Prob-lem bei der Zusammenarbeit mit ihm war. Gegen Ende der ersten Woche erga-ben sich beim Schreiben meiner Feldnotizen erste Thesen. Manchmal betrafen diese Thesen die Arbeitsweise einer bestimmten Person, die sich darin von den anderen unterschied. Dann erzählte ich bei der nächsten Zusammenkunft von meinen Beobachtungen und fragte die Person, was sie dazu meinte. Meistens entwickelten sich aber eher generelle Thesen und Beobachtungen, die auf viele oder alle Arbeitsvermittler zutrafen. Mit diesen Thesen konfrontierte ich in den nächsten Tagen dann – wo es situativ passte – eine ganze Reihe von Arbeitsver-mittlern und fragte sie nach ihrer Meinung. Manchmal waren sie erstaunt über die Beobachtungen, manchmal fanden sie sie eher trivial. Manchmal sagten sie mir, dass ich ein wichtiges Problem erkannt hätte und erzählten mir mehr dar-über. Manchmal nahmen sie meine Beobachtungen nur zur Kenntnis, hielten sie aber nicht für sonderlich relevant oder kommentierten sie nicht weiter. Und manchmal sagten sie mir auch, dass meine Thesen aus ihrer Perspektive falsch oder unvollständig waren und legten ihre Meinung dazu dar. Damit konnte ich nicht nur Missverständnisse beseitigen und die Arbeitsvermittler dazu bringen, mehr über die mich interessierenden Themen zu sprechen, sondern ich hatte dadurch auch die Möglichkeit, meine Beobachtungen durch die Beteiligten vali-dieren zu lassen. Alle Gespräche mit den Arbeitsvermittlern führte ich spontan und frei und machte mir erst im Nachhinein Notizen, so dass kein Interviewcha-rakter entstand. Durch die Diskussionen meiner vorläufigen Thesen und Er-kenntnisse entstand ein zirkulärer Forschungsprozess, indem mir die Beteiligten selbst dabei halfen, erste Vermutungen zu untermauern oder zu verwerfen.

Gegen Ende meines Aufenthalts fragten die Arbeitsvermittler mich häufiger nach meiner Einschätzung, gerade was Klienten betraf, die sie nicht so richtig einordnen konnten. Wenn sie vor einem konkreten arbeitspraktischen Problem standen, dann fragten sie hin und wieder, ob ich wisse, wie Kollegen das hand-haben. Ich sagte in den letzten Wochen auch häufiger meine Meinung, äußerte mich zum Teil kritisch über die Gesetze, Regelungen und Vorschriften. Je ver-trauter wir miteinander wurden, desto weniger konnte ich den Arbeitsvermittlern als neutrale Beobachterin gegenübertreten. Ich musste mich als Person positio-nieren und in Form von Meinungen, Diskussionen, aber auch Verständnis für ih-re Probleme etwas von dem Engagement zurückgeben, das sie in mich investier-ten. Dies betraf natürlich nicht alle Arbeitsvermittler in gleichem Maße, bei manchen blieb ich bis zum Ende eher still und kommentierte sehr wenig. Es be-traf vor allem diejenigen, die mir irgendwann das Du anboten, mit denen ich

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immer häufiger Smalltalk und semi-private Gespräche führte, die mich in ihre Fallbearbeitung einbezogen und mich mehr oder weniger wie eine Kollegin be-handelten. Das Feld hatte seine Fremdheit für mich verloren, ich hatte das Ge-fühl, ich könnte selbst dort arbeiten. Es war eine Veralltäglichung eingetreten. Meine Notizen waren kürzer geworden, mit Ausnahme von interessanten Einzel-fällen, die alle paar Tage immer mal auftraten. Mit dem Ende dieser intensiven Phase von sechs Wochen war somit auch der Zeitpunkt erreicht, an dem es rich-tig war, das Feld zu verlassen (vgl. Goffman 1996: 266). Ich hatte nun verschie-dene Datentypen und Perspektiven auf die Jobcenter-Gespräche gesammelt und eingenommen, aber das Material aus Spatenfeld war derart reichhaltig, dass es den Hauptteil meiner Analysen trägt und von den zuvor gesammelten Daten nur hier und da ergänzt wird.

Während ich bei den verdeckten Beobachtungen im Vorfeld erst im Nach-hinein Notizen mache konnte, war dies in Spatenfeld bereits in der Situation möglich. Die Tätigkeit des Aufschreibens im Feld ist jedoch ein heikles Thema (vgl. Emerson/Fretz/Shaw 1995: 17ff.). Einerseits sind Notizen wichtig, um im Nachhinein eine detaillierte Beschreibung von Gesprächen und Situationen lie-fern zu können. Andererseits ruft es bei den Beobachteten Misstrauen hervor, wenn sie mitbekommen, dass alles, was sie sagen, protokolliert wird. Insofern kann das Aufschreiben den Verlauf der Interaktion stören und die Teilnehmer hemmen. Mit diesem Konflikt im Bewusstsein setzte ich mir als oberstes Ziel, die Interaktion nicht zu stören und die Teilnehmer durch meine Aufschriebe so wenig wie möglich zu verunsichern. Wenn die Klienten mit dem Rücken zu mir saßen, notierte ich fast ohne Unterbrechung; wenn sie mir fast frontal gegen-übersaßen, notierte ich meist nicht unmittelbar nachdem sie sprachen, sondern verlegte das Schreiben in die Sprechphasen der Arbeitsvermittler oder in die Pausen, die entstanden, während sie den Computer bedienten. Kamen emotiona-le oder heikle Themen zur Sprache, legte ich auf häufig das Notizbuch weg und notierte das Wichtigste erst bei der nächsten Gelegenheit, die sich ergab. Wenn die Arbeitsvermittler mir etwas erzählten, dann schrieb ich nie direkt mit, son-dern wartete auf die nächste Gesprächspause, um das Erfahrene zu notieren.

Aber auch wenn ich in einem Gespräch permanent aufschreiben konnte, wechselte ich die Strategien des Notierens. Teilweise notierte ich das Gespro-chene (mit kleinen Auslassungen) wörtlich, was allerdings nicht in Echtzeit zu leisten war, und verpasste daher darauffolgende Sequenzen. So generierte ich genaue Detailbeschreibungen kleiner Sequenzen, die allerdings keine vollständi-gen Interaktionen umfassten. Bei anderen Gesprächen versuchte ich, alle Inhalte und nur einige markante Zitate zu notieren, um so ein möglichst vollständiges Bild eines Gesprächs aufzuzeichnen, das allerdings zu Lasten kleiner Details und

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genauer, wörtlicher Gesprächsabfolgen ging. Insgesamt füllte ich mehrere No-tizbücher mit Gesprächsmitschrieben, visuellen Situationsbeschreibungen, Per-sonenbeschreibungen, Skizzen von Räumen und Ad-hoc-Interpretationen. Am Nachmittag übertrug ich die handschriftlichen Notizen in den Computer und fer-tigte Feldnotizen aus diesen »Jottings« (Emerson/Fretz/Shaw 1995: 17ff.). Paral-lel zu diesen Feldnotizen fertigte ich bereits erste »Memos« (Strauss/Corbin 1996: 169ff.) an, in denen ich analytische Überlegungen zu meinen Beobachtun-gen festhielt und die später den Analyseprozess des Materials unterstützen soll-ten. Die Feldnotizen umfassen verschiedene Textsorten: (1) vor allem in den ers-ten Tagen: Beschreibungen der Räume und ihrer Ausstattung, der allgemeinen Arbeitsabläufe der Arbeitsvermittler, (2) Personenbeschreibungen von Arbeits-vermittlern und Klienten, (3) die bereits erwähnten Situations- und Interaktions-beschreibungen der Arbeitsvermittler-Klienten-Gespräche, (4) Erzählungen der Arbeitsvermittler über ihre Arbeit und ihre Klienten (sowohl an mich wie auch teilweise an Kollegen gerichtet) und (5) ein Feldtagebuch in Form von Beschrei-bungen meiner persönlichen Erlebnisse, Eindrücke und Gefühle. Letztere dien-ten dazu, meine eigene Rolle im Feld zu reflektieren und festzuhalten, wie sich meine Haltung gegenüber dem Feld veränderte. »Man stumpft eigentlich ganz schnell ab«, sagten einige Arbeitsvermittler anfangs zu mir, und in der Tat konn-te ich auch an mir selbst einen solchen Prozess beobachten. War ich anfangs insgeheim eher parteiisch mit den Klienten, so wandelte sich dies im Laufe der Zeit zu einer eher neutralen Position. Ich verstand die Perspektiven und Proble-me der Arbeitsvermittler, und die Gespräche hatten ihre Außeralltäglichkeit für mich verloren. War ich anfangs sehr betroffen gewesen über die Schicksale und die Hoffnungslosigkeit einiger Klienten, so begann ich nach und nach, diese zu akzeptieren, so wie auch die Arbeitsvermittler und die Klienten selbst dies taten.

Datenmaterial  und  Auswertung   Als ich das Jobcenter Spatenfeld verließ, hatte ich einen Datenkorpus von 240 Seiten Feldnotizen, der mehrfache Gespräche mit neun Arbeitsvermittlern und 73 Gespräche der Arbeitsvermittler mit 70 verschiedenen Klienten umfasste. Drei Klienten konnte ich also jeweils wiederholt beobachten. Darüber hinaus war es mir bei acht Klienten möglich, obwohl ich sie nur einmal traf, ihren In-teraktionsverlauf über mehrere Wochen zu verfolgen, indem mir die Arbeits-vermittler von darauffolgenden Treffen und Neuigkeiten bei ihnen berichteten. Des Weiteren erhielt ich von den Arbeitsvermittlern detaillierte Erzählungen der Fallgeschichten von 14 Klienten, die ich nicht kennenlernte. Abgesehen von meinen Feldnotizen bekam ich (jeweils geschwärzt) ein Einladungsschreiben,

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eine Eingliederungsvereinbarung und eine Zuweisung zu einer Maßnahme mit nach Hause. Ergänzt wird dieses Datenmaterial, das sich relativ einseitig an der Perspektive der Behörde orientiert, durch die bereits erwähnten 20 leitfadenge-stützten Interviews mit Jobcenter-Klienten aus einer anderen Stadt, die 2010 im Rahmen des YOUNEX-Projekts erhoben wurden und die somit als Gegenstück zu den Erzählungen der Arbeitsvermittler dienen.

Ethnographische Feldnotizen sind anders als Gesprächstranskripte, wie sie etwa die Konversationsanalyse verwendet. Im Gegensatz zu letzteren sind sie weniger genau und eignen sich daher nur begrenzt für eine sequenzanalytische Interpretation. Während Transkripte häufig im Nachhinein sprachlich geglättet werden, um sie überhaupt lesbar zu machen, werden Feldnotizen bereits durch das Hören und das erste Niederschreiben geglättet. Der Prozess des Verstehens durch den Forscher findet also bereits in der Situation statt, während er im Fall von Transkripten zunächst durch die Person angestoßen wird, die das Transkript anfertigt und schließlich durch die Forscher am Schreibtisch weitergeführt wird. Durch diesen frühen Einsatz der Interpretationsleistung setzt sich die Ethnogra-phie dem Vorwurf der Selektivität aus. Dessen ist sie sich allerdings stets be-wusst und betrachtet Daten nicht als objektive, natürliche Fakten, sondern als Erzeugnisse des Feldforschers, die zwangsläufig selektiv sind. Die Perspektivität des Forschers wird im Forschungsprozess reflektiert. Durch diese Reflektion und ein »künstliches Dummstellen« (R. Hitzler 1997) des Forschers gelingt es den-noch, den Beobachtungen eine analytische Tiefe zu geben, indem Abstraktionen und Kategorisierungen beim Aufschreiben vermieden werden und nur das detail-liert beschrieben wird, was tatsächlich hörbar, sichtbar oder anderweitig wahr-nehmbar ist (vgl. Emerson/Fretz/Shaw 1995: 68ff.). Konkret bedeutet dies: Vor-eilige Interpretationen verwehren dem Beobachter die Chance, sich überraschen zu lassen und Neues zu entdecken (Girtler 1992: 31). Insofern ist es auch in der Arbeits- und Sozialverwaltung sinnvoll, rechtliche, administrative und organisa-torische Vorkenntnisse, wo sie vorhanden sind, gedanklich zunächst einzu-klammern, um der Situation als Fremde beizuwohnen (vgl. zu diesem Problem auch Gottwald/Sowa/Staples 2017).

Darüber hinaus bietet das Eintauchen ins Feld der ethnographischen Metho-de anderen Datenerhebungsformen gegenüber – je nach Erkenntnisinteresse – auch Vorteile. Transkribierte Audioaufnahmen beziehen sich rein auf die akusti-sche Ebene der Interaktion und produzieren somit bisweilen mehrsekündige Auslassungen, die in der Analyse dann wegfallen, weil nicht hörbar kommuni-ziert wurde, obwohl genau diese Stelle möglichweise interaktiv höchst bedeut-sam war. So haben Sowa et al. (2013) gezeigt, dass die Beobachtung nonverba-ler Äußerungen für die Analyse von Gesprächen zwischen Arbeitsvermittlern

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und Klienten sehr aufschlussreich sein kann. Aber nicht nur Mimik und Gestik, sondern auch die (teilweise) lautlose Interaktion mit Objekten ist in bürokrati-schen Settings besonders relevant und gerät mit einer Beschränkung auf die rei-ne Akustik aus dem Blick. Smith (2001, 2005, 2006) hat immer wieder auf die Bedeutung von Texten für eine institutionelle Ethnographie hingewiesen. Texte vermitteln, regulieren und autorisieren institutionelles Handeln, weswegen den Praktiken des Lesens, Schreibens, Schauens und auch Zeigens eine tragende Rolle zukommt. In ihrer Beschränkung auf auditive verschriftlichte Daten hat die bisherige Forschung lediglich zeigen können, ob, wann und wie auf Texte und Objekte kommunikativ verwiesen wird (etwa das Telefon und der Computer in der Arbeitsvermittler-Klienten-Interaktion bei Böhringer et al. 2012), nicht aber, wie die Teilnehmer praktisch-physisch mit ihnen interagieren. Gegen diese beiden Argumente, nämlich die Fassbarkeit nonverbaler Äußerungen und der In-teraktion mit Objekten, könnte man nun einwenden, dass Viedeoaufzeichnungen das Mittel der Wahl sein könnten. Aber abgesehen von den praktischen Proble-men, die die Benutzung einer Kamera mit sich gebracht hätte (eine Hemmung der Teilnehmer, datenschutzrechtliche Probleme), war ein solches Vorgehen nie Zielsetzung der vorliegenden Arbeit. Denn anders als bereits vorliegende kon-versationsanalytische oder objektiv-hermeneutische Studien ist die Skalierung erheblich weniger fein: es geht hier weniger um Analysen der exakten Abbil-dungen von Situationen als vielmehr um ein Eintauchen in die Situationen und ihre Zusammenhänge, das auch das Davor und das Danach in den Blick nimmt.

Bei der Auswertung der Feldnotizen habe ich mich an dem Codierverfahren der Grounded Theory orientiert (Glaser/Strauss 2017a; Strauss/Corbin 1996). Zunächst habe ich die Texte offen codiert und parallel dazu weitere Memos ver-fasst. Beim offenen Codieren ist das Ziel, Fragen an das Material zu stellen und zu benennen, worum es eigentlich geht, um dann die gewonnenen Konzepte zu analytisch gehaltvollen Kategorien zu verdichten. Strauss und Corbin (1996: 56ff.) haben hierzu verschiedene Strategien vorgeschlagen, um die theoretische Sensibilität im Codierprozess zu erhöhen. Neben dem Stellen der grundlegenden Fragen (Wer? Wann? Wo? Was? Wie? Wieviel? Warum?) geht es auch um das Ziehen von Vergleichen, um den möglichen Bedeutungshorizont der Beobach-tungen zu erschließen. Gerade diese Technik habe ich bei der Analyse häufig benutzt – sowohl innerhalb des Materials als auch gedankenexperimentell –, weswegen Vergleiche in dieser Arbeit auch immer wieder auftreten, um die Spezifität eines Phänomens zu illustrieren (wie etwa der Streik des Computers oder die Verkaufsstrategien der Arbeitsvermittler). Eine weitere wichtige Strate-gie ist die Feinanalyse von Worten, Phrasen oder Sätzen. Zentrale wortgetreue Mitschriebe von Dialogen (und auch die zentralen Stellen der transkribierten In-

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terviews mit Klienten sowie einzelne Stellen aus offiziellen Dokumenten) habe ich Wort für Wort interpretiert (Strauss 2004; Soeffner 2004), während ich an anderen Stellen eher dazu übergegangen bin, die im Material gefundenen Kate-gorien zu dimensionalisieren und damit zu übergeordneten Analysekategorien zu kommen. Das Bilden der Kernkategorien ging zeitlich mit dem Prozess des of-fenen Codierens einher und führte mich dazu, ebenfalls parallel, wiederum in die Daten zurückzugehen und sie selektiv im Hinblick auf die später vorgefundenen Konzepte noch einmal zu überprüfen. Am Ende des Prozesses stand schließlich eine Reihe von Kategorien, die die Grundlage für den Entwurf der als Ethnogra-phie zu erzählenden Geschichten und Episoden stehen. Bei der Darstellung der Ergebnisse nutze ich einen Mittelweg zwischen dem ethnographischen Ge-schichtenerzählen und dem soziologischen Ausgehen von analytischen Katego-rien. Wenn das Material sich anbietet, nutze ich längere Passagen, um bestimmte Phänomene zu zeigen. Andere Phänomene zeigen sich nicht an einer Geschichte, sondern nur aus einem Vergleich verschiedener Situationen – das verbindende Element ist dann nicht die Geschichte, die sich entlang analytischer Probleme entwickelt, sondern ein analytisches Problem, das sich durch verschiedene Situa-tionen zieht.

Alle verwendeten Namen von Personen und Orten sind Pseudonyme. Die Klienten habe ich bereits beim Schreiben der Feldnotizen mit Phantasienamen versehen, die allerdings mit ihrem Geschlecht und ihrer ethnischen Herkunft übereinstimmen. Darüber hinaus habe ich auch bei längeren biographischen Er-wähnungen der Klienten teilweise die Lebenssituation, das Alter, die ausgeübten Berufe und Tätigkeiten leicht abgewandelt. Alle genannten Namen von Firmen, Arbeitgebern oder anderen beteiligten Personen wie Sozialarbeitern oder Be-treuern sind ebenfalls pseudonymisiert. Die Arbeitsvermittler haben ihre echten Namen in den Feldnotizen noch behalten, um nicht den Überblick zu verlieren. Beim Schreiben der Arbeit habe ich auch ihre Namen schließlich verändert, und zwar so, dass bei jedem Beispiel aus dem Material ein neuer Name verwendet wird. Wenn im Folgenden also sehr viele verschiedene Namen von Arbeitsver-mittlern auftauchen, bedeutet dies nicht, dass ebenso viele Personen beteiligt gewesen wären. Das verwendete Material bezieht sich stets nur auf die neun von mir begleiteten Vermittler. Um allerdings aus dem Zusammenhang einer Reihe von beschriebenen Situationen und Aussagen Rückschlüsse auf die Person zu vermeiden (etwa durch Kollegen oder Vorgesetzte), habe ich die Strategie der ständigen Neubenennung gewählt und teilweise auch das Geschlecht verändert. Da die Arbeit eine Darstellung von generellen Praktiken und Handlungsproble-men anstrebt und nicht deren Typisierung oder Erklärung durch soziale Fakto-

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ren, halte ich dieses Anonymisierungsverfahren für methodisch vertretbar, um den Arbeitsvermittlern einen größtmöglichen Schutz zu gewährleisten.

1.3   AUFBAU  DER  ARBEIT   Der Aufbau der folgenden empirischen Teile der Arbeit folgt einer zeitlichen Logik und ist unterteilt in die Phasen vor dem Gespräch, im Gespräch und nach dem Gespräch, wobei im Gespräch den Hauptteil der empirischen Analyse bil-det. Vor dem Gespräch (Kap. 2) geht es zunächst um die räumliche Ordnung des Jobcenters (2.1) und um die Einspeisung der Klienten in die Wissensordnung des Jobcenters (2.2). In einem kurzen Fazit werden diese beiden Ordnungen mit-einander in Beziehung gesetzt und mögliche Folgen für die direkte Interaktion diskutiert (2.3). Kapitel 3 betrachtet nun die Gespräche selbst und interessiert sich für die zugrundeliegende Interaktionsordnung. Es geht dabei entlang der drei theoretisch erarbeiteten Dimensionen vor: Selbst-Darstellung, Aushandlung und Materialität. Zunächst geht es um die Leistung der Schrift und deren Trä-gern in der Interaktion und die damit verbundenen Handlungsprobleme und -strategien (3.1). Im Anschluss beschreibe ich, wie sich die Klienten und die Ar-beitsvermittler im Gespräch entlang antizipierter Erwartungen selbst darstellen (3.2). Der dritte Teil (3.3) geht schließlich der Frage nach, wie die Bedingungen für eine Kooperation der Teilnehmer ausgehandelt werden und welche Strate-gien sie dabei anwenden, bevor ein Fazit die Beobachtungen des Kapitels zu ei-nem Entwurf der Interaktionsordnung zusammenfasst (3.4). Das dritte empiri-sche Kapitel (4) betrachtet die Teilnehmer nach dem Gespräch. Dabei geht es ei-nerseits um die folgenden Arbeitsschritte und Handlungsprobleme der Arbeits-vermittler (4.1) und andererseits um die Deutungen und Problemdefinitionen der Klienten (4.2). Ein Fazit fasst die beiden Perspektiven schließlich zusammen und nimmt an den Erarbeitungen der Wissens- und Interaktionsordnung Ergän-zungen vor, die in der Frage nach Macht und Gegenmacht münden (4.3). Im Schlussteil der Arbeit (Kap. 5) werden nach einer Zusammenfassung der Ergeb-nisse (5.1) mögliche Anschlüsse an aktuelle Debatten der Soziologie vorgestellt. Zunächst geht es um eine Diskussion des entwickelten Forschungsprogramms und seinen sozialtheoretischen Folgen für die Analyse des Verhältnisses von Or-ganisation, Interaktion und subjektivem Sinn (5.2). Dann werden die Ergebnisse mit zwei gesellschaftstheoretischen Themen in Bezug gesetzt – es geht um ihren Beitrag zur Aktivierungsdebatte (5.3) und zur Macht- und Herrschaftssoziologie (5.4).