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1 Forensische Entomologie: Eine präzise Methode zur Leichenliegezeitbestimmung und Straftatenaufklärung mit Grenzen Fachbereich Polizeivollzugsdienst Fachhochschule für öffentliche Verwaltung des Landes Nordrhein – Westfalen Bachelor – Thesis vorgelegt von: Paula Grafe geb. am: 21.12.1988 in Waldbröl Kurs: P 09/13 Einstellungsjahrgang 2009 Einstellungsbehörde Polizeipräsidium Köln Erstgutachterin: Michaela Mohr Zweitgutachterin: Gabriele Eickhoff Windeck, den 23.05.2012

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Forensische Entomologie: Eine präzise Methode zur

Leichenliegezeitbestimmung und Straftatenaufklärung mit

Grenzen

Fachbereich Polizeivollzugsdienst

Fachhochschule für öffentliche Verwaltung des Landes Nordrhein – Westfalen

Bachelor – Thesis

vorgelegt von:

Paula Grafe

geb. am: 21.12.1988 in Waldbröl

Kurs: P 09/13

Einstellungsjahrgang 2009

Einstellungsbehörde Polizeipräsidium Köln

Erstgutachterin: Michaela Mohr

Zweitgutachterin: Gabriele Eickhoff

Windeck, den 23.05.2012

  2

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

1.1 Fragestellung und Ziel der Arbeit ............................................................... 4 – 5

1.2 Begriffsbestimmung ................................................................................... 5 – 7

1.3 Historischer Überblick ................................................................................ 7 – 9 2. Präzise Leichenliegezeitbestimmung und Straftatenaufklärung anhand der

Untersuchung von Insekten

2.1 Frühe Leichenerscheinungen

2.1.1 Totenflecke (Livores) ........................................................................... 9

2.1.2 Totenstarre (Rigor mortis) ............................................................ 9 – 10

2.1.3 Abkühlung der Leiche (Algor mortis) ................................................ 10

2.1.4 Vertrocknung ...................................................................................... 10

2.1.5 Supravitale Reaktionen ....................................................................... 11

2.2 Späte Leichenerscheinungen

2.2.1 Autolyse, Fäulnis und Verwesung ...................................................... 11

2.2.2 Mumifizierung und Fettwachsbildung

(Leichenlipid, Adipocire) ........................................................... 11 – 12

2.2.3 Tierfraß ............................................................................................... 12

2.3 Insektensukzession an Leichen ............................................................... 12 – 14

2.4 Entomologisch bedeutsame Fliegenarten ............................................... 14 – 15

2.4.1 Familie: Calliphoridae (Schmeißfliege) ............................................. 15

2.4.1.1 Art: Calliphora vicina (blaue Schmeißfliege) ............... 15 – 16

2.4.1.2 Art: Lucilia sericata

(Goldfliege oder grüne Schmeißfliege) ................................ 16

2.4.2 Familie: Sarcophagidae (Fleischfliege) ...................................... 16 – 17

2.4.2.1 Art: Sarcophaga carnia (graue Fleischfliege) ....................... 17

2.4.3 Familie: Muscidae (Stubenfliege oder echte Fliege) .................. 17 – 18

2.4.3.1 Art: Musca domestica (Hausfliege oder

gemeine Stubenfliege) .......................................................... 18

2.5 Entwicklungszyklus nekrophager Fliegen .............................................. 18 – 20

2.6 Artbestimmung ....................................................................................... 20 – 21

2.6.1 Artbestimmung mittels Larven ................................................... 21 – 22

2.6.2 Artbestimmung mittels Puppen .......................................................... 22

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2.6.3 Artbestimmung mittels DNA – analytischer Untersuchung ....... 22 – 23

2.7 Methoden zur Bestimmung der Leichenliegezeit ................................... 23 – 30

2.8 Asservierung

2.8.1 Auffinden entomologischer Spuren .................................................... 30

2.8.2 Sicherung entomologischer Spuren ............................................ 30 – 31

2.9 Straftatenaufklärung mithilfe von Insekten

2.9.1 Nachweis einer Vernachlässigung .............................................. 31 – 32

2.9.2 Leichenverlagerung und postmortale Spurenmanipulation ........ 32 – 33

2.9.3 Nachweis und Typisierung menschlicher DNA ................................. 33

2.9.4 Entomotoxikologie ..................................................................... 33 – 34 3. Grenzen der Forensischen Entomologie

3.1 Einflussfaktoren auf den Entwicklungszyklus nekrophager Insekten

3.1.1 Umwelteinflüsse ........................................................................ 34 – 35

3.1.2 Drogen ....................................................................................... 35 – 39

3.2 Fehlerquellen der entomologischen Leichenliegezeitbestimmung ........ 39 – 40 4. Fazit .................................................................................................................. 40 – 43

5. Literaturverzeichnis ......................................................................................... 44 – 45

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1. Einleitung

1.1 Fragestellung und Ziel der Arbeit

Mehr als einhundert Gliederfüßlerarten (Arthropoden) dient der Leichnam eines

Menschen als Nahrungsquelle, Brutstätte und Lebensraum.1 Diesen Umstand nutzen

Forensische Entomologen zur Klärung kriminalistisch relevanter Fragestellungen. Wo

die Leichenliegezeit mithilfe der Rechtsmedizin bereits 24 – 48 h nach Todeseintritt

nicht mehr zufriedenstellend eingegrenzt werden kann, soll die Forensische

Entomologie 4 – 6 Wochen nach Todeseintritt noch eine auf den Tag genaue Aussage

ermöglichen.2 Wie dieses Verfahren funktioniert und ob es tatsächlich eine präzise

Bestimmung der Leichenliegezeit ermöglicht, ist Thema dieser Arbeit.

Zu Beginn werden die frühen- und späten Leichenerscheinungen erläutert.

Anschließend erfolgen die Thematisierung der Insektensukzession an einem toten

Körper und die Vorstellung der forensisch entomologisch bedeutsamen Fliegenarten,

mit deren Hilfe die Leichenliegezeit berechnet wird. Die Vermittlung des Ablaufs einer

Metamorphose der Fliegenarten bietet die notwendigen Grundlagen, um die Verfahren

zur Berechnung der Liegezeit einer Leiche nachvollziehen zu können.

Ziele der Arbeit sind folglich die Vermittlung der Methode der Forensischen

Entomologie und die Untersuchung der Aussage, ob es sich tatsächlich um eine präzise

Methode zur Leichenliegezeitbestimmung handelt.

Weiterhin sollen Insekten, neben der Leichenliegezeitbestimmung, auch die Aufklärung

von Straftaten ermöglichen. Inwiefern diese Behauptung zutrifft und zuverlässige

Ergebnisse ermöglicht, ist ein weiterer Untersuchungsgegenstand der Arbeit.

Wie alle Disziplinen, die mit biologischen Systemen arbeiten, sieht sich auch die

Forensische Entomologie mit dem Problem der natürlichen Variabilität konfrontiert.3

Es sind zahlreiche Parameter vorstellbar, die den zeitlichen Ablauf der

Insektenbesiedlung und -entwicklung beeinflussen und eine fehlerhafte Bestimmung der

Liegezeit einer Leiche zur Folge haben können. Aus diesem Grund stellt die Verfasserin

in der vorliegenden Arbeit die These auf, das es sich um eine Methode zur

Leichenliegezeitbestimmung und Straftatenaufklärung mit Grenzen handelt. Das

Aufzeigen der Grenzen ist ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit.

                                                                                                               1 Vgl. Benecke, Mark: Besiedlung durch Gliedertiere. In: Brinkmann, Bernd/Madea, Burkhard (Hrsg.): Handbuch gerichtliche Medizin, Berlin/Heidelberg 2004, S. 170. 2 Vgl. Amendt, Jens/Klotzbach, Heike/Krettek, Roman: Forensische Entomologie. In: Rechtsmedizin, 2004, Bd. 14, S. 128.  3    Vgl. Amendt, Jens: Forensische Entomologie. In: Herrmann, Bernd/Saternus, Klaus – Steffen (Hrsg.): Kriminalbiologie, Bd. 1., Berlin/Heidelberg 2007, S. 241.  

  5

Die kriminalistische Insektenkunde ist eine gedeihende Forschungsdisziplin. Mit hoher

Wahrscheinlichkeit wird sie in wenigen Jahren dem festen Inventar spurenkundlicher

Arbeiten angehören, um die mehreren hundert Leichen pro Jahr mit Madenbefall

fachgerecht untersuchen zu können. Die Verbesserung vorhandener und die

Entwicklung neuer Verfahren sowie eine hohen Ansprüchen genügende

Qualitätssicherung bei der Probenentnahme und -auswertung, versuchen das Problem

der natürlichen Variabilität einzudämmen.4

Leider gibt es auf dem Gebiet der Forensischen Entomologie nur wenige Experten in

Deutschland. Die Literaturrecherche gestaltete sich daher zunächst als schwierig. Über

Fernbestellungen der Universitäten und die Mithilfe zweier Experten, konnte ein

zufriedenstellendes Ergebnis der Literaturauswahl erzielt werden.

1.2 Begriffsbestimmung

Als ‚Thanatologie’ (griech. Thanatos – Tod) wird die Wissenschaft vom Tod und seinen

Erscheinungsformen bezeichnet. Die ‚Taphonomie’ (griech. taphos – Grab) beschäftigt

sich mit den Prozessen, die nach dem Tod auf Organismen einwirken. Diese Prozesse

werden als postmortale Leichenerscheinungen bezeichnet.5

Dem Tod eines Organismus geht immer eine Sterbephase (Agonie) voraus, die den

Funktionsverlust lebenswichtiger Organsysteme zur Folge hat. Im Vordergrund steht

der Zusammenbruch des Herz – Kreislauf – Systems, der Atemtätigkeit und des

Zentralen Nervensystems (ZNS).6

Der sogenannte ‚klinische Tod’ ist bei Fehlen von Puls, Herzreaktion und Atmung

sowie bei Vorliegen weiter und lichtstarrer Pupillen eingetroffen. Durch Reanimation ist

dieser für wenige Minuten rückgängig zu machen (reversibel). Der nicht rückgängig zu

machende (irreversible) Zusammenbruch des Herz – Kreislauf – Systems, der

Atemtätigkeit und des ZNS, wird ,Individualtod’ genannt. Er wird durch das Auftreten

sicherer Todeszeichen oder den Nachweis des Hirntods festgestellt. Vereinzelt weisen

Zellen und Gewebe nach dem Individualtod noch für kurze Zeit (Stunden bis Tage)

Leben auf. Diese Vorgänge werden als ‚Intermediäres Leben’ bezeichnet. Über den

Individualtod hinaus können Reize auf Gewebe noch Reaktionen auslösen. Diese

                                                                                                               4 Vgl.  Amendt: Forensische Entomologie, S. 241.  5 Vgl. Grassberger, Martin/Schmid, Harald: Todesermittlung Befundaufnahme und Spurensicherung. Ein praktischer Leitfaden für Polizei, Juristen und Ärzte, Wien 2009, S. 25.  6 Vgl. Dettmeyer, Reinhard B./Verhoff, Marcel A.: Rechtsmedizin, Heidelberg 2011, S. 7.  

  6

bezeichnet man als ‚supravitale Reaktionen’. Der ‚biologische Tod’ (Organtod) ist

eingetroffen, wenn schließlich auch die supravitalen Reaktionen erloschen sind.7

Als unproblematisch gestaltet sich die Feststellung des Todes bei Vorliegen mindestens

eines sicheren Todeszeichens. Sichere Todeszeichen sind Totenflecke (Livores),

Totenstarre (Rigor mortis), Fäulnis, mit dem Leben unvereinbare Verletzungen oder

Zerstörungen des Körpers sowie die Feststellung des Hirntods.8 Unsichere Todeszeichen

sind fehlende Reflexe, fehlende Atmung, fehlende Herztätigkeit, weite und lichtstarre

Pupillen und eine abgesunkene Körperkerntemperatur.9

Als ‚Todeszeit’ wird die seit dem Zeitpunkt des Todeseintritts verstrichene Zeit

bezeichnet. Für die Interessen der forensisch kriminalistischen Todeszeitbestimmung

beschränkt sich diese auf den Zeitpunkt des irreversiblen Herzstillstandes.10 Während

der ersten kriminalistischen Ermittlungen ist die Kenntnis über die mutmaßliche

Todeszeit von großer Bedeutung, zum Beispiel für die Überprüfung der Alibiangaben

Verdächtiger, der Schuldform- und Fähigkeit nach Drogenkonsum oder der

Rekonstruktion der Tat.11

In der frühen postmortalen Phase erfolgt die Bestimmung der Todeszeit anhand der

Untersuchung der frühen Leichenerscheinungen, wie der Ausprägung, Wegdrückbarkeit

und Umlagerbarkeit der Totenflecke (Livores), dem Eintritt, der Ausprägung und

Lösung der Totenstarre (Rigor mortis), der Abkühlung der Leiche (Algor mortis) und

der Untersuchungen der supravitalen Reaktionen. Hierbei können Untersuchungen der

mechanischen und elektrischen Erregbarkeit der Muskulatur und der chemischen

(pharmakologischen) Erregbarkeit der Irismuskulatur (Pupillenreaktion) Auskunft über

die Todeszeit geben.

In der späten postmortalen Phase erfolgt die Ermittlung der Todeszeit anhand der Art

und Ausprägung der späten Leichenerscheinungen, der kriminalistischen

Ermittlungsergebnisse und der Besiedlung durch Insekten und deren

Entwicklungsstadien (Forensische Entomologie).12

Da Insekten die größte Gruppe aller Lebewesen der Erde darstellen, könne sie an jedem

Leichenfundort angetroffen und für die Leichenliegezeitbestimmung herangezogen

werden.

                                                                                                               7 Vgl. Grassberger/Schmid: Todesermittlung Befundaufnahme und Spurensicherung, S. 25 f.  8 Vgl. ebd., S. 27.  9 Vgl. Dettmeyer/Verhoff: Rechtsmedizin, S. 9.  10 Vgl. Weinig, Emil/Berg, Steffen (Hrsg.): Methoden zur Bestimmung der Todeszeit an Leichen, Bd. 18., Lübeck 1988, S. 11.  11 Vgl. Clages, Horst (Hrsg.): Kriminaltechnik II, Bd. 3., 3. Aufl., Hilden 2008, S. 77.  12 Vgl. Grassberger/Schmid: Todesermittlung Befundaufnahme und Spurensicherung, S. 41.  

  7

Das sich mit diesen Fragestellungen befassende Spezialgebiet ist das der Forensischen

Entomologen. 13 Der Terminus ‚Forensische Entomologie’ setzt sich aus dem

Lateinischen und dem Griechischen zusammen. Der Begriff ‚Forensik’ bedeutet

‚gerichtlich’ und stammt von dem lateinischen Wort (in foro – vor der Öffentlichkeit,

vor dem Gericht) ab. Das Wort ‚Entomologie’ stammt aus dem Griechischen und

bedeutet ‚Insektenkunde’ (entomos – eingeschnitten, gekerbt/éntomon – Kerbtier).14

Der Begriff Forensische Entomologie bedeutet somit übersetzt ,gerichtlich angewandte

Insektenkunde’.

1.3 Historischer Überblick

Dass Leichen bestimmten Arten von Insekten als Nahrungsquelle dienen, ist schon seit

langer Zeit bekannt. Bereits 1767 schrieb der schwedische Biologie Carl von Linné,

dass drei Fliegen den Leichnam eines Pferdes ebenso schnell verspeisen können wie ein

Löwe. Seit langer Zeit ist auch belegt, dass Maden erhebliche Leichenzerstörungen

hervorrufen.15

Im 13. Jahrhundert verfasste der chinesische Jurist Sung T’zu den ersten Fallbericht zur

kriminalistisch angewandten Insektenkunde. Hierin schildert er die Aufklärung eines

Mordes, welcher in der Nähe eines Reisfeldes stattgefunden hatte.16 Die Stichwunden

am Körper des Mannes sprachen dafür, dass es sich bei der Tatwaffe um eine Sichel

gehandelt hatte. Die Frau des Opfers gab an, dass ihr Mann keine Feinde, sondern

lediglich einen unverdächtigen Schuldner gehabt habe. Daraufhin berief der Ermittler

alle Arbeiter des Dorfes zum Dorfplatz und ließ sie ihre Sicheln vor sich ausbreiten. Auf

eine der Sicheln setzten sich augenblicklich Schmeißfliegen ab, die die unsichtbaren

Gewebereste an der Sichel gerochen hatten. Der Besitzer der Sichel brach daraufhin

zusammen und gestand die Tat. Es war der Schuldner des Opfers.17

In den darauf folgenden Jahrhunderten entstanden zahlreiche Bilder und Skulpturen mit

detailgetreuen Abbildungen und Darstellungen der Besiedlungsmuster von Insekten auf

Faulleichen.18 In dem Bilddokument ‚der Totentänzer’ aus dem 16. Jahrhundert werden

musizierende und tanzende Leichen dargestellt, die mit Maden befallen sind.

Auch spätmittelalterliche Grabplatten bilden zum Teil sehr detailliert die                                                                                                                13 Vgl. Grassberger/Schmid: Todesermittlung Befundaufnahme und Spurensicherung, S. 52.  14 Vgl. Jäkel, Judith: Leichenliegezeitbestimmung mittels Forensischer Entomologie. Fachhochschule Polizei Sachsen – Anhalt, Diplomarbeit 2008, S. 15.  15 Vgl. Benecke, Mark: Kriminalbiologie, Bd. 25., 2. Aufl., Bergisch Gladbach 2001, S. 22 f.  16 Vgl. Ders., Besiedlung durch Gliedertiere, S. 171.  17 Vgl. Ders., Kriminalbiologie, S. 27 ff.  18 Vgl. Ders., Besiedlung durch Gliedertiere, S. 171.  

  8

Insektenbesiedlung auf Leichen ab. So ermöglicht die im Kölner Schnütgen Museum

ausgestellte kleine Elfenbeinleiche ‚das Skelett in der Tumba’ aus dem 16. Jahrhundert

noch heute die Bestimmung der geschnitzten Schmeißfliegenmaden.19

Lange Zeit wurden die Insekten bei kriminalistischen Ermittlungen nicht berücksichtigt,

denn den Menschen fehlte das Wissen über den Zusammenhang zwischen dem Tod und

der Insektenbesiedlung. Im Mittelalter glaubte man, dass das Leben aus der Materie

selber entstehe. Maden in faulendem Fleisch waren das diese Annahme belegende

Beispiel.

Francesco Redi erbrachte schließlich im 17. Jahrhundert den wissenschaftlichen

Nachweis über den Zusammenhang zwischen Larven in verwesendem Gewebe und

einer zuvor erfolgten Eiablage durch Fliegen.20

Bis zur Entwicklung einer forensischen Insektenkunde verging jedoch noch einige Zeit,

denn das Wissen der Menschen über den Entwicklungszyklus eines Insekts war nur

rudimentär vorhanden.

Im Jahre 1894 gab der Franzose Mégnin mit seinem Werk „La faune des cadavres“ den

endgültigen Startschuss zur Erfassung und Auswertung des Insektenbefalls auf

menschlichen Leichen. Im Mittelpunkt stand immer die Frage, ob Insekten eine

Eingrenzung des Todeszeitpunktes ermöglichen.

Nachdem inzwischen ausführliche Kenntnisse über den Entwicklungszyklus der Fliegen

vorlagen, beschrieb von Hofmann den ersten Fall, bei dem die Analyse nekrophager

Insekten auf Leichen die Eingrenzung der Leichenliegezeit ermöglichte.

Einflussfaktoren wie die Temperatur auf das Insektenwachstum und die Unterschiede

zwischen den einzelnen Fliegenarten wurden nicht in die Berechnungsgrundlagen

miteinbezogen, aber dennoch belegen die zitierten historischen Quellen, dass die

Forensische Entomologie bereits vor mehr als einhundert Jahren zur

Leichenliegezeitbestimmung herangezogen wurde.

Die Weiterentwicklung und Etablierung der Disziplin scheiterte an der fehlenden

Nutzung der Ansätze und einer lange Zeit nicht denkbaren Zusammenarbeit zwischen

der Biologie und der Rechtsmedizin. Beendet haben die Phase erste entomologische

Arbeiten von Zumpt (1965) und Schumann (1971), die präzise Bestimmungsschlüssel

und Kenntnisse über die Biologie und Ökologie der Insektenarten lieferten sowie erste

forensisch entomologische Arbeiten im europäischen (Nuorteva 1977, Leclerq 1983)

und angloamerikanischen Raum (Erzinglioglu 1983, Smith 1986, Catts und Haskell

                                                                                                               19 Vgl. Benecke: Kriminalbiologie, S. 22 f.  20 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 222.  

  9

1990, Greenberg 1990, Goff und Flynn 1992), die forensische Fragestellungen und

Untersuchungen aufgriffen.

Heute befindet sich die Forensische Entomologie weltweit seit circa zwanzig Jahren im

Aufwind.21

2. Präzise Leichenliegezeitbestimmung und Straftatenaufklärung anhand der

Untersuchung von Insekten

2.1 Frühe Leichenerscheinungen

2.1.1 Totenflecke (Livores)

Das am frühesten auftretende sichere Todeszeichen sind die Totenflecke (Livores).

Mit Nachlassen der vis a tergo (Herzkraft) sinkt das Blut der Schwerkraft entsprechend

in die unten liegenden (abhängigen) Körperpartien. Dieser Vorgang wird als

Senkungsblutfülle bezeichnet. Die mit dem bloßen Auge wahrnehmbaren Totenflecke

entstehen durch Senkungsblutfülle in den Kapillaren der Lederhaut. Zunächst sind sie

als kleine, hellrote Flecke (Roseolen) sichtbar, die mit zunehmender Todeszeit

ineinander fließen (konfluieren) und größere Areale bilden.22

An den Aufliegestellen der Leiche entstehen Aussparungen der Livores, da der

hypostatische (schwerkraftbedingte) Druck niedriger ist als der Aufliegedruck. Bei

einem in Rückenlage liegenden Leichnam bilden sich diese schmetterlingsförmig an

den Schulterblättern, dem Gesäß sowie in Hautfalten und an Stellen mit eng anliegender

Kleidung.23

Im Zuge des Sauerstoffverbrauchs weisen unauffällige Totenflecke eine blau – livide

Färbung auf.24

2.1.2 Totenstarre (Rigor mortis)

In der Zeitabfolge tritt als zweites sicheres Todeszeichen die Totenstarre (Rigor mortis)

ein. Durch den irreversiblen Kreislaufstillstand erschlafft die Muskulatur nach dem Tod

zunächst vollständig. 25 In der Muskelfasern eines Menschen lappen Aktin- und

                                                                                                               21 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 222 f.  22 Vgl. Henßge, Claus/Madea, Burkhard: Leichenerscheinungen und Todeszeitbestimmung. In: Brinkmann, Bernd/Madea, Burkhard (Hrsg.): Handbuch gerichtliche Medizin, Berlin/Heidelberg 2004, S. 106 f.  23 Vgl. ebd., S. 107.  24 Vgl. Grassberger/Schmid: Todesermittlung Befundaufnahme und Spurensicherung, S. 29.  25 Vgl. Henßge/Madea: Handbuch gerichtlicher Medizin, S. 97.  

  10

Myosinfilamente übereinander. Bei einer Muskelkontraktion entsteht ein gegenseitiger

Verschiebemechanismus dieser Filamente, welcher durch Myosin – Querbrücken

zwischen den Filamenten, an dessen Ende die Myosinköpfchen sitzen, ermöglicht wird.

Bei einer Kontraktion des Muskels kippen die Myosinköpfchen ab und gleiten an den

Aktinfilamenten entlang.

Die zur Lösung der Querbrücken notwendige Energie wird durch das

Adenosintriphosphat (ATP) bereitgestellt.26 Der ATP Verbrauch kann nach dem Tod

durch Resynthese von ATP aus Adenosindiphosphat (ADP) aufrecht erhalten werden,

kommt schließlich jedoch zum Erliegen. Ist der ATP – Spiegel unter 85 % der

Ausgangskonzentration gesunken, haften die Querbrücken dauerhaft an den

Aktinfilamenten. Dann gehen Aktin und Myosin eine starre Verbindung miteinander ein

und die Totenstarre beginnt sich auszubilden.27

2.1.3 Abkühlung der Leiche (Algor mortis)

Die Abkühlung der Leiche (Algor mortis) bildet neben den Totenflecken und der

Totenstarre den bedeutsamsten Befund für die Bestimmung des Todeszeitpunktes in der

frühen postmortalen Phase.28 Die Stoffwechselprozesse und die Wärmeproduktion eines

Körpers kommen mit dem Tod zum Erliegen. Hierdurch kommt es zur Auskühlung des

Leichnams und einer Angleichung an die Umgebungstemperatur.29

Die Körperkerntemperatur sinkt jedoch nicht sofort. Zunächst bildet sich ein

Temperaturplateau von 2 – 3 Stunden. Nach dem Ablauf des Plateaus sinkt die

Temperatur des Körperkerns bei einer Zimmertemperatur und einer durchschnittlichen

Bekleidung um circa 1 o C/Stunde.30

2.1.4 Vertrocknung

Unabhängig von der Luftbewegung, Luftfeuchtigkeit und Wärme, kommt es zur

Vertrocknung der Haut und Schleimhäute. In Bereichen von Hautabschürfungen

und/oder Hautkompressionen kommt es ebenfalls zu Vertrocknungen, welche gelb –

braun bis braunrot gefärbt und lederartig verhärtet sind.31

                                                                                                               26 Vgl. Weinig/Berg: Methoden zur Bestimmung der Todeszeit an Leichen, S. 98.  27 Vgl. Keil, Wolfgang: Basics Rechtsmedizin, 1. Aufl., München 2009, S. 4.  28 Vgl. Dettmeyer/Verhoff: Rechtsmedizin, S. 14.  29 Vgl. Grassberger/Schmid: Todesermittlung Befundaufnahme und Spurensicherung, S. 33.  30 Vgl. Penning, Randolph: Rechtsmedizin systematisch, 2. Aufl., Bremen 2006, S. 24.  31 Vgl. Grassberger/Schmid: Todesermittlung Befundaufnahme und Spurensicherung, S. 33.  

  11

2.1.5 Supravitale Reaktionen

Die mechanische Reizungen der quergestreiften Muskulatur, insbesondere der

mimischen Muskulatur des Gesichts sowie die pharmakologische (chemische) Reizung

der glatten Muskulatur der Iris, sind die für die Bestimmung der Leichenliegezeit

wichtigsten supravitalen Reaktionen.32

2.2 Späte Leichenerscheinungen

2.2.1 Autolyse, Fäulnis und Verwesung

Unter dem Begriff der Autolyse werden Leichenerscheinungen zusammengefasst, bei

denen die Zersetzung organischer Strukturen ohne bakterielle Beteiligung, sondern

durch körpereigene Enzyme stattfindet.33

Bei der Fäulnis handelt sich um einen teils aerob (Sauerstoff benötigenden) und teils

anaeroben (keinen Sauerstoff benötigenden) bakteriellen Zersetzungsprozess des

Körpers, der durch Wärme und Feuchtigkeit begünstigt wird. Nach circa 1 – 2 Tagen ist

eine Grünfärbung der Haut feststellbar, regelmäßig beginnend im rechten Unterbauch.

Nach circa 3 – 5 Tagen kommt es durch Hämolyse in den Venen und der Ausbreitung

von Bakterien über das Blut zum Durchschlagen des Venennetzes.34 Nach circa 7 – 14

Tagen entstehen zwischen der Oberhaut und der Lederhaut Fäulnisblasen. Gleichzeitig

kommt es zur Bildung von Fäulnisgasen. Schließlich wird der gesamte Körper durch

Fäulnisgase aufgetrieben. Fäulnis und Verwesung sind sich in der Regel zeitlich

überlappende Leichenerscheinungen. Die Zersetzung eines Körpers erfolgt zunächst

innerlich durch Fäulnis, später durch Verwesung. Durch Madenfraß werden tiefe

Körperschichten belüftet. Dies begünstigt den aeroben Zersetzungsprozess, welcher im

Gegensatz zur anaeroben Fäulnis als Verwesung bezeichnet wird. Die Skelettierung

eines Körpers bedeutet das Ende dieser Zersetzungsprozesse.35

2.2.2 Mumifizierung und Fettwachsbildung (Leichenlipid, Adipocire)

Fehlt die Feuchtigkeit für ein bakterielles Wachstum, kommt es zur lederartig derben

Vertrocknung der Haut. Durch raschen Wasserentzug, in der Regel durch trockenen

                                                                                                               32 Vgl. Dettmeyer/Verhoff: Rechtsmedizin, S. 10.  33 Vgl. Weinig/Berg: Methoden zur Bestimmung der Todeszeit an Leichen, S. 203.  34 Vgl. Dettmeyer/Verhoff: Rechtsmedizin, S. 17.  35 Vgl. Grassberger/Schmid: Todesermittlung Befundaufnahme und Spurensicherung, S. 35 ff.  

  12

Luftzug bei heißer oder kalter Luft, kommt es zur Konservierung des Leichnams.

An mumifizierten Leichen können noch nach Jahren zahlreiche Befunde erhoben

werden.

Unter feuchten und anaeroben Bedingungen kann es hingegen zur Fettwachsbildung

(Leichenlipid, Adipocire) kommen. Dabei wird das Körperfettgewebe in Fettwachs

transformiert. Dieser Prozess benötigt mindestens 1 – 6 Monate, in der Regel jedoch

Jahre.36

2.2.3 Tierfraß

Nicht nur bei längerem Liegen im Freien, sondern auch bei Leichen, die in Wohnungen

aufgefunden werden, ist mit Tierfraß zu rechnen. Besonders wahrscheinlich ist Tierfraß

bei Leichen, die in verwahrlosten Wohnungen (Rattenfraß in Baracken) oder in

Wohnungen liegen, in denen Haustiere (zum Beispiel Katzen) gehalten werden. Am

weitaus häufigsten handelt es sich jedoch um Insektenfraß.37

2.3 Insektensukzession an Leichen

Die Zersetzung eines Leichnams erfolgt über mehrere Stadien. Je nach Leichenliegeort

und Umwelteinflüssen können diese stark variieren. In der Regel ist aber immer eine

grobe Klassifizierung möglich.

Der aktuelle Erkenntnisstand geht von vier grundlegenden Stadien der

Leichenzersetzung aus. Das erste Stadium lautet ‚frisch tot’, das zweite ‚gasgebläht mit

beginnender Verwesung’, das dritte ‚fortgeschrittene Verwesung’ und das vierte

Stadium ‚skelettiert oder vertrocknet’.38

Das erste Stadium ‚frisch tot’ beginnt mit dem Eintritt des Todes und endet mit der

durch innere Fäulnisprozesse hervorgerufenen Blähung des Leichnams.

Charakteristisch für das zweite Stadium ‚gasgebläht mit beginnender Verwesung’ ist

das Durchschlagen des Venennetzes, eine stark geblähte Leibeshöhle und der Austritt

von Flüssigkeit in Form von blutigem Schaum aus dem Mund und der Nase.

                                                                                                               36 Vgl. Dettmeyer/Verhoff: Rechtsmedizin, S. 18 f.  37 Vgl. Grassberger/Schmid: Todesermittlung Befundaufnahme und Spurensicherung, S. 38.  38 Vgl. Voigt, Frieder/Lederer, Markus/Bodach, Ronny: Forensische Entomologie – Leichenliegezeitbestimmung anhand der

Auswertung von Leicheninsekten am Beispiel einer Referenzverwesung im mitteleuropäischen Raum. Hochschule der Sächsischen Polizei, Diplomarbeit 2009, S. 57 f.  

  13

Das dritte Stadium ‚fortgeschrittene Verwesung’ wird gekennzeichnet durch eine starke

Gasfreisetzung und das Einsinken des zuvor gasgeblähten Unterleibes. Hervorgerufen

wird diese Gasfreisetzung hauptsächlich durch die Fressaktivität der

Schmeißfliegenlarven. Die Larven beschädigen die Haut und ermöglichen dadurch das

Entweichen der Fäulnisgase. Im dritten Stadium kommt es regelmäßig zu einer

umfangreichen Entwicklung von Gewebsflüssigkeit und einem starken

Verwesungsgeruch.

Im vierten Stadium ‚skelettiert oder vertrocknet’ hat eine nahezu vollständige

Skelettierung des Leichnams stattgefunden. Als menschliche Überreste sind lediglich

noch Knochen, Knorpel und mumifizierte Haut vorhanden.39

Bedeutsam für die Bestimmung der Leichenliegezeit ist die Tatsache, das die einzelnen

Insektenarten je nach ökologischer und biologischer Präferenz bestimmte Stadien der

Leichenzersetzung bevorzugen, sodass der Leichnam je nach Zerfallsstadium von einer

typischen Leichenfauna besiedelt wird. In der Ökologie bezeichnet man diese

chronologische Abfolge des Erscheinens unterschiedlicher Arten in einem sich

verändernden Lebensraum als ‚Sukzession’.40 Dabei schafft jede auftretende Art durch

ihr Vorhandensein oder die Verwertung der Biomasse die Voraussetzung für die

Nutzungsmöglichkeit der nachfolgenden Individuen.41

Die erste Besiedlungswelle an einem Leichnam bilden die Individuen der Calliphoridae

(Schmeißfliegen), welche den Leichnam im ersten Stadium frisch tot über hunderte von

Metern riechen und bereits wenige Minuten bis Stunden nach Todeseintritt anfliegen.

Am Leichnam angekommen beginnen die schwangeren Schmeißfliegenweibchen

unverzüglich mit der Eiablage. Bevorzugt wird diese auf Wunden vollzogen.

Weist der Leichnam keine Verletzungen auf, wird das Gelege in die natürlichen

Körperöffnungen, wie den Mund, der Nase, die Ohren oder in weiche Körperteile, wie

den Augen platziert. Sind die Augen geschlossen, platzieren die

Schmeißfliegenweibchen die Eier genau zwischen den Spalt der Augenlieder. 42

Die Fliegenlarven schlüpfen nur in seltenen Fällen bereits auf Leichen im frisch toten

Stadium, da sie sich ausschließlich von Gewebsstücken der Leichen im gasgeblähten

Stadium ernähren.43 Somit wird der Leichnam in den ersten Tagen bis Wochen von

Schmeißfliegenmaden dominiert, die von Sarcophagidae (Fleischfliegen) und Muscidae

                                                                                                               39 Vgl. Voigt/Lederer/Bodach: Forensische Entomologie, S. 57 f.  40 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 230.  41 Vgl. Koch, Heiko Joachim: Forensische Entomologie. Prä- und postmortale Leichenbesiedlung durch Insekten. Hochschule für Polizei Villingen – Schwenningen, Diplomarbeit 2002, S. 68.  42 Vgl. Benecke: Kriminalbiologie, S. 13 ff.  43 Vgl. Koch: Forensische Entomologie, S. 23.  

  14

(Hausfliegen) begleitet werden. Die Fliegenarten der letztgenannten Familien sind in

der Lage, sich sowohl von Aas als auch räuberisch von anderen Leichenbesiedlern zu

ernähren. Die zahlreichen Fliegenlarven bieten auch räuberischen Käfern der Familie

Silphidae (Aaskäfer), Histeridae (Stutzkäfer) und Staphilinidae (Kurzflügelkäfer) sowie

Parasiten ausreichend Beute und Anreiz zur Eiablage.44

Mit Erreichen des Stadiums der fortgeschrittenen Verwesung besiedeln auch andere

Fliegenfamilien den Leichnam. Jetzt erscheinen Piophilidae (Käsefliegen). Schließlich

befinden sich auch die ersten Larven von Drosophilidae (Fruchtfliegen) und Phoridae

(Buckelfliegen) auf dem toten Körper. Mit der Austrocknung (Mumifizierung) des

Leichnams erscheinen Dermestidae (Speckkäfer) und die Raupen von Teppichmotten

(Tineidae), denn sie besitzen als einzige das für den Abbau von Haut und Haaren

notwendige Enzym Keratinase.45

2.4 Entomologisch bedeutsame Fliegenarten

Insekten werden auch als Kerbtiere bezeichnet und gehören der Gruppe der

Arthropoden (Gliederfüßler) an. Der Körper eines Insekts gliedert sich in drei Teile, die

durch Kerben voneinander getrennt werden. Den ersten Teil des Insektenkörpers bildet

der Kopf, welcher den Insekten zur Nahrungsaufnahme dient. Der Thorax bildet den

zweiten Teil und dient der Fortbewegung des Insekts. Den dritten Teil bildet der

Hinterleib, der die Funktionen der Verdauung und Fortpflanzung erfüllt.46

Die Forensische Entomologie unterteilt die Insekten auf Leichen in vier Kategorien, die

‚nekrophagen’, ‚nekrophilen’, ‚omnivoren’ und ‚opportunistischen’ Insekten. Die

Einteilung erfolgt anhand der Ernährung der Tiere. Die nekrophagen Insekten ernähren

sich zumindest im Larvenstadium vom Leichengewebe selber. Die nekrophilen Insekten

sind Räuber und Parasiten der nekrophagen Insekten und anderer Gliedertiere. Hierunter

gibt es jedoch auch Arten, die sich zunächst vom Leichengewebe selber ernähren und

später erst zu Räubern und Parasiten entwickeln. Omnivore Insekten sind Ameisen,

Wespen und verschiedene Käfer. Sie ernähren sich vom Leichengewebe selber, aber

auch von sich auf dem Leichnam befindlichen Insekten. In die Kategorie der

opportunistischen Insekten fallen Zufallsbesiedler, wie beispielsweise verschiedene

Spinnen und Springschwänze. Sie nutzen den Leichnam lediglich als eine Ausbreitung

                                                                                                               44 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 230 f.  45 Vgl. ebd.  46 Vgl. Koch: Forensische Entomologie, S. 21.  

  15

ihres bisherigen Lebensraumes. Bedeutsam für die Leichenliegezeitbestimmung sind

insbesondere die Kategorien der nekrophagen und nekrophilen Insekten, denn ihr

Auftreten ist unmittelbar an das Leichengewebe und die sich davon ernährenden

Individuen gebunden.47

Da freiliegende Leichen über einhundert von Insekten beherbergen können und deren

Thematisierung den Rahmen sprengen würde, werden im Folgenden lediglich die

forensisch entomologisch bedeutsamsten Insektenarten beschrieben.

2.4.1 Familie: Calliphoridae (Schmeißfliege)

Die Familie der Calliphoridae (Schmeißfliegen) wird der Kategorie der nekrophagen

Insekten zugeordnet. Sie verfügen über einen ausgezeichneten Geruchsinn und

erscheinen bereits wenige Minuten bis Stunden nach Todeseintritt auf dem Leichnam.

Unverzüglich beginnen die Schmeißfliegenweibchen mit der Eiablage auf und in den

toten Körper. Hierbei handelt es sich um mehrere hundert Eier in Paketen (Geschmeiß).

Die erwachsenen Tiere befinden sich auf frisch toten und gasgeblähten Leichen.

Unmittelbar nach der Eiablage schlüpfen die Fliegenlarven. In wenigen Fällen können

sie bereits auf frisch toten Leichen vorkommen, ernähren sich aber überwiegend von

Leichen im gasgeblähten Zersetzungsstadium.48 Da die Schmeißfliegen die Erstbesiedler

des Leichnams darstellen und in der rechtsmedizinischen Anwendung gut erforscht

sind, wird ihnen bei der Eingrenzung der Leichenliegezeit eine besonders hohe

Aussagekraft zu Teil. 49 Im Folgenden werden die entomologisch bedeutsamsten

Unterarten der Familie vorgestellt.

2.4.1.1 Art: Calliphora vicina (blaue Schmeißfliege)

Calliphora vicina ist eine metallisch blau glänzende Schmeißfliege mit auffällig lautem

Fluggeräusch und quirligem Verhalten. Sie wird zwischen 10 – 15 mm groß und ist

insbesondere auf dem Rücken stark geborstet, vorwiegend von schwarzer Farbe, mit

bläulichen Längsstreifen auf der Brust. Ihr Hinterleib ist metallisch blau

gefärbt.

                                                                                                               47 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 225.  48 Vgl. Koch: Forensische Entomologie, S. 23.  49 Vgl. Jäkel: Leichenliegezeitbestimmung mittels forensischer Entomologie, S. 16.

  16

Die blaue Schmeißfliege ist eine typische Stadtfliege, da sie menschliche Siedlungen als

Lebensraum bevorzugt. Sie hat einen erhöhten Drang zur Eiablage bei Sonnenschein,

bevorzugt hierzu jedoch schattige Plätze. Die Ablage erfolgt überwiegend am Tag, vor

Eintreten der Dämmerung.50 Im Gegensatz zu anderen Schmeißfliegenarten legt sie ihre

Eier jedoch auch in der Nacht ab. Angeflogene wurde der Leichnam in diesen Fällen

aber bereits vor Eintreten der Dämmerung.51

2.4.1.2 Art: Lucilia sericata (Goldfliege oder grüne Schmeißfliege)

Die gold – grün gefärbte Lucilia sericata ist wegen ihres häufigen Kontakts zu

menschlichen Siedlungen bekannt. Sie erreicht eine Körperlänge zwischen 7 – 11 mm

(siehe Anlage Seite 7). Ein auffälliges Merkmal ist die scharf abgeknickte vierte

Längsader der Flügel. Ihre Larven sind rosa (pink) gefärbt und behaart.52 Als Eiablageort

bevorzugt Lucilia sericata tierisches Aas. Die Ablage der Eier erfolgt ausschließlich am

Tag und nicht in der Nacht.53

2.4.2 Familie: Sarcophagidae (Fleischfliege)

Von März bis Oktober platzieren die lebendgebärenden Fleischfliegenweibchen dieser

Familie ihr Gelege auf Aas. Bevorzugt erfolgt die Eiablage auf den Larven der

Schmeißfliegen. Fleischfliegen sind Räuber der nekrophagen Insekten und werden

dementsprechend der Kategorie der nekrophilen Insekten zugeordnet. Da die

Fleischfliegenweibchen zunächst den Schlupf der Schmeißfliegenlarven abwarten, um

anschließend das Gelege darauf zu platzieren, erscheinen sie in der

Sukzessionsreihenfolge ein wenig später als die Schmeißfliegen. Die erwachsenen

Fleischfliegen befinden sich vorwiegend auf gasgeblähten und zerfallenen Leichen. In

seltenen Fällen fliegen sie den Leichnam bereits im frisch toten Stadium an.

Mit einer Länge bis zu 25 mm sind ihre Larven die größten innerhalb der Leichenfauna.

Vorzufinden sind sie auf gasgeblähten und zerfallenen Leichen. Auf frisch toten

Leichen kommen sie noch nicht vor. Vereinzelt können die Larven, im Gegensatz zu

den erwachsenen Tieren, auch noch auf Leichen im ausgetrockneten Stadium

angetroffen werden. Sarcophagidae fliegen auch bei Niederschlag, was im Gegensatz zu

                                                                                                               50 Vgl. Voigt/Lederer/Bodach: Forensische Entomologie, S. 62 f.  51 Vgl. Kühne: Forensische Entomologie, S. 28 f.  52 Vgl. Voigt/Lederer/Bodach: Forensische Entomologie, S. 63.  53 Vgl. Kühne: Forensische Entomologie, S. 29.  

  17

anderen Fliegenarten eine Besonderheit darstellt.54 Bei starken Niederschlägen kann es

durchaus vorkommen, dass sie die erste Besiedlungswelle darstellen, denn die

Schmeißfliegen fliegen den Leichnam bei Niederschlag nicht an.55

2.4.2.1 Art: Sarcophaga carnia (graue Fleischfliege)

Sarcophaga carnia ist die häufigste Unterart der Fleischfliegen und kann in ganz

Europa, aber auch in Afrika und in Sibirien angetroffen werden.

Sie wird zwischen 10 – 16 mm lang und besitzt einen schlanken Körper. Über ihren

dunkelgrau gefärbten Thorax verlaufen fünf schwarze Längsstreifen. Ihr Hinterleib ist

auffällig schachbrettartig hell und dunkel gefärbt.

Sarcophaga carnia bevorzugen trockene, sandige und sonnige Biotope. Ihre Larven

schlüpfen im Moment der Eiablage und ernähren sich ausschließlich von verwestem

Leichengewebe. Das Gewebe haben sie zuvor durch Beibringung von Enzymen

verflüssigt.56

2.4.3 Familie: Muscidae (Stubenfliege oder echte Fliege)

Muscidae bevorzugen als Lebensraum menschliche Siedlungen. Das liegt daran, dass

sie eine Vorliebe für menschliche Ausscheidungen, wie Kot und Urin, aber auch

eiternde Wunden, Schweiß und Aaß haben. Weisen die zuvor genannten Substrate noch

eine hohe Feuchtigkeit auf, legen die Weibchen bis zu 2000 Eier darauf ab. 57

Die erwachsenen Tiere sind im Freien selten anzutreffen. Ein gehäuftes Vorkommen

von Muscidae auf einem im Freien liegenden Leichnam ist ein Indiz für eine

Verlagerung der Leiche.

Sinken die Temperaturen auf – 12 o C, erfrieren die Tiere innerhalb kürzester Zeit.

Eine Eiablage findet bei Temperaturen unter 8 o C nicht mehr statt.

Die Weibchen können in seltenen Fällten bereits auf frisch toten Leichen angetroffen

werden, erscheinen aber vor allem gehäuft im gasgeblähten Stadium. Auf

ausgetrockneten Leichen sind sie nicht mehr anzutreffen.

                                                                                                               54 Vgl. Koch: Forensische Entomologie, S. 27 f.  55 Vgl. Voigt/Lederer/Bodach: Forensische Entomologie, S. 70.  56 Vgl. Kühne: Forensische Entomologie, S. 29.  57 Vgl. Dettner, Konrad/Peters, Werner (Hrsg.): Lehrbuch der Entomologie, 1. Aufl., München 1999, S. 686.  

  18

Die Larven befinden sich ab Ende des gasgeblähten Stadiums auf der Leiche und

beherbergen diese auch noch im ausgetrockneten Zustand. Die Entwicklung zum Imago

kann, je nach Temperatur, zwischen 8 – 50 Tage andauern.58

2.4.3.1 Art: Musca domestica (Hausfliege oder gemeine Stubenfliege)

Die weltweit verbreitete Musca domestica gehört der Kategorie der nekrophagen

Insekten an. Als Lebensraum bevorzugt sie menschliche Siedlungen. Im Freien kommt

sie selten vor.

Die erwachsenen Tiere werden zwischen 7 – 9 mm groß. Ihre Brust ist grau gefärbt und

besitzt 4 dunkle Längsstreifen. Der dunkel gefärbte Hinterleib der Tiere weist an den

Seiten spezifische gelbe Flecken auf. Der Körper ist bis auf die Augenpartie behaart.

Musca domestica haben signifikante rote Facettenaugen. Die Weibchen sind ein wenig

größer als die Männchen und können Buttersäure als Indiz für Fäulnis und Verwesung

riechen. Ihre Eier legen die Weibchen mit Vorliebe auf Kot oder verwesten Substanzen

ab. Die weißen, länglichen, beinlosen und drehrunden Maden werden bis zu 12 mm

lang. Bei Temperaturen um die 30 o C entwickeln die Tiere sich innerhalb von 7 Tagen

zur erwachsenen Fliege.59

2.5 Entwicklungszyklus nekrophager Fliegen

Da Fliegen, insbesondere die Schmeißfliegen, die für die Bestimmung der

Leichenliegezeit bedeutsamsten nekrophagen Insekten darstellen, wird im Verlauf der

Entwicklungszyklus vom Ei zur erwachsenen Fliege an ihnen verdeutlicht.60

Bei den für die forensisch entomologischen Untersuchungen wertvollen Fliegenarten

handelt es sich um sogenannte holometabole Lebewesen (holos – vollständig und

metabolé – Veränderung). Diese müssen für die Entwicklung vom Ei zum erwachsenen

Insekt einen vollständigen Zyklus einer Metamorphose durchlaufen. Dieser Zyklus

erstreckt sich über sieben Entwicklungsstadien.61

Die schwangeren Fliegenweibchen verfügen über einen feinen Geruchsinn, der es ihnen

ermöglicht, den Geruch einer Leiche über hunderte von Metern wahrzunehmen. Selbst

geschlossene Fenster und Türen stellen keine Hindernisse dar. Die Fliegenweibchen

                                                                                                               58 Vgl. Koch: Forensische Entomologie, S. 25 f.  59 Vgl. Voigt/Lederer/Bodach: Forensische Entomologie, S. 67 f.  60 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 225.  61 Vgl. Voigt/Lederer/Bodach: Forensische Entomologie, S. 86.  

  19

überwinden diese, indem sie unter dem Türspalt oder durch das Schlüsselloch hindurch

krabbeln.62

Da ihr Gelege für Vögel eine beliebte Beute darstellt, legen sie kleine Pakete aus

einhundert bis fünfhundert millimetergroßen Eiern auf der Leiche ab.63

Je nach den äußeren Gegebenheiten schlüpfen aus den Eiern in wenigen Minuten oder

Stunden die 1 – 2 mm großen weißen Fliegenlarven. Sie bilden das erste von insgesamt

drei Larvenstadien, die auch als Jugendstadien bezeichnet werden. 64 Nach dem

Schlüpfen beginnen die Larven unverzüglich mit dem Verzehr des Leichengewebes.

Die Zerkleinerung des Materials ist jedoch nur begrenzt möglich, da ihr aus Chitin

aufgebauter Kieferapparat noch weich ist. Um den Larven die Nahrungsaufnahme zu

erleichtern, bevorzugen die Fliegenweibchen daher die Eiablage auf bereits

aufgeschlossenem Gewebe, wie Wunden. Um das Leichengewebe besser aufnehmen zu

können, transformieren die Larven das Gewebe mithilfe eines in den Speicheldrüsen

gebildeten ,proteolytischen Ferments’ in einen resorbierbaren Futtersaft.

Untersuchungen an verwundeten Soldaten im 1. Weltkrieg, in dessen Verletzungen sich

Fliegenlarven entwickelt hatten, ergaben, dass die Larven nicht in die Tiefe der Wunden

vordringen konnten, da das in den Speicheldrüsen produzierte proteolytischen Ferment

lediglich bei abgestorbenem Gewebe eine Wirkung entfalten kann.65

Die Larven durchlaufen zwei weitere Jugendstadien und häuten sich während des

Wachstums 2 – mal. Das dritte Larvenstadium ist wegen der ausgeprägten

Körpermerkmale für die Artbestimmung am bedeutsamsten.66

Nach dem Erreichen der Maximallänge stellen die Larven ihre Nahrungsaufnahme ein

und entleeren ihren Darmtrakt, wodurch sie an Länge verlieren. Dieses Stadium wird

auch als ,Postfeeding Stadium’ bezeichnet.67

Auf der Suche nach einem geeigneten Ort, an dem die Tiere vor Fressfeinden und

schwankenden Umwelteinflüssen geschützt sind, verlassen sie den Leichnam bis zu

wenige Meter. Geeignete Orte können Erdreich, Laubstreu, Wohnungsteppiche,

Kleidungsstücke und Fußbodenspalten darstellen. Beim Verlassen des Leichnams

können die Fliegenlarven durch Nachziehen von Leichenflüssigkeit Kriechspuren

erzeugen. Am Ort angekommen zieht sich die Larve zusammen und bildet ein

                                                                                                               62 Vgl. Kühne: Forensische Entomologie, S. 19.  63 Vgl. Benecke: Kriminalbiologie, S. 15.  64 Vgl. Voigt/Lederer/Bodach: Forensische Entomologie, S. 87.  65 Vgl. Kühne: Forensische Entomologie, S. 21 ff.  66 Vgl. Benecke: Besiedlung durch Gliedertiere, S. 171.  67 Vgl. Kühne: Forensische Entomologie, S. 23.  

  20

‚Puparium’ (Puppe), welches auch als ‚Tönnchen’ bezeichnet wird.68 Durch hormonelle

Einflüsse entwickelt sich aus der farblosen und biegsamen Larvenhaut eine braune und

spröde Substanz.69

Aus dem Tönnchen schlüpft schließlich im letzten Entwicklungsstadium, nach einem

arttypischen und temperaturabhängigen Zeitraum, eine erwachsene Fliege, die auch als

‚Imago’ (Mehrzahl: Imagines) bezeichnet wird.70

Unmittelbar nach dem Schlüpfen sind die Fliegen noch silbrig grau bis weiß und weich.

Über das Tracheensystem werden die Flügel und das Exoskelett mit Luft aufgepumpt,

wodurch es zu einer Verhärtung der Chitinkutikula kommt. Nun ist die Fliege flugfähig

und entwickelt sich innerhalb von zwei Wochen zum Fortpflanzungs- und

Verbreitungsstadium (Adultstadium).71

2.6 Artbestimmung

Die korrekte Artbestimmung der vorgefundenen Insekten ist für alle weiterführenden

entomologischen Untersuchungen unabdingbar. Aufgrund der arttypischen Ausbildung

diverser morphologischer Strukturen können die verschiedenen Entwicklungsstadien

konkreten Insektenarten zugeordnet werden. Die Bewertung der einzelnen Merkmale

erfordert jedoch viel Erfahrung. Nur wenige Spezialisten der jeweiligen Insektengruppe

können eine Artbestimmung durchführen. Besonders problematisch ist die Bestimmung

der oftmals gleichförmigen larvalen Stadien. Hinzu kommt, dass zum derzeitigen

Forschungsstand noch kein Bestimmungsschlüssel für die Larvenstadien der

Fleischfliege (Sarcophagidae) entwickelt wurde. Dasselbe Problem existiert bei den

Puppen der forensisch entomologisch bedeutsamen Fliegenarten. Wie die Larven

besitzen auch die Puppen nur schwach ausgeprägte Unterscheidungsmerkmale. Die

Weiterzucht der Larven oder Puppen zur erwachsenen Fliege bietet eine

Lösungsmöglichkeit, welche jedoch zeitaufwendig und zum Teil schwierig ist, da nicht

alle Arten gleich gut aufgezogen werden können. Darüber hinaus setzt die Weiterzucht

voraus, dass am Leichenfundort lebendes Material gesichert wurde.72

Die Ermittlung der Fliegenart einer bestimmten Fliegengattung bereitet darüber hinaus

oftmals Probleme. Auch hier sind die Unterscheidungsmerkmale nur schwach

                                                                                                               68 Vgl. Benecke: Besiedlung durch Gliedertiere, S. 171 f.  69 Vgl. Kühne: Forensische Entomologie, S. 25.  70 Vgl. Benecke: Besiedlung durch Gliedertiere, S. 171 f.  71 Vgl. Kühne: Forensische Entomologie, S. 25 f.  72 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 233.  

  21

ausgeprägt. Die Weiterzucht zur erwachsenen Fliege ist wegen des häufigen

Ermittlungsdrucks selten möglich. In diesen Fällen muss die Artbestimmung anhand

von verstorbenen oder abgetöteten Larven oder Puppen erfolgen.73

2.6.1 Artbestimmung mittels Larven

Die Kenntnis über den Aufbau einer Fliegenlarve ist die Voraussetzung, um eine

Artbestimmung durchführen zu können. Eine Fliegenlarve besteht aus zwölf

Segmenten. Am Beginn des ersten Segments befinden sich die Mundwerkzeuge

(Cephalopharyngealskelett). Am zweiten Segment befinden sich paarweise zwei

Atemöffnungen (Stigmen). Am zwölften Segment befinden sich nochmals paarweise

symmetrische Atemöffnungen, damit die Tiere beim Fressen in einer größeren

Larvenmasse nicht ersticken.74

Eine Methode zur Artbestimmung stellt die Untersuchung der Atemöffnungen am

zwölften Segment dar. Reiter und Wollenek fanden 1982 heraus, dass die Hinterstigmen

der Sarcophagidae (Fleischfliege) in einer tiefen Stigmenhöhle liegen, die durch eine

Weichteilleiste mit zwölf Fortsätzen lippenartig verschlossen werden kann.

Die Hinterstigmen der Calliphoridae (Schmeißfliegen) befinden sich hingegen in einer

flachen Stigmengrube, die kronenartig von zwölf mit dem bloßen Auge sichtbaren

Fortsätzen umgeben wird. Die Muscidae (Stubenfliege oder Echte Fliege) besitzt die

Fortsätze am zwölften Segment hingegen nicht, sodass die Hinterstigmen auf einer

Ebene mit dem hinteren Ende der Larve liegen.75

Eine weitere Methode zur Artbestimmung stellt die Untersuchung der Mundwerkzeuge

der Larven dar.76 Hierzu schneidet man mit einer Mikroschere den vorderen Teil der

Larve ab und nimmt die Mundhaken mitsamt des daran hängenden ‚Kraft – Hebel –

Apparates’ heraus. Jede Fliegenart besitzt ganz spezifisch geformte Mundwerkzeuge.77

Das Mundstück der Schmeißfliegenlarven ist einheitlich aus fünf Hauptbestandteilen

aufgebaut, einem Paar ‚Mundhaken’, dem sogenannten ‚H – Stück’ sowie dem

zweiflügeligen ‚Basalstück’ mit je einem ‚Dorsal- und Ventralhorn’. Da die Formen des

Basalstücks, des H – Stücks und der Mundhaken innerhalb der Schmeißfliegenarten nur

geringfügig variieren, erwies sich das zwischen den Mundhaken befindliche

                                                                                                               73 Vgl. Voigt/Lederer/Bodach: Forensische Entomologie, S. 102 ff.  74 Vgl. ebd.  75 Vgl. Voigt/Lederer/Bodach: Forensische Entomologie, S. 104 f.  76 Vgl. ebd., S. 102 ff.  77 Vgl. Benecke, Mark: Dem Täter auf der Spur. So arbeitet die moderne Kriminalbiologie, Bd. 60562, 6. Aufl., Köln 2011, S. 51.  

  22

‚akzessorische Oralsklerit’ (Mehrzahl: Skleriten) als geeignetes Merkmal für die

Artbestimmung.

Die Calliphoraarten besitzen hingegen große, pigmentierte und dornenförmige

Skleriten. Den Luciliaarten fehl das Oralsklerit hingegen.78

2.6.2 Artbestimmung mittels Puppen

Reiter und Wollenek führten ebenfalls Untersuchungen an den Puparien der

Schmeißfliegenarten durch, um Erkenntnisse für eine Artbestimmung zu gewinnen. Als

aussagekräftigste Merkmale konnten sich, wie auch bei den Larven, die Morphologie

des Kieferapparates und das zwölfte Puppariensegment behaupten. Die Größe der

Puparien bat hingegen lediglich einen orientierenden Hinweis auf die Fliegenart.

Anlässlich der Ausbildung des Fliegenkopfes stoßen die Tiere während der Puppenzeit

den funktionslos gewordenen Kieferapparat ab. Dieser kann, sofern er sich noch in der

Puppe befindet, analog zu den Larven für die Artbestimmung herangezogen werden.

Ferner bleiben die für die Artbestimmung geeigneten Merkmale der Hinterstigmen und

Fortsätze des zwölften Puppariensegments erhalten und können ebenfalls analog zu den

Larven für die Bestimmung der Fliegenart herangezogen werden.79

2.6.3 Artbestimmung mittels DNA – analytischer Untersuchung

Sollten die zuvor beschriebenen Methoden in einigen Fällen nicht möglich sein, kann

die Molekularbiologie mit der Untersuchung der Desoxyribonukleinsäure (DNA) weiter

helfen. Besonders gut eignet sich die Methode, wenn lediglich ein unvollständiger

Insektenkörper asserviert werden konnte.

Bei dieser wissenschaftlichen Methode werden ausgewählte Gene auf artspezifische

Basensequenzen untersucht. Hierzu werden die Gene der Zellatmungsentzyme

Cytochrom b und der Cytochromoxidase analysiert. Eine Gensequenz mit 300 bis 400

Basenpaaren ist in der Regel ausreichend, um genügend Informationen für die

Identifizierung einer Art zu gewinnen. Die Referenzsequenzen für den Abgleich werden

durch die vorherige Untersuchung eindeutig identifizierter Individuen gewonnen.80

                                                                                                               78 Vgl. Voigt/Lederer/Bodach: Forensische Entomologie, S. 103.  79 Vgl. ebd., S. 107.  80 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 233.  

  23

Die DNA kann aus dem Imago, der Larve sowie aus der Puppe gewonnen werden.

Vorteilhaft ist, dass die Untersuchung nur geringe Gewebemengen erfordert, sodass

lediglich ein Bein oder Flügel des Individuums zur Durchführung der Artbestimmung

ausreichen können.

Mit der sogenannten Polymerase – Kettenreaktion (PCR – Methode), einem

molekularbiologischen Standardverfahren, wird ein Teilbereich der relevanten Gene

millionenfach kopiert. Die Kopien bilden das Ausgangsmaterial, um mit anderen

molekularbiologischen Verfahren die genaue Sequenz dieses Genabschnittes zu

bestimmen. Durch den Vergleich mit den Referenzsequenzen der bekannten Arten kann

die zunächst unbekannte Sequenz zugeordnet und das Insekt identifiziert werden. Die

Unterschiede in den Basensequenzen zwischen den Insektenarten liegen zwischen 5 und

15 %, je nach Verwandtschaftsgrad.81

Problematisch ist, dass auch innerhalb einer Insektenart Unterschiede in den

Basensequenzen auftreten können. Liegen diese in derselben Größenordnung wie die

Unterschiede verschiedener Insektenarten, ist der analysierte Genabschnitt nicht zur

Artbestimmung geeignet. Demnach hängt die Geeignetheit der Methode von den

ausgewählten Genabschnitten ab. Für viele der forensisch entomologischen Fliegenarten

wurden diese noch nicht vollständig untersucht. Im Institut für Rechtsmedizin in

Frankfurt existiert eine Sequenzbibliothek für die bedeutsamsten entomologischen

Fliegenarten.82

2.7 Methoden zur Bestimmung der Leichenliegezeit

Die Dauer des Entwicklungszyklus einer Fliege hängt im Wesentlichen von zwei

Faktoren ab. Der Umgebungstemperatur und der Artzugehörigkeit. Da Insekten

wechselwarme Tiere sind, sind alle biochemischen und physiologischen Prozesse in

hohem Maße temperaturabhängig. Die Dauer des Entwicklungszyklus verkürzt sich bei

steigenden Temperaturen und verlängert sich bei sinkenden. Dass die Dauer eines

Entwicklungszyklus von der Fliegenart abhängt, macht eine korrekte Identifizierung der

Insekten unbedingt erforderlich. Danach kann die Zeit ermittelt werden, welche die

asservierten Insekten unter den Temperaturbedingungen des Fundortes bis zum

Erreichen des vorgefundenen Entwicklungsstadiums benötigt haben.83

                                                                                                               81 Vgl. Voigt/Lederer/Bodach: Forensische Entomologie, S. 110.  82 Vgl. ebd.  83 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 225 ff.  

  24

Die Ermittlung der Entwicklungszeiten der Insekten erfolgt experimentell im Labor,

selten im Freiland. Für einige entomologisch bedeutsame Fliegenarten wurden

umfangreiche Daten über die Entwicklungsdauer bei unterschiedlichen Temperaturen

erhoben.

Bei korrekter Artbestimmung und rekonstruierbarem Temperaturverlauf soll die

Methode in den ersten 4 – 6 Wochen nach Todeseintritt eine auf den Tag genaue

Eingrenzung der minimalen Leichenliegezeit ermöglichen.84

Der Entwicklungszyklus einer artbestimmten Schmeißfliege kann Auskunft über die

Dauer der Insektenaktivität auf einem Leichnam (englisch: Period of Insect Activity –

PIA) geben. Diese PIA entspricht der minimalen Leichenliegezeit oder dem

sogenannten postmortalen Liegeintervall (englisch: post mortem interval – PMI).85

Für die Berechnung des PMI existieren unterschiedliche Vorgehensweisen. Diese

werden im Verlauf erläutert und auf ihre Genauigkeit untersucht.

Bei der ersten Vorgehensweise wurden die Fliegenlarven der forensisch entomologisch

bedeutsamsten Fliegenarten bei unterschiedlich konstanten Temperaturwerten

weitergezüchtet und die Entwicklungszeiten jedes einzelnen Entwicklungsstadiums

dokumentiert. Die Ergebnisse hat man anschließend in sogenannte ,Isomegalen –

Diagramme’ für jede Fliegenart übertragen.86

Auf der x – Achse der Isomegalen – Diagramme wird die Zeit seit dem Schlüpfen der

Insekten in Tagen und Stunden angegeben. Die y – Ache gibt die unterschiedlichen

konstanten Zuchttemperaturen in Grad Celsius wieder. Die zwischen der x – Achse und

der y – Achse eingezeichneten Kurven entsprechen den Längen der asservierten Tiere in

Millimetern. Ein weiteres Diagramm in der oberen rechten Ecke des Isomegalen –

Diagramms für die Schmeißfliegenart Lucilia sericata gibt Auskunft über die

Lebensdauer der Larve im Ei. Auf der x – Achse ist die Dauer der Entwicklung der

Larve im Ei in Stunden angegeben. Auf der y – Achse sind die konstanten

Zuchttemperaturen in Grad Celsius eingetragen.

Nachdem die Tiere am Leichenfundort asserviert wurden, werden sie bestimmt und

gemessen.87 Zu beachten ist, dass die ältesten Tiere immer von höchster Bedeutung sind,

da sie sich am längsten auf dem Leichnam befinden und ihr Alter der Leichenliegezeit

am nächsten kommt.88

                                                                                                               84 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 226 f.  85 Vgl. Voigt/Lederer/Bodach: Forensische Entomologie, S. 90.  86 Vgl. ebd., S. 93.  87 Vgl. Jäkel: Leichenliegezeitbestimmung mittels forensischer Entomologie, S. 25 f.  88 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 227.  

  25

Anschließend erfolgt die Berechnung der am Leichenfundort herrschenden

Durchschnittstemperatur. Diese erfolgt über einen Vergleich der am Leichenfundort

gemessenen Temperaturwerte mit den Temperaturwerten der nächstgelegenen

Wetterstation. Dazu ist die Dokumentation des Temperaturverlaufs in der Umgebung

der Leiche für mindestens 3 – 5 Tage ab Auffindung notwendig.89 Im Optimalfall erfolgt

die Dokumentation mithilfe eines ,Data – Loggers’. Dieser kann stündliche

Auszeichnungen der Temperaturwerte am Leichenfundort durchführen. 90 Bei einer

Übereinstimmung der Daten der Wetterstation und des Leichenfundortes können die

Werte der Wetterstation für die Berechnung des PMI verwendet werden.

Liegen Abweichung vor, wird eine ‚Regressionsanalyse’ durchgeführt.91 Bei diesem

mathematischen Verfahren wird ein durchschnittlicher Regressionsfaktor

(Abweichfaktor) der Vergleichswerte ermittelt. Dieser Abweichfaktor wird für die

Korrelation der Temperaturwerte vom Leichenfundort verwendet und ermöglicht die

Rekonstruktion des Temperaturverlaufs.92 Sind nun die Durchschnittstemperatur am

Leichenfundort und die Länge der Individuen bekannt, kann das PMI mithilfe der

Isomegalen – Diagramme bestimmt werden.

Ein Beispiel soll das Verfahren verdeutlichen. Am 10.09.2011 wird gegen Mittag eine

Leiche gefunden. Am Leichenfundort können Larven asserviert werden. Eine

Artbestimmung ergibt, dass es sich um die Larven der Schmeißfliegenart Lucilia

sericata handelt. Das älteste Entwicklungsstadium bemisst 8 mm. Eine anschließende

Berechnung der Durchschnittstemperatur am Leichenfundort mittels

Regressionsanalyse hat 22 o C zum Ergebnis. Auf der x – Achse des Isomegalen –

Diagramms für Lucilia sericata kann nun die Zeit abgelesen werden, die seit dem

Schlüpfen der Larve aus dem Ei vergangen ist. Diese beträgt 47 h. Der Wert entspricht

jedoch noch nicht der genauen Besiedlungszeit des Leichnams durch Lucilia sericata.

Hierzu muss ferner die Zeit ermittelt werden, welche die Larve bis zum Schlüpfen im Ei

verbracht hat. Bei einer Durchschnittstemperatur von 22 o C können der x – Achse des

Diagramms 18 h entnommen werden. Zieht man diese beiden Werte zusammen, erhält

man die minimale Besiedlungszeit des Leichnams durch Lucilia sericata, die im

Ergebnis 65 h (2,7 Tage) beträgt.93

                                                                                                               89 Vgl. Grassberger/Amendt: Forensische Entomologie, S. 849.  90 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 239.  91 Vgl. Grassberger/Amendt: Forensische Entomologie, S. 849.  92 Vgl. Voigt/Lederer/Bodach: Forensische Entomologie, S. 100.  93 Vgl. Jäkel: Leichenliegezeitbestimmung mittels Forensischer Entomologie, S. 26.  

  26

Zu beachten ist, dass Lucilia sericata ihre Eier ausschließlich am Tag und nicht in der

Nacht ablegt. Lassen die Ermittlungen die Vermutung zu, das die Person in der Nacht

zu Tode kam, muss die Zeit von 12 h, in der die Fliegenweibchen den Leichnam nicht

anfliegen konnten, zu dem PMI hinzu gerechnet werden.94

Neben dem zuvor erläuterten Verfahren existiert eine weitere Methode zur Berechnung

des PMI, welche als verfeinert gilt. 95 Das sogenannte ‚Degree – Day Modell’

(‚Temperatur – Akkumulations Modell’; englisch: ‚Temperature – Summation Model’)

berechnet die aufgenommene Temperatursumme der Insekten.96

Die Entwicklung von poikilothermen (wechselwarmen) Tieren, wie den Insekten, ist in

hohem Maße abhängig von der Umgebungstemperatur. Alle biochemisch –

physiologischen Prozesse auf zellulärer Ebene hängen, ebenso wie die Enzymaktivität

und die Permeabilität von Membranen, von der Umgebungstemperatur ab. Die

Berechnung dieser temperaturabhängigen Entwicklung der Insekten wird durch das

Degree – Day Modell beschrieben. 97 Der Terminus ‚Degree – Day’ bedeutet

,Tagesgrade’ und bildet das Produkt aus der Entwicklungszeit und der Temperatur.

Mithilfe der Tagesgrade kann die Entwicklungsdauer eines Organismus zurück

gerechnet und das PMI berechnet werden.98

Ursprünglich wurde das Modell für die Schädlingsbekämpfung in der Landwirtschaft

entwickelt, um in bestimmten, vom Temperaturverlauf abhängigen, vulnerablen

(verletzbaren) Phasen der Entwicklung agrarökonomisch relevanter Schädlinge, die

Insektizide und Pestizide zeitgerecht ausbringen zu können.

Alle Insekten benötigen für den erfolgreichen Abschluss jedes einzelnen

Entwicklungsstadiums (Ei, Larve, Puppe, Imago) ein spezifisches Maß an

akkumulierter (aufgenommener) Wärme. Diese aufgenommene Temperatursumme kann

als ‚physiologische Zeit’ betrachtet werden. Die für die Entwicklung (zum Beispiel vom

Ei bis zur Verpuppung) benötigte Temperatursumme ist für jede

Spezies innerhalb einer gewissen Variationsbreite konstant und wird als

Wärmekonstante (K) bezeichnet.

Für alle Fliegenarten existieren ferner Temperaturrahmenbedingungen, in Form von

unteren- und oberen Temperaturschwellen. Die untere Temperaturschwelle (tu) ist die

geringste Temperatur, bei der gerade noch eine Entwicklung stattfinden kann. Die obere

                                                                                                               94 Vgl. Kühne: Forensische Entomologie, S. 29.  95 Vgl. Benecke: Besiedlung durch Gliedertiere, S. 178.  96 Vgl. ebd.  97 Vgl. Grassberger/Amendt: Forensische Entomologie, S. 847.  98 Vgl. Schaefer, Matthias: Wörterbuch der Ökologie, 5. Aufl., Heidelberg 2012, S. 109.  

  27

Temperaturschwelle (to) ist diejenige, ab der das Tier in Stress gerät und die

Entwicklungsrate nicht mehr zunimmt. Eine Unter- oder Überschreitung der Werte hat

den Entwicklungsstillstand oder Tod der Tiere zur Folge.99

Die Temperaturschwellen und Wärmekonstanten (K) variieren je nach Fliegenart und

müssen experimentell im Freiland oder Labor ermittelt werden. Für die forensisch

entomologisch bedeutsamsten Fliegenarten wurden die Werte bereits experimentell

ermittelt.

Das Produkt aus der Temperatur (in o C) zwischen der unteren- und oberen

Temperaturschwelle und der Zeit (in Tagen) entspricht damit der physiologischen Zeit

des Organismus und wird in der Einheit von ‚Accumulated – Degree – Days’

(ADD; Do) oder ‚Accumulated – Degree – Hours’ (ADH; Ho)

angegeben.100

Die Schmeißfliegenart Calliphora vicina benötigt beispielsweise für den erfolgreichen

Abschluss des Entwicklungsstadium vom Ei zum Puparium eine Temperatursumme von

191 ADD. Der Abschluss einer vollständigen Metamorphose erfordert insgesamt eine

Wärmekonstante von 388 ADD.101 Die ADD können mithilfe einer mathematischen

Gleichung berechnet werden.

Bei einer konstanten Temperatur, wie sie beispielsweise im Labor oder in einer

Wohnungen vorherrscht, können die ADD einfach als Produkt aus der Temperatur

(zwischen tu und to) und der benötigten Entwicklungszeit berechnet werden.

Hierzu werden die am Leichenfundort asservierten Insekten unter kontrollierten

Verhältnissen bis zum nächsten Entwicklungsstadium (Verpuppung, Schlupf)

weitergezüchtet. Die konstante Züchtungstemperatur ergibt sich aus der Berechnung der

in der Umgebung der Leiche herrschenden Durchschnittstemperatur. Wie in dem

vorherigen Verfahren wird der Temperaturverlauf für mindestens 3 – 5 Tage ab

Auffindung aufgezeichnet. Ein mathematischer Zusammenhang der aufgezeichneten

Temperaturwerte wird wiederum mit den Werten der nächstgelegenen Wetterstation

über Regressionsanalyse ermittelt.

Die für die Berechnung der ADD während der Entwicklung im Labor erforderlichen

Werte sind folglich die untere Temperaturschwelle der jeweiligen Fliegenart und die

konstante Züchtungstemperatur.102

                                                                                                               99 Vgl. Grassberger/Amendt, Jens: Forensische Entomologie, S. 847 f.  100 Vgl. ebd.  101 Vgl. Amendt/Klotzbach/Krettek: Forensische Entomologie, S. 130.  102 Vgl. Grassberger/Amendt: Forensische Entomologie, S. 848.  

  28

Entsprechend der mathematischen Gleichung wird von der konstanten

Züchtungstemperatur die spezifische untere Temperaturschwelle der jeweiligen

Fliegenart subtrahiert. Der entstandene Wert wird mit der im Labor gemessenen

Entwicklungszeit in Stunden bis zum nächsten Entwicklungsstadium multipliziert. Das

Zwischenergebnis wird durch die Zahl 24 dividiert, welche mit den 24 Stunden eines

Tages gleichzusetzen ist. Das nun entstandene Ergebnis entspricht der für den

erfolgreichen Abschluss des Entwicklungsstadiums benötigten Temperatursumme in

ADD.103

Anhand eines Beispiels soll die Gleichung verdeutlicht werden. Am 10.09.2011 wird

gegen Mittag eine Leiche gefunden. Am Leichenfundort können Larven asserviert

werden. Die Artbestimmung ergibt, dass es sich um die Larven der Schmeißfliegenart

Calliphora vicina handelt. Anschließend wir die in der Umgebung der Leiche

herrschende Durchschnittstemperatur berechnete. Diese beträgt 22 o C. Im Labor erfolgt

nun die Weiterzucht der Larven bei einer konstanten Temperatur von 22 o C. Die bis zur

Verpuppung des Tieres vergangene Entwicklungszeit wird unter kontrollierten

Verhältnissen dokumentiert. Die Larven benötigten für die Entwicklung bis zum

Puparium im Labor 167,4 h.

Für die Berechnung der akkumulierten Wärme werden nun von den 22 o C der

Züchtungstemperatur die 2 o C der unteren Schwellentemperatur subtrahiert.

Der entstandene Wert wird mit den 167,4 h der Entwicklungszeit multipliziert.

Das Zwischenergebnis wird durch 24 dividiert. Im Ergebnis benötigten die Larven der

Schmeißfliegenart Calliphora vicina für den erfolgreichen Abschluss des

Entwicklungsstadiums bis zum Puparium eine Temperatursumme von 139,5 ADD.

Um den genauen Eiablagezeitpunkt der Schmeißfliege bestimmen zu können, müssen

nun die ADD vor der Asservierung zurück gerechnet werden. Da es sich jetzt um

variable Temperaturen handelt, können im Gegensatz zum Labor nicht mehr einfach die

Züchtungstemperatur und die gesamte Entwicklungszeit bis zum nächsten

Entwicklungsstadium in die Gleichung eingesetzt werden. Die Berechnung der ADD

muss nun immer für einen Entwicklungszeitraum von 24 h erfolgen. Die dazu

erforderlichen Durchschnittstemperaturen jedes vergangenen Tages vor der Auffindung

des Leichnams werden von der nächstgelegenen Wetterstation mittels                                                                                                                103 Vgl. Oliveira – Costa, Janyra/de Mello – Patiu, Cánia: Application of Forensic Entomology to estimate of the postmortem interval – PMI in humicide investigations by the Rio de Janeiro Police Department in Brazil, 2004, (Online), URL: http://www.anilaggrawal.com/ij/vol_005_no_001/pdf/forensic_entomology_special_issue_low_resolution.pdf, Anil Aggrawal’s Internet Journal of Forensic Medicine and Toxicology, S. 40 ff., (Download vom: 14.05.2012).  

  29

Regressionsanalyse bezogen. Im Optimalfall erfolgt die Auflistung der ADD jedes

Tages vor der Asservierung in Tabellenform.

Insgesamt benötigt Calliphora vicina für den erfolgreichen Abschluss der Entwicklung

vom Ei zum Puparium 191 ADD. Die Differenz zwischen den berechneten ADD

während der Entwicklung der Larven zum Puparium im Labor und der insgesamt

notwendigen Wärmekonstante für die Entwicklung vom Ei bis zum Puparium beträgt

somit 51,5 ADD.

Die Wetterstation konnte ermitteln, dass am 09.09.2011, also einen Tag vor der

Auffindung des Leichnams, eine Durchschnittstemperatur von 24 o C herrschte. Die

Berechnung der ADD für den Entwicklungszeitraum von 24 h ergibt 22 ADD. Für den

08.09.2011 wurde eine durchschnittliche Temperatur von 23 o C berechnet. Die

Berechnung hat 21 ADD zum Ergebnis. Die Summe der beiden Tage ergibt 51 ADD.

Damit hat die Eiablage durch die Schmeißfliege am 08.09.2011 stattgefunden.

Die Wachstumsberechnungen des Degree – Day Models sind zuverlässig, denn die

Biochemie der wechselwarmen Insekten folgt zwangsläufig den äußeren

Temperaturgradienten. Die Standardabweichungen der Berechnungen, welche auch mit

Computerprogrammen durchgeführt werden, steigen zwar mit zunehmender

Leichenliegezeit, bleiben jedoch mit maximal 10 % im Rahmen naturwissenschaftlicher

Dimensionen.104

Die erzielten Ergebnisse sind präzise, denn im Gegensatz zu den Isomegalen –

Diagrammen wird der Temperaturverlauf jedes einzelnen Tages in die Berechnung mit

einbezogen. Die Isomegalen – Diagramme spiegeln hingegen das Wachstumsverhalten

der Larven bei einer konstanten Tagestemperatur wieder. In der Praxis sind diese jedoch

variabel.

Für die spätere Erstellung eines entomologischen Gutachtens sind genaue Kenntnisse

über die Auffindesituation des Leichnams, insbesondere des Temperaturverlaufs,

unabdingbar. Ebenso wichtig wie die Schilderung des Raumes, in dem der Leichnam

lag, ist die Beschreibung der Liegeposition, der Beschattung und Bekleidung. Sinnvoll

ist eine Kombination aus schriftlichem Protokoll, Fotografie und Videografie.

Von Interesse für die Leichenliegezeitbestimmung sind neben den Temperaturwerten

die Parameter Niederschlag und Windgeschwindigkeit. Diese können das Anfliegen

                                                                                                               104 Vgl. Benecke: Besiedlung durch Gliedertiere, S. 178.  

  30

verhindern und müssen folglich bei der Erstellung eines entomologischen Gutachtens

berücksichtigt werden.105

2.8 Asservierung

2.8.1 Auffinden entomologischer Spuren

Die professionelle Sicherung und Weiterzucht der Insekten ist die Voraussetzung für

eine zuverlässige Untersuchung und gutachterliche Bewertung der entomologischen

Spuren. Einige Tötungsmethoden und Flüssigkeiten zur Konservierung der Insekten

können die Länge der Larven unterschiedlich stark beeinflussen. Ein standardisiertes

Vorgehen bei der Asservierung der Insekten ist damit unverzichtbar.

Als richtungsweisend gelten die Richtlinien der European Association for Forensic

Entomologie.106

Grundsätzlich sollte immer am Leichnam selber, aber auch am Leichenfundort gesucht

werden, da sich die Larven zahlreicher Arten zum Verpuppen von der Leiche entfernen.

Die Entnahme von Proben sollte nur nach Rücksprache mit dem zuständigen

Kriminaltechniker und dem verantwortlichen Rechtsmediziner erfolgen, um eine

Zerstörung wichtiger Beweise zu vermeiden. 107 Es werden immer unterschiedliche

Körperregionen besammelt und anschließend getrennt voneinander nach Region

sichergestellt. Besonders wichtig sind die natürlichen Körperöffnungen, da hier die

Erstbesiedlung stattgefunden hat. Auch Teppiche, Schlafsäcke und andere Gegenstände,

die zum Einwickeln der Leiche verwendet wurden, müssen kontrolliert werden.

Ebenfalls lohnen kann sich die Suche in dem für den Transport verwendeten

Leichensack. Auch das Umfeld der Leiche muss auf Insektenspuren untersucht werden.

Je nach Befallsintensität sollte in einer Entfernung bis zu 10 Metern von der Leiche

nach Insekten gesucht werden. Totholz, Steine, Teppiche und Fußbodenleisten sind

anzuheben, um eventuell bereits abgewanderte Tiere sichern zu können.108

2.8.2 Sicherung entomologischer Spuren

Es müssen im Optimalfall immer lebende und abgetötete Insekten aller

Erscheinungsformen und Entwicklungsstadien asserviert werden. Neben der

                                                                                                               105 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 239 f.  106 Vgl. ebd. S. 236.  107 Vgl. ebd. S. 237.  108 Vgl. ebd.  

  31

Berechnungsmöglichkeit der Leichenliegezeit kann so die Artbestimmung der Insekten

am erwachsenen Tier in problematischen Fällen gewährleistet werden. Ist eine

Übergabe der Insekten in die Weiterzucht nicht absehbar und besteht auch nicht das

Interesse oder die Möglichkeit, diese weiter zu züchten, können alle asservierten

Insekten abgetötet werden.109

Mit einer Pinzette oder einem Löffel werden die Tiere einer Fundstelle (zum Beispiel

dem Kopf) in ein nummeriertes Gefäß gegeben. Im Optimalfall sollten nur gleich

aussehende Individuen in ein Gefäß gelangen. Das Behältnis ist gut zu verschließen und

bei einer geplanten Zwischenlagerung von mehreren Stunden mit kleinen Luftlöchern

zu versehen. Diese dürfen jedoch das Entweichen schlüpfender Individuen nicht

ermöglichen. Auf einem Protokollblatt werden unter den Nummern der Gefäße die

exakten Sammelorte eingetragen und auf einem Körperschema

markiert.110

Die lebenden Tiere werden im Optimalfall bei 2 – 6 o C bis zur Übergabe in die Zucht

zwischen gelagert. Innerhalb von 24 h sollten die Tiere in die Weiterzucht gelangen, um

keinen Schaden zu nehmen. Nicht in die Zucht gelangende Insekten werden in sehr

heißes, aber nicht kochendes Wasser (> 80 o C) etwa 30 Sekunden lang eingetaucht und

abgetötet. Nach dem Entfernen aus dem Wasser werden die Tiere einmalig mit Ethanol

gewaschen und anschließend in 70 – 95 %igem Ethanol gelagert. Das Verfahren

ermöglicht die bestmögliche Konservierung der Tiere und sollte, wenn nicht bereits am

Fundort selber, spätestens im Labor durchgeführt werden.

Alternativ zum Abtöten im Wasser können die Tiere eine Stunde im Tiefkühlfach bei –

20 o C aufbewahrt und anschließend in das Konservierungsmedium überführt werden.

Vermieden werden sollte das direkte Überführen lebender Larven in das

Konservierungsmedium, denn diese verfärben sich und beginnen früher oder später zu

verwesen.111

2.9 Straftatenaufklärung mithilfe von Insekten

2.9.1 Nachweis einer Vernachlässigung

Wie bereits festgestellt, ernähren sich nekrophage Insekten von totem, abgestorbenem

Gewebe. Es können jedoch auch lebende Menschen ein entsprechendes

                                                                                                               109 Vgl. Amendt/Klotzbach/Krettek: Forensische Entomologie, S. 135.  110 Vgl. ebd., S. 136.  111 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 237 f.  

  32

Eiablagesubstrat aufweisen, wenn beispielsweise Extremitätsbereiche aufgrund von

Durchblutungsstörungen abgestorben sind.

Somit können Wunden, die über einen längeren Zeitraum hinweg nicht adäquat versorgt

wurden, bestimmte Insekten anlocken und eine Eiablage bewirken. Bei diesen Insekten

handelt es sich vorwiegend um die Larven der grünen und blauen Schmeißfliegen, die

sich vom durch die Entzündung zersetzten, toten Gewebe ernähren. Dieser Umstand

findet auch in der Wundtherapie zur Reinigung der Wunden durch die Larven

Anwendung.

Mit der zunehmenden Überalterung der Bevölkerung wird dem Themenfeld der

Vernachlässigung pflegebedürftiger Menschen mehr Beachtung geschenkt. Im Falle

einer Insektenbesiedlung der Wunden kann das Alter der Tiere berechnet und die Dauer

der Vernachlässigung des Betroffenen ermittelt werden.112

Liegen keine Wunden vor, sondern spricht vielmehr die Verschmutzung des Körpers

eines pflegebedürftigen Menschen für eine Vernachlässigung, dann sind nicht die

Schmeißfliegen, sondern die Stallfliegen (Muscina stabulans) für einen Nachweis von

Bedeutung. Diese und andere von Kot und Urin angezogene Gliedertiere können

auftreten, wenn die Windeln eines Kleinkindes nicht regelmäßig gewechselt wurden.

Die Tiere erlauben bei einer kritischen Einzelfallbetrachtung eine Abschätzung des

Ausmaßes und der Dauer der Vernachlässigung und damit ebenfalls die Aufklärung

einer Straftat.113

2.9.2 Leichenverlagerung und postmortale Spurenmanipulation

Leicheninsekten können darüber hinaus wichtige Indizien für ein Ermittlungsverfahren

liefern. Werden beispielsweise an einem Leichnam Imagines, deren Larven oder leere

Puparien festgestellt, die normalerweise in dieser Umgebung nicht anzutreffen sind,

dann ist das ein Indiz dafür, dass der Leichnam zuvor an einer anderen Stelle lag und

der dortigen Insektenfauna ausgeliefert war. Damit ist der Leichenfundort nicht gleich

dem Sterbeort und man spricht von einer Leichenverlagerung.114

In einem Fall stellte man an im Erdreich vergrabenen Körpern Schmeißfliegenmaden

fest. Der Fund wies eindeutig auf eine zeitweise oberirdische Lagerung des Leichnams

hin, da Schmeißfliegen unmöglich einen begrabenen Körper besiedeln können.

                                                                                                               112 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 236.  113 Vgl. ebd.  114 Vgl. Jäkel: Leichenliegezeitbestimmung mittels Forensischer Entomologie, S. 31.  

  33

Greenberg und Kunich dokumentierten im Jahr 2002 fernen einen Fall, in dem das

Fehlen von Insekten an einem blutverschmierten Mordopfer auf eine postmortale

Spurenmanipulation des Täters kurz vor Auffinden der Leiche hinwies. Der Täter hatte

einen gewaltsamen Einbruch mit anschließender Tötung des Opfers vorgetäuscht.

Er gab an, dass das Ereignis 24 Stunden zuvor stattgefunden habe. Da jedoch

Hochsommer herrschte und der Leichnam aufgrund der zerstörten Fensterscheiben frei

zugänglich für Insekten war, hätte er in diesem Fall schon lange durch Insekten

besiedelt sein müssen. Über diesen Umstand geriet der Ehemann unter Druck und

gestand die Tat.115 Damit konnten fehlende entomologische Spuren zur Aufklärung eines

Tötungsdeliktes beitragen.

2.9.3 Nachweis und Typisierung menschlicher DNA

In der Regel ist die Leiche selber Quelle für DNA – analytische Untersuchungen zur

Klärung der Identität eines unbekannten Opfers. Es sind jedoch auch Fälle denkbar, in

denen die Analyse und Typisierung von zuvor aus den Maden gewonnener

menschlicher DNA hilfreich sein können. Werden zum Beispiel Maden in einem leeren

Kofferraum eines Wagens oder an einem Ort gefunden, an dem keine Leiche mehr

festzustellen ist, so können die Maden dahingehend untersucht werden, ob sie sich von

menschlichem Gewebe ernährt haben. Der individualspezifische Nachweis

menschlicher DNA im Verdauungstrakt der Maden kann mit den gängigen

molekularbiologischen Methoden im Optimalfall die Identifizierung einer bestimmten

Person anhand der DNA ermöglichen. Voraussetzung für die Anwendbarkeit der

Methode ist das Vorhandensein noch fressaktiver Maden. Die Puparien von Fliegen und

bereits von der Leiche abgewanderter Maden können nicht mehr verwendet werden. Bei

ihnen hat bereits die Entleerung des Darmtraktes stattgefunden, sodass kein DNA –

analysefähiges Material mehr zu erwarten ist.116

2.9.4 Entomotoxikologie

Verweste Leichen stellen aufgrund mangelnder Mengen an brauchbarem Gewebe und

Körperflüssigkeiten, wie Blut und Urin, ein Problem für toxikologische

Untersuchungen dar.

                                                                                                               115 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 235 f.  116 Vgl. ebd., S. 234.  

  34

Die Insekten auf dem Leichnam können eine brauchbare Alternative darstellen.117

Durch ihre Fressaktivität nehmen sie Drogen, die der Verstorbene noch zu Lebzeiten

konsumiert hat, über das Leichengewebe auf. Diese Substanzen in den nekrophagen

Insekten festzustellen und deren Auswirkung auf das Entwicklungsverhalten der Tiere

zu analysieren, ist Aufgabe der Entomotoxikologen.118 Die Untersuchungen können

anhand von Larven und adulten Tieren, aber durchaus auch anhand leerer Puparien

durchgeführt werden.

Problematisch ist jedoch, dass ein negativer Befund der Insektenanalyse nicht

gleichzeitig auch das Fehlen einer Substanz im Leichnam bedeutet. Die Anreicherung

und der Abbau der Substanz im Insektenkörper variiert je nach Insektenart, sodass die

Substanz unterschiedlich schnell verstoffwechselt wird.

Die Insektenanalyse kann also negativ ausfallen, obwohl das Individuum eine Substanz

aufgenommen hat, die das Entwicklungsverhalten negativ beeinflusst, da sie bereits

verstoffwechselt wurde.

Ferner ermöglicht die in den Insekten festgestellte Giftmenge zum derzeitigen

Forschungsstand keine zuverlässige Rückrechnung auf die tatsächliche Substanzmenge

im Gewebe. Das liegt daran, dass nicht von einer völlig homogenen Verteilung der

chemischen Substanz in allen Abschnitten des Gewebes ausgegangen wird.

Somit ermöglichen die Insekten im Optimalfall lediglich den Nachweis über eine

Substanz im Leichengewebe. Auskunft über die konsumierte Drogenmenge des

Verstorbenen zu Lebzeiten können sie jedoch nicht geben.119

3. Grenzen der forensischen Entomologie

3.1 Einflussfaktoren auf den Entwicklungszyklus nekrophager Insekten

3.1.1 Umwelteinflüsse

Niedrige Temperaturen und starke Niederschläge am Leichenliegeort können die

Insektenaktivität auf ein Minimum reduzieren oder vollständig zum Erliegen bringen.

Bei starken Niederschlägen kann der Leichnam von den meisten Fliegenarten nicht

angeflogen werden.

                                                                                                               117 Vgl. Voigt/Lederer/Bodach: Forensische Entomologie, S. 118.  118 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 234.  119 Vgl. Voigt/Lederer/Bodach: Forensische Entomologie, S. 118.  

  35

Weiterhin legen einige forensisch entomologisch bedeutsame Fliegenarten ihre Eier

nicht in der Dunkelheit ab. Die Fliegenweibchen riechen den Leichnam zwar, fliegen

diesen jedoch nicht an. Es ist also durchaus möglich, dass der Todeszeitpunkt

tatsächlich länger zurück liegt, als die entomologischen Untersuchungen vermuten

lassen. Bei der Rekonstruktion der Leichenliegezeit hat dieser natürliche Umstand eine

unklare Zeitspanne zwischen Abend und Morgen zur Folge.120

Die Lagerungs- und Umgebungsbedingungen sind für die entomologischen

Untersuchungen von großer Bedeutung. Ein starker Temperaturabfall oder

Nahrungsknappheit können die Entwicklungszeit der Tiere verlängern oder letal

(tödlich) wirken. Zudem kann die Temperatur in dicken, wärmeisolierten

Madenschichten um 2 – 10 o C ansteigen, was die Entwicklung der Tiere beschleunigt.

Die Wärme entsteht durch die teilweise auch hörbare Reibung der Madenmassen. Eine

solche Überbevölkerung der Leiche mit Laven kann, bei geringem Nahrungsangebot,

eine verfrühte Verpuppung mit kleineren Puparien zur Folge haben.121

Ohne zuverlässige Temperaturdaten des Leichenfundortes ist folglich eine auf der

Entwicklungszeit der nekrophagen Insekten basierende Leichenliegezeitbestimmung

nicht durchführbar.

3.1.2 Drogen

Drogen können den Entwicklungszyklus nekrophager Fliegenlarven in unterschiedlicher

Weise beeinflussen. Das zeigten Untersuchungen über das Entwicklungsverhalten der

Fleischfliegenart Boettcherisca peregrina unter verschiedenen Heroinkonzentrationen.

Als Versuchstiere dienten Kaninchen. Ihr Gewebe wurde mit unterschiedlichen Dosen

Heroin präpariert. Anschließend setzte man die Larven auf die inneren Organen der

Versuchstiere.

Die Untersuchungen ergaben, dass hohe Dosen Heroin, das 0,5 – 5 Fache der Letaldosis

(für das Kaninchen tödlichen Dosis), das Heranwachsen der Larven zwischen 18 – 96 h

beschleunigte. Gleichzeitig verlängerte sich jedoch auch die Gesamtentwicklungsdauer

der Individuen um 34 – 36 h. Nach 60 h waren lediglich noch die Entwicklungsraten

derjenigen Individuen beschleunigt, welche sich auf dem Gewebe mit der 2 Fachen

Letaldosis befanden.122

                                                                                                               120 Vgl. Kühne: Forensische Entomologie, S. 45.  121 Vgl. Benecke: Besiedlung durch Gliedertiere, S. 180.  122 Vgl. ebd.  

  36

Somit beschleunigten hohe Dosen Heroin das Wachstum der Larven. Gleichzeitig hatte

die Substanz jedoch eine Verlängerung der Gesamtentwicklungsdauer zur Folge, sodass

sich die Entwicklungszeiten nach 60 h wieder dem Normalwert annäherten.

Eine dauerhafte Entwicklungsbeschleunigung hatte die 2 Fache Letaldosis zur Folge.

Damit nimmt die Substanz in unterschiedlicher Weise Einfluss auf das

Wachstumsverhalten der Larven. Eine allgemeingültige Aussage kann nicht abgeleitet

werden.

Ferner wurden Untersuchungen über den Einfluss von Morphin auf die

Entwicklungsrate der Schmeißfliegenart Lucilia sericata durchgeführt. Wiederum

dienten Kaninchen als Versuchstiere. Nach der Tötung mit CO2 (Kohlenstoffdioxid)

wurde das Gewebe der Tiere mit den Konzentrationen 12,5 mg, 25 mg und 50 mg

Morphinchlorhydrat behandelte.

Die Untersuchungen ergaben, dass die Larven zu Beginn (41 – 69 h post mortem) im

Vergleich zur Kontrollgruppe (0 mg Morphinchlorhydrat) nur auf dem Gewebe mit der

höchsten Morphinchlorhydratkonzentration von 50 mg verlangsamt heranwuchsen,

später (91 – 165 h post mortem) jedoch auch auf dem Gewebe mit den geringeren

Konzentrationen.123

Die Untersuchungen lassen den Schluss zu, das Morphin eine Verlangsamung der

Larvenentwicklung zur Folge hat. Je höher die Morphinkonzentration, desto eher tritt

die Verlangsamung der Larvenentwicklung ein.

Als kritisch bei den Untersuchungen mit Heroin und Morphin ist der Umstand

anzusehen, das Kaninchen als Versuchstiere verwendet wurden. Diese sind mit der

Anatomie eines Menschen nicht vergleichbar. Zudem wurden die Kaninchen durch CO2

getötet. Dass auch diese Substanz Einfluss auf das Wachstumsverhalten der Larven

nehmen kann, wurde missachtet.

Weitere Untersuchungen dokumentieren umfassend den Einfluss von Ethanol und

Methadon auf die Entwicklung der Larven der Schmeißfliegenart Lucilia sericata.

Als Nahrungsgrundlage diente Rinderhackfleisch, welches mit Ethanol und Methadon

vermischt wurde. Sofort nach der Eiablage platzierte man die Eier auf dem

Nährsubstrat. Bei den Untersuchungen mit Ethanol kamen neben einer Kontrollgruppe

(0,0 ‰) Testgruppen mit 2 ‰, 4 ‰, 6 ‰ und 8 ‰ Ethanol im Nährsubstrat zum

Einsatz. Der 1. Testdurchgang ergab, dass sich die Längen der Testgruppen graduell

(stufenweise) unterschieden. Die größte Längendifferenz wurde am 5. Tag zwischen der

                                                                                                               123 Vgl. Benecke: Besiedlung durch Gliedertiere, S. 180.  

  37

Kontrollgruppe und der 8 ‰ – Gruppe mit 0,7 mm gemessen. Die Maden der

Kontrollgruppe wurden mit 13,2 mm am Längsten. Die geringste Endlänge erreichte die

8 ‰ – Gruppe mit 12,7 mm.

Im 2. Testdurchgang kamen Testgruppen mit 1 ‰ – 10 ‰ Ethanol im Nährsubstrat zum

Einsatz. Es wurde festgestellt, dass die Larven insgesamt größere Endlängen erreichten.

Die Kontrollgruppe und die 1 ‰ und 6 ‰ – Gruppe erreichten Endlängen zwischen

13,7 und 13,9 mm. Bei den 7 ‰ bis 10 ‰ – Gruppen kam es hingegen zu einer

deutlichen Verringerung der Endlängen. Die Larven der 10 ‰ – Gruppe erreichten die

geringsten Endlängen mit maximal 12,2 mm.

Folglich haben hohe Ethanolkonzentrationen im Nährsubstrat eine Verringerung der

Endlängen der Larven zur Folge. Probleme bereiten kann diese Auswirkung auf das

Wachstumsverhalten der Larven bei der Anwendung der Isomegalen – Diagramme.

Hier wird die Länge der Larven gemessen und zur Bestimmung der minimalen

Leichenliegezeit heranangezogen. Können die Untersuchungen der Entomotoxikologie

keinen Nachweis mehr darüber erbringen, dass die Larven Ethanol über das Gewebe

aufgenommen haben, da die Substanz bereits verstoffwechselt wurde, ist die in dem

entomologischen Gutachten genannte Leichenliegezeit unpräzise.124

Weiterhin erfolgte die Untersuchung der Entwicklungszeit der Larven unter Ethanol bis

zur Verpuppung. Die Untersuchung ergab, dass die Kontrollgruppe mit 292,8 h (12,2

Tagen) die längste Entwicklungszeit benötigte, gefolgt von der 2 ‰ und 6 ‰ – Gruppe

mit 271,2 h (11,3 Tagen) und 256,8 h (10,7 Tagen). Wesentlich schneller durchliefen

die 4 ‰ und 8 ‰ – Gruppe das Larvenstadium. Innerhalb von 168 h (7 Tagen) und

213,6 h (8,9 Tagen) hatten die Gruppen sich bereits zum Puparium entwickelt. Damit

erreichte die 4 ‰ – Gruppe das Puppenstadium 124,8 h (5,2 Tagen) vor der

Kontrollgruppe.

Ethanol wirkte bei allen Testgruppen im 1. Testblock beschleunigend auf die

Entwicklungszeit. Die Unterschiede zwischen der Kontrollgruppe und den Testgruppen

waren zum Teil erheblich.

Im 2. Testblock verkürzten sich die Entwicklungszeiten der Testgruppen insgesamt.

Einzelne Gruppen verweilten jedoch deutlich länger im Larvenstudium als die

Kontrollgruppe. So benötigte die 9 ‰ – Gruppe 172,8 h (7,2 Tage) bis zur Verpuppung,

                                                                                                               124 Vgl. Hecht, Lars: Über den Einfluss toxischer Substanzen auf die Entwicklung der nekrophagen Schmeißfliegenart Lucilla sericata im Hinblick auf die Bestimmung der Todeszeit. Institut für Rechtsmedizin der Universität Hamburg, Dissertation 2005, S. 33 ff.  

  38

die Kontrollgruppe 127,2 h (5,3 Tage).125

Anhand der Untersuchungsergebnisse beider Testblöcke lässt sich keine

allgemeingültige Aussage über den Einfluss von Ethanol auf die Entwicklungszeit der

Larven ableiten. Beim 1. Testdurchgang bewirkte Ethanol eine Verringerung der

Entwicklungszeiten aller Testgruppen, im 2. Testblock konnte jedoch bei einer der

Testgruppen eine Verlängerung der Entwicklungszeit festgestellt werden.

Ethanol hat erheblichen Einfluss auf die Larvenentwicklung und kann im schlimmsten

Fall Fehlinterpretationen der Leichenliegezeitbestimmung im Bereich von 8,9 Tagen

zur Folge haben. Hat die Entomotoxikologie einen negativen Befund der Substanz zur

Folge, sodass der Ethanoleinfluss in dem entomologischen Gutachten nicht

berücksichtigt werden kann, ist die berechnete Leichenliegezeit sehr unpräzise. Im

Rahmen weiterer Untersuchungen muss die Wirkung der Substanz erforscht werden, um

den Einfluss von Ethanol nachvollziehen zu können.

Weiterhin wurden Untersuchungen über den Einfluss von Methadon auf das

Wachstumsverhalten der Larven von Lucilia sericata durchgeführt. Im 1. Testblock

kamen neben der Kontrollgruppe drei Testgruppen mit 0,1 µg/g (Mikrogramm

Methadon/Gramm Rinderhackfleisch), 0,5 µg/g und 1 µg/g zum Einsatz.

Die Untersuchungen zeigten, dass die Kontrollgruppe zu Beginn langsamer als die

Testgruppen wuchs, jedoch mit 12,6 mm die größte Endlänge erreichte. Mit steigender

Methadonkonzentration erreichten die Testgruppen geringere

Endlängen.

Hier kann die allgemeingültige Aussage getroffen werden, das Methadon eine

Verringerung der Endlängen der Larven zur Folge hat. Je höher die

Methadonkonzentration, desto geringer fielen die Endlängen der Larven aus.

Untersuchungen zur Entwicklungszeit der Larven bis zur Verpuppung unter

Methadoneinfluss ergaben, dass sich die meisten Larven unter Methadoneinfluss

schneller entwickelten. Zwischen der Kontrollgruppe und der 0,1 µg/g – Gruppe

bestand eine Differenz von 4,2 h. Als erste erreichte die 0,5 µg/g – Gruppe das

Puppenstadium. Lediglich bei der 1 µg/g – Gruppe verlängerte sich die

Entwicklungsdauer um 3,8 h im Vergleich zur Kontrollgruppe (siehe Anlage Seite 24).

Im 2. Testblock wurden im Vergleich zum 1. Testblock keine signifikanten

Unterschiede festgestellt.126

                                                                                                               125 Vgl. Hecht, Lars: Über den Einfluss toxischer Substanzen auf die Entwicklung der nekrophagen Schmeißfliegenart Lucilla sericata, S. 33 ff.  126 Vgl. ebd.  

  39

Abschließend kann festgehalten werden, dass Ethanol und Methadon die

Entwicklungszeiten der Larven in unterschiedlicher Weise beeinflussen. Die

Untersuchungen hatten teilweise erhebliche Zeitdifferenzen zum Ergebnis. Da die

Substanzen unterschiedlich auf die Entwicklungszeiten der Larven wirkten, konnte

keine allgemeingültige Aussage geschlussfolgert werden.

Die Untersuchungen über das Wachstumsverhalten ließen hingegen die Konstante

ersichtlich werden, das beide Substanzen eine Verringerung der Endlängen der Larven

zur Folge haben.

3.2 Fehlerquellen der entomologischen Leichenliegezeitbestimmung

Der in einem entomologischen Gutachten genannte Zeitraum ist nicht zwangsläufig der

konkrete Todeszeitpunkt. Genauer gesagt wird angegeben, seit wann der Leichnam

erstmals von Insekten besiedelt wurde. Tatsächlich kann der Mensch jedoch schon

länger verstorben sein. So kann metertiefes Vergraben oder Verpacken eines Leichnams

die Zugänglichkeit für Insekten erschweren oder unmöglich machen. 127 Dem

Forensischen Entomologen bleibt dann allerdings keine andere Wahl, als sich an den

Gegebenheiten der vorliegenden Fallgeschichte zu orientieren. Damit geht er von der

Annahme aus, das sich die vorgefundenen Insekten unter den Bedingungen des

Leichenfundortes entwickelt haben. Wurde der Leichnam zuvor hingegen bereits an

einem anderen Ort abgelegt und besiedelt, enthält die Berechnung der Leichenliegezeit

eine erhebliche Fehlerquelle. Die Bedingungen des vorherigen Leichenliegeorts wurden

in dem entomologischen Gutachten nicht berücksichtigt, sondern lediglich diejenigen

des Fundortes. Die ermittelte Leichenliegezeit ist dann unpräzise.128

Ferner ist die Nachvollziehbarkeit des zeitlichen Ablaufs der am Leichnam auftretenden

Insekten für die Eingrenzung der Leichenliegezeit von großer Bedeutung.

Mit fortschreitender Liegezeit kann die Insektenbesiedlung immer schwerer

nachvollzogen werden, denn die einzelnen Sukzessionsstadien stellen keinen lückenlos

zusammenhängenden Ablauf dar. So kann der in einem Wald liegende Leichnam von

einer anderen Insektenfauna besiedelt werden, als der in einer innerstädtischen

Wohnung liegende. Sogar die Sukzession in einer norddeutschen Region kann durch

andere Arten dominiert werden, als im süddeutschen Raum. 129 Zur Definition

                                                                                                               127 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 227.  128 Vgl. Amendt/Klotzbach/Krettek: Forensische Entomologie, S. 137.  129 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 231.  

  40

wissenschaftlich begründbarer Zeiträume werden nicht nur Kenntnisse über die

Biologie der nekrophagen Insekten, sondern vor allem umfangreiche experimentelle

Daten unterschiedlicher Fundortsituationen und Jahreszeiten benötigt. Hilfreich wären

Untersuchungen, die im Optimalfall den Zersetzungsprozess eines Leichnams von

Anfang bis zum Ende unter protokollierten Bedingungen dokumentieren. Die meisten

Untersuchungen zur Insektensukzession wurden an Tierkadavern durchgeführt. Die

überwiegend verwendeten Versuchstiere sind jedoch nicht mit forensischen Szenarien

kompatibel. Gut eignet sich das Hausschwein, da es mit einem entsprechenden

Körpergewicht ausgewählt und bekleidet werden kann und hinsichtlich der Art und

Anordnung der inneren Organe sowie der Körperbehaarung dem Menschen ähnelt.130

Aktuell wurde die Theorie aufgeworfen, das die geographische Variabilität weiterhin

Einfluss auf das Entwicklungswachstum der Insekten nehmen kann. Benötigt die

Schmeißfliegenart Lucilia sericata in Südfrankreich bei 25 o C genauso viel Zeit für eine

Metamorphose wie die Schmeißfliege aus einer Population in Norddeutschland? Es

bestehen Erkenntnisse, die diese Frage verneinen, sodass erhobene Entwicklungsdaten

anderer Regionen für die Leichenliegezeitbestimmung in einem schlechten Licht

stehen.131

Weiterhin stößt die Forensische Entomologie hinsichtlich der Genauigkeit ihrer

Aussagen an ihre Grenzen, sobald sich die Arten der ersten Besiedlungswelle an dem

Leichnam zu erwachsenen Insekten entwickelt haben. Dann befinden sich am

Leichenfundort lediglich noch deren leere Puparien. Diese ermöglichen zwar eine

Artbestimmung der Insekten, jedoch kann zum aktuellen Forschungsstand noch nicht

der Zeitpunkt des Schlupfes der Tiere an dem verlassenen Puparium ermittelt werden.

Somit kann nicht mehr nachvollzogen werden, wie viel Zeit verstrichen ist, seitdem die

adulten Tiere geschlüpft sind. Eine präzise Bestimmung der Leichenliegezeit ist dann

nicht mehr möglich.132

4. Fazit

Zusammenfassend ist zu sagen, dass das Verfahren zur Berechnung der minimalen

Leichenliegezeit mithilfe der Isomegalen – Diagramme bei einer optimalen                                                                                                                130 Vgl. Amendt: Forensische Entomologie, S. 231 f.  131 Vgl. Amendt/Klotzbach/Krettek: Forensische Entomologie, S. 137.  132 Vgl. Amendt, Jens/Krettek, Roman/Zehner, Richard: Praxis der forensischen Insektenkunde – zur Verwertbarkeit von Insektenfragmenten bei der Eingrenzung der Todeszeit. In: Archiv für Kriminologie, 2004, Nr. 214, S. 11 ff.  

  41

Wetterdatenlage präzise Ergebnisse ermöglicht. Das ist der Fall, wenn am

Leichenfundort vor der Asservierung konstante Temperaturwerte und

Witterungsverhältnisse geherrscht haben. Am Leichenfundort wird die

Durchschnittstemperatur ermittelt und mit den Temperaturen gleichgesetzt, unter

welchen sich die Individuen vor der Asservierung entwickelt haben. Folglich basiert die

berechnete Leichenliegezeit auf der Annahme, das die Individuen ihre Entwicklung

unter einem konstanten Temperaturwert vollzogen haben. Jedoch können bereits

geringe Temperaturschwankungen die Entwicklungszeit der Insekten beeinflussen,

sodass die Methode lediglich bei einer exakten Dokumentation und Rekonstruktion der

Lagerungs- und Umweltbedingungen sowie konstanten Witterungsverhältnissen und

Temperaturwerten eine präzise Bestimmung der Leichenliegezeit ermöglicht.

Eine feinere Methode zur Leichenliegezeitbestimmung ist das Degree – Day Modell, da

für die Berechnung der ADD die Durchschnittstemperaturen jedes einzelnen Tages vor

der Asservierung ermittelt werden. Die unteren- und oberen Schwellentemperaturen und

Wärmekonstanten für den Abschluss der Entwicklungsstadien sind darüber hinaus gut

erforscht. Die Berechnungen mithilfe der mathematischen Gleichung sind zuverlässig,

da die Biochemie der wechselwarmen Tiere in hohem Maße temperaturabhängig ist.

Das Degree – Day Modell ermöglicht 4 – 6 Wochen nach Todeseintritt eine auf den Tag

genaue Bestimmung der Leichenliegezeit und ist damit eine präzise Methode.

Die Untersuchungen über den Einfluss von Drogen auf das Entwicklungsverhalten der

Fliegenlarven zeigten, dass die Substanzen zum Teil erhebliche Auswirkungen hatten.

Über den Einfluss von Heroin, Ethanol und Methadon auf die Entwicklungszeiten der

Larven konnte keine allgemeingültige Aussage getroffen werden, da die Auswirkungen

zu variabel waren.

Hinzu kommt, dass die Entomotoxikologie über die im Insekt festgestellte Stoffmenge

zum heutigen Forschungsstand keine Rückrechnung auf die zu Lebzeiten konsumierte

Drogenmenge des Verstorbenen ermöglicht. Außerdem bedeutet ein negativer Befund

der Insektenanalyse nicht, dass tatsächlich keine Drogen im Gewebe vorhanden waren.

Ungenauigkeiten bei der Berechnung der Leichenliegezeit sind in diesem Fall

unvermeidbar. Die Methode der Forensischen Entomologie stößt folglich an ihre

Grenzen, sobald die Leichenliegezeit am Leichnam eines Drogenkonsumenten

berechnet werden soll. Der Einfluss von Drogen auf das Entwicklungsverhalten der

Insekten muss umfassend erforscht werden. Darüber hinaus müssen bei den

Ermittlungen Informationen darüber eingeholt werden, ob der Verstorbene vor seinem

  42

Tod Substanzen konsumiert hat, welche den Entwicklungszyklus der Insekten

beeinflussen können.

Der in einem entomologischen Gutachten genannte Zeitraum wird weiterhin ungenau,

wenn der Leichnam vor der Auffindung metertief vergraben oder verpackt wurde.

Der Zeitraum vor der Auffindung kann in dem entomologischen Gutachten nicht

berücksichtigt werden, sodass die ermittelte Leichenliegezeit unpräzise wird und nur

ungefähr bestimmt werden kann.

An eine weitere Grenze gerät die Forensische Entomologie, sobald sich am

Leichenfundort die Arten der ersten Besiedlungswelle zu erwachsenen Insekten

entwickelt haben. Eine präzise Leichenliegezeitbestimmung ist dann nicht mehr

möglich.

Die zuvor geschilderten Probleme traten auch bei dem anonymisierten forensisch

entomologischen Gutachten auf. Die Leiche war in einen Teppich eingerollt und befand

sich bei der Auffindung in einem starken Zersetzungsstadium, sodass die

Leichenliegezeit lediglich noch grob eingeschätzt werden konnte.

Weitere Probleme bereiten können die Artbestimmung der oftmals gleichförmigen

Larven und die Tatsache, das in Deutschland noch kein Bestimmungsschlüssel für die

Sarcophagidae (Fleischfliege) existiert. Auch die Molekularbiologie kann dieses

Problem nicht immer lösen, da die ausgewählten Genabschnitte für viele entomologisch

bedeutsame Fliegenarten noch nicht abschließend untersucht wurden.

Es wird deutlich, dass die Forensische Entomologie noch zahlreiche Forschungsdefizite

aufweist, welche der Methode Grenzen in ihrer Genauigkeit setzen.

Die Defizite machen deutlich, dass die Methode in Deutschland noch nicht ausreichend

etabliert ist. Es kann allerdings davon ausgegangen werden, dass die meisten Grenzen

dieser Methode in der Zukunft durch Forschung beseitigt werden.

Bleiben werden jedoch Ungenauigkeiten bei der Leichenliegezeitbestimmung eines

verpackten, vergrabenen oder nach 6 Wochen aufgefundenen Leichnams.

Im Hinblick auf die Straftatenaufklärung mithilfe von Insekten ermöglichen

Schmeißfliegen und Stallfliegen eine Abschätzung über das Ausmaß und die Dauer

einer Vernachlässigung.

Ebenfalls präzise Ergebnisse kann die Forensische Entomologie im Hinblick auf die

Verlagerung einer Leiche oder eine postmortale Spurenmanipulation liefern.

Das Vorhandensein von Larven an einem Tatort ohne Opfer ermöglicht im Optimalfall

mithilfe der DNA – Analyse den Nachweis über die Identität des Opfers. Jedoch hat

  43

dieses Verfahren Grenzen, sobald die Larven ihren Darmtrakt entleert und sich von der

Leiche entfernt haben.

Im Ergebnis kann damit die zu Beginn der Arbeit aufgestellte These bestätigt werden.

Bei der Forensischen Entomologie handelt es sich um eine präzise Methode zur

Leichenliegezeitbestimmung und Straftatenaufklärung mit Grenzen.

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