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Il\FORMATIONSBRIEFE DER GRUPPE ARBEITERPOLITIK + Zu den Streiks an deutschen Hochschulen + Berichte dazu aus Frank- furt, Bremen, Bochum + Standortvertrag Opel-Bochum + Berlin: Pro- teste der Kirchenbeschäftigten + Koalitionsvertrag von SPD und GAL in Hamburg + Hamburg: Wie weiter in der GEW? + Das Ende von Ort- mann & Herbst in HH + Streiks im spanischen Bergbau

FORMATIONSBRIEFE DER GRUPPE ARBEITERPOLITIK · Materi-ell scheint der Streik kaum etwas gebracht zu haben. Die Zielrichtung der Proteste Dieser erste Eindruck muß bei näherem Hinsehen

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Il\FORMATIONSBRIEFE D E R G R U P P E A R B E I T E R P O L I T I K

+ Zu den Streiks an deutschen Hochschulen + Berichte dazu aus Frank-furt, Bremen, Bochum + Standortvertrag Opel-Bochum + Berlin: Pro-teste der Kirchenbeschäftigten + Koalitionsvertrag von SPD und GAL inHamburg + Hamburg: Wie weiter in der GEW? + Das Ende von Ort-mann & Herbst in HH + Streiks im spanischen Bergbau

n GIBT ES EINE NEUE STUDENTENBEWEGUNG?

Der Streik an den deutschen Hochschulen imWintersemester 1997/98Als am 28. Oktober letzten Jahres ein Dozent an der Univer-sität Gießen in seiner mit 500 Teilnehmern völlig überfüll-ten Pädagogik-Veranstaltung die jüngeren Semester auffor-derte, - wie in den letzten Jahren üblich - zugunsten derälteren Semester den Raum zu verlassen und nach ihrerWeigerung, dieser Forderung Folge zu leisten, das Seminarabbrach, ahnte noch niemand, daß dies den Auslöser für diegrößte Streikbewegung an deutschen Hochschulen seit 1968darstellen würde.

Auf dem Höhepunkt der Bewegung wurden bundesweitfast 130 Hochschulen mit über 800.000 Studierendenbestreikt. Insgesamt zogen sich die Streiks an den einzelnenHochschulen von Ende Oktober bis Mitte Januar hin.Zumeist wurde zwischen zwei und vier Wochen gestreikt.Am längsten hatte der Vorlesungsboykott in Gießen Be-stand,wo die Lehrveranstaltungen über fünf Wochen ausfielen.Einschränkend ist dabei allerdings anzumerken, daß derStreik in einer ganzen Reihe von Hochschulen nicht diegesamte Hochschule, sondern nur einen Teil der Fachberei-che erfaßte und er in ein paar Hochschulen auch nur eineneinzigen Tag dauerte. Die Schwerpunkte lagen in Hessen undNordrhein-Westfalen, wo kaum eine Hochschule vom Streikausgenommen blieb.

Mit einer Vielzahl von Aktionen und Demonstrationenversuchten die Streikenden, auf die miserable Lage an denHochschulen (siehe den Kasten zur Entwicklung der Hoch-schulen) aufmerksam zu machen und die Bundesregierungsowie die Landesregierungen zu Zugeständnissen zu bewe-gen. Die Teilnehmerzahlen erreichten dabei örtlich wie auchregional Größenordnungen, die studentische Proteste selbstEnde der 60er kaum je zu verzeichnen hatten. So demon-strierten selbst bei lokalen Demonstrationen in mittelgroßenUniversitätsstädten wie Gießen, Paderborn oder Regensburg5000 bis 8000 Studierende. Bei den zentralen landesweitenDemonstrationen am 4. Dezember waren es in Düsseldorf40.000, in Berlin 30.000, in Hamburg 20.000, insgesamt über130.000~ (siehe Kasten dazu).

Die Umarmungsstrategie der HerrschendenZu Beginn unterschieden sich die Stellungnahmen der Ver-antwortlichen in Politik, Wirtschaft und den Hochschulenselbst wie auch die öffentliche Reaktion der Journalistenspürbar von ihrem Verhalten bei vergleichbaren Aktionen inder Vergangenheit. Eine Welle von öffentlich bekundeter

1 Alle Zahlenangaben beruhen auf offizielle Meldungen in der Presse

Die »Informationsbriefe« und weitere Broschüren und Bücher der GFSA e.V.werden in folgenden Buchhandlungen angeboten:

0 Berlin-West: » Schwarze Risse« , Gneisenaustraße 2a 0 Berlin-Ost: »Der kleine Buchla-den« . Weydinger Straße 14 -16 0 Bonn: » Buchladen 46«, Kaiserstraße 46 0 Bremen:» Buchladen in der Neustadt« , Lahnstraße 65b 0 Essen: » Heinrich-Heine-Buchhand-lung« , Viehofer Platz 8 0 FrankfurtMain: » Haus der Bücher< Peter Nascher, Ziegelhüt-tenweg 27 / » Uni-Buch« , Studentenhaus, JügelstraDe 1 0 Göttingen: Buchhandlung»Rote Sfraj3e,, Rote Straße 10 0 Halle: Infoladen » Verein KellnerstrajTe e.V« , Keliner-Straße 1Oa l Hamburg: » Heinrich-Heine-Buchhandlung« , Schlüterstraße 1 / » Schwarz-markt« . Kleiner Schäferkamp 46 / Buchhandlung » Nautilus« , Bahrenfelder Straße /Buchhandlung » CMersfraJe« , Osterstraße l Hanau: » Buchladen am Freiheitsplatz« ,Am Freiheitsplatz 6 0 Hannover: » Internationalismus-Buchladen« , EngelbostelerDamm 10 0 Kassel: » Gestochen scharfn. Elfbuchenstraße 18 0 Kiel: » Zapoto« Buch-laden, Jungfernstieg 27 0 Liineburg: »F. Delbanco« , Bessemerstraße 3 0 Mönchen

Sympathie ergoß sich über die Protestierenden. Mit wenigenAusnahmen waren sich alle darin einig, daß die Klagen derStudierenden über die schlechten Studienbedingungenberechtigt seien.

Hinsichtlich der Lösungsvorschläge herrschte eine eben-solche Einigkeit unter den professionellen Beobachtern,allerdings keine mehr mit den Streikenden. Daß es ohne Stu-diengebühren, in welcher Form auch immer, auf Dauer nichtgehen werde, da einfach kein Geld in den öffentlichen Kas-sen sei, daß die Hochschulen stärker leistungsorientiert aus-bilden müßten und eine engere Verzahnung zwischen ihnenund den Unternehmen vonnöten sei, um zur Sicherung desWirtschaftsstandorts Deutschland zu leisten, daß eine Neu-strukturierung des Studiums im Sinne einer Aufteilung inunmittelbar berufsorientierte Kurz- und stärker wissen-schaftsorientierte Langstudiengänge anzustreben sei, um diegroße Masse der Studierenden schneller zu einem Abschlußzu bringen, all dies wurde allgemein als unumgänglichakzeptiert. Die Proteste der Studierenden seien daher zwarverständlich, letztlich aber ohne Erfolgsaussicht und in derForm, der des Streiks nämlich, sogar unsinnig. KontroversePositionen waren in den Medien selten zu hören. Sympto-matisch für diese weitverbreitete »Einsicht in die Notwen-digkeiten« war die Sendung des WDR Presseclubs zumThema Hochschulen im November. Alle anwesenden Presse-vertreter von der »Zeit« über die »Süddeutsche Zeitung« biszur »FAZ« betonten unisono, daß - bei aller Sympathie fürdie protestierenden Studierenden - den oben genanntenAnforderungen selbstverständlich Rechnung getragen wer-den müsse. WDR-Chefredakteur Pleitgen blieb am Schluß

Der Streik an den deutschen Hochschulen 1997198 . . . . . Chronik der Demonstrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4Zur materiellen Entwicklung an den Hochschulen . . . . . . Das Drei-Körbe-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5Bremen: »Nix Lucky Strike« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Frankfurt:»Unpolitische« Studenten gegen das »Standortdenken« . 8Bericht aus Bochum: Der Streik in Bochum . . . . . . . . . . .lO

KorrespondenzenBochum: Standortvertrag bei Opel . . . . . . . . . . . . . . . . . . .llBerlin-Brandenburg:Gegen Kündigungen und Abbau tariflicher Leistungen . .12Aufruf zum landeskirchenweiten Aktionstag . . . . . . . . . .16Hessen: Konflikte im DGB Main-Kinzig/Offenbach . . . . .18Hamburg:Kommunale Finanzmisere verstärkt Arbeitslosenproblem .19Wohlklingende Formeln verdecken die Kapitulation . . . .ZZHamburg: Wie weiter in der GEW? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .24Hamburg: Wie lange bestimmen Banken & Unternehmer? 27Spanien: Überlebenskämpfe der asturischen Bergleute . 28

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: F. LübbeHerstellung und Vertrieb: GFSA - Gesellschaft zur Förderung des

der Sendung deshalb nichts anderes übrig, als diese Ein-mütigkeit herauszustellen.

Die politische Bewertung der Proteste und ihrer Ergeb-nisse war denn auch ebenso einheitlich. Bis auf wenige Aus-nahmen wie etwa die Kommentare von Mathias Greffrath inder »Süddeutschen Zeitung« oder Ullrich Fichtner in der»Frankfurter Rundschau« beherrschten Begriffe wie »Mö&-tegern-Rebellen«, »Aufstand der Kuscheltiere«, »mangelndeProfessionalität«, »Gescheiterter Protest« in den letztenWochen die Berichterstattung zu den landesweiten Streiks,Protestaktionen und Demonstrationen. Unter den Journali-sten wie den Politikern taten sich dabei tatsächliche odervorgebliche Ex-68er in dieser Hinsicht ganz besonders her-vor. Sie wiesen immer wieder auf den ihrer Ansicht nach ent-scheidenden Unterschied zwischen den Protesten 1968 undheute hin. Damals sei es den Demonstranten um einegrundsätzliche Veränderung der Gesellschaft und um allge-meine politische Ziele wie Demokratie und Gleichheitgegangen, heute dagegen ganz profan nur um mehr Geld.»Eine Vernetzung mit den anderen grofien innenpolitischenThemen scheint nicht stattzufinden«, so eine typische (imUnterschied zu vielen anderen Äußerungen immerhin nochmit etwas Vorsicht formulierte) Aussage auf der Hochschul-seite der »Süddeutschen Zeitung« vom 29./80. November.Das von den Medien seit Jahren so gern und ausdauerndgepflegte Bild von der unpolitischen, konsumorientiertenund eigennützigen Generation der heutigen Jugendlichenwurde in diesen Artikeln immer und immer wieder bekräf-tigt. Wer sich nur anhand der bundesdeutschen Medien einBild über die Situation an den deutschen Hochschulenmachen konnte, mußte so fast zwangsläufig den Eindruckgewinnen, in dem Streik gehe es nur ums Geld und den Strei-kenden sei bestenfalls Naivität zu attestieren.

Die materiellen Ergebnisse des StreiksDie Herrschenden waren sich im Grunde denn auch einig inder Einschätzung, daß von diesen Protesten keine ernsthafteGefahr ausgehe. Bundeskanzler Kohl hob sogar lobend her-vor, daß es den heutigen Protestlern im Unterschied zu den68ern nicht darum gehe, »den Staat umzustürzen« oder»seine Verfassung zu ändern«. Dementsprechend sehen dieReaktionen der verantwortlichen Regierungen bislang aus.Im großen und ganzen wurde alles auf die lange Bank gescho-ben. Nur in zwei Punkten hatte der Streik direkte materielleFolgen. Es wurde ein (völlig unzureichendes) Hilfspaket von60 Mio. DM für die bessere Ausstattung der Bibliotheken inAussicht gestellt, und es wurde eine Anhebung des BAföGbeschlossen. Sie macht jedoch nicht einmal die in den letz-ten zwei Jahren durch die Neuregelung des Kindergeldserfolgten Kürzungen wett und wird in dieser Form an derweiteren kontinuierlichen Reduzierung der staatlichen Aus-bildungsförderung auch nichts Nennenswertes ändern. Ein-zig in einem Punkt gibt es bisher einen gewissen Erfolg zumelden. Die SPD ist aufgrund des Drucks seitens der Prote-stierenden nicht mehr gewillt, die bisherige Zusammenarbeitmit der Koalition bei der Neufassung des Hochschulrahmen-gesetzes (HRG) im Wahljahr 1998 fortzusetzen. Bereits aufihrer Präsidiumssitzung vom 19. Januar hatte sie deutlichgemacht, daß die Regierungskoalition angesichts ihrer kom-promißlosen Haltung zu den Fragen Studiengebühren undverfaßte Studentenschaft, deren generelles Verbot bzw. gene-relle Einführung im HRG sie ablehnt, weder im Bundestag

noch im Bundesrat auf weitere Verhandlungen oder gar eineweitere Unterstützung ihrer Pläne rechnen kann. Dement-sprechend hat sie bei der abschließenden Lesung des Gesetz-entwurfs zusammen mit Bündnis SO/Die Grünen und derPDS gegen den Entwurf gestimmt. Angesichts des großenUmfangs des Streiks ein etwas mageres Ergebnis, so die Reak-tion vieler Beobachter, aber auch vieler Studierender. Materi-ell scheint der Streik kaum etwas gebracht zu haben.

Die Zielrichtung der ProtesteDieser erste Eindruck muß bei näherem Hinsehen allerdingsentscheidend korrigiert werden. Die politische Dimensiondes Streiks und seine langfristigen Folgen werden durch eineausschließlich auf die direkten materiellen Erfolge konzen-trierte Betrachtungsweise nämlich weitgehend verfehlt. DerStreik hat zu einer enormen Politisierung der Studierendenan den deutschen Hochschulen geführt und die Situation anden Hochschulen und die gesamte Bildungspolitik erstmalsseit langer Zeit wieder zu einem zentralen Thema der politi-schen Diskussion gemacht. Das hat zum einen materielleKonsequenzen. Es dürfte den Regierungen in nächster Zeitnicht mehr so leicht wie bisher fallen, im Bildungsbereich zusparen, dies ein erster, allerdings nicht quantifizierbarerErfolg des Streiks. Zum anderen, und das ist die wirklichwichtige Folge des Streiks, hat er das politische Klima an denHochschulen ganz wesentlich verändert.

Dieser Prozeß ist in der Öffentlichkeit kaum wahrgenom-men worden. Das hat entscheidend mit der Berichterstattungder Medien zu tun. Sie zeichnete sich von Anfang an durchzwei grundlegende Positionen aus: Den Studierenden gehees bei den Protesten nur ums Geld, und sie seien durch unddurch unpolitisch. Dieser fast alle Berichte prägende Tenorverfehlt die Wirklichkeit in mehrfacher Hinsicht. Soweit esdie Forderungen der Protestierenden betrifft, konzentriertensie sich durchaus nicht nur auf den finanziellen Aspekt. Sierichteten sich nicht ausschließlich, wie der direkte oder indi-rekte Vorwurf lautet, im späteren Verlauf des Streiks nichteinmal mehr überwiegend auf die Bereitstellung umfangrei-cherer Finanzmittel für die Hochschulen und die Studieren-den. Es ging des Protestierenden auch um eine Reformierungder Hochschulstrukturen, die Angleichung der Bildungs-chancen und eine größere Unabhängigkeit der Hochschulenvon der Wirtschaft. Die Forderung nach paritätisch besetztenHochschulgremien und der bundesweiten Anerkennung derverfaßten Studentenschaft (AStA) zeigt dies ebenso wie dieAblehnung von Elitehochschulen und von Finanzierungs-modellen, die die Zahlungen an die einzelnen Hochschulenvon deren Leistung, gemessen an der Einwerbung von Dritt-mitteln, abhängig machen wollen.

Es geht bei allen diesen Forderungen im wesentlichen umzwei Punkte: Erstens sollen die Plane von Wirtschaft undPolitik durchkreuzt werden, die durch die Einführung vonkurzen, ausschließlich der Vermittlung von unmittelbarberufsbezogenem Wissen dienenden und langen, auch wis-senschaftliches Arbeiten beinhaltenden Studiengängen(nach dem Muster der angelsächsischen Bachelor- undMasterabschlüsse) wie auch die Gründung von privaten Eli-teuniversitäten eine Aufspaltung der Studierenden in einegroße Masse von »normalen« qualifizierten Angestellten undeine kleine »Elite« von zukünftigen Führungskräften undWissenschaftlern vorsehen. Zweitens soll dem von Seitendes Staates und der Wirtschaft forcierten Modell einer inhalt-

ARBEITERPOLITIK NR.I, MÄRZ 1998 3

Chronik der Demonstrationen5. November

12. November

19. November

24. November

25. November

26. November

27. November

1. Dezember

2. Dezember

3. Dezember

4. Dezember

5. Dezember

9. Dezember

10. Dezember

18. Dezember

8000 Demonstranten in Gießen10.000 Demonstranten auf landesweiterDemonstration in Wiesbaden2000 Demonstranten in Bremen9000 Demonstranten auf bundesweiterDemonstration in Marburg8000 Demonstranten auf bundesweiterDemonstration in Darmstadt14.000 Demonstranten auf bundesweiterDemonstration in Frankfurt15.000 Demonstranten in Berlin2500 Demonstranten in Landau1500 Demonstranten in Fulda2000 Demonstranten in Bochum40.000 Demonstranten auf bundesweiterDemonstration in Bonn7000 Demonstranten in Regensburg6000 Demonstranten in Göttingen5000 Demonstranten in Kiel5000 Demonstranten in Paderborn2000 Demonstranten in Hamburg1000 Demonstranten in Duisburg20.000 Demonstranten auf landesweiterDemonstration in München3000 Demonstranten in Weimar1000 Demonstranten in Dresden40.000 Demonstranten auf landesweiterDemonstration in Düsseldorf30.600 Demonstranten auf landesweiterDemonstration in Berlin20.000 Demonstranten auf landesweiterDemonstration in Hamburg13.000 Demonstranten auf landesweiterDemonstration in Freiburg10.000 Demonstranten auf landesweiterDemonstration in Mainz/Wiesbaden10.000 Demonstranten auf landesweiterDemonstration in Hannover6000 Demonstranten auf landesweiterDemonstration in Nürnberg2000 Demonstranten in Erlangen1500 demonstrierende Schüler in Bochum4000 Demonstranten bei Demonstrationvon Schülern und Azubis in Frankfurt5000 demonstrierende Schüler in Kassel15.000 Demonstranten auf landesweiterDemonstration in Stuttgart3000 Demonstranten in Köln2800 Demonstranten in Halle16.000 Demonstranten in Dresden15.000 Demonstranten in Berlin5000 Demonstranten in München2000 Demonstranten in Erfurt2000 Demonstranten in Aachen1500 Demonstranten in Bayreuth1000 Demonstranten in Ludwigsburg30.006 Demonstranten auf bundesweiterDemonstration in Bonn 22.2.1998 n

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Zur materiellen Entwicklungan den HochschulenDie Streiks an fast 100 deutschen Hochschulen kamen füg

meisten Beobachter überraschend, hatten sich die Studiere]in den letzten Jahren doch eine Vielzahl von Verschlechteruin der sachlichen und personellen Ausstattung der Hochschebenso widerstandslos gefallen lassen wie die ReduzierungBAföG. Dennoch bildeten, wenn auch oberflächlich nicht wnehmbar, all diese Kürzungen den Boden für die augenbliehen Proteste. Sie schufen über die Jahre einen zunehmetUnmut über die immer miserabler werdenden Studienbcgungen, der nur noch eines letzten Tropfens bedurfte, derFaß dann zum Überlaufen brachte. Diesen Tropfen bildeterderzeit parallel laufenden Gesetzesvorhaben zur ÄnderungHRG und des BAföG.

Hochschulpolitik war seit Mitte der 70er Jahre in stetig wSendern Maße unter dem Primat der Kosteneinsparungen btben worden. Wurden 1975 noch 3,8 Prozent des öffentlicGesamthaushalts bzw. 1,32 Prozent des Bruttosozialproduktdie Hochschulen ausgegeben, so waren es 1992 nur noch 3,4zent bzw. l,l7 Prozent. Dieser Reduzierung der Mittel, dieseither fortgesetzt hat’ und unter anderem darin niederschdaß die wissenschaftlichen Personalstellen zwischen 19751994 gerade einmal von 54.200 auf 55.200 erhöht worden ssteht auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik in demse1Zeitraum eine Verdoppelung der Anzahl der Studierendengut 800.000 auf fast l,7 Mio, gegenüber. Pro Kopf sind die tgaben für jeden Studierenden an den westdeutschen Hochsclen seit 1980 unter Berücksichtigung der Inflation um zirka

1 Angaben für die weiteren Jahre werden vom Statistischen Bundesamt,dem BMB/WFT für das alte Bundesgebiet nicht mehr veröffentlicht, so dalVergleich nicht möglich ist.

lieh wie strukturell noch starker von wirtschaftlichen Inter-essen bestimmten Hochschule ein Gegenmodell einer starkerdemokratisch verfaßten und nicht einfach der »Standort-logik« unterworfenen Hochschule entgegengesetzt werden.Der Vorwurf, die Studierenden als die »Kinder aus den mitt-leren und gehobenen Schichten« der Gesellschaft wolltenauf Kosten der »kleinen Leute« noch mehr Geld, geht deshalbim Kern ins Leere.

Auch die »nur« auf eine umfassendere finanzielle Aus-stattung der Hochschulen und eine durchgreifende Verbesse-rung der Ausbildungsförderung gerichteten Forderungen derStudierenden enthalten weit mehr gesellschaftskritischeAspekte, als die gängige Berichterstattung vermuten läßt. DieForderung nach mehr Geld für die Hochschulen wurde damitbegründet, daß nur so die ständig zunehmende Abhängigkeitder universitären Forschung von den Drittmitteln der Wirt-schaft abgebaut werden könne. Bei der Forderung nach Ver-besserung der staatlichen Unterstützung für Studierende, diein den Medien immer als exemplarisches Beispiel für diebornierte und zumindest teilweise egoistische Sichtweiseder demonstrierenden Studierenden angeführt wird, stand inden Diskussionen unter den Protestierenden vor allem einesim Mittelpunkt, die seit Jahren wieder zunehmendeUngleichheit der Bildungschancen und die massive Kritikdaran. Generell gilt für die Forderungen nach mehr Mitteln

A R B E I T E R P O L I T I K NR.I, MÄ~z1gg8

Drittel reduziert worden. Nominell weisen die Hochschulendenn auch nur 970.000 Studienplätze auf. Berücksichtigt manzudem, daß mittlerweile knapp 50 Prozent der Ausgaben für dieHochschulen auf die Hochschulkliniken entfallen, die 1976 erstein Drittel des gesamten Hochschuletats für sich beanspruchtenund zum größeren Teil eigentlich in den Haushalt des Bundesge-sundheitsministeriums gehören, so wird die ganze Misere deut-lich, in der die deutschen Hochschulen zur Zeit stecken.

Die durch die Kürzung der Hochschulausgaben bedingtenStudienverschlechterungen gewinnen zusätzlich dadurch anSchärfe, daß auch die finanzielle Unterstützung der Studieren-den selbst durch den Staat in den letzten 20 Jahren drastischabgenommen hat. Erhielten 1972 noch 45 Prozent der Studieren-den BAföG, so waren es 1980 schon nur noch zirka 33 Prozentund bis heute ist dieser Prozentsatz auf 15 Prozent, in den altenBundesländern sogar auf nur noch gut zehn Prozent gesunken.Allein zwischen 1991 und heute hat sich die Summe der BAföG-Ausgaben von gut drei Mrd. DM auf nur noch gut 1,s Mrd. DMreduziert. Real sind das nur noch zwölf Prozent des Betrags von197.6. Pro Studierenden ist die staatliche Unterstützung seit 1975unter Berücksichtigung der Preissteigerungen von 2050 auf 95DM gesunken. Die unzureichende oder ganz ausbleibende Er-höhung der Elternfreibeträge ließ und läßt immer mehr Studie-rende aus der Förderung herausfallen. Der Anteil des durcheigene Arbeit während des Semesters oder in den Semesterferienverdienten Geldes an den den Studierenden zur Verfügung ste-henden Mitteln ist dementsprechend zwischen 1982 und 1991von 19 Prozent auf 26 Prozent gestiegen und dürfte augenblick-lich über der 30-Prozent-Marke liegen. Experten gehen davonaus, daß mittlerweile zirka 60 Prozent aller Studierenden wäh-rend der Vorlesungszeit arbeiten müssen. Die immer länger wer-denden Studienzeiten finden hierin zumindest eine wesentlicheUrsache. 22.2.1998 n

für die Bildung, daß sie sich direkt oder indirekt gegen einePolitik richten, die Bildung nur noch als ökonomischen Stan-dortfaktor sieht.

Außerdem sahen und sehen sich die Studierenden beidem Versuch, ihre Proteste und Forderungen mit stichhalti-gen Argumenten zu untermauern, zunehmend gezwungen,sich intensiver mit der staatlichen Steuer- und Wirtschafts-politik auseinanderzusetzen. Um den immer wiederkehren-den Hinweis auf die leeren Kassen, die keine zusätzlichenMittel für die Hochschulen zuließen, wenigstens teilweiseentkräften zu können, mußten und müssen sie sich genauermit den Ursachen der Ebbe in den öffentlichen Kassenbeschäftigen. Dabei wird deutlich, daß es neben der allge-meinen wirtschaftlichen Entwicklung noch einen zweitenwesentlichen Grund für die Finanzmisere des Staats gibt,dessen Wirtschafts- und Steuerpolitik und die dadurchermöglichten gezielten Steuervermeidungsstrategien derUnternehmen. Die im Zeichen von »Standortverbesserung«und »Entstaatlichung« in den letzten Jahren beschlossenenSteuervergünstigungen für die Unternehmen und die soge-nannten »Besserverdienenden« haben ein Loch in die öffent-lichen Kassen gerissen, das, nimmt man die Steuerquote von1982 zum Maßstab, bei ungefähr 135 Mrd. DM liegt. Die

Das ))Drei-Körbe-Modelh

Das »Drei-Körbe-Modell« sieht vor, daß alle Studierendenunabhängig vom Einkommen der Eltern einen Sockelbetragvon zirka 400 DM erhalten, den ersten Korb, der dann durcheinen nach bisherigem BAföG-Muster vom Einkommen derEltern abhängigen Zuschuß, den zweiten Korb, und (in ein-geschränktem Maße) ein unverzinsliches Darlehen bei Über-schreitung der Regelstudienzeit, den dritten Korb, ergänztwerden soll. Finanziert werden soll dieses Modell durch dieStreichung des Kindergelds und der steuerlichen Ausbil-dungsfreibeträge für die Eltern der Studierenden. Letzteressoll dabei auch die Ungerechtigkeit beseitigen, die bei derFreibetragsregelung daraus entsteht, daß Eltern mit hohenEinkommen erheblich mehr Steuern sparen können als sol-che mit niedrigen Einkommen. Da dieses Modell insgesamthöhere finanzielle Mittel erfordert als das bisherige BAföG,für das im Bundesfinanzplan für das Jahr 2001 noch einmal50 Prozent weniger vorgesehen sind als heute, stößt es auchbei den Finanzministern der SPD-regierten Länder aufwenig Gegenliebe, wie die zwischen Bundesregierung undBundesrat vereinbarte, ab 1.7.1998 gültige neue BAföG-Rege-lung zeigt. Sie wollen keinesfalls mehr ausgeben als die bis-her für Kindergeld, Steuerfreibeträge und BAföG anfallen-den 5,8 Mrd. DM. Die Regierungskoalition favorisiert grund-sätzlich sogar ein Modell, das sogenannte »Bayern-Modell«,das weitere Einsparungen vorsieht, indem beim BAföG allesbeim alten gelassen wird, die Gewährung von Kindergeldund Steuerfreibeträgen zusätzlich aber, wie bislang schonbeim BAföG praktiziert, an den Nachweis von Leistungs-scheinen und Prüfungen und die Einhaltung der Regelstudi-endauer gebunden wird. Z.Z.1998 n

Prozent lag, ist inzwischen auf nur noch 7,1 Prozent gesun-ken. Die Verantwortung der herrschenden neoliberalen Poli-tik für die derzeitige Lage der Hochschulen wird hier deut-lich. Dies gilt im übrigen nicht nur für die unmittelbareFinanzierung der Hochschulen. In der Diskussion über einneues BAföG-Modell hat Bundesbildungsminister Rüttgersdas vom deutschen Studentenwerk maßgeblich entwickelteund von den Wissenschaftsministern der meisten Bundes-länder favorisierte sogenannte »Drei-Körbe-Modell« (sieheKasten) u.a. mit der Begründung abgelehnt, es konterkariere»die aktuelle Tendenz zu mehr privater Vorsorge und zurRückführung des staatlichen Sektors«. Diese Äußerungdemonstriert jene politische Grundhaltung, die unter demPrimat der Standortsicherung im internationalen Konkur-renzkampf die Kürzungen an den Hochschulen ebenso vor-angetrieben hat wie den Sozialabbau in anderen gesellschaft-lichen Bereichen.

Die Stimmung unter den ProtestierendenWas von den Medien im Vergleich zur 68er-Bewegung betontwurde, war das Fehlen großer gesellschaftlicher Gegenent-würfe seitens der Protestierenden. Diese Beobachtung ist ersteinmal nicht falsch. Sie registriert die allgemeine Rat- undAlternativlosigkeit, die das Ende der »real existierendenSozialismus« und das Scheitern bzw. die Integration früherer

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nimmt die Veränderungen nicht wahr, diesich unterhalb dieser Ebene in den Köpfender Studierenden vollzogen hat.

Die vielfältigen Diskussionen an denHochschulen über das BAföG, die Studien-gebühren, die Demokratisierung der Hoch-schulstrukturen, den direkten (über Drittmit-tel) oder indirekten (über die Standortlogikerfolgenden) Einfluß der Wirtschaft oder dieEinführung von Kurz- und Langzeitstudi-engängen fuhren im Kern immer wieder aufgesamtgesellschaftliche Probleme. Wer sichzum Beispiel gegen die Einführung von Stu-diengebühren wendet oder die Verbesserungder Ausbildungsförderung fordert, muß sichüber kurz oder lang auch mit Fragen wie der»gerechten« Verteilung von Bildungschan-cen oder der staatlichen Steuer- und Wirt-schaftspolitik befassen. In den Debatten unterden Studierenden ist das auch zu beobach-ten. Außerdem sind die Fronten in der Bildungsdiskussiondurch zahlreiche Äußerungen von prominenten Wirtschafts-vertretern und Politikern klarer geworden, die vor allem dieEinführung von Studiengebühren und die Aufteilung inMassen- und Elitestudiengänge als notwendige Schritte fürdie Wiederherstellung der Konkurrenzfähigkeit der deut-schen Hochschulen fordern.

Insgesamt ist an den Universitäten und Fachhochschuleneine Politisierung zu beobachten, wie es sie dort seit langerZeit nicht mehr gegeben hat. Dies zeigt sich u.a. in denWahlen für die Studierendenparlamente, die an einigen Uni-versitäten in den letzten Wochen stattgefunden haben. DieBeteiligung ist zwar nach wie vor gering, die im Streik akti-ven Kräfte haben aber deutlich an Einfluß gewonnen, undzugleich ist eine deutliche politische Polarisierung unter denStudierenden zu beobachten.

Insgesamt beginnt die Politisierung zwar vielfach amPunkt Null, weil anders als bei den Hochschulstreiks Endeder 7Oer und Ende der 80er Jahre personell und inhaltlich sogut wie keine Verbindungen mehr zu den Ereignissen undpolitischen Theorien der späten 60er besteht, das ist abernicht nur von Nachteil. So sehr die anfängliche Naivität unddas mangelnde analytische Niveau der meisten Protestieren-den viele »Altlinke« den Kopf schütteln ließ, sei es aus Ver-ärgerung, Resignation oder zur Schau gestellter tatsächlicheroder vermeintlicher intellektueller Überlegenheit, so positivwirkt sich diese Unbefangenheit andererseits auf das allge-meine Diskussionsklima aus. Es werden vielfach wiederArgumente ausgetauscht statt nur schon zuvor feststehenderStandpunkte, und es wird bei den Diskussionen in der Regelauch zugehört, weil unter den Studierenden und vor allemden Aktiven ein starkes Interesse an Information existiert.Vertreter politischer Organisationen hatten es daher durch-weg schwer, Gehör zu finden, wenn sie als Repräsentantenihrer Organisationen auftraten und deren Positionen darstel-len wollten. Die Abneigung allen Parteien gegenüber warund ist unter den Studierenden tief verwurzelt und trafwährend des Streiks so gut wie jeden, der in seiner Argu-mentation oder in seinem Auftreten an das Gebaren der offi-ziellen Parteivertreter erinnerte.

Im Verlauf des Streiks hat sich dann eine deutliche Pola-risierung an den Hochschulen gezeigt. Vor allem bei den

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Wirtschaftswissenschaftlern H A n B u R G : D E R A K A D E M I shatsichsehri?üheineMehr- SENAT IN AKT’oN:heit gegen den Streik ge- S T U D E N T I S C H E A N T R Ä G E

W E R D E N A B G E L E H N Twandt. Hier zeigt sich derEinfluß der die Wirtschaftswissenschaften seit langer Zeitdominierenden Doktrin des Neoliberalismus mit ihrer Forde-rung nach vollkommen freier ökonomischer Konkurrenz undDeregulierung auf allen Ebenen, das heißt Abbau des »Sozi-alstaats«, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, völligeÖffnung der Finanzmärkte etc. Er bestimmt in großem Maßedas Denken der Studierenden dieses Faches und läßt sie dieLösungsvorschläge der Vertreter aus Wirtschaft und Politikweitgehend als realistisch und auch sinnvoll beurteilen,obwohl die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften -im Unterschied etwa zu denen der Ingenieurwissenschaften,die aufgrund der stark, zum Teil um über 50 Prozent gesun-kenen Anfängerzahlen tatsächlich relativ gute Studienbedin-gungen und damit weniger Grund zum Protest haben - vonder Überfüllung der Hörsäle und den anderen Verschlechte-rungen der Studienbedingungen ebenfalls massiv betroffensind.

Das Ende des Streiks ist allerdings nicht nur auf denzunehmenden Widerstand der Wirtschaftswissenschaftlerals der mit zirka 170.000 Studierenden stärksten Einzel-gruppe an den Universitäten und gut 62.000 immerhin nochzweitstärksten an den Fachhochschulen zurückzufuhren.Die Studierenden waren nach bis zu fünf Wochen Streikangesichts der ausbleibenden Reaktion staatlicher Stelleneinfach müde. Außerdem wollten sie in ihrer großen Mehr-heit das Semester nicht verlieren. Dementsprechend begannder normale Studienbetrieb nach den Weihnachtsferien anfast allen deutschen Hochschulen wieder.

Die Rückkehr zur »Normalität« bedeutet jedoch nichtzwangsläufig totale Resignation. Man hat die Erfolgsaussich-ten eines Streiks studentischerseits von vornherein relativskeptisch beurteilt, so daß die ausbleibenden materiellenErfolge nicht zu einer vollkommenen Enttäuschung geführthaben. Enttäuschung ist zwar nicht zu leugnen, relativ ver-breitet ist (vor allem unter Aktiven) aber auch eine Sicht derDinge, die die Veränderung in den Köpfen der Studierendenund im politischen Klima an den Hochschulen und nicht dieunmittelbaren materiellen Erfolge in den Mittelpunkt stellt.

ARBEITERPOLITIK NR.], MÄnzlgg8

H A M B U R G : D E R STREIKAUS- Diese BetrachtungsweiseS C H U S S I N A K T I O N :S T U D E N T I S C H E I N I T I A T I V E N erfaßt das aus politischerW E R D E N K O O R D I N I E R T Sicht wichtigste Ergebnis

der Proteste: Es werden wie-der Fragen gestellt und diskutiert, die für die große Mehrzahl(auch der jetzt mitprotestierenden und -diskutierenden) vor

n B E R I C H T A U S B R E M E N

»Nix Lucky Strike«

Gegen Sozialabbau und Bildungsklau -und viele andere Mißstände in unserem LandNoch bevor von den Universitäten in Hessen die bundeswei-ten Protestaktionen ausgingen, fand in Bremen vom 2. biszum 5. November eine gemeinsame Aktionswoche der Uni-versität und der Hochschule Bremen statt, für die seitBeginn des Wintersemesters mobilisiert worden war: Es gingum die Abwehr einer Einschreibegebühr von 100 Mark, dieab Sommersemester 1998 eingeführt werden sollte. Wäh-rend der AStA der Hochschule keine Basis für einen Streikoder eine Besetzung sah, wurde an der Universität ein drei-tägiger Streik durchgeführt. An der AbschluBdemonstrationzur Bürgerschaft am 5. November nahmen zirka 2500 Aus-zubildende, SchiilerInnen und Studierende teil. Dort ver-kündete die Bildungssenatorin Kahm den soeben gefaßtenBeschluß der SPD-Bürgerschaftsfraktion, Studiengebührennicht zuzustimmen und die daraus entstehenden Minder-einnahmen aus allen Ressorts zu decken, Damit war die bisdahin gemeinsame Linie der großen Koalition, die FrauKahrs noch am Vortag vertreten hatte, geplatzt - ein schnel-ler Erfolg. Den politisch denkenden Aktivisten mag bewußtgewesen sein, daß dies in Zeiten ständiger Kürzungen imBildungsbereich nur ein Augenblickserfolg ist - die CDU-Fraktion beharrt darauf, daß das Bildungsressort allein diefehlenden Mittel autbringt. Bei der Mehrheit der Studentenwar die Luft zunächst einmal ‘raus.

Im Rahmen der bundesweiten Streikbewegung ab MitteNovember entwickelte sich in Bremen zunächst keine Betei-ligung. Der AStA argumentierte mit Schwierigkeiten, dieStudierenden erneut zu mobilisieren (an der Fahrt nach

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wenigen Monaten als solche noch gar nicht exi-stierten. Die gesamtgesellschaftliche Dimensiondieser Fragen hat dabei auch praktische Konse-quenzen.

Es wird von Seiten der Studierenden zuneh-mend nach Anknüpfungsmöglichkeiten außer-halb der Hochschulen gesucht. So haben imRahmen der sogenannten »Sozialbündnisse« dieBemühungen um Kontakt zu den Gewerkschaf-ten innerhalb einer sehr kurzen Zeitspannedeutlich zugenommen. Hier bieten sich, wennauch zunächst in relativ kleinem Maßstab, Mög-lichkeiten zu einer auch langfristig orientiertenZusammenarbeit, wie es sie seit längerem nichtmehr gegeben hat. Demonstrationen wie die inMannheim am 24. Januar, auf der 3500 Gewerk-schafter und Studierende gemeinsam für »Bi]-dung, Arbeit und soziale Gerechtigkeit« demon-striert haben, oder die Beteiligung von Studie-renden an den Aktionen der Arbeitslosen Anfang

Februar sind ein erstes Zeichen dafür, daß die Proteste überden Rahmen der Hochschulen hinausgehen können und eineverstärkte Zusammenarbeit zwischen Teilen der Studieren-den und anderen von Sozialabbau, Arbeitslosigkeit etc.betroffenen Teilen der Bevölkerung zustande kommen kann.

22.2.1998#

Bonn am 2% November nahmen nur etwa 90 Bremer teil).Selbst als die Vollversammlung der Hochschule Bremen am2. Dezember den Streik ausrief und auf der LJni-Vollver-Sammlung am 3. Dezember viele Teilnehmer trotz der langenTagesordnung über den Streik reden wollte und die AStA-Vertreterin der Hochschule unter großem Beifall eine Ent-scheidung auch einforderte, verzögerte der AStA die Abstim-mung noch einmal über das Wochenende.

Warum das Zögern im Uni-AStA - so daß der RCDSihm gar Tatenlosigkeit vorwerfen konnte?Die Diskussionen, Streikzeitungen und Veröffentlichungen,die Auseinandersetzungen innerhalb des Uni-AStA und mitdem Hochschul-AStA lassen erkennen, daß der AStA sichnur ungern einer »Lucky-Streik«-Bewegung anschließenwollte, in der seiner Meinung nach allgemeinpolitische For-derungen vermieden werden, die für ihn im Vordergrund ste-hen: Weg mit dem Ausländergesetz, Schluß mit der Diskri-minierung von Frauen, Abwehr von Demokratie-Abbau ander Universität, keine Affenversuche an der Bremer Univer-sität usw. Dagegen war der Aufruf zum Protest gegen den»Maulkorb-Erlaß« durch das gerade Ende November ergan-gene Urteil des Oberverwaltungsgericht ein aktueller An-knüpfungspunkt.

Die Uni-Vollversammlung beschloß dann am 8.Dezemberden Streik (mit Ausnahme des Fachbereichs Mathema-tik/Informatik, der sich etwas später aber doch dem Streikanschloß), der bis 17. Dezember dauern sollte. Am 8.Dezem-ber beendete die Hochschule ihren konsequent durchgefiihr-ten Vollstreik, währenddessen alle Eingänge mit Ketten ver-rammelt waren und die Studierenden in die Stadt zu Aktio-nen ausschwärmten. Die Beendigung des Vollstreiks sollteeinzelnen Studierenden die Möglichkeit geben, wenigstensprüfungsrelevante Veranstaltungen zu besuchen, damit sie

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nicht ein ganzes Semester verlieren. Weitere Veranstal-tungen blieben bestreikt, und die Aktionen wurden fort-gesetzt. Unter anderem machten die Hochschüler eineStunde lang den Versuch, mit Beschäftigten in derbenachbarten Schokoladenfabrik in Kontakt zu kommen,was von der Geschäftsleitung jedoch verhindert wurde.

An der Universität oblag die Durchführung desStreiks und Aktionen den einzelnen Fachbereichen, unddie zentrale Information und Koordination war dadurchnicht ausgeprägt. Der Streik wurde in unterschiedlicherIntensität durchgeführt: Am stärksten war die Beteili-gung in den geisteswissenschaftlichen Fachbereichen,die über wenig lukrative Drittmittel verfügen, von derUni-Leitung vernachlässigt werden und finanziell aus-bluten. Dort sind die Studienbedingungen und die Perspekti-ven für die Studierenden am schlechtesten.

Die »Altlinken« im AStA haben die Absicht, die gesam-ten politischen Zusammenhänge klarzumachen, das Übel ander Wurzel zu packen, verzehren ihre Kräfte aber durchfruchtlose Grabenkämpfe untereinander und Auseinander-setzungen mit RCDS und Naturwissenschaftsliste, für die siekeine Basis unter den Studierenden haben. Noch im Vorfeldder gemeinsamen Demonstration am 17. Dezember gab esStreit um die Formulierung von Forderungen, in diesem Fallzur Ausländerpolitik, die dem Hochschul-AStA zu weit gin-gen. Die Beteiligung an dieser Demonstration war mit 2000Studierenden und Auszubildenden geringer alsan der gegen die Einschreibegebühren. Es kann zurSchwächung einer Bewegung führen, wenn eine gleich zuBeginn vorgegebene Richtung die Herausbildung eigenerpolitischer Erfahrungsprozesse und gemeinsame Aktionenaller Betroffenen beeinträchtigt. Immerhin sind die Gegen-kräfte (RCDS und andere) selbst so schwach, daß sie in die-sem Fall kein Kapital daraus schlagen konnten. 1.3.1998 n

Während der Herstellung dieser Informationsbriefeerfahren wir telefonisch: Kurt Müller, BR-Vorsitzender beider ))Bremer Tageszeitungs-AG«, ist am Dienstagmittag, dem10. März an seinem Arbeitsplatz an Herzversagen gestorben.Diese Nachricht ist ein Schock. Kurt, der Gewerkschafter,der weit über den Bremer Betrieb hinaus mit seinem Wirkenund seiner Haltung sich hohe Anerkennung unter Kollegin-nen und Kollegen erworben hat, soll nicht mehr dabei sein?Er wird nicht mehr mitdiskutieren, wenn die IG Medien-Kollegen der Zeitungsbetriebe bundesweit zusammenkom-men? Er wird nicht mehr mithelfen, wenn bundesweite Soli-darität für eine Belegschaft notwendig ist? Er wird auf demGewerkschaftstag sich nicht mehr kritisch einmischen?

Seine grundsätzlich klassenbewußte Haltung, die in sei-nen Argumenten immer erkennbar war, hatte ihren Ur-sprung in einer Bremer Arbeiterfamilie - schon sein Vaterwar im Nachkriegs-Bremen ein bekannter Metall-Gewerk-schafter und Kommunist. Kurt war von Beginn seinerSchriftsetzerlehre an dabei, wenn es um die Verteidigungder Interessen abhängig Beschäftigter ging. Das soll allesnicht mehr sein? In der Traueranzeige der Belegschaft heißtes mit einer Zeile von Brecht: Lebt ihm nach! Red.=

H B E R I C H T A U S F R A N K F U R T

»Unpolitische« Studenten gegendas »Standortdenken« an den UnisSeit 1968 genießt die Frankfurter Universität einen Ruf alsVorreiterin radikalen studentischen Protests in der Bundes-republik. Auch in den achtziger Jahren, als die Tage der» Achtundsechziger« und ihrer Nachfolger, der Spontis undihrer heute als grüne Spitzenpolitiker bekannten ehemali-gen » Häuptlinge« , gezählt waren, schien sich dieses Imageimmer wieder zu bestätigen: Bei den wenigen studentischenProtesten gegen schlechte Studienbedingungen und ver-schärften Hochschulzugang während der achtziger undneunziger Jahre waren Frankfurter Studenten stets mitvorndran.

Daß die zählebigsten Mythen irgendwann hohl werden,zeigte sich in den Tagen des Studentenstreiks 1997. Aus-gangspunkt der bundesweiten Protestwelle war dieses Maldie hessische »Provinz«, speziell Gießen und Darmstadt,aber nicht Frankfurt. In Frankfurt dauerte es gut und gernzehn Tage, bis die Aktionen an den kleineren UniversitätenHessens eine breitere Resonanz fanden. Dabei ist Frankfurtals die größte hessische Universität seit Jahren schon relativund absolut am stärksten von den Kürzungen der Hoch-schulmittel im hessischen Landeshaushalt betroffen. DieProfessorenschaft und der vor gut zwei Jahren gewählte Uni-Präsident Werner Meissner - ein linksliberaler Wirtschafts-wissenschaftler, der auch einmal dem DGB-eigenen WSI-Institut vorgestanden hatte - sind nie müde geworden, diesin der Öffentlichkeit zu beklagen.

Der Streik kam dann aber um den 20. November dochkräftig in Gang und wurde auch bis zu den Weihnachstagenohne Probleme aufrechterhalten. Wichtige Fachbereiche wieJura, Romanistik, Gesellschaftswissenschaften, Pädagogikund Sportwissenschaften waren fast die ganze Zeit bestreikt,andere, darunter auch die in der Bankenstadt Frankfurt alsbesonders konservativ geltenden Wirtschaftswissenschaften,immerhin über einige Tage oder Wochen. Aus diesen Fach-bereichen stammte die größte Zahl der TeilnehmerInnen anden Protestaktionen und Demos. Wichtig war aber auch dieTeilnahme vieler StudentInnen aus Fachbereichen, die nichtdauerhaft bestreikt wurden (zum Beispiel Mathematik,Medizin, Naturwissenschaften). Dabei erwiesen sich geradedie StudentInnen und auch die ProfessorInnen aus den weni-ger streikerprobten Fachbereichen als die Aktivsten bei derOrganisierung von öffentlichkeitswirksamen Aktionen - wie

Abgesehen davon, daß über den Uni-Streik in Frankfurtaufgrund der Ortsansässigkeit einiger bundesweit meinungs-bildender Presseorgane besonders ausführlich berichtetwurde, unterschied sich das Bild der Aktivitäten nur wenigvon anderen Großstädten. Auch hinsichtlich der Unterstüt-zung des Streiks durch Gewerkschaften und andere Organi-sationen gab es nichts besonderes zu vermelden. Stärker alsanderswo vielleicht wurde die öffentliche Diskussion mitRezepten für eine »intelligente« Reformpolitik an den Hoch-schulen angereichert, die Sparzwänge und Strukturreformenauf wunderbare Weise unter einen Hut bringen sollen. Auchin anderen Bereichen gehört so etwas heute zum Standardre-pertoire rot-grüner Landespolitik in Hessen. Unter den Stu-denten verfing dies aber kaum. Auch die grünen AStA-Mit-glieder, unter ihnen der AStA-Vorsitzende Peter Koch, hiel-ten sich von solchen Parolen fern und traten als engagierteFürsprecher der Grundforderung nach einer besseren Finan-zausstattung von Studium und Studierenden auf.

Probleme schaffte dies vor allem für diejenigen, die alsAngehörige des universitären Lehrkörpers seit Jahr und Tagversuchen, die Sparzwänge in der Uni zu verwalten und ihreigenes Budget zu retten. Namentlich unter den ProfessorIn-nen der »Achtundsechziger«-Generation war dabei eine Hal-tung verbreitet, die Aktionen der StudentInnen mit Verweisauf die vergeblichen jahrelangen Widerstände gegen Haus-haltskürzungen für sinnlos zu erklären. Die mangelndeeigene Bereitschaft, sich an den Protestaktionen zu beteiligenund eindeutig Stellung zu beziehen, wurde oftmals mit demVorwurf bemäntelt, der Streik sei »unpolitisch«.

Besonders zugespitzt kam dies bei den Gesellschafts- undErziehungswissenschaftlern zum Ausdruck, jenen Fach-bereichen also, an denen die »Altachtundsechziger« ver-schiedener Couleur die Mehrheit unter den Hochschulleh-rern stellen. Das Gebäude dieser Fachbereiche - ein 35stöcki-ges Hochhaus, genannt »Turm« -war am längsten bestreikt,nämlich von Mitte November bis Weihnachten. Rein tech-nisch gesehen war es hier nicht schwer, den Streik aufrecht-zuerhalten, denn es mußten »nur« im Foyer die Aufzügeblockiert werden, um den Zugang für jedermann lahmzule-gen. Diese Aufzugsblockade konnte von einer relativ kleinenZahl von Studenten-politisch zumeist mit linkem und/oderautonomem Hintergrund - durchgehalten werden.

Die »Turmblockade« entwickelte sich zu einer Daueraus-einandersetzung von nicht nur symbolischer Bedeutung. DieMehrheit der ProfessorInnen der betroffenen Fachbereicheforderte in wöchentlichen Vollversammlungen von den Stu-dierenden die Öffnung des »Turmes«, um, wie gesagt wurde,

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mit den Studenten besser über gemeinsame Aktivitätendiskutieren zu können. Hinter vorgehaltener Handwurde allerdings von einzelnen Professoren zu erken-nen gegeben, daß man auch einer »Zwangsöffnung« derAufzüge durch Uni-Leitung oder gar Polizei nicht abge-neigt sei. Unterstützt wurde diese Haltung durch meh-rere Auftritte des Uni-Präsidenten am »Turm«. Nebender etwas hohlen Drohung, daß Semesterscheine nichtanerkannt würden, appellierte Meissner vor allemdaran, daß Studierende und Lehrende gemeinsam dieInteressen der Universität gegenüber der Landesregie-rung in Wiesbaden geltend machen sollten.

Daß es nicht zu einer farcenhaften Wiederauflagejenes Menetekels von 1968 kam, als Adorno und andere

»Väter der Studentenbewegung« ihre Institutsräume durchdie Polizei räumen ließen, verdankten die beamteten Erbendes achtundsechziger Protestes vor allem der entschlossenenHaltung der Studenten. Diese ließen sich nämlich weder am»Turm« noch anderswo von sanften oder weniger sanftenDrohungen einschüchtern. Die wöchentlichen Vollversam-mlungen beschlossen jeweils mit großer Mehrheit, daß derTurm »ZU« bleibe.

Wie an anderen Fachbereichen funktionierte eine solcheBlockadeaktion auch ohne eine besonders breite Beteiligungder Studenten an Streikposten und Streikorganisation. Auchder geringe Besuch von Diskussionsveranstaltungen undStreikseminaren wurde als Bestätigung für den »unpoliti-schen« Charakter des Protestes genommen. Was dahinterstand, brachte ein Student in einer der Versammlungen am»Turm« so auf den Punkt: Er müsse auch während desStreiks arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen,und könne deshalb nicht jeden Tag an Versammlungen teil-nehmen. »Die Blockierercc, so wörtlich, »nehmen mir aberdas schlechte Gewissen, durch den Streik ein Seminar odereinen Schein zu verpassen.«

Nach der Weihnachtspause waren die Streikaktivitäten inFrankfurt wie anderswo erlahmt. Eine intensivere Auseinan-dersetzung um die Bilanz des Streiks und die weiteren Per-spektiven und Aktivitäten ist auf eine sehr kleine Zahl derAktiven beschränkt. Eine uni-öffentliche Diskussion findetkaum statt. Die verbliebenen Aktiven sammeln sich derzeitvor allem um Aktivitäten außerhalb der Uni. Die sogenann-ten Mittwochsdemos werden vom sogenannten »Sozial-bündnis« getragen - einem vom Studentenstreik angeregten,von Arbeitslosen- und Sozialinitiativen sowie der DGB-Jugendmitorganisierten Bündnis, das die örtliche Proteste gegenSozialabbau, Tarifklau und Arbeitsplatzvernichtung koordi-niert. Auch bei den Protesten der Pharmabeschäftigten derHoechst AG gegen die Schließung wichtiger Forschungsabtei-lungen in Frankfurt treten Delegationen der Studenten auf.

Auch wenn die Protestaktivitäten an der Uni heute soschnell eingeschlafen erscheinen, wie sie entstanden, so sinddie Wirkungen des Streiks im Universitätsalltag spürbar, Waseinige Marburger StudentInnen jüngst in einem Beitrag fürdie »Frankfurter Rundschau« formulierten, trifft auch dieStimmung unter Studierenden und Uni-Beschäftigten inFrankfurt: »Bei vielen Studierenden bedurfte es erst einesStreiks, um Mipstände nicht nur als solche zu erkennen, son-dern auch um ein politisches Bewuj’tsein dafür zu schaffen,daj3 diese Zustände nicht als natürlich angesehen werdenmüssen.« Was Frankfurt angeht, so besteht das vielleichtwichtigste politische Ergebnis des Streiks einstweilen darin,

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daß sich die Studierenden nicht vor den Karren des univer-sitären »Standortwettbewerbes« haben spannen lassen, derja auch mit der Reform des Hochschulrahmengesetzes ange-peilt ist. Wie die Protestaktionen an der Uni weitergehen, istderzeit nicht übersehbar. Eines ist allerdings gewiß: Die hes-sische Landesregierung hat ihr Finanzzugeständnis zurBefriedung des Hochschulstreiks inzwischen wieder auf kal-tem Wege einkassiert. Versprochen worden war nämlich, diefür 1998 vorgesehene Kürzung der Mittel für den Bibliotheks-und Lehrbetrieb von 18 Mio. DM auf etwa zehn Mio. DM zureduzieren. Die »Kürzung der Kürzungen« ist inzwischenwieder rückgängig gemacht worden, indem die Landesregie-rung für den gesamten Landeshaushalt eine Ausgabenkür-zung von sieben Prozent durchsetzen will.

Unter den meisten StudentInnen in Frankfurt und ande-ren hessischen Universitäten ist dies zur Zeit noch nicht sorichtig bekannt. Im Verhandlungsgeschäft um Mittel undStellen erfahrene ÖTV-Personalräte zum Beispiel wissen dabereits mehr. Der Streik des letzten Herbstes läßt aber dieberechtigte Hoffnung zu, daß diese und andere Salamitakti-ken nicht ohne Antwort bleiben werden. 20.2.1998 n

W B E R I C H T A U S B O C H U M

Der Streik in BochumIn Bochum begann der Streik erst gut einen Monat nach Hes-sen. Zunächst sah alles nach einem völlig lammfrommenUnternehmen aus: Selbst der Rektor erklärte auf derjenigenVollversammlung, auf welcher der Streik beschlossenwurde, seine Sympathie für die Streikziele. Der RCDS hattesogar zum Streik aufgerufen. Damit hatte es sich bei ihmdann freilich auch.

Typisch für die Stimmung in den ersten Tagen war, daßder ehemalige niedersächsische Justizminister Sehwind, derin Bochum Kriminologie-Professor ist, zwar sich zunächstaus alter Gewohnheit mit Streikposten, die ihm nicht sofortehrerbietigst Platz machten, anlegte, daß er dann aber kurzdarauf, als offensichtlich war, wie die Stimmung in der Pro-fessorenschaft war, eine »Alternativveranstaltung« im Rah-men des Streiks hielt.

Auseinandersetzungen mit Streikbrechern, gab es kaum.Zwar hatten die Wirtschaftswissenschaftler geschlossengegen den Streik gestimmt. Aber selbst sie suchten ange-sichts des überwältigen Votums aller übrigen Fachbereichenach einem Kompromiß, wonach sie nur einige elementareVeranstaltungen in einem zentralen Hörsaalgebäude hättendurchfuhren wollen. Faktisch fielen dann auch diese - wieauch die wenigen anderen Streikbruch-Veranstaltungen -regelmäßig aus, weil es immer genügend Streikposten gab.Darin drückte sich der wesentliche Unterschied zu früherenStreiks aus: Bei vorausgegangenen Gelegenheiten mußtenwenige Aktive einzelne Veranstaltungen »sprengen«. Wirk-lich vollständig abgeriegelt wurde die Uni dann zwar nur eineinziges Mal, aber bei diesem Streik wurden von vornhereinganze Gebäude bestreikt. Dieses Engagement der Streikendenist das zentrale Charakteristikum der Streikwochen. Zwargab sich kaum einer der Illusion hin, nun auf einen Schlagalle Forderungen durchsetzen zu können. Das es um nicht

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mehr als eine politische Demonstration gehen konnte, warklar. Insofern wäre es denkbar gewesen, daß der Streik fak-tisch zu einem weiteren Ferienmonat hätte werden können.Aber angesichts der Masse der aufgestauten Probleme warselbst oberflächlich-unpolitischen Studenten klar: Irgend-etwas muß endlich geschehen. Und: Es muß Flagge gezeigtwerden. Demgemäß erschienen regelmäßig zum Beispiel zuden Vollversammlungen gut zehn- bis zwanzigmal sovieleLeute wie auf den üblichen der letzten Jahre. Dieses Engage-ment war auch die Basis vieler Alternativveranstaltungenund Aktionen. Entsprechend des charakteristischen Umfeldsder Ruhr-Universität-verglichen mit anderen Unis kommenhier sehr viele aus der unmittelbaren Umgebung-gehörte zuletzterem der Besuch einer Studentendelegation auf derBetriebsversammlung von Opel. Umgekehrt hatten opposi-tionelle Opel-Betriebsräte gleich zu Beginn Solidaritäts-erklärungen geschickt.

Zum einem Problem wurde das Verhalten der linken,sogenannten »Tu-Was-Gruppierung«, die seit gut zehn Jah-ren den AStA bildet. In ihr gibt es Überbleibsel der vormali-gen SHB/MSB-Traditionen, also von Organisationen, die infrüheren Zeiten der DKP nahestanden oder auf dem linkenFlügel der Sozialdemokratie anzusiedeln waren. Faktischverhält diese Gruppe sich seit Jahren bestenfalls wie einesozialdemokratische: Die Unterschiede zu unpolitischen sindnur noch gering. Außer, daß sie regelmäßig irgendwelcheVeröffentlichungen absondert, zeichnet sie vor allem durcheins aus, nämlich ein besserer Dienstleistungsbetrieb für dieStudierende zu sein. Immerhin hat sie noch einen linkenAnspruch, und entsprechend trat sie selbstverständlich fürden Streik ein. Aber sie operierte auf der Ebene, auf der tra-ditionell solche Streiks ablaufen: AStA- und Fachschaftsver-treter organisieren was. Und sie halten den Laden zusam-men. Viele der Streikenden, insbesondere natürlich die Akti-visten, wollten sich aber nicht mehr einfach »vertreten«lassen. »Offizielle« Kanäle waren ihnen suspekt, so daß esregelmäßig Konflikte gab, wenn die AStA-Vorsitzende eineVerlautbarung herausgab oder wenn es überörtliche Treffengab, die in den Augen der Aktivisten abgehoben waren.

Ihre ganz besondere Dynamik erhielten diese Auseinan-dersetzungen nicht zuletzt deshalb, weil sich in ihnen aucheine Bewußtseinsentwicklung zumindest einer ganzen Reihevon Streikaktivisten widerspiegelte: Zunächst wollten vieleeinfach »irgendwie« etwas machen. Dazu paßte es, daß selbstdie CDU-Studenten und das Rektorat sich engagierten. Aberje massiver die Umarmungsstrategie von Regierung undMedien wurde, desto stärker wurde die Skepsis: »Diejenigen,die für unsere Misere verantwortlich sind, stehen plötzlichauf unserer Seite?« Allerdings wandelte sich die Skepsis nurbei einem vergleichsweise kleinen Teil in ein Mißtrauengegenüber all den bisherigen Konzepten und Institutionen.Die Auseinandersetzungen schlugen sich in der Studenten-parlamentswahl nieder, die Ende Januar durchgeführtwurde. Eine Reihe von Streikaktivisten und die Mitgliedervon denjenigen Gruppierungen, die sich im eigentlichenSinne noch als Linke verstehen, hatten sich zu einer »LinkenListe« zusammengefunden, der es gelang, die Mehrheit desalten AStA zu überflügeln. Die Wahlbeteiligung war aller-dings so schlecht wie eh und je. Das Zusammenfinden derAktivisten auf einer gemeinsamen Liste ist freilich ein Indizdafür, daß es bestimmt auch im nächsten Semester neueAktionen geben wird. Bochum, 20.2.1998 n

ARBEITERPOLITIK NR.,, hGi~z1gg8

n BEIM GRÖSSTEN ARBEITGEBER IN BOCHUM

Standortvertrag bei OpelAls am 20. Januar für die deutschen Opel-Werke der soge-nannte » Standortvertrag 11~ vom Betriebsrat und der Kon-zernleitung in Rüsselsheim unterzeichnet wurde, da schienhiermit ein Erfolg des Betriebsrates abgesegnet zu werden.Denn dieser Vertrag soll die »Arbeitsplätze« der Opel-Kol-legen » über das Jahr 2000 hinaus sichern«. Das’hattezumindest die Betriebsrats-Mehrheit in Bochum behauptet.Der Bochumer Betriebsratschef Peter Jaszczyk erklärte:»Wir haben jetzt die nächsten vier Jahre Ruhe bei derBeschäftigungspolitik« . Als » Erfolg« aus Sicht größererTeile des Betriebsrates wird das Vertragswerk außerdemnicht zuletzt deshalb gewertet, weil es die Unterstützung dergroßen Mehrheit der Kollegen gefunden hat -behauptet dieBetriebsrats-Mehrheit: In Bochum hätten 70 Prozent dafürgestimmt. Originalton Peter Jaszczyk: » Die Belegschaft hatuns mit ihrem Votum den Rücken gestärkt. «

Tatsächlich sieht so das Ergebnis einer Umfrage in denBochumer Opel-Werken aus, welche am 19. Januar ausge-zählt worden war. Beim näheren Hinsehen ist das Resultatfreilich nicht ganz so toll:

Das fängt mit der interessanten Ausgestaltung des Stimm-zettels an: Dort werden alle wesentlichen Punkte des Vertra-ges aufgelistet. Alle »negativen« Teile des Vertrags sind imSchriftbild etwas kleiner aufgelistet als die »positiven«.Bevor dann die Frage nach Zustimmung oder Ablehnunggestellt wird, heißt es: »Du hast die Möglichkeit durch DeinJa zu dem Verhandlungsergebnis die Zukunft unsererArbeitsplätze über das Jahr 2000 hinaus zu sichern!«. W e rwill da schon mit »Nein«, also quasi für die Vernichtung vonArbeitsplätzen, stimmen. Es ist zwar wenig wahrscheinlich,daß sich irgendein Kollege durch solche Spielehen hat mani-pulieren lassen. Aber der Stimmzettel zeigt, welche Mei-nungsmache seitens des Betriebsrates und der Unterneh-mensleitung im Zusammenhang mit dieser Abstimmunggemacht wurde.

Alle 14.994 Opelaner in Bochum bekamen den Stimmzet-tel nach Hause geschickt. Offensichtlich sollten Diskussio-nen vermieden werden, weswegen die Stimmzettel auchwieder per Post zurückgingen. Zurückkamen jedoch nur9427. Dies entspricht einer Wahlbeteiligung von zirka 63 Pro-zent. Hiervon stimmten 6579 für den Vertrag und 2809 dage-gen. Es gab 39 ungültige Stimmen. Tatsächlich gibt es alsorein formal eine Zustimmung von 70,19 Prozent. Zu Rechtargumentiert die Betriebsrats-Minderheit anders: Wirklichbewußt zugestimmt haben nur zirka 44 Prozent der Kollegen.Dem stehen die 2809 Kollegen gegenüber, die sich mit demVertrag auseinandergesetzt haben und ihn ausdrücklichabgelehnt haben. Sowie über 6000 Kollegen, die sich nichtdurch die Unternehmens-Argumentation haben packenlassen.

Solch eine »Abstimmung« wurde nur in Bochum durch-geführt. In Rüsselsheim erfolgte die Zustimmung zum Ver-trag nach einer Abstimmung im Vertrauenskörper. Und inKaiserslautern fiel die Entscheidung nur im Kreis der Ver-trauenskörperleitung. Zu dem besonderen Verfahren hattesich die Bochumer Betriebsrats-Mehrheit verständigt, weilsie sich bei verschiedenen Maßnahmen der letzten Jahre

massiven Ärger mit den Kollegen eingehandelt hatte - wasbis zu »wilden Streiks« gegangen war. Eine sehr deutlicheWarnung war dem Betriebsrat insbesondere der zweitägigeStreik im Juli letzten Jahres. Die Betriebsrats-Mehrheit gabdie Absicht der Unternehmensleitung bekannt, alle übertarif-lichen Lohnanteile kündigen zu wollen. Zudem sah derBetriebsrat diese Absicht als Verhandlungsgegenstand. Zudieser Betriebsrats-Mehrheit gehören, einschließlich desBetriebsratsvorsitzenden, eine Reihe von Kollegen, die sichvor wenigen Jahren noch als »Linke« begriffen. Unterneh-mensleitung wie Betriebsrats-Mehrheit wurden dann einesBesseren belehrt, als die Bänder standen. Das Unternehmenmachte einen Rückzieher. Daß nun auch die Inhalte desneuen Standortvertrages strittig sein würden, war der Betriebs-rats-Mehrheit durchaus klar. Deshalb sicherte sie sich ab:

Ein nicht unwesentlicher Minuspunkte des neuen Stan-dortvertrages 11 ist der bisherige 1993er Vertrag. Den nämlichhatte der Betriebsrat nicht gekündigt, was bedeutete, all die-jenigen Verschlechterungen, die er gebracht hatte, laufen nunweiter: Zum Beispiel waren damals Kürzungen der Frei-schichten für die Dauer-Nachtschichtler eingeführt worden.

Jetzt kommen weitere problematische Regelungen hinzu:Die garantierte Übernahme der Auszubildenden ist nur mitEinschränkungen geregelt. Es gibt keine Beschäftigungs-garantie im erlernten Beruf. Für die Vorruhestandsregelunggilt: Sehr wesentliche Fragen sind bisher nicht einmal gere-gelt. Bereits jetzt ist schon abzusehen, daß von den zirka 3000Kollegen der Jahrgänge 1937 bis 1944 insgesamt nur höch-stenfalls 800 diese in Anspruch nehmen können. Vorranghaben immer »betriebliche Erfordernisse«. In der betrieb-lichen Altersversorgung sollen Abstriche gemacht werden.Zunächst einmal sollen Lohnempfänger und Angestelltegleichgestellt werden. Zu den zentralen Punkten gehört dieAngleichung der Opel-Löhne an die Tariflöhne. Zwar nichtwie im Sommer des letzten Jahres geplant-auf einen Schlag,aber nach und nach kommt faktisch dann doch die Absen-kung. Dazu müssen die Opel-Kollegen ab dem 1. April auf1,25 Prozent der aktuell tariflich vereinbarten 2,5 ProzentLohnerhöhung verzichten. Überstundenzuschläge werdennur nach dem Tariflohn bezahlt. Innerhalb eines Jahres ergibtdas mindestens einen Verlust von 700 DM. Opel wird alleinso pro Jahr mindestens 50 Mio. DM sparen. Das Weihnachts-geld wird nur dann auf hundert Prozent aufgestockt, wennder Krankenstand sechs Prozent nicht übersteigt. Zu den sichbei einem Zeitraum von vier Jahren ergebenden 200 Mio. sol-len aufgrund der anderen Maßnahmen noch einmal 100 Mio.DM an Ersparnis für den Konzern herumkommen. Auch derzentrale Punkt, der in der Propaganda von Standortsiche-rungsverträgen immer als der wesentliche Pluspunkt heraus-gestellt wird, erweist sich als Gerücht: Im neuen Vertrag gibtes keine wirkliche Beschäftigungssicherung. Ausdrücklichwerden »Personalanpassungs-Ma@ahmen« verlangt. Stattder über 14.000 Arbeitsplätze wird es Bochum nach den jet-zigen Planungen im Jahre 2002 weniger als 12.000 geben. InRüsselsheim werden drei- bis viertausend Arbeitsplätze ver-lorengehen; allein bis Ende dieses Jahres rund tausend. InKaiserslautern sollen zwei- bis dreihundert »abgebaut« wer-den. Betriebsbedingte Kündigungen wird es nur dann nichtgeben, wenn der Betriebsrat den Abbau eines »möglichenPersonalüberhangs« akzeptiert. Ausnahmen für betriebs-

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bedingte Kündigungen sind ausdrücklich vorgesehen. Daszentrale Charakteristikum des »Standortvertrags II« ist es,daß es dem Konzern ein neuartiges Rationalisierungsniveaugarantiert: Bisher ging es vornehmlich um die Flexibilisie-rung innerhalb der verschiedenen Werksteile. Das ist natür-lich auch weiterhin ein zentrales Ziel: Die Tätigkeiten wer-den noch weiter flexibilisiert, die Zeitkorridore ausgebautund die Maschinenlaufzeiten verlängert. Darüber hinauswird nun jedoch verstärkt auch auf die Mobilität der Kolle-gen zwischen den verschiedenen Standorten Wert gelegt:Jungfacharbeiter aus Rüsselsheim müssen es sich bereits indiesem Jahr gefallen lassen, in Bochum eingesetzt zu werden.

Beide Verträge zusammen betrachtet zeigen jedoch einesganz klar: Betriebsbornierte Arrangements, die von vornher-ein Forderungen seitens der Arbeiter - auch wenn es zur Zeit»nur« um Besitzstandswahrung geht - und damit verbundenoffene Konfrontation bis hin zum Streik ausschließen,kapitulieren schon vor dem Kampf. Die sich explizit als »Co-Manager« des Opel-Konzerns bezeichnende Betriebsrats-Mehrheit in Bochum hat ihrem Selbstverständnis entspre-chend gehandelt und leider auch Erfolg gehabt: Sie garan-tierte das friedliche Abnicken der Belegschaft für den Abbauvon sieben- bis zehntausend Arbeitsplätzen.

Während auf Seiten der Kollegen sich also eine Ein-schränkung zur anderen addiert, macht der General-Motors-Konzern irrsinnige Gewinne: Allein in den ersten drei Quar-talen 1997 wurden sie um 19 Prozent gesteigert. Nicht nurdiese Gewinnlage hätte Spielraum für entschiedenerenWiderstand geboten, sondern auch die Produktpolitik desKonzerns: Die Produktion des neuen »Astra« hängt wegenManagementfehlern um ein halbes Jahr hinter dem Zeitplanhinterher. Die General-Motors-Zentrale drohte zwar mit demAbbau von einem Drittel der Arbeitsplätze in Europa, aberzur Zeit braucht das Unternehmen auf jeden Fall jeden Kol-legen. Dortmund, 11.2.1998 n

n BERLIN: 3000 BESCHÄFTIGTE DEMONSTRIEREN

Gegen betriebsbedingte Kündigungenund Abbau tariflicher Leistungen

Der folgende Artikel beschäftigt sich mit der Sparpolitik inder evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg (EKiBB)und mit der Vorbereitung und dem Ablauf einer Demonstra-tion kirchlicher Mitarbeiter vom November 1997. Zum bes-seren Verständnis des Geschehens haben wir die Schilde-rungen über die Interessenvertretung in der evangelischenKirche und über die Entwicklung in der Berliner ÖTV-Abtei-lung Kirche vorangestellt.

Interessenvertretung in der evangelischen KircheVorab: Wer das Betriebsverfassungsgesetz und das Personal-vertretungsgesetz gewohnt ist, muß dies alles in der EKiBBschnell vergessen. Es gibt hier ein Mitarbeitervertretungs-gesetz (MVG), das den Mitarbeitervertretungen (MAV) nurwenig Mitbestimmungsmöglichkeiten gibt. Freistellungengibt es in der gesamten Kirche mit fast 10.000 Beschäftigteninsgesamt 3 (drei), die von sechs Mitgliedern der 17Personenstarken Hauptmitarbeitervertretung (HMAV) zu je 50 Prozent

tionen, die zusammen zirka 15 bis 20 Prozent der Beschäftig-ten organisieren. Quantitativ am stärksten ist der Verbandkirchlicher Mitarbeiter/Gewerkschaft Kirche und Diakonie(VKM), dessen Mitgliedsbeiträge weniger als die Hälfte derHöhe des ÖTV-Beitrages ausmachen und der seinen Anhangzu einem großen Teil in der Ostregion hat. Im Westteil gibt esihn seit Jahrzehnten, er ist »frommer« als die ÖTV, hat einesozialpartnerschaftliche Tradition und große Probleme, sichin der geänderten »Kirchen-Welt« zurechtzufinden. SeineMitglieder finden sich vor allem in den unteren Ebenen derMitarbeitervertretungen auf Gemeinde- und Kirchenkreis-ebene. Auf höherer Ebene leidet er unter dem Mangel an qua-lifizierten Funktionären. Bei der in diesem Artikel beschrie-benen Demonstration trug der VKM durch seine Mit-Mobili-sierung stark zum Erfolg bei, trat aber auf der Kundgebungoptisch überhaupt nicht in Erscheinung, weil die VKM-Mit-glieder kaum über eine Tradition der organisierten öffent-lichen Gegenwehr verfügen und Transparente etc. nichtzu ihrer Kultur zählen. Die an Mitgliedern zweitstärksteGewerkschaft ist die ÖTV, die im Bereich der EKiBB sowohlvom Bezirk Berlin wie vom Bezirk Brandenburg vertretenwird. In Berlin gibt es (wieder) intakte Strukturen, in Bran-denburg nur einen zuständigen Sekretär.

Die ÖTV-Berlin stellt den HMAV-Vorsitzenden und isttraditionell in den überregionalen MAVen führend, hat abereine geringe Verankerung in den untersten Bereichen derInteressenvertretung. Dies liegt daran, daß die überwiegendeMehrzahl der Mitarbeitervertreterinnen und -Vertreter nichtorganisiert ist und darüber hinaus kaum jemand interessiertist, überbetriebliche und überregionale Gremienarbeit zu lei-sten. Die dritte Gewerkschaft ist die GEW, die vor allem imBereich der Kitas und der Berliner evangelischen Schulenihre Bastionen hat und die MAVen bestimmt. Daß es dortsoviel GEW-Mitglieder gibt, liegt nicht zuletzt an den 7OerJahren, als die GEW-Berlin aus der Bundes-GEW ausge-schlossen war und zum Anziehungs- und Sammelpunkt derundogmatischen Linken Berlins wurde. Nach der Wiederein-gliederung in die Bundes-GEW verblieben diese Mitgliederin ihrer Gewerkschaft, wodurch das klassische Prinzip »EinBetrieb - eine Gewerkschaft« in der EKiBB nicht mehr galt.Die mit Abstand schwächste Gewerkschaft ist die DAG,deren Mitgliederzahl kaum meßbar ist, die aber mittlerweilemit der ÖTV eng kooperiert.

Die ÖTV-Abteilung KircheDie Berliner ÖTV-Kirche war traditionell eine von Linkengeführte Abteilung. Links meint hier Kräfte aus dem Umfeldder SEW-Berlin. Nach deren Auflösung 1989/90 ging auchdie Aktivität in der Abteilung Kirche stark zurück. Fast alleBetriebsgruppen im Bereich Kirche gingen ein und die Quar-talsversammlungen wurden immer schlechter besucht. DerFunktionärsstamm schmolz zusammen und durch die Perso-nalreduzierung in der ÖTV-Bezirksverwaltung wurde diehauptamtliche Betreuung ständig geringer. Der langjährigeSekretär verließ die ÖTV und wechselte auf die Arbeitgeber-seite. Der ebenfalls langjährige Abteilungsvorsitzende, einPfarrer, trat von seiner Funktion zurück, da er aufgrund desVorwurfs, als IM für die Stasi gearbeitet zu haben, vom Dienstsuspendiert wurde.

Übriggeblieben waren 1994 zwei kleine Betriebsgruppen

stand und eine ebenso neue Abteilungssekretärin. Beidewaren wildentschlossen, endlich anerkannter Tarifpartnerder Landeskirche zu werden.

Es hatte ein schleichender, in der breiten Mitgliedschaftundiskutierter, Wechsel von Strategie und Taktik stattgefun-den, denn nun wurde ein Tarifvertrag akzeptiert, der eineZwangsschlichtung vorsah. Die ÖTV-Strategie hatte sich bisdahin darauf ausgerichtet, durch gewerkschaftliche Arbeitund Mitgliederzuwächse stark genug zu werden, um einenTarifvertrag ohne diese Knebelung zu erreichen. Im Dezem-ber 1995 war die ÖTV dem Tarifvertrag - immer noch mitZwangsschlichtung - beigetreten, was gegenüber den Kolle-gInnen damit begründet wurde, als Tarifpartner könne manmehr erreichen, als durch weitere Verweigerung. Internwurde dies mit der Hoffnung verbunden, als anerkannterTarifpartner mehr Resonanz bei den Beschäftigten zu errei-chen und so weitere Mitglieder zu werben.

Also wurde entsprechend eine ÖTV-Tarifkommissiongebildet, für die es allerdings in den dann folgenden Ver-handlungen wenig zu gewinnen gab. Ausgebuffte Kirchen-Juristen saßen schlechtvorbereiteten ÖTV’lerInnen gegen-über. Es schien so, als hätte man immer noch nicht begriffen,in welche Richtung »Mutter Kirche« ihre Schäfchen bewe-gen wollte.

Während die kirchliche Pressestelle eine Katastrophen-meldung nach der anderen publizierte und bei den Beschäf-tigten die Angst um den Job stieg, schwieg die ÖTV in derÖffentlichkeit vollkommen. Kein Flugblatt, nicht einmaleine Pressemeldung wurde lanciert. Selbst die Vertrauens-leute mußten sich woanders - das heißt auch bei anderenGewerkschaften - informieren.

Die hauptamtliche Sekretärin konzentrierte sich auf »ver-trauliche« Gespräche mit dem Arbeitgeber und informiertenicht einmal die eigenen Funktionäre.

In dieser Phase entwickelte sich aus den beiden Betriebs-gruppen und der Betriebszeitungs-Redaktion heraus eineinformelle Gruppe, die auch im Abteilungsvorstand vertre-ten war und deren Ziel eine Wiederherstellung einer trans-parenten, basis- und konfliktorientierten Gewerkschaftsar-beit der Abteilung war.

Hauptkonflikte waren die Arbeit in der Tarifkommission,bezogen auf die Taktik gegenüber dem Arbeitgeber und aufdie Transparenz bei den eigenen Mitgliedern und Funk-tionären, und die Nachwahlen für den Vorstand. Hier ging esdarum, den durch mehrere Rücktritte stark geschwächtenund oft beschlußunfähigen Abteilungsvorstand durch Nach-wahlen zu ergänzen. Da aber ausschließlich KritikerInnender bisherigen Arbeit zur Kandidatur bereit waren, wurdeseitens des amtierenden Vorstandes keine Nachwahl durch-geführt. Begründung der Sekretärin: Eine ÖTV-Wahlordnung(die von den Nicht-Hauptamtlichen niemand kannte und diesie auch niemals bekamen) untersage dies.

Bereits vereinbarte und angekündigte Versammlungenwurden abgesagt, damit es kein Forum für Kritik an diesemVerhalten gab. Ende 1996 erreichte der Konflikt seinen Höhe-punkt. Gegen zwei Mitglieder der Tarifkommission, unterihnen der Vorsitzende der HMAV, leitete die Abteilungs-sekretärin Untersuchungsverfahren ein und erklärte ihreGewerkschaftsfunktionen als »ruhend«, dies wurde von derihr genehmen Abteilungsvorsitzenden gedeckt. Gleichzeitigwurde eine Betriebsgruppe, die Protestaktionen gegen dieKündigungen durchgeführt hatte, für nicht-existent erklärt.

A R B E I T E R P O L I T I K NM, Mim 1995

Hintergrund hierfür: Beide aus der Tarifkommission gewor-fenen Mitglieder hatten in dieser Gruppe ihre Basis.

Angesichts von 1300 angekündigten Kündigungen ginges jetzt ums Ganze. Eine Reihe von KollegInnen interveniertebei der ÖTV-Bezirksleitung gegen die Untersuchungsverfah-ren und parallel wurde zu einer außerordentlichen Mitglie-derversammlung mobilisiert. Diese wurde zur bestbesuchtenseit Jahren, auch KollegInnen, die man nicht kannte, warenerschienen. Auf dieser Versammlung im November 1996wurde der Konflikt offen ausgetragen. Bei einer Gegen-stimme (der Vorsitzenden!] und wenigen Enthaltungen wur-den von allen Anwesenden die Einleitung der Verfahrenmißbilligt und die Teilnahme der ÖTV an Protestaktionengegen die Kündigungen beschlossen. Gleichzeitig wurde dieBezirksleitung aufgefordert, die Arbeit der zuständigenHauptamtlichen zu überprüfen. In den folgenden Wochenwuchs der Druck auf den amtierenden Vorstand. Im Januar1997, auf der nächsten Gesamtmitgliederversammlung,zeigte sich erneut, daß die große Mehrheit der aktiven Kolle-ginnen und Kollegen die bisherige Politik und die sie tragen-den Personen nicht mehr unterstützte. Im Ergebnis trat dieVorsitzende und mit ihr der gesamte Vorstand zurück, umNeuwahlen zu ermöglichen.

Der Bezirksvorstand stellte die Untersuchungsverfahrenein und setzte die beiden KollegInnen wieder in ihre Funk-tionen ein.

Im April 1997, fast drei Jahre nach Beginn der ersten Kon-flikte in der Abteilung, errangen die vorstandskritischenKräfte eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Vorstand, getragen voneinem breiten Votum der Mitglieder. Als es anschließendgelang, die Abberufung der bisherigen Geschäftsführerin undihre Ersetzung durch einen kooperativen Sekretär zu errei-chen, waren die Voraussetzungen für eine Veränderung derÖTV-Arbeit geschaffen. Ohne die Herausbildung dieserneuen Mehrheit, die eine Koalition unterschiedlicher, linkerAnsätze ist und ohne die gemeinsamen Konflikterfahrungenund das dadurch erworbene Ansehen, wäre es kaum zu denMobilisierungen gekommen, die dieser Artikel schildert.

Die Berlin-Brandenburgische Landeskirche:Aus zwei mach einsDie EKiBB ist die einzige wiedervereinigte Landeskirche.Durch den Mauerbau 1961 war die Kirchenprovinz in zweiTeile geteilt worden, die sich seitdem unabhängig entwickelthatten. 1990/91 vereinigten sich die getrennten Teile derEKiBB wieder. In den folgenden Jahren wurde viel Geld inden Ausbau der Ostgemeinden gesteckt. So stiegen dieGehälter der Pfarrer auf 88 Prozent des Westniveaus und siewurden u.a. in der Pfarrer-Pensionskasse nachversichert(Kosten 72 Mio. DM). Der technische Standard der Pfarrbüroswurde erhöht, und die Kirche übernahm eine Reihe abge-wickelter Sozialeinrichtungen wie zum Beispiel Kindergär-ten. In Berlin war auf einmal die andere Stadthälfte mitzu-versorgen, mit evangelischen Einrichtungen, mit Religions-unterricht, mit Sozialarbeit etc.

Doch die Hoffnungen einiger führender Kirchenleute,daß sich jetzt nach dem Ende der DDR in der Ostregion einekirchliche Renaissance in den »protestantischen Kerngebie-ten« entwickeln würde, blieb Illusion. Stattdessen nahmenvielerorts durch die Übernahme des westlichen Kirchensteu-ersystems die Gemeindegliederzahlen ab, in der gesamten

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EKiBB sank die Mitgliederzahl in den letzten sieben Jahrenvon 1,8 auf 14 Mio., das heißt um mehr als 22 Prozent.

Parallel dazu wurden weniger Gelder eingenommen.Zum einen sanken die Steuereinnahmen des Staates (damitauch die an die Höhe der Lohnsteuer gebundene Kirchen-steuer) infolge von Krise und Massenarbeitslosigkeit unddurch Abschreibungen bei den »Besserverdienenden«. Werkeine Einkommensteuer zahlt, zahlt auch keine Kirchen-steuer. Zum anderen ist das Land Berlin pleite und reduziertständig die Förderung freier Träger. Somit geriet die Kirchevon zwei Seiten unter Druck und die Kirchenfinanzen insRutschen.

Die EKiBB ist neben der nordelbischen Kirche die ein-zige, die einen Tarifvertrag abgeschlossen hat. In Berlinwaren von den Gewerkschaften nur VKM (Verband kirch-licher Mitarbeiter, mittlerweile heißt er GKD = GewerkschaftKirche und Diakonie) und DAG (Deutsche Angestellten-gewerkschaft) Tarifpartner. ÖTV und GEW lehnten die inBerlin vereinbarte Zwangsschlichtung ab. Nachdem sich inden folgenden Jahren zeigte, daß sich der Organisationsgradder Kirchenbeschäftigten kaum erhöhen ließ und auf dieseWeise kein Druck auf die Kirchenleitung ausgeübt werdenkonnte, unterzeichneten Ende 1995 auch ÖTV und GEW denTarifvertrag und akzeptierten die Zwangsschlichtung.

Die Kirche und das Geld -oder: Sparen nur auf dem Rücken der Beschäftigten1986 begann in Westberlin die Debatte um kirchliche Spar-politik, die aber bis 1995 kaum Konsequenzen hatte. Die Kir-che hatte ein gutes Polster, es gab acht Prozent Berlinzulage,in vielen Bereichen wurde gut verdient, und jede Lohn-erhöhung erhöhte automatisch die Kirchensteuer. Hinzukamen sehr hohe Staatsleistungen, vor allem für Personal-kosten. Spätestens 1995 war die Diskrepanz zwischen sin-kenden Einnahmen und konstanten Ausgaben augenfällig.(Dies bezieht sich nur auf die laufenden Ein- und Ausgaben!Was die EKiBB an Rücklagen, Vermögen, Immobilien etc.besitzt, kann nur vermutet werden.)

Auf der Synode im November 1996 wurde der erste dra-stische Sparhaushalt - ein Doppelhaushalt für 1997/98 -beschlossen, der von den Beschäftigten mit Entsetzen auf-genommen wurde. Von zirka 9000 Stellen sollten bis Ende

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1998 1300 wegfallen. Während allein in der landeskirch-lichen Jugendarbeit 60 Prozent gekürzt wurde, die Kranken-hausseelsorge um 69 Prozent, und eine ganze Reihe wichti-ger Bereiche, wie zum Beispiel der kirchliche Dienst in derArbeitswelt (KDA) ganz abgewickelt wurden, billigte dieSynode den Bau eines neuen Konsistorialgebäudes für zirka70 Mio. DM.

Die Finanz- und Haushaltskrise wurde allein auf dieBeschäftigten abgewälzt. Helmut Reihlen, langjähriger Prä-ses der Berliner Synode wurde in der »TAZ« vom 18.11.1996so zitiert: »Man habe lange die Augen vor der Finanznot ver-schlossen und den Angestellten jahrelang falsche Hoffnun-gen gemacht. Jetzt müssen wir jene entlassen, die uns ver-traut haben.« Der Bischof hatte mehrmals in Interviews inBerliner Zeitungen betriebsbedingte Kündigungen ausge-schlossen und bei kirchlichen Beschäftigungen galt einBischofswort bis dahin noch etwas.

Aufmerksamen Beobachtern war aufgefallen, daß in die-sen Haushalt bei den Personalkosten nur von zwölf Monats-gehältern ausgegangen wurde. Im Klartext: Das Weihnachts-geld war nicht mehr vorgesehen und viele KollegInnen inMitarbeitervertretungen (MAV) und Gewerkschaften sahendies als Ankündigung, daß die Kirchenleitung sich aus dertarifvertraglichen Verpflichtung der Weihnachtsgeldzahlungverabschieden wollte.

Die Kirchenleitung hatte dann auch am 22.11.1996 fol-gende tarifrechtliche Regelungen zum 31.12.1996 mit demZiel gekündigt, in den nächsten Jahren gar nichts mehrdavon zu zahlen:

a) Die Sonderzuwendung,b) das Urlaubsgeld,c) die Jubiläumszuwendung,d) die vermögenswirksamen Leistungen.

Die Gewerkschaft informiertDie Abteilung Kirche und Diakonie in der ÖTV informiertedie Beschäftigten mit Flugblättern und ihrer Betriebszeitung,dem »Kirchengockel«. Unter anderem hieß es: »über 1000Arbeitsplätze in der EKiBB sind sehr stark gefährdet, nachAussagen der Kirchenleitung sollen sie wenn nötig auch mit

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Kündigungen abgeschaffr werden. Die Löhne und Gehältersollen abgebaut werden. In fast allen Kirchenkreisen undlandeskirchlichen Einrichtungen wird es ab 1997 erheblichefinanzielle Probleme geben, die alle Arbeitsbereiche in unse-ren kirchlichen Dienststellen zukünftig verändern werden.«

Ein Artikel des »Kirchengockel« faßte Anfang Juni 1997die bisherigen Erfahrungen mit dem Arbeitgeber Kirchezusammen:

»Zum Stand der Tarifverhandlungen / Massenentlassun-gen /Sonderzuwendung und Urlaubsgeld

Unser kirchlicher Arbeitgeber ist zu keinem Beschäjii-gungspakt mit den Gewerkschaften bereit. Er ist nicht bereit- analog zur Finanzierung seines neuen Kirchenzentrums -,in den sozialverträglichen Personalabbau zu investieren. Erhat nur Interesse an der Zwangsteilzeit (Ja-Stunden-Wocheohne Lohnausgleich), und nur diese >Einsparungc würde ermit den abzubauenden Stellen verrechnen.

Dies bedeutet, da$‘nun die über 1000 Kündigungen in derEKiBB Wirklichkeit werden. Für die Gewerkschaften bedeu-tet dies, dafl wir eine heftige Auseinandersetzung mit unse-rem Arbeitgeber auszutragen haben.

Unsere ÖTV-Tarifiommission hatte zu der drohendenMassenentlassung einen Beschäftigungssicherungs-Tarifier-trags-Entwurf erarbeitet. Am 6.5.1997 überreichten alle vierGewerkschaften dem Arbeitgeber eine Erklärung, in der wirein komplettes Beschäfiigungssicherungspaket zum 1.7.1997(freiwillige Arbeitszeitverkürzung, Zwangsarbeitszeitverkür-zung mit Teillohnausgleich, Abfindungsregelung für Un-kündbare) mit dem Angebot, das Urlaubsgeld und die Son-derzuwendung nur noch als Sockelbetrag zu zahlen unddafür die entstehenden Lohn- und Gehaltseinbußen durchfreie Tage auszugleichen, anboten.

Die Tarifverhandlung am 14.5.1997 ergab, daj3 die Kir-chenleitung dieses Paket rundweg ablehnte.

Da die Kirchenleitung daraufhin die Verhandlungen fürgescheitert erklären wird, müssen wir jetzt mit Massenentlas-sungen in unserer Kirche rechnen. Die gekündigten KMT-Teile (Urlaubsgeld, Sonderzuwendung etc.) werden von derKirchenleitung in die Schlichtung gebracht. Ein Ergebnis istfrühestens Anfang September zu erwarten.«

Die erste Kündigungswelle und die GegenwehrNach dem Scheitern der Tarifverhandlungen rückten dieKündigungen ins Blickfeld. Allein im Konsistorium waren100 MitarbeiterInnen gekündigt worden, darunter Schwer-behinderte, MAV-Mitglieder, Personen im Erziehungsurlaubetc. Jedem Arbeitsrechtler sträubten sich die Haare, denndiese Personengruppen sind unkündbar. Zudem hatte keineSozialauswahl stattgefunden. Offensichtlich waren die zu-ständigen Kirchenjuristen der Auffassung, daß der jesuani-sehe Satz »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« analog auchfür das Arbeitsrecht und die Schutzrechte der Kirchen-beschäftigte galt. Der Mehrzahl dieser Kündigungen - etwa80 -widersprach denn auch die MAV mit guten Gründen.

Diese Kündigungen kamen aufgrund des Widerspruchsder MAV vor die Schiedsstelle. Der dortige Richter stellte dieRechtsunwirksamkeit der Mehrzahl der Kündigungen fest,und da die anwesenden sechs Kirchenjuristen mit ihrenAuslassungen scheiterten, wurden anschließend von derKirchenleitung alle ausgesprochenen Kündigungen zurück-gezogen - um sie anschließend formgerecht wieder auszu-sprechen.

Am 17. Juni demonstrierten zirka 300 Beschäftigte vordem Konsistorium der EKiBB gegen die erste Kündigungs-welle. Zu dieser kurzfristigen Aktion hatte die ÖTV aufgeru-fen. Da zeitgleich die Diakonie-KollegInnen zu einer bundes-weiten Demo in Fulda mobilisierten, war die Zahl von 300ein Erfolg. Die Stimmung morgens um acht Uhr vor dem Kon-sistorialgebäude war gut, es waren eine Reihe von Transpa-renten mitgebracht worden, eine Kita hatte ein Lied getextetund eine Gruppe von Kolleginnen hatte Liederzettel vorbe-reitet. Rasseln waren genug vorhanden und die Lautstärkewar beträchtlich. Eine Reihe von KollegInnen, die bereitsihre Kündigung erhalten hatten, kamen aus dem Gebäudeheraus und reihten sich ein.

Nach kurzen Ansprachen einiger Vertreter von ÖTV undMAV und einigen Liedern entstand spontan der Wunsch,doch um das Konsistorium herum zu ziehen. Nach einerguten Stunde war’s dann vorbei. 300 Kolleginnen hatten einegute Aktionserfahrung gemacht und die aktiven ÖTV-Kolle-gInnen neuen Mut für weitere Aktionen geschöpft.

Anfang August kam die nächste Katastrophenreaktionder Kirchenleitung. Hatte sie bei der Haushaltsaufstellungmit drei Prozent weniger Kirchensteuereinnahmen gerech-net, waren es im ersten Halbjahr 1997 nach ihren Angabentatsächlich 15 Prozent. Die Reaktion verlief nach bewährtemBerlin-Brandenburgischem Kirchenmuster. Auch diese Ein-nahmeverluste sollten durch Personalabbau kompensiertwerden. Eine lange Liste von Einrichtungen, die ab 1999keine Kirchensteuermittel mehr bekommen sollten, wurdeerstellt und publiziert. Die dicksten Brocken: Die evangeli-schen Kitas fallen ganz aus der Förderung ‘raus, die Zuwen-dung ans Diakonische Werk wurde halbiert. In den Dienst-steilen und Gemeinden ging die Angst um, und im Konsisto-rium schien Panik zu herrschen.

Die SchlichtungsverhandlungenFast zeitgleich mit diesem neuen Schub an Katastrophen-meldungen begann die Schlichtung. Dies ist eine Einrich-tung, in der drei Vertreter des Arbeitgebers EKiBB, dreiGewerkschaftsvertreter und ein Arbeitsrichter, auf den sichbeide Seite verständigen müssen, sitzen. Die Schlichtung hatdie Aufgabe, einen neuen Tarifvertrag zu erstellen. Kommtkeine gütliche Schlichtung zustande, gibt es eine dann hin-zunehmende Zwangsschlichtung. Als Kompromiß bot dieKirchenleitung den Gewerkschaften an, 15 Prozent des Weih-nachtsgeldes zu zahlen mit der Bitte, dies doch vor allemzugunsten der unteren Gehaltsklassen umzuverteilen.Schließlich bekämen die Pfarrer und Kirchenbeamten über-haupt kein Weihnachtsgeld mehr und hätten damit Zeichengesetzt. Auf die Intervention eines ÖTV-Tarifmitglieds, daßwir bereit wären, auf unser gesamtes Weihnachtsgeld zu ver-zichten, wenn dann im Gegenzug alle Beschäftigten wie dieKirchenbeamten und Pfarrer unkündbar und pensionsbe-rechtigt würden, erntete der Kollege verlegene Gesichter.Unser Ansinnen, für jede eingesparte Mark von den Gewerk-schaften und den MAVen kontrollierbare Beschäftigungssi-cherung zu bekommen, wurde nicht aufgenommen.

Nach mehreren Marathonsitzungen war klar, daß eineeinvernehmliche Lösung zu den Konditionen des Arbeit-gebers mit den Gewerkschaftsvertretern nicht zu machenwar. Es gab dann einen mit den Stimmen der Arbeitgeberver-treter und des Schlichters gefaßten Schlichtungsspruch, der25 Prozent Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld von 150,- DM nur

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Aufruf zum landeskirchenweiten Aktionstagam lO.November 1997» Die Kirchen sind als Arbeitgeber auch wirtschaftlichHandelnde. Sie können nicht Maßstäbe des wirtschafrli-chen Handelns formulieren und öffentlich vertreten, ohnesie an sich selbst und an das eigene wirtschaftliche Han-deln anzulegen« . (Wort des Rates der Evangelischen Kirchein Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zurwirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland.)

In einer Zeit, in der mit der Begründung »es sei kein Geldda« den Beschäftigten das Weihnachtsgeld vorenthalten wer-den soll, in der Kündigungen in einer Größenordnung von1300 bis 1600 zu erwarten sind, wird ein neues zirka 80 Mio.DM teures Konsistorialgebäude errichtet und mehrere Mil-lionen in ein evangelisches Gymnasium gesteckt.

Während die kleine sächsische evangelische Kirche denbeschlossenen Neubau eines Verwaltungshauses stoppte, ummit dem Geld ihre Beschäftigten weiter bezahlen zu können,wird dies in der EKiBB von den verantwortlichen Gremienabgelehnt.

Steht in der Berlin-Brandenburgischen Kirche derMensch nicht mehr im Mittelpunkt? Sind Immobilien wich-tiger als Beschäftigte? Bei der Massenarbeitslosigkeit in unse-

rem Land haben Gekündigte kaum eine Chance auf einenneuen Arbeitsplatz.

Diese Kündigungen zu verhindern, den Beschäftigten derEKiBB wieder eine Perspektive zu verschaffen und um dieVerantwortlichen in der EKiBB und alle, denen die Ängsteder Beschäftigten nicht egal sind, aufzurütteln und zurUmkehr aufzufordern, rufen die unterzeichnenden Gewerk-schaften zu einer Protestkundgebung auf.

Wir fordern von Synode und Kirchenleitung der EKiBB:+ Offenlegung der Finanzen von Landeskirche, Kirchen-kreisen und Gemeinden.+ Sofortige Aufnahme von Verhandlungen mit den Gewerk-schaften über einen Tarifvertrag zur Beschäftigungssiche-rung.+ Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen.+ Aktivierung von Vermögen und Grundbesitz, denn Men-schen sind wichtiger als Gebäude.+ Einen sozialverträglichen, freiwilligen Personalabbau.+ Die Entwicklung einer Personalplanung für mindestensfünf bis zehn Jahre.

Unterzeichner: Gewerkschaff ÖT’C: LandesverbandBerlin / Gewerkschaft Kirche und Diakonie (GKD) LV Ber-lin-Brandenburg /DAG, Landesverband Berlin / Gewerk-schaft Erziehung und Wissenschaft n

für die unteren Gehaltsgruppen und die Abschaffung der ver-mögenswirksamen Leistungen, aber keine Beschäftigungs-sicherung vorsah.

Dies haben die Gewerkschaften abgelehnt, die Kirchen-leitung hat zugestimmt. Spart sie doch bei diesem Ergebnis75 Prozent eines Monatsgehalts. Und das in einer Zeit, indem ein landeskirchliches Filetgrundstück für 13 Mio. ver-kauft wurde, um mit diesem Geld ein evangelisches Gymna-sium im Land Brandenburg zu finanzieren. Finanzkrise oderHaushaltskrise? Oder anders gefragt: Erwartet diese Kirchen-leitung wirklich von den Beschäftigten den Verzicht aufGehalt und Arbeitsplatzsicherheit, wenn gleichzeitig über 70Mio. für einen Konsistorialbau und 13 Mio. für ein Gymna-sium bereitgestellt werden? Das gekürzte Weihnachtsgeldhätte damit mehrmals bezahlt werden können! Uns alsGewerkschafterInnen war klar, daß die Einnahmen der EKiBBund der Diakonie zurückgegangen sind. Dies liegt aber nichtan unbeeinflußbaren Schicksalsschlägen. Ein wesentlicherGrund hierfür ist die massiv fortschreitende Reduzierungstaatlicher Mittel. Kirchlich-diakonisches Handeln zum Bei-spiel in Kitas, Pflege, Jugendarbeit etc. ist gesellschaftlichnotwendig. Hier herrscht nach wie vor Bedarf, den der Staatimmer schlechter bezahlt. In einem der reichsten Länder derWelt wird dieser Bereich allmählich ausgetrocknet.

Wir haben unsere Bereitschaft erklärt, zusammen mit denleitenden Stellen von EKiBB und Diakonie den Druck gegendiejenigen in Bonn und Berlin zu richten, die an dieserSchraube drehen.

Heraus aus den Kirchenräumen - an die ÖffentlichkeitDie Marathonsitzungen hatten ein vom Arbeitgeber nichterwünschtes Ergebnis. Zum einen machte die Blockadepoli-

tik der Kirchenleitung selbst einen so friedlichen Verbandwie die GKD wütend, zum anderen hatten die Gewerk-SchaftsvertreterInnen in den vielen Verhandlungspausenund Vor- bzw. Nachbesprechungen ausreichend Gelegenheitzu Kontakten und Gesprächen. So entstand bei der ÖTV dieÜberlegung, die Stimmungen bei den Beschäftigten aufzu-greifen und Wut, Angst und Empörung in die Öffentlichkeitzu bringen. Die anderen drei Gewerkschaften konnten hier-für gewonnen werden und seit September 1997 liefen dieVorbereitungen für einen landeskirchenweiten Aktionstagder EKiBB-Beschäftigten in Berlin. Ein von der ÖTV vorge-legter Aufruf wurde in modifizierter Form zur Grundlage derAktion (siehe Kasten).

Volksmission einmal anders: Wehrt euch gemeinsam!Die EKiBB ist eine große Flächenkirche, die im Norden anMecklenburg, im Osten an Polen, im Westen an Sachsen-Anhalt und Niedersachsen und im Süden an Sachsen grenzt.Bei der Mobilisierung haben wir uns die Arbeit geteilt. DieGKD/VKM stellte jeder Mitarbeitervertretung in Landeskir-che und Diakonie den Aufruf mit Anschreiben zu.

Die GEW mobilisierte schwerpunktmäßig im Kita-Bereich und in den evangelischen Schulen und die ÖTV inden landeskirchlichen Bereichen, den Kirchenkreisen undbei befreundeten Organisationen im Kirchenbereich. Außer-dem organisierte die ÖTV mehrere Grußworte, um die Kund-gebungsteilnehmenden dadurch zu unterstützen, und warverantwortlich für ein Mobilisierungsplakat, das im FormatDIN A2 und in der Auflage von 2000 Stück vertrieben wurde.Ergänzend wurde eine Extraausgabe der ÖTV-Kirchenzei-tung » Kirchengockel« mit 5000 Auflage gedruckt und voll-ständig verteilt. Um auch noch die interessierten Gemeinde-

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mitglieder zu erreichen, wurde in der offiziellen Wochenzei-tung der Landeskirche »Die Kirche« eine auffällige Anzeigegeschaltet, die am Wochenende vor der Kundgebung er-schien. Auch die Presse informierte, vom »Neuen Deutsch-land« abgesehen, die ihrer Unterzeile »Sozialistische Tages-zeitung« keine Ehre machte. Dafür gab der gutbürgerliche»Tagesspiegel« (in Berlin das zentrale Bildungsbürgerblattund im öffentlichen Dienst und in der Berliner Kirche als»Dienstblatt« bekannt) in der Sonntagsausgabe vor der Demoeinen ausführlichen Hinweis auf die Veranstaltung und denInhalt. Diese Berichte und die mittlerweile zu verzeichnendeMobilisierung brachte die Kirchenleitung in Zugzwang. AmTag der Kundgebung erschienen in mehreren ZeitungenErklärungen der bischöflichen Pressestelle »Die Kirchewiderspricht der ÖTV«, in denen unseren Angaben, daßMassenkündigungen geplant seien, widersprochen wurde.Es seien nur wenige Kündigungen geplant.

Im Vorfeld der Aktionen wurden Demosprüche und Slo-gans für Transparente entwickelt, die aufgrund ihrer Kreati-vität gut ankamen u.a.:

+ Der Bischof baut ein neues Haus und Schmer@ dafür Kol-legen ‘raus.+ In der Berliner Kirche, uns ist ganz bang, gehört Jesusschon zum Überhang.+ Und nächstes Jahr, es ist nicht zu fassen, sind die Apostelauch entlassen.+ Und am Ende der Periode, lebt dann nur noch die Syn-ode.+ Wird die Sparwut noch länger dauern, stehen in der Kir-che nur noch Mauern. Denn die Beschäftigten insgesamt,trifft man dann im Arbeitsamt.+ Weniger Lohn und Massenkündigungen -mit uns nicht!+ Halleluja reicht nicht aus: Widerstand ins Gotteshaus!

Die Kundgebung am 10.11.1997Je näher der Termin rückte, umso nervöser wurden wir. Inder ÖTV-Vorbereitungsgruppe rechneten wir mit 600 bis1000 TeilnehmerInnen. Die Bühne war für max. 1500 Leutegedacht und die Lautsprecheranlage für max. 2000. Lieder-zettel mit für den Anlaß umgetexteten Liedern auf derGrundlage bekannter Melodien hatten wir gut 1000 gedruckt.

Als sich dann eine halbe Stunde vor Beginn der Sammel-platz füllte, wurden unsere kühnsten Hoffnungen übertrof-fen. Nach Polizeiangaben nahmen über 3000 Personen anDemo und Kundgebung teil. Besonders stark waren die Kitasvertreten, bei denen Beschäftigte, Kindergruppen und vieleEltern demonstrierten. Mit vielen Transparenten, Fackeln,Rasseln, Musikinstrumenten und vor allem über 1000 Tril-lerpfeifen wurde die Aktion optisch wie akustisch ein Erleb-nis. Ich weiß aus mehreren Dienststellen, daß sehr viele Kol-leginnen und Kollegen zum ersten Mal in ihrem Leben aufeiner derartigen Aktion waren. Von anderen DGB-Gewerk-schaften gab es beeindruckende Zeichen von Solidarität. Sounterbrach etwa der Landesbezirksvorstand der IG Medienfür mehrere Stunden seine Sitzung und reihte sich samt IG-Medien-Lautsprecherwagen in den Zug ein. Die Vorsitzendeder IG Medien (Bezirk Berlin) hielt ebenso eine Rede wie derBetriebsratsvorsitzende von Osram.

Bei der Abschlußkundgebung vor Berlins Traditionskir-che »Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis« blieb der Platz am Kurfür-stendamm fast zwei Stunden gefüllt. Es gab kaum ein

Abbröckeln, die Stimmung war hervorragend. Reden undGrußworte wurden mit viel Applaus quittiert. Alle Redennahmen auf das Sozialwort von EKD und BischofskonferenzBezug. Ob EKD und Bischof Huber geahnt haben, daß ihnenihre eigenen Worte als Spiegel vorgehalten werden würden?

Das Medienecho war so gut wie selten bei einer gewerk-schaftlichen Aktion. In der Abendschau des Berliner Fernse-hens wurde sachlich berichtet und Bischof Huber wurdenach der wirtschaftlichen Verantwortung der Kirche befragt.In den nächsten Tagen erschienen eine Reihe von positivenArtikeln, sogar im Kirchenblatt. Auf diese Art und Weisegelangte die Botschaft von der erfolgreichen Aktion auch indie ländlichen Teile der EKiBB.

Nach der Kundgebung, die von einigen Synodalen undKonsistorialen »begutachtet« wurde, und nicht zuletzt auf-grund des positiven Echos in den Medien waren Demo,Kundgebung und Massenkündigungen Gesprächsthema aufder Synode. Bischof Huber sprach nur noch von »300 Kündi-gungen«, was als Erfolg zu werten ist. Wichtiger aber war dieDiskussion über den Neubau des Verwaltungsgebäudes, inder Kirchenleitung und Konsistorium arg in Bedrängniskamen. Aber: Wie beim Staat, so auch in der Kirche. DasArgument, daß bei einem Baustopp trotzdem mindestens12 Mio. Konventionalstrafe zu zahlen seien, gab den Aus-schlag. Die Synode gab grünes Licht, und es darf weiter-gebaut werden.

Wie ging’s weiter? Was hat’s gebracht?Das wichtigste Ergebnis war die gemeinsame Erfahrung, daßeine derartige Aktion überhaupt möglich ist. Immerhinwaren fast 50 Prozent der Kolleginnen und Kollegen aus demGroßraum Berlin beteiligt gewesen. Vor einem Jahr hatten inHannover an einer Protestdemonstration der in der ÖTV-Nie-dersachsen organisierten Kirchenbeschäftigten 1000 Kolle-ginnen teilgenommen. Dies war vor Berlin die größte Aktiongewesen. Und jetzt 3000! Außerdem war es erstmals gelun-gen, alle vier Gewerkschaften zu einer Aktion zusammenzu-bekommen. Dies sind bewußtseinsmäßig wesentliche Vor-ausssetzungen für künftige Aktivitäten. ÖTV-intern war dasdie Bewährungsprobe der neuen Mehrheit.

In der ÖTV-Kirche hat diese Erfahrung mobilisierendgewirkt. Zwei weitere Betriebsgruppen sind in Gründung,und die Zahl der Aktiven hat zugenommen.

Tarifpolitisch ist die vom Arbeitgeber geplante Nullrundeverhindert worden, der Abschluß von 25 Prozent Weih-nachtsgeld plus zehn zusätzlichen freien Tagen für 1999/98ergibt materiell etwa 50 Prozent Gesamtvolumen. Interessan-ter ist, daß die restlichen 50 Prozent ausschließlich zur Kün-digungsvermeidung zu verwenden sind und daß seitens desArbeitgebers bei jeder einzelnen geplanten Kündigung nach-gewiesen werden muß, daß dies geschehen ist. Dies macht eswenigstens schwerer, zu kündigen.

Bisher sind alle in der EKiBB ausgesprochenen Kündi-gungen von den Arbeitsgerichten aufgehoben worden. Diesverzögert allerdings nur diese Kündigungen. Für die Gewerk-schafterinnen und Gewerkschafter steht in diesem Jahr an,die Mobilisierung der Kolleginnen und Kollegen in Richtung»Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen« fortzusetzen.Die Arbeitgeber sind angeschlagen und argumentativ in derDefensive. Die Berliner Kirche unter Leitung des »Armani«-Bischofs’ Huber ist in Deutschland mittlerweile die einzige,die betriebsbedingt kündigt. Dies ist auch kirchenintern nur

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schwer zu begründenz. Insofern besteht durchaus Grund zuder Hoffnung, daß die Arbeitsplätze der Beschäftigten vertei-digt werden können, wenn dies die Beschäftigten weiterhinselbst tun. Stand: 14.2.1998 n

n DGB IN HESSEN

Konflikteim DGB Main-Kinzig/OffenbachIm November 1997 wurde der Vorsitzende des DGB-KreisesMain-Kinzig/Offenbach wiedergewählt. Dies allein istnatürlich kein ungewöhnlicher Vorgang. Die Begleitum-stände im Vorfeld der Wahl werfen aber aus örtlicher Sichtein Schlaglicht auf den derzeitigen Zustand der Gewerk-schaften und den Stil, wie der hauptamtliche Apparat mitProblemen wie Mitgliederschwund und sinkende Beitrags-einnahmen umgeht.

Im Zuge der Flächenbereinigung, mit der der DGB Ver-waltungskosten einzusparen hofft, ist der neue Kreis erst vorwenigen Jahren durch Zusammenlegung von Main-Kinzig(Hanau) und Offenbach entstanden. Die neue Gebietseinheitwurde bisher kommissarisch vom früheren Hanauer DGB-Chef Hareter geleitet, der Offenbacher Röver wurde seinStellvertreter. Beide gelten innerhalb des DGB als »links«und politisch engagiert auch in der SPD. Aus diesem Grunde- persönliche Querelen mögen hinzukommen - war Hareterim DGB Main-Kinzig/Offenbach nicht unumstritten. Diegrößte Gewerkschaft, die IG Metall, stand zwar auf seinerSeite (in der Verwaltungsstelle Hanau/Fulda spielen Linke -v.a. aus dem Bereich der DKP - traditionell eine aktiveRolle); andere -wie etwa die Hanauer ÖTV - steuerten aberdagegen. In einem gespannten Klima sah der örtliche DGBder ersten ordentlichen Wahl seines Vorsitzenden entgegen.+ Im Sommer 1997 brach unter den Gewerkschaften imMain-Kinzig-Kreis der Streit offen aus. Der ursprünglicheAnlaß lag eigentlich in der Auseinandersetzung zweier kom-munaler Institutionen (Friedensbeirat und Landrat), dochschon bald wurden auch innergewerkschaftliche Konfliktehieran abgearbeitet.+ Das Sozialamt des Main-Kinzig-Kreises hatte zweiFlüchtlingsfamilien aus Bosnien bzw. Kosovo die Zahlungvon Sozialhilfe verweigert mit der Begründung, sie hättensich durch illegalen Handel mit Autos bzw. Zigaretten Ein-künfte verschafft. Der Friedensbeirat brachte dies in dieÖffentlichkeit, Sozialdezernent Pipa legte seinerseits mit bisdato unbewiesenen Details aus polizeilichen Ermittlungennach, Medien und interessierte LeserbriefeschreiberInnenbeteiligten sich auf ihre Weise. Am Ende klärte ein Gerichts-urteil des Frankfurter Verwaltungsgerichts, daß es keineerhärtbaren Hinweise auf Verfehlungen gebe, zumal dieFlüchtlinge die Sperrfrist des Sozialamts nur durch Spendender Diakonischen Flüchtlingshilfe überleben konnten.

1 So die kircheninterne Bezeichnung aufgrund seiner Vorliebe für Tex-tilien aus dem Haus Armani.2 Bischof Huber, der zum Zeitpunkt seiner Wahl zum Berliner Bischofauch die Option hatte, in Heidelberg ein sicheres SPD-Bundestagsman-dat zu erhalten, hat intern durchblicken lassen, daß er mittlerweile seineAnnahme der Berliner Wahl für falsch halte.

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+ Sprecher des Friedensbeirates ist der DGB-VorsitzendeFerdinand Hareter. Ihm warf der Geschäftsführer der ÖTVHanau, Michael Schweitzer, vor, Interessen der Kreisbeschäf-tigten (damit von Gewerkschaftsmitgliedern) verletzt zuhaben. Begründung: Sachbearbeiter des Sozialamtes seiennach Angabe von Pipa von Flüchtlingen massiv bedroht,sogar geschlagen worden. Auch diese Aussage mußte Pipaspäter zurücknehmen. Aus Gelnhausen beteiligte sich diedortige IG Bau an der Kampagne gegen Hareter mit der plum-pen Parole: Wenn man die Schwarzarbeit am Bau bekämpfenwolle, dürfe man illegale Praktiken von Asylbewerbern nichtdulden.+ Noch deutlicher sah die ÖTV ihre Belange verletzt, alsder DGB-Vorsitzende die untertarifliche Bezahlung der Aus-zubildenden beim BBZ (Beschäftigungsgesellschaft des Krei-ses) öffentlich anprangerte, die zudem durch einen geradeabgeschlossenen Haustarifvertrag zementiert wurde. DieFinanzlage des Kreises lasse keine andere Möglichkeit zu, soPipa und Schweitzer unisono, aber man tue wenigstensetwas, um benachteiligte Jugendliche von der Straße zubekommen. Schweitzer faßte dies alles in der Behauptungzusammen, daß die Mitglieder der ÖTV sich durch Hareternicht mehr vertreten fühlten.+ Daß die Auseinandersetzungen auch in Zukunft nichtabreißen werden, ließ schon der nächste Konflikt um dashessische Programm »Arbeit statt Sozialhilfe« ahnen. Auchhier geht es wieder um die Frage untertariflicher Bezahlungin Fördermaßnahmen des Main-Kinzig-Kreises, die dieRegion wohl noch weiter beschäftigen wird.

Offensichtlich zielte die Kampagne, soweit sie persönlichgeführt wurde, auf die Verhinderung der Wiederwahl desDGB-Kreisvorsitzenden ab. Es wurde sogar versucht, einenGegenkandidaten (zum Beispiel Hareters StellvertreterRöver, der dazu jedoch nicht bereit war) aufzustellen, aller-dings ohne Erfolg. Zur Debatte standen nicht nur Personalf-ragen, sondern unterschiedliche Auffassungen gewerk-schaftlicher Strategie in Zeiten »leerer Kassen«.

Die örtliche ÖTV etwa nimmt dieses Diktat der schlech-ten Finanzlage unwidersprochen hin, ohne zu fragen, warumdie öffentlichen Kassen leer sind, die Unternehmer immerweniger Steuern zahlen, andererseits ihre Personalkostendurch Massenarbeitslosigkeit abwälzen etc. Sie geht dieseProbleme nicht politisch an, sondern versucht sich an der»gerechten« Verteilung des Mangels. Ausdruck dieserKonzeption ist zum Beispiel das »Co-Management« in dergemeinsamen, »sozialverträglichen« Bewältigung des vonder Kassenlage und von Weisungen des Darmstädter Regie-rungspräsidenten aufgezwungenen Personalabbaus.

Diese Maßnahmen tragen wohlklingende Titel wie»Haushaltskonsolidierung« und »Strukturreform«; der»Konzern Stadt« wird »bürgernah«, »kundenfreundlich«,»wettbewerbsorientiert« etc. ausgestaltet; die Beschäftigtenerhalten mehr »Verantwortung« und dürfen sich gegebenen-falls auch selbst wegrationalisieren, ohne daß sie es so richtigmitbekommen.

So versteht die ÖTV »Interessenpolitik« in Abhängigkeitvon den herrschenden Verhältnissen, und gerade im Main-Kinzig-Kreis beansprucht sie eine Vorreiterrolle, die siedurch die aufwendige Organisierung von Konferenzen zurVerwaltungsreform (SozialwissenschaftlerInnen dürfen sichauf Kosten von Mitgliedsbeiträgen auskotzen) auch bundes-weit zu unterstreichen versucht.

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Ähnlich die IG Bau: Ihr Problem ist die radikale Zerset-zung des Flächentarifvertrags in der Baubranche und dieimmer größer werdende Hilflosigkeit gewerkschaftlicherAbwehrmaßnahmen gegen die Praktiken, mit denen Bauun-ternehmer die Schutzvorschriften und Mindestlohnbestim-mungen unterlaufen. Populäre rassistische Sprüche gegenAsylbewerber sind allerdings kein Mittel, damit fertig zuwerden. Sie entlasten nur das Unternehmerturn, das prekäreSoziallagen ausnutzt.

Im Gegensatz hierzu stehen die Versuche Hareters,soziale Probleme wie Arbeitslosigkeit, Lehrstellenmangel,Sozialabbau, Lage von Flüchtlingen etc. politisch aufzugrei-fen und kampagnenartig in die Öffentlichkeit zu bringen.Man mag mit der Art und Weise, wie dies geschieht, inhalt-lich oder in taktischen Details nicht einverstanden sein.Selbstverständlich können auch die Illusionen nicht geteiltwerden, die er hierbei in seine Partei, die SPD, setzt. Weiter-hin muß berücksichtigt werden, daß er als Vorsitzender desDGB keinerlei tarifliche Auseinandersetzungen fuhren mußund deshalb relativ unverbindlich auf allgemeinpolitischenFeldern agieren kann (und muß). Diese Relativierung ändertjedoch nichts daran, daß hier der entscheidende Unterschiedzu der Herangehensweise derjenigen liegt, die sich vielleichtin der Sonne des neoliberalen »Zeitgeistes« wähnen. Der reinbetriebswirtschaftlich, pragmatisch und lobbyistisch orien-tierten Denkweise seiner Gegner setzt Hareter klassischegewerkschaftliche Werte entgegen: Aufhebung des Konkur-renzdenkens unter den Lohnabhängigen durch Solidaritätüber die von Kapital und Nationalstaat gesetzten Grenzenhinweg. Deswegen wurde seine Wiederwahl vor Ort zumPolitikum - auch in Medien wie »Hanauer Anzeiger«, »FR«und »FAZ«.

Die Abstimmung ergab ein klares Bild: Etwa 80 Prozentder Kreisdelegierten votierten für Hareter. Dies spiegeltjedoch bestenfalls die Stimmung innerhalb des haupt- undehrenamtlichen Funktionärskörpers und einiger Aktivenwider. Insgesamt fühlte sich die Mitgliedschaft hierbei nichtangesprochen. So blieb es ein Bühnenstück: Gegeben wurde»Funktionärsgezänk« von DGB, ÖTV und Co., das Publikumrührte keine Hand.

Wie gering der Spielraum im hauptamtlichen Apparatohne aktives Eingreifen von außen ist, zeigt sich etwa bei derGestaltung des 1. Mai in Hanau. Waren in den letzten Jahrendie Reden noch vergleichsweise kämpferisch und analytisch,so zeigte sich 1997, daß der Hauptvorstand in Düsseldorf aufdas Treiben in Hanau aufmerksam geworden ist. Er drücktedem Main-Kinzig-DGB den hessischen MinisterpräsidentenEichel als Redner aufs Auge und überließ es den örtlichenFunktionären, dies gegenüber den unzufriedenen, abervereinzelt agierenden Aktiven durchzusetzen. Eichel erhieltdamit die Gelegenheit, ausgerechnet am 1. Mai die hessischeSchulpolitik zu verteidigen, ohne sich von den zahlreicherschienenen LehrerInnen und ihren mitgebrachten Trans-parenten davon abhalten zu lassen.

Die Wiederherstellung gewerkschaftlicher Mobilisie-rungsfähigkeit und Kampfbereitschaft kann nicht aus demhauptamtlichen Apparat kommen, den Funktionäre wieHareter und Schweitzer in ihren unterschiedlichen Ansätzenbeide repräsentieren. Betriebswirtschaftliche Logik, Koope-ration mit Kapital und Staat, Versicherung und Rechtsschutzsind Praktiken, die unter Bedingungen politischer Apathie inder Mitgliedschaft in Einzelfällen mehr bringen und inso-

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weit Zustimmung finden mögen als das »abstrakte« Aufgrei-fen von sozialen Problemen der Lohnabhängigen insgesamt.Doch auf das Bewußtsein der gemeinsamen Klasseninteres-sen kommt es letztlich an, um den ständigen Angriffen desKapitals Widerstand zu leisten. In diesem Sinne setzte dieWiederwahl Hareters ein positives Zeichen - nicht mehr,nicht weniger. 1.3.1998 n

n HAMBURG:S P D - G A L - G R U N D L A G E N V E R E I N B A R U N G

Die kommunale Finanzmisereverstärkt das ArbeitslosenproblemNach dem Wahldebakel der SPD vom 21. September 1997folgte zwangsläufig (siehe auch Arpo 4/5,1997) - nachdemVoscherau einen personenbezogenen Biirgerschaftswahl-kampfgeführt hatte - der » saubere Schnitt« und der Riick-tritt des Bürgermeisters von seinen Ämtern.

Schnell hatten sich die obersten SPD-Gremien auf denneuen Bürgermeisterkandidaten Ortwin Runde - bislangFinanzsenator unter Voscherau - und auf den neuen Koali-tionspartner Grün-Alternative-Liste (GAL) verständigt. BeideParteien bildeten mit je zwölf Mitgliedern eine Verhand-lungskommission, in der die Vorhaben für die nächste Legis-laturperiode in einer Grundlagenvereinbarung (GLV) veran-kert wurden.

Der »historische Moment« - von dem Runde nach Ver-tragsabschluß sprach - durfte nicht fehlen. An ihn werdensich arbeitslose und verarmte Bevölkerung wohl morgen undauch nach Jahren nicht mehr erinnern, denn die Hoffnungenauf eine schnelle und dauerhafte Änderung ihrer Lebenssi-tuation werden sich schon auf Grund der Finanzmisere desStaates nicht erfüllen.

In der »feierlichen« Einleitung der Grundlagenvereinba-rung (GLV) wird dann auch ohne Umschweife von »Massen-arbeitslosigkeit«, mit Folgen von »sozialer Spaltung« und»Zukunftsängsten« gesprochen. »Gleichzeitig spitzt sich dieFinanzlage der öffentlichen Haushalte dramatisch ZU« - sollheißen - der Zeiger des Pflästerchenklebens vergangenerJahre wandert auf Null.

Drastischer formuliert es der finanzpolitische Sprecherder GAL, Maier, in der »Morgenpost«: »Die Stadt ist pleite!«(21.10.97) Nur allein mit dieser Feststellung und dem Vor-wurf der GAL-Sprecherin Sager, daß die »Bonner« verant-wortlich seien für eine verfehlte Sozial-, Beschäftigungs- undSteuerpolitik, wird es auch in Zukunft keinen Arbeitsplatzmehr geben.

Über konkrete Vorschläge zur Beseitigung der Arbeits-losigkeit wird in der Grundlagenvereinbarung nur weniggesagt. Die vagen Ankündigungen, Vorschläge und Verspre-chungen bleiben ungenau und auslegbar: »Schaffung undSicherung von Arbeitsplätzen im Rahmen einer innovativenWirtschaftspolitik« (GLV), was wohl soviel heißen soll, wennUnternehmer oder solche, die es werden wollen, finanzielle,grundstücksbezogene oder andere Wünsche haben, dann istdie Hansestadt Hamburg noch nicht »ganz« pleite. In ähn-licher Richtung verlaufen auch die verbreiteten Hoffnungen,daß ein übergreifendes »Wirtschaftspolitikressort« (Sozial-und Arbeitsmarktpolitik, Technologie- und Hochschulpoli-tik, Stadtentwicklungs-, Bildungs- und Umweltpolitik solleneng miteinander verknüpft werden) die Grundlage für neue

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Arbeitsplätze schafft und daß die Förderung von kleinen undmittleren Unternehmen die »soziale Spaltung<< überwindenhilft. An diese Politikerhoffnungen müssen Regierung, Bür-gerschaft und Opposition wohl glauben - sie zumindest ansWahlvolk glaubhaft verkaufen können - wenn sie sich nichtselbst aufgeben wollen.

SPD-Exkanzler Schmidt schimpfte auf dem Analytik-kongreß über »Steuerschlupflöcher für Hochverdienende«,empfahl Güter und Leistungen zu produzieren, »die dieanderen in Osteuropa und Asien einstweilen noch nicht her-stellen können« und empfahl der Bonner Regierung eine»finanzwirtschaftliche Generalinventur« (Welt, 11.11.97),die den Stopp der Sozialabgaben beinhalten und damit denAbstand zu den unteren Lohngruppen wieder herstellen soll-ten. Gute Ratschläge für Parteifreund Runde, aber nur Musterohne Wert, weil konkrete Handlungsanweisungen fehlten.Denn wie will Schmidt in der sogenannten globalisiertenWelt diese alten Ladenhüter absetzen, die zu seiner Zeitkaum halfen und heute noch viel weniger?

Viel » Programm« für die Lösung der ArbeitslosigkeitKrista Sager, Wissenschaftssenatorin, hat andere Wünsche -sie möchte die Ressourcen der Stadtteile nutzen, Kirchen,Stiftungen, Schulen und Unternehmen »vernetzen«, umArmut und Arbeitslosigkeit zu begegnen - denn: »Es sind janicht alle arm. Diese Stadt ist auf eine stärkere Solidaritätder Stärkeren mit den Schwächeren angewiesen.« (Welt,28.10.97) Welchen erwachsenen Menschen will sie diesesMärchen erzählen?

Vielleicht den Firmenbesitzern von Ortmann&Herbst? Esvergeht fast keine Woche, in der nicht Hiobsbotschaften Poli-tiker und Wähler aus ihren Tagträumen in die Wirklichkeitzurückholen. Die Themen Hafenkrankenhaus und Bavaria-Brauerei sind noch nicht abgeschlossen, da steht schon einneues Konkursverfahren der renommierten Maschinenbauer,der Firma Ortmann & Herbst, auf der Tagesordnung (sieheauch Bericht in dieser Ausgabe).

Die 530 Beschäftigten sollen jedenfalls ab 1. Januar 1998in einer Auffanggesellschaft neun Monate weiter beschäftigtwerden. Für 120 Mitarbeiter (von 530) besteht Hoffnung aufWeiterbeschäftigung bei dem Aufkäufer der Konkursfirma.Kommentar des FDP-Sprechers Müller-Sönksen: »Nach demordnungspolitischen Sündenfall Bavaria ist dies ein weitererSchritt in Richtung planwirtschaftliche Verstaatlichung. Wirhaben nicht umsonst ein Konkursrecht.« (Welt, 29.11.97)

Die dicken Backen des FDP-Sprechers verraten den Maul-helden und die bis zur Bedeutungslosigkeit in Hamburg her-untergekommene Partei der »Besserverdienenden«: Nicht inder politischen Verantwortung, was kümmert mich also meinGeschwätz von gestern? Dabei bleibt Sozialdemokraten undGrünen (und CDU/FDP in Bonn) gar keine andere Wahl alsLandesregierung, bei größeren Unternehmen mit Steuergel-dern Pleiten zu verhindern und Arbeitsplätze zu retten,obwohl sie gegen eherne kapitalistische Gesetze, nämlichvom Fressen und Gefressen-Werden, verstoßen.

Bürgermeister Runde mit SPD und GAL wurden vomVorgänger Voscherau in schwere See gestoßen. Runde zitierteseine Söhne im Fernsehen NDRIII: »Au, Ortwin, was hast dudir da vorgenommen?« Als verläßlicher Sozialdemokratübernimmt er Verantwortung, wenn die Partei ruft. Er sorgtweiter für den Machterhalt der Hamburger SPD, befördertden erhofften Machtwechsel in Bonn und betätigt sich als

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Futterkrippenbeschaffer für die ausgehungerte Grün-Alter-native-Liste.

Wenn es stimmt, daß Arbeitslosigkeit und Armut, wie dieSenatsregierung hofft, nur mit »zukunftsweisenden Antwor-ten« (TAZ, 8.10.97) zu beheben sind, so geben sie den Betrof-fenen außer: Jedermann ist seines Glückes Schmied - wenigHandfestes. Unternehmensgründungen sollen verbessert,Existenzgründungen erleichtert und kleinen und mittlerenUnternehmen hochwertiges Industriegelände bereitgestelltwerden. Das ist eine Aufforderung an Unternehmer oder die,die es werden wollen oder müssen. Subunternehmertumund Scheinselbständigkeit (- im Vertrag ausdrücklich abge-lehnt -) entstanden oftmals aus der Situation, daß sich Lang-zeitarbeitslose mit diesen »Beschäftigungsmöglichkeiten«Hoffnungen auf schnellen und guten Verdienst machten undmachen. Ob diese »Auswege« empfehlenswert sind, darübermüssen die Betroffenen selbst berichten.

» Flagge zeigen« auf einem SPD-Stadtteilfest?An anderer Stelle der Grundlagenvereinbarung wird nocheinmal versucht, Armut als Zustandsbeschreibung etwaskonkreter zu fassen. So wird erklärt, daß von 1998 an jährlich230 Mio. DM für »aktive Arbeitsmarktpolitik« ausgegebenwerden sollen. Wie, wo und wieviel im einzelnen von diesenBeträgen eingesetzt wird, wird nicht berichtet, wissen aberwohl die Senatsexperten.

Ob der neue Senat die ständig wachsenden sozialen Pro-bleme stabilisieren kann oder sie noch weiter zunehmen, istweniger abhängig von Programmen, Personen, Parteien undVerbänden, sondern davon, ob die mittlerweile internationalwirkende Krisen- und Profitwirtschaft weiterhin ungestörtihre Interessen wahrnehmen kann oder ob sie daran gehin-dert wird. Denn eines ist sicher: Die geplanten Maßnahmender Senatsregierung ändern nichts, sondern »doktern« nurweiter an den Erscheinungsformen herum.

»Bis drei Wochen vor der Wahl hatte ich ein richtig gutesBauchgefühl« (Süddeutsche Zeitung, 4.10.97), interpretierteRunde sein Vorgefühl und das dann tatsächlich schlechteAbschneiden seiner Partei. Hatte sein Vorgänger Voscheraumit seinen Law-and-Order-Parolen zu spät begonnen, schla-fende Hunde geweckt oder nahmen ihm die von der SPD ent-täuschten Wähler seine theaterreif inszenierten Auftrittenicht mehr ab? Voscherau und seine »rechten« Parteihelferverschwanden von der Partei- und Regierungsbühne, ohnegroße Erklärungen und Antworten auf das angerichteteDesaster.

Dieser Abgesang hatte aber eine dazu passende Vorge-schichte. Auf einem SPD-Stadtteilfest in Hamburg-Hamm,auf dem der Bürgermeister die Erfolge seiner Amtszeit unddie Perspektiven und Botschaften der nächsten Jahre dar-legen wollte, übernahmen zwischen dreißig und vierzigJung-NPDler »das Bürgermikrophon< und diktierten demBürgermeister die Themen.« (TAZ, 15.9.97) Als man ihnschließlich mit »Arbeiterverräter« beschimpfte und eineMassenschlägerei zwischen SPD-Anhängern und Skinhaedsdrohte, verließ er von Leibwächtern beschützt im Wahl-kampfbus die Veranstaltung. Die Sturmglocken läuteten beiihm schrill, das kannte Voscherau bislang nur aus denGeschichtsbüchern der Nazizeit. Auch damals liefen vieleder sogenannten Weimarer Demokraten vor den braunenHorden weg. Aber bei seinem kurzen Auf- und Abtreten säu-selte erstmals ein Lüftchen. In Anbetracht der augenblicklich

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in Hamburg laufenden Kampagne des PolizeipräsidentenUhrlau zu mehr Zivilcourage der Bevölkerung, hat er seinemExbürgermeister sicher wohl ein Exemplar zur empfehlens-werten Nachahmung übersandt.

Das war, um aufs Thema zurückzukommen, kein Heim-spiel für Voscherau vor ausgesuchtem Publikum. Aufl.-Mai-Veranstaltungen in der Vergangenheit erschien er fesch mitArbeitermütze, anderntags als Staatsmann und Gastgeber vorReedern und »Pfeffersäcken«. Sein Repertoire war vielfältig.Bei der Schließung des Hafenkrankenhauses und der Über-nahme der Bavaria-Brauerei in Staatsbesitz krempelte erselbst die Ärmel auf und übernahm die Fahne. Seine dama-lige Gesundheitssenatorin nahm er mit einem kurzen Trittvors Schienbein aus der Schußlinie und wickelte beide Pro-blemfelder mehr oder weniger »sozialverträglich«, aber wer-bewirksam in wenigen Wochen vor der Wahl ab.

»Fast die Hälfte aller Wahlberechtigien haben keiner derhier vertretenen Parteien ihre Stimme gegeben« ( W e l t ,15.11.97), deklamierte Runde selbstkritisch das Wahlverhal-ten in seiner Regierungserklärung und weiß, daß er Vertrauenschneller verlieren als zurückgewinnen kann. Seine vorge-tragenen Absichtserklärungen wirken glaubhaft und ernst-gemeint, nur damit allein wird er seine gesteckten Ziele nichterreichen, denn die Staatskasse ist leer - das weiß er aus sei-ner Zeit als Finanzsenator - und die MillionärshochburgHamburg als Sponsor wird sie nicht füllen. So wird’s dabeibleiben, auch er und seine Senatskollegen werden sich denkapitalistischen »Sachzwängen« beugen müssen.

Das Thema Wettbewerbsfähigkeit ist abgehakt?»Ich nehme mir die Freiheit und halte das für eine politischePflicht, das Gesamtkunstwerk mit Abstand durchzulesenund dann zu bewerfen.« (Hamburger Abendblatt, 5.11.97)Was die GAL-Partei-»Linke« Anna Bruns »Gesamtkunst-werk« nennt, ist der fast hundertseitige Koalitionsvertrag, derin wesentlichen Fragen noch die Handschrift des altenSenats trägt. Elbevertiefung, Hafenerweiterung, vierte Elb-röhre, Flughafenausbau, Dasa-Erweiterung - nur um diewichtigsten Vorhaben zu benennen-wurden von den beidenVerhandlungsdelegationen »abgenickt« (Delegationsjargon),weil angeblich Planung und Finanzierung im fortgeschritte-nen Stadium die Koalitionsgespräche schon frühzeitig zumScheitern gebracht hätten.

An die Fleischtöpfe - oder weitere vier Jahre auf den har-ten Oppositionsbänken - diese Alternative ließ auch Dele-gationsteilnehmerin Bruns die »Kröte schlucken« und das»Gesamtkunstwerk« gutheißen.

Die härtesten Brocken am Anfang - SPD-Delegation und-Bürgerschaft waren überrascht, wie flott sie mit der GAL zuRande kam. Voscherau und Exwirtschafissenator Rittershaushatten gute Vorarbeit geleistet, so daß sogar der HamburgerIndustrieverband beiden Delegationen in den Koalitionsver-handlungen »positive Akzente« bescheinigte. Das unter-streicht die Tatsache, daß beide Parteien die gewünschtenInfrastrukturmaßnahmen, die Industrie und Handel mit demStandort Hamburg anmahnten, von ihren Vorgängern über-nahmen und ohne großes Wenn und Aber auch für sichakzeptierten. Hamburgs Wettbewerbsfähigkeit genießt höch-ste Priorität!

Hamburg muß bis 2001 jährlich 300 Mio. DM im Betriebs-haushalt einsparen. Davon sollen 75 Mio. DM auf Personal-einsparungen entfallen, mit dem Zusatz, daß es aber zu

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keinen »betriebsbedingten« Entlassungen kommen soll.»Arbeitsplätze haben nicht in jedem Fall Vorrang.« (TAZ,8.10.97) Als GAL-Senator Maier dies äußerte, hatte er die»ökologische Zukunftsfähigkeit« Hamburgs im Auge unddachte vermutlich an die Schließung des AtomkraftwerkesBrunsbüttel (und nicht an Ortmann &Herbst) und an die Ent-lassungen der Mitarbeiter, die dann wohl »fürstlich« von derHEW in den Ruhestand geschickt würden. Neu wäre, wennseine Ansichten den Betrieb Strom- und Hafenbau beträfen,den die GAL gern in eine neue Rechtsform gegossen hätte.Die Grünen hätten dann den gewünschten effektiverenDienstleister erhalten, mehr Marktwirtschaft einführen kön-nen, die betrieblichen Bereiche durchforsten und auf denBetriebsversammlungen den Mitarbeitern ihre Modernisie-rungsvorschläge »verklickern« müssen. Dieses Vorhaben hatdie SPD mit ihrem Nein erst einmal vorläufig auf Eis gelegt.Im übrigen läuft die Modernisierung bei Strom- und Hafen-bau schon seit langem. Ähnlich wie vor kurzem beim Schlep-perkrieg im Hafen, stehen auch holländische Firmen beimAusbaggern der Strom- und Hafenbecken mit modernemBaggergerät in Konkurrenz zu den Deutschen. So wurde zumBeispiel das Personal auf Schuten schon vor Jahren halbiert -die »schlafende« Gewerbeaufsicht - oder sind Ein-Mann-Schuten mittlerweile gestattet? - läßt grüßen! Von Strom-und Hafenbau wurde auf »betriebsbedingte« Kündigungenverzichtet, aber bei Ausscheiden von Mitarbeitern durchKrankheit und Alter werden diese nicht ersetzt.

Die »ökologische Modernisierung« der GAL aber zeigtdoch deutlich, daß ihre »linken« Sprüche und deren Anhän-ger mehr und mehr über Bord gehen und untertauchen. Zueiner parteiinternen Auseinandersetzung müßte es zum Bei-spiel kommen, wenn die SPD ihr geplantes Standorthoch-ziel, die erhoffte Dasa-Erweiterung mit Personalaufstockungauf Finkenwerder, am ökologischen Geplänkel der Grünenzu scheitern drohte. Im übrigen, eine Dasa-Erweiterungwürde sogar die CDU-Blankenese-Klientel auf die Barrika-den treiben. Denn Betriebserweiterungen und Geldverdie-nen gilt für die CDU-Führung überall als oberstes Gebot, nurnicht der Fluglärm vor der eigenen Haustür. Ersten Anschau-ungsunterricht erteilt die Berufungsverhandlung vor demOberverwaltungsgericht einiger Elbchaussee-Anlieger gegenden »Beluga«-Fluglärm auf Finkenwerder.

Vom dauernden Nach- und Aufgeben von »schönen« Vor-stellungen durch Wünsche im eigenen Lager und Forderun-gen der SPD erlitt die »linke« GAL-Verhandlungsteilnehme-rin, Antje Möller, eine schwere Magenverstimmung. Vomvielen Krötenschlucken hatte sie sich überfressen und klagtevor ihren Mitgliedern: »Mir ist es noch nie so schlechtgegan-gen, seit ich Politikmache. Aberjetzt schon aufzuhören, (mitdem Fressen?) ist einfach zu früh.<< (TAZ, 18.10.97) Dannweiterhin guten Appetit!

SPD und GAL haben eine geheime »Sensibilitätsliste«angelegt, in der die Reihenfolge bei weiteren Steuerausfällenvon zu veräußernden Vermögenswerten (sprich Tafelsilber)beschlossen wurde. Dabei ist interessant, daß einerseits»mietenpolitisch nicht relevante städtische Wohnungen«gegebenenfalls an die Landesbank verkauft werden sollen,andererseits aber städtische Wohnungsbestände von SAGAund GWG »grundsätzlich nicht zum Verkauf« (GLV) stehen.

Auf Vorschlag der GAL wird die Fehlbelegungsabgabegesenkt. Davon profitieren etwa 10.000 Mieter, die bislangmit ihrem Einkommen 85 bis hundert Prozent über den Gren-

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Wohlklingelnde Formeln verdeckendie KapitulationDer Koalitionsvertrag zwischen SPD und GAL strotzt nur sovon schönrednerischen Formulierungen und Versprechen,die aber immer mühsamer die Tatsache verdecken, daß sichdahinter die Kapitulation sozialdemokratischer Reform-politik verbirgt. Angesichts der Verhältnisse - leere Kassen,hohe Arbeitslosigkeit, Armut - unterwirft sich die SPD mehrund mehr den immer unverhüllter vorgetragenen Profit-interessen der Unternehmer. Ihr einziges Interesse ist esnoch, sich nicht von den durch die Regierung zugänglichenFleischtöpfen zu trennen.

Ein Beispiel ist die Bekämpfung der Jugendarbeitslosig-keit. So heißt es im Koalitionsvertrag: »Zur Sicherung derAusbildungschancen sind daher verstärkte Anstrengungenerforderlich. Vordringliches Ziel ist die EingliederungJugendlicher in das duale Ausbildungssystem.« Und zu denvorgesehenen Maßnahmen heißt es dann u.a.: »Die Ausbil-dungsbereitschaft der Betriebe soll durch eine Optimierungder inhaltlichen, methodischen und fachlich-organisatori-schen Kooperation von Betrieb und Berufsschule (differen-zierte Abstimmung der Lerninhalte zwischen Berufsschuleund Betrieb, Optimierung der bestehenden Möglichkeiteninnerer und äuJ3erer Differenzierung der Berufsausbildung)erhöht werden. «

Viele unverständliche Worte für einen Laien, aber dochvoller Lichtblicke: Zweimal »Optimierung« klingt positiv,dazu noch »Kooperation«, ein Schuft, der Böses dabei denkt.

Tatsächlich verbirgt sich hinter diesen Sprachhülsen einAngriff der Handels- und der Handwerkskammer auf dieBerufsschulzeit der Auszubildenden. Diese haben nämlich»entdeckt«, daß die »Ausbildungsbereitschaft« der Betriebegesunken ist, weil die Lehrlinge sich zu lange in der Schuleaufhalten und zu wenig im Betrieb sind, das heißt zu wenigals Arbeitskräfte zur Ausbeutung zur Verfugung stehen.Daher die Forderung: Man solle die Berufsschulzeit kürzen,um so die »Ausbildungsbereitschaft« der Betriebe zu

erhöhen. Da im September 1997 Wahlen anstanden und esder SPD darum ging, die Schlagzeile: »Immer noch vieleJugendliche ohne Ausbildungsplatz«, wegzukriegen, verein-barte sie im Februar1997 mit den Kammern ein »Bündnis fürAusbildung«, in dem es um nichts anderes ging, als die For-derungen der Kammern zu erfüllen. Anfangs machte sogarnoch der DGB mit, als denn doch zu viele Proteste aus denSchulen, von der GEW und anderen Gewerkschaften kamen,zog er sich erstmal zurück. Die SPD in Gestalt der Schul-behörde zog aber durch: Der Berufsschulunterricht wurde»verdichtet«, das heißt auf acht Stunden pro Tag verlängert,so daß in drei Lehrjahren die Auszubildenden ein paarWochen länger im Betrieb »der Ausbildung zur Verfügungstehen«. An den Berufsschulen gab es Aufregung und Em-pörung, da niemand sich allen Ernstes vorstellen kann, daßder Großteil der Auszubildenden sinnvoll einen achtstündi-gen Schultag durchstehen kann. Da eine so einschneidendeVeränderung der Unterrichtsorganisation nun der Zustim-mung der schulischen Mitbestimmungsgremien bedurfte,war die Schulbehörde gezwungen, das von ihr selbst einge-führte Schulgesetz zu ignorieren und alle die Kräfte, die dieSchulreformen der Vergangenheit mitgetragen und mitgestal-tet hatten, vor den Kopf zu stoßen. Das sind oder waren in derMehrheit SPD-Leute, viele davon Schulleiter, die nun vonoben die Anweisung bekamen, die Verschlechterungenumzusetzen. So zerstört die SPD zunehmends ihr eigenesFundament.

Natürlich brachte die Verkürzung der Berufsschulzeitkeinen einzigen Ausbildungsplatz mehr, deshalb soll die»Kooperation zwischen Schule und Betrieb« (sprich: Diktatder Kammern) laut Koalitionsvertrag auch fortgesetzt werdenmit dem Auftrag: Wie kann man die Schulzeit noch weiterreduzieren? Jetzt sind die Unterrichtsinhalte dran, in ersterLinie »unnötige« Fächer wie Politik und Deutsch, Sport wur-den bereits gestrichen. Wenn man solche Fächer auch nochwegkürzt, können die Lehrlinge ja dafür in die Betriebegehen usw. usf. Irgendwann wird ja die Ausbeutungsbereit-schaft der Betriebe mal hoch genug sein. 15.2.1998 W

zen des sozialen Wohnungsbaus lagen. Die Sätze sollen jetztum eine bis zwei Mark je Quadratmeter sinken und damitverhindern, daß besserverdienende Mieter ins Umlandabwandern. Diese Entlastung ist wohl auch ein sogenannter»grüner Akzent«, der »das Leben für bestimmte Menschensehr viel nachhaltiger beeinflussen als die Elbevertiefung.«(Krista Sager in Welt, 5.11.97)

Senatorenposten werden feilgebotenExbürgermeister Voscherau, bekanntlich dicht mit der Handam Puls des Bürgers, hatte kurz vor der Wahl sein Augen-merk auf Recht und Ordnung gelegt. Davon ist im neuenKoalitionsvertrag - dank des Rückzugs - nicht mehr vielwiederzufinden. Daß die Vertragspartner »die Sorgen vielerMenschen um die Gefährdung der öffentlichen Sicherheiternst« nehmen, daß »quartiersbezogener« Streifendienst derPolizei Bürgernähe und Sicherheit demonstrieren und daß»Straf3enraub, Gewalt gegen Frauen und Minderheiten« undWirtschaftskriminalität zukünftig Schwerpunkte setzen sol-len, sind überwiegend Allgemeinplätze, die aber diesmalzwischen den Partnern penibel schriftlich fixiert wurden.

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Die GAL-Delegation - sie besitzt im Gegensatz zur SPDnoch keine jahrzehntelange Regierungspraxis - weiß ausOppositionserfahrung, was bei Verhandlungen so alles unterden Tisch fällt, wenn nicht alles peinlich genau festgehaltenwird. Den Umfang des »Gesamtkunstwerkes« bestimmtedann auch die GAL, für die jetzt anstehende Durchführungstehen viele Fragezeichen.

Rangelei gab% jedenfalls um die Senatorenplätze Inneresund Justiz nicht. Bürgermeister Runde hatte der GAL diePosten wie Sauerbier angeboten - weil er wohl gern gesehenhätte, wenn sie die »repressiven« Ämter übernommen hätten-aber die Grünen lehnten mit der Begründung ab, sie verfüg-ten im Augenblick nicht über Leute mit entsprechendenQualitätsmerkmalen.

Etwas ist allerdings doch von Voscheraus eingefädeltenMaßnahmen geblieben: »Schwarzfahren und Ladendieb-stahl« sollen künftig auf dem schnellsten Wege abgeurteiltwerden, damit die meist jugendlichen Übeltäter mit dererzieherischen Weisheit »die Strafe folge auf dem Fufle« aufden Pfad der Tugend zurückkehrten. Beim in die Schweizgeflohenen Bäderkönig Zwick - einem alten Duzfreund von

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Franz-Josef Strauß - ist diese Strafmaßnahme wohl ausge-blieben, weil wohl Steuersünden in zweistelliger Millionen-höhe Peanuts und in Bayern deshalb nicht verfolgungswür-dig erscheinen. Die CSU-Creme ist mittlerweile durch Ver-brauch und Alter so zäh und schmierig, daß die Justiz denFall wegen Verjährung dem Orkus überantwortete.

Die Zahl der Jugendlichen wächst, die ohne Berufsper-spektive »herumlungern« und mit Sozialhilfe und Bettelnden Alltag verbringen. Die Wirklichkeit, ihre tägliche Umge-bung erzwingt den Verzicht auf ein »normales« Leben. DieVorbilder fehlen. Die »Welt« (5.12.97) berichtet von einerVeranstaltung mit dem Journalisten Lindlau über »einezunehmende Kriminalisierung der Oberwelt. Gerade in Ham-burg werden Unterweltfiguren mit Blut an den Händen vonder besten bürgerlichen Gesellschaft hofier-t.« Dürfen wir unsdann wundern, wenn 33.000 Wähler-Innen (4,9 ProzentDVU, 1,9 Prozent Republikaner), überwiegend Protestwähler,die Schnauze voll haben von den ach so schönen HamburgerLebensverhältnissen? Was soll das Geschwätz von Law andOrder, wenn die Werktätigen lesen, hören und am eigenenLeibe erfahren, wie Unternehmer und deren Verbandsvertre-ter sich der für sie geschaffenen bürgerlichen Steuergesetzge-bung maßlos selbstbedienen, sich mit Tarifbruch brüsten,Gesetze brechen, ihre Pleiten vor dem Richterstuhl zelebrie-ren und sich dann noch aufregen und empören über aggres-sive Bettelei auf dem Jungfernstieg und zunehmende Gewalt-bereitschaft?

Diese Heuchler und deren politischen Gefolgsleutedemontieren ihren eigenen bürgerlichen Staat, demonstrie-ren Macht und üben diese schamlos aus. So einfach ist das.Dagegen hilft kein Moralisieren - die Kohl-Regierung ist fürdie »groj3e Krise der gesellschaftlichen Moral verantwort-lich« (IGM-Zwickel in Bergedorfer Zeitung, 7.11.97) - son-dern da hilft nur Kräftesammeln von Menschen, die dieseZustande bekämpfen und beseitigen wollen.

Erstaunlich ist aber nicht nur, wie die GAL ihr Verhand-lungsergebnis schönredet, sondern wie schnell sie sich denPolitjargon der Volksparteien aneignet: »Politische Identitä-ten sind wichtig, müssen aber realen Veränderungen ange-paj3t werden.«, »Erschwerte Rahmenbedingungen«. »EngereHandlungsspielräume«. Der offenen und verständlichenSprache der Gründerjahre folgt jetzt mehr und mehr die desVernebelns, Verschleierns und Anpassens. »Mit der SPDwird es einen Machtwechsel geben, aber einen Politikwechselwird es nur mit uns geben« (Welt, 17.11.97) -wenn Hamburgden Probelauf und den Beweis liefern sollte, dann war ernoch sehr dürftig, Herr Fischer.

Wie weit die Anpassung der politischen Identität an dierealen Veränderungen gediehen ist, zeigt beispielhaft dieneue GAL-Haushaltsexpertin Anja Hajduk, die laut »tazharnburg« vom 6.2.1998 mit ihrer »Sachkompetenz« im Rat-haus für Furore sorge. Das Jubelportrait in der »taz« charak-terisiert sie so: »Erst vor zwei Jahren trat sie den Grünen bei.Auf dem Realo-Ticket schaffte sie locker Listenplatz 15. (...)Für Verunsicherung sorgt Anja Hajduk manchmal, weil ihrkein politisches Markenzeichen anklebt - ihr fehlt eine ein-deutig bestimmbare polit ische Vergangenheit . Unscharfbleibt zuweilen auch ihr inhaltliches Profil: Wofür sie eigent-lich genau steht, kann ich bisher nicht so genau erkennen<meint ein Fraktionskollege. (. . .) Tatsächlich steht Anja Haj-

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tion, engagiert ans Werk macht.« Na dann, viel Spaß mit demFischersehen »Politikwechsel«, ballastfrei, aber engagiert!

Gleiches gilt auch auf angestammtem Gebiet. Über Um-welt, Naturschutz und Atomkraft wurden im Grundlagenver-trag nur vage Festlegungen getroffen. So wollen sich dieKoalitionspartner »um eine Verständigung über die Kündi-gung« des Gesellschaftsvertrages mit der HEW »bemühen« -wenn ein neuerliches Gutachten den günstigen Kostenver-gleich von Gaskraftwerken bestätigen sollte.

Der Hamburger Hauptbahnhof wird gefegt . . .Bürgermeister und Politiker versprechen fast täglich, dafürzu sorgen, daß die Jugendlichen von der Straße kommen unddamit nicht Nachwuchs und Hintergrund für jeutige undzukünftige Drogen-, Alkohol-, Prostitutions- und Armuts-szene abgeben. Aber ohne, daß die Ursachen beseitigt wer-den, bleiben alle noch so »gutgemeinten« Hilfen Stückwerk.Dazu einige Beispiele:+ Alle »herumstreunenden« Jugendlichen sollen amHauptbahnhof verschwinden und an die Werkbank, aber derBürgermeister lehnt aus Rücksicht auf den Standort Ham-burg eine regionale Ausbildungsplatzabgabe ab, damit dieHansestadt nicht als wirtschaftsfeindlich gegenüber denanderen Bundesländern abgestempelt wird und damit gege-benenfalls weitere Unternehmen verlöre.+ Die »Einkommensmillionäre«, die so gut wie keinen Gro-schen an den Fiskus zahlen, bestimmen maßgeblich über diezu erfolgenden Investitionen zur Erhaltung der Wettbewerbs-fähigkeit der Stadt. Einige Bürgerschaftsabgeordnete habenbei diesen Überlegungen zwar Magenprobleme, Tatsacheaber ist, daß das Geld für Schulen und Unis, für Jugendlicheund Arbeitslose, für Krankenhäuser und Spielplätze fehlt.+ Das Gros der Protestwähler nimmt zu, aber weder Regie-rung noch Bürgerschaft merken oder wollen es merken, daßweite Teile der Bevölkerung, obwohl sie noch SPD und CDUwählten und Rechtsradikalismus, Hitler und Drittes Reichablehnen, schon »rechte« Parolen und Gedankengut auf-nehmen. Diese künftigen Protestwähler schimpfen schon aufAsylanten und Schwarze, auf Ausländer, Drogenabhängige,Kriminelle, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger - sie tre-ten nach unten statt nach oben.

Die »hehren« Ziele der Sozialdemokraten, sich um Werk-tätige, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, sich also vor-zugsweise um die Ärmeren und Schwächeren in der Gesell-schaft zu kümmern, ist zu einer Redensart verkommen. Odergleiche Bildungschancen für alle, wo wird das noch ernsthaftpraktiziert? Wie in Bonn die CDU/FDP, so klammert sich inHamburg und anderswo die SPD an den Machterhalt, ohnean die Folgen zu denken, die sich aus dem allgemeinenFinanzdesaster auch für ihre Wählerschaft ergeben. Altesozialdemokratische Positionen gehen über Bord, die sichdann zum Beispiel darin widerspiegeln, daß ein Teil derangestammten Anhänger aus Ausweglosigkeit und Protestdie rechten Parteien wählt oder der Wahl fernbleibt.

Die in nächster Zeit auftretenden Schwierigkeiten in derGAL, hervorgerufen vor allem durch Druck von Unterneh-merverbanden, Handels- und Handwerkskammer, nämlichinnerhalb der Partei die unterschiedlichen Auffassungen imökonomischen und ökologischen Bereich so oder so in soge-nannter Verantwortung entscheiden zu müssen, wird zu

b N A C H D E R SPDIGAL-KOALITIONI N H A M B U R G :

Wie weiter in der GEW?Die Hamburger GEW zeichnete in den letzten Jahren einimmer enger werdendes Verhältnis zur GAL aus. AktiveMitglieder und Funktionäre traten in die GAL ein, arbeite-ten in deren Bildungsgruppe mit, nicht zuletzt der bis 1996amtierende Vorsitzende deLorent. Während bis Ende der80er Jahre immer die SPD die dominierende Kraft in derGEW gewesen war und -meistens unterstützt von der DKP -deren Politik bestimmte, zog sich spätestens ab 1990 die SPDzunehmend aus der Vorstandspolitik zurück und überließden bis dato oppositionellen Kräften bzw. der ehemaligenDKP das Feld. Hintergrund war natürlich die zunehmendeEbbe im Haushalt und die damit einhergehende Unmöglich-keit, Bildungspolitik durch den Einsatz staatlicher Gelderzu gestalten. Außerdem war aus wahlstrategischen Über-legungen heraus die Gruppe der verbeamteten Lehrer rela-tiv unwichtig, es galt, angesichts der wegbrechendenArbeitsplätze im privaten Sektor den » Standort Hamburg«für investitionsbereite Unternehmen attraktiv und damit dieArbeitnehmerwähler bei der Stange zu halten.

Mit dem Rückzug der SPD aus der GEW verschlechtertensich naturgemäß die Kontakte zur Behörde und zur Schulse-natorin bzw. dem Senat insgesamt, so daß der Einfluß unddie »Erfolge« der GEW immer mehr abnahmen. Um so größerwar bei vielen GEW-Mitgliedern und -Funktionären die Hoff-nung vor der Bürgerschaftswahl im September 1997, daß einzu erwartendes gutes Wahlergebnis der GAL in Verbindungmit einem Ausscheiden der Statt-Partei aus der Bürgerschaft(die FDP ist schon seit längerem draußen und bleibt es auch)dem Bildungsbereich größere Aufmerksamkeit und mehrMittel und damit der GEW wieder mehr Einfluß bringenwürde.

Die GAL lehnte sich vor der Wahl auch diesbezüglichweit aus dem Fenster, versprach, keine weiteren Verschlech-terungen im Bildungsbereich hinzunehmen, und kündigtean, bei Koalitionsverhandlungen sich für 600 neue Stellen inden Schulen einzusetzen. Die sind auch dringend nötig, daschon seit Jahren kaum noch eingestellt wird und die Bil-dungseinrichtungen zunehmend von der Personalsubstanzleben. Vor der Wahl wurde sogar gehandelt, daß wahrschein-lich ein GALier und GEWler Bildungssenator würde.

Ein Ausdruck dieser Hoffnungen in der GEW war eine imAugust von der Hamburger GEW-Führung vorgelegte »Znifia-tive für Bildung und Beschäftigung«, mit der man auf dieKoalitionsverhandlungen (man erwartete natürlich: zwi-schen SPD und GAL) Einfluß nehmen wollte. Kern dieserInitiative war das Angebot an einen zukünftigen Senat, beiden KollegInnen für freiwillige Altersteilzeit werben zu wol-len, wenn der Senat bereit sei, mit 1200 neuen Stellen dennotwendigen Bedarf in den Schulen abzudecken. Einwände,dieses »Angebot« sei völlig unrealistisch, wurden beiseitegewischt, da man ja - ohne das laut zu sagen - die Forderungder GAL nach 600 neuen Stellen im Kopf hatte, und dahinterwollte man natürlich nicht zurückstehen.

Zerplatzte IllusionenAls die Wahlen dann das in etwa erwartete Ergebnis brach-

ausstellte, daß die GAL auf fast allen Gebieten, insbesondereauch im Bildungsbereich, allen Punkten der SPD zustimmteund nahezu vollständig auf ihre eigenen Forderungen, die sienoch im Wahlkampf vertreten hatte, verzichtete. Wie sichherausstellte, ging es der GAL einzig und allein darum, mitder SPD den Senat bilden zu können, einige Senatorenpostenzu besetzen und damit an die Pfründe heranzukommen, diemit einer Regierungsbeteiligung verbunden sind. Der politi-sche Ausdruck dieser Haltung drückte sich in der von denGALiern zur Rechtfertigung benutzten Formel aus, es seidarum gegangen, eine große Koalition der SPD mit der CDUzu verhindern. Es gelte jetzt, »in der Regierungsverantwor-tung« praktische Reformpolitik zu betreiben usw. Als ob eskeinen Koalitionsvertrag gäbe, der so detailliert ist, daß es sogut wie gar keinen Spielraum mehr gibt. (Vgl. den Bericht zurHamburgwahl in dieser Ausgabe.]

Das Entsetzen über das Ergebnis der Koalitionsverhand-lungen in Funktionärskreisen korrespondierte mit einer Wutin Teilen der Mitgliedschaft auf die GAL, die sich auf dieGEW übertrug. War doch für viele Mitglieder die GEW-Führung in ihrer Wahrnehmung immer mehr zur GAL gewor-den, so daß jetzt der »Verrat« der GALier auch der GEW ange-lastet wurde. Die GEW-Führung mußte sich deshalb schleu-nigst von dem Koalitionsergebnis und der GAL distanzieren,um Austritten in größerem Ausmaß vorzubeugen. Trotzdemist das GAL-Verhalten für die GEW ein arger Tiefschlag, weilsich bei vielen Mitgliedern jetzt noch mehr als zuvor Resi-gnation breitmacht: Wenn es noch nicht einmal die GALschafft, mit 14 Prozent der Wählerstimmen etwas zu verän-dern, wer soll es denn dann noch schaffen? Angesichts des-sen wirkte es geradezu zynisch, als eine GAL-Politikerin aufeiner GEW-Versammlung auftrat und für den Koalitionsver-trag warb mit dem Argument, es sei zwar manches beschlos-sen worden, das nicht so gut sei, aber bei der Umsetzungkönnten jetzt die einzelnen Schulen versuchen, die Ver-schlechterungen zu korrigieren.

Bei aller Kritik an der GAL ist aber auch in vielen (Funk-tionärs-)Köpfen der Gedanke haften geblieben, es sei dochimmer noch besser, es gebe eine SPD-GAL-Koalition als einegroße Koalition. Dieses Argument des »kleineren Übels« istallerdings fatal, da es zur Lähmung der eigenen Kampfkraftführen muß, da man ja bei zu lautstarkem Aufbegehrenimmer befürchten muß, daß die GAL aus der Koalition fliegtund die CDU eintritt. Das heißt, man verzichtet genau auf daseinzige, was vielleicht nützen kann: nämlich Druck zumachen, statt dessen folgt die Regierung natürlich demDruck der leeren Kassen und der Wirtschaft.

Es führt mittlerweile auch bei der GEW kein Weg mehr ander Aussicht vorbei, daß einem niemand mehr helfen kannund daß man sich selbst helfen muß. Denn angesichts einesSchülerzuwachses um zirka 13.500 in den nächsten Jahrenund einem beschlossenen Stellenstopp wissen alle, was aufsie zukommt: Arbeitszeitverlängerung, Frequenzerhöhun-gen, Verdichtung der Arbeit, Verschlechterung der Unter-richtsqualität.

Allerdings ist die Frage mehr als berechtigt, ob man in derLage ist, überhaupt noch etwas verhindern zu können. DieGEW-Hamburg gilt zwar ob ihrer Tradition und aufgrund derStadtstaats-Situation als im Bundesvergleich kampfkräftigerLandesverband (man hat immerhin schon zweimal einen Tag

Mitgliedschaft noch jünger und weniger resigniert. Für die(weniger gewordenen) Aktiven in der GEW ist es an solcheiner Stelle immer klar, daß man einen Streik ins Auge fassenmuß. Dabei heißt »Streik« bei verbeamteten Lehrern ja nicht,mehrere Tage oder gar Wochen streiken zu wollen, sondernbestenfalls einen Tag, da man gar kein Streikrecht als Beam-ter hat. Es handelt sich also mehr um eine Protestaktion, daman keinen wirtschaftlichen Druck auf den Arbeitgeber aus-üben kann, insofern ist die Nähe zu einem Studentenstreikgrößer als zu einem betrieblichen Streik.

Es hat jetzt allerdings in der GEW eine Diskussion begon-nen, ob man nicht neben dem Streik noch andere Mittel inder Hand hält, um den staatlichen Arbeitgeber unter Druckzu setzen.

Die GEW als »Bildungsgewerkschaft«Die GEW (das heißt die in den alten Bundesländern) ist vonihrer Geschichte her weniger eine Gewerkschaft als ein Bil-dungsverein. In Hamburg zum Beispiel entstand die GEWaus einer Organisation des Namens »Freunde des vaterländi-schen Erziehungswesens«, die sich schon in der Kaiserzeitgegründet hatte. Die Hamburger GEW hat von dieser ihr Hausan der Nobeladresse Rothenbaumchaussee geerbt und giltdeswegen bundesweit als vermögend. Dieses Erbe drücktsich aber nicht nur in ihrem Haus, sondern in der ganzenOrganisation aus. Ein Teil der Mitglieder sieht in der GEWnicht in erster Linie eine Interessenvertretung, sondern eineOrganisation, die in Hamburg die Schul- und Bildungspoli-tik mitgestaltet. Vor allem mit dem Beginn der Bildungsrefor-men Ende der 60er Jahre verbanden sich offizielle Hambur-ger Schulpolitik und GEW-Arbeit immer inniger, was seinendeutlichsten Niederschlag in der Postenbesetzung in derSchulbehörde fand: Kaum ein leitender Schulrat, der seineKarriere nicht in der GEW begonnen hätte, in HamburgerGesamtschulen bestehen die Schulleitungen nahezu aus-schließlich aus GEW-Mitgliedern, in Berufsschulen ist esähnlich, nur die Gymnasien machen da eine Ausnahme. Istdie GEW einerseits für die Behörde ein schier unerschöpf-liches Personalreservoir, so zeigt sich die Behörde anderer-seits nicht unspendabel der GEW gegenüber: Durch eine überden gesetzlichen Rahmen hinausgehende Freistellungsrege-lung für Personalräte zum Beispiel ist es der GEW möglich,einen Großteil ihrer ehrenamtlichen Arbeit über Personal-ratsfreistellungen zu betreiben.

Dieses innige Verhältnis zwischen staatlicher Schulpoli-tik und GEW wird in der GEW mit dem Wort »Bildungsge-werkschaft« umschrieben. Damit ist gemeint, daß die GEWzum einen die Beschäftigten im Bildungssektor organisierenund deren Interessen wahrnehmen will, zum anderen ebenauch Bildungspolitik mitgestalten will. In Zeiten der Refor-men, also in den i’oer Jahren vor allem, war dies auch keinProblem, da die bildungsreformerische Forderung nach»Chancengleichheit« sich in etwa mit den zunehmendenstaatlichen Ausgaben für die Bildung deckte. Ergebnissewaren u.a. die Errichtung von Gesamtschulen, die Einstel-lung von Lehrern, die Senkung der Klassengrößen, Änderun-gen in den Lehrplänen usw.

Seit aber die staatliche Bildungspolitik unter dem Diktatder leeren Kassen steht und das Bildungswesen unter demDruck konservativer Kräfte einen Rückbau der Bildungs-reformen erfährt, laufen die gewerkschaftliche Interessenver-tretung und das Mitgestalten von Bildungspolitik immer

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mehr auseinander. In vielen Fällen verkommt das »Mitge-stalten« dazu, die Sparmaßnahmen erträglicher zu gestaltenunter dem Motto »das Schlimmste verhindern«, oder es wer-den unter dem Schlagwort »Modernisierung« Standardver-schlechterungen und Sparmaßnahmen den KollegInnenschmackhaft gemacht.

Was sich in anderen Gewerkschaften, zum Beispiel derÖTV, unter dem Begriff des »Co-Management« entwickelt,verbirgt sich in der GEW hinter dem vieldeutigen Begriff»Bildungsgewerkschaft«.

Verweigerung der Kooperation?Die seit ein paar Monaten in der GEW-Hamburg aufgebro-chene Kontroverse, ob man in Zukunft bei den abzusehendenweiteren Verschlechterungen für die KollegInnen dazu auf-rufen solle, die Kooperation mit der Behörde zu verweigern,rührt damit an den zentralen Nerv des Selbstverständnisses.

Hinter der Forderung nach einem »Ende der Koopera-tion« steht die Einsicht, daß der staatliche Arbeitgeber nurdurch das Engagement und die Motivation der KollegInnensein Ziel erreichen kann. Dieses Ziel heißt, »Standardsiche-rung und Leistungssteigerung schulischer Mapnahmen beisinkenden Mitteln« durchzusetzen bei gleichzeitiger Anpas-sung der Schulen an die veränderten Bedingungen. Einwesentliches Mittel dabei ist die Umsetzung der sogenann-ten »Neuen Steuerungsmodelle« an den Schulen. Damit istgemeint, daß trotz einer verringerten Aufsicht und Kontrolleseitens der Behörde die einzelne Schule effizienter undeffektiver arbeiten soll. Zentrales Instrument dafür sollen inHamburg die sogenannten »Schulprogramme« werden. Diesind auch hervorgehoben im neuen Schulgesetz verankert,das seit 1.8.1997 in Kraft ist. In ihm werden die einzelnenSchulen und jede(r) Kollegin(e) verpflichtet, sich in eineminternen Untersuchungsprozeß über die Stärken undSchwächen der einzelnen Schulen klar zu werden und sichin einem »Programm« zu bestimmten zu erreichenden Zie-len selbst zu verpflichten. Erstellung des Programms unddessen Umsetzung werden von der Behörde kontrolliert. Aufdiese Weise soll jede einzelne Schule ein »Profil« bekom-men, mit der sie dann von anderen Schulen zu unterschei-den ist und demzufolge mit ihnen in Konkurrenz tretenkann. Damit einhergehen wird dann auch eine größere Eigen-ständigkeit, was zum Beispiel die Verwendung von Geldernund die Personalauswahl betrifft. Eine Art Privatisierungsozusagen in öffentlicher Hand.

Daß für solch eine Aufgabe die Kooperation der KollegIn-nen vonnöten ist, liegt auf der Hand. Damit ist aber auch klar,daß hier ein mögliches Druckpotential vorhanden ist. Aller-dings nur, wenn sich an vielen Schulen die KollegInnen rela-tiv einheitlich und bewußt nicht beteiligen. Dagegen tretennatürlich zum einen diejenigen auf, die in der Erarbeitungvon Schulprogrammen zum Beispiel die Chance sehen, end-lich an der Schule etwas verändern zu können, die glauben,sie könnten mit ihrem positiven Engagement im Sinne derSchülerInnen und des Unterrichts mitgestalten. Es gibt ja anjeder Schule von den KollegInnen entwickelte Projekte undMaßnahmen, mit denen man den besonderen Aufgaben undSchwierigkeiten der einzelnen Schule gerecht zu werdenversucht. Oder andere KollegInnen werden einfach nursagen, es wird ja sowieso ein Schulprogramm geben, laß unsmal sehen, daß es nicht ganz so schlecht wird. Beide Grup-pen übersehen, daß eine »Schulentwicklung von unten« gar

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nicht beabsichtigt ist und auch nicht möglich sein wird, weilsich die Schulentwicklung nach den Vorgaben der Behördezu richten hat und die sind vor allem an die Punkte »Finan-zierbarkeit« und »Effizienz« geknüpft.

Zum anderen sind diejenigen dagegen, die in der Mitar-beit an solchen »Reform«projekten Möglichkeiten für ihrberufliches Fortkommen sehen bzw. deren berufliche Exi-stenz direkt mit Mitgestaltung verknüpft ist, wie zum Bei-spiel Schulleitungen, Personalräte, für Fortbildung, Freige-stellte usw. Wie oben ausgeführt, gibt es davon in der GEWreichlich Vertreter, und deren Widerstand wird naturgemäßder härteste sein.

Mit der Verweigerung ins Abseits?Natürlich ist das Ganze eine Gratwanderung. Einmal wirdimmer wieder vorgebracht, mit einer Verweigerungshaltungbegebe man sich ins bildungspolitische Abseits, klinke sichaus der aktuellen Diskussion aus und überlasse die »Weiter-entwicklung« des Schulwesens der Behörde und den Partei-politikern. Zum anderen setze man sich mit denjenigen inein Boot, die sowieso kein Interesse an einer Bildungsdiskus-sion hätten, denen es nur darum ginge, ihre eigene Bequem-lichkeit zu verteidigen und die über die notwendige Verän-derung der Schule gar nicht mehr nachdenken wollten. Manverbünde sich sozusagen mit denen, die den Beamtenstatusausnützten und sich nicht mehr bewegen wollten.

Tatsächlich hat der staatliche Arbeitgeber hier ein Pro-blem, das in der Privatwirtschaft anders zu lösen ist: mitHilfe von Entlassungen nämlich. Da diese Peitsche bei Beam-ten nicht zu schwingen ist, wird in Behördenkreisen schonlange nach Wegen gesucht, wie man einerseits die schonbeamtete Lehrerschaft motivieren kann, mehr zu leisten, undwie man auf der anderen Seite in Zukunft die Neueingestell-ten besser unter Druck setzen kann. Da ist man durchauskreativ: Besoldungserhöhungen nach »Leistung« (sprich:nach Beurteilung durch die Vorgesetzten und nicht nachDienstalter), Funktionsstellen auf Zeit statt lebenslänglich,Jahresarbeitszeitmodelle statt wöchentlicher Unterrichtsver-pflichtungen, unterschiedliche Bewertung von Schulfächernnach »Belastung« sind Beispiele für angedachte Verände-rungen.

Am »modernsten« ist man aber bei Neueinstellungen:Seit geraumer Zeit werden neue Lehrkräfte nur noch alsAngestellte beschäftigt und das zu Drei-Viertel-Verträgen. InAussicht gestellt wird eine volle Stellung bei Bewährung undgezeigter Bereitschaft, sich auf alles Mögliche einzulassen.Damit werden in den Schulen zunehmend Zwei-Klassen-Kollegien entstehen: Zum einen die verbeamteten, älterenKollegInnen mit einem höheren Gehalt und zum anderen dieNeueingestellten mit der Hälfte des Gehaltes und reduzierterUnterrichtsverpflichtung, aber (erzwungener) voller Lei-stungsbereitschaft. Das Szenario ist klar: In zehn bis 15 Jah-ren, wenn die meisten der jetzt noch tätigen KollegInnenpensioniert sein werden, wird die Lehrerschaft aus künd-baren Angestellten mit einem niedrigeren Gehalt bestehen.Dieses SPD-Konzept wird von der GAL auch mitgetragennach dem Motto: Wir waren schon immer für die Abschaf-fung des Berufsbeamtentums. Wir sind ja so modern!

Wenn die West-GEW als zur Zeit noch Vertretunghauptsächlich der verbeamteten Lehrerschaft nicht aufpaßt,wird sie als »Bildungsgewerkschaft« in eine Falle hineinlau-fen. Sie droht, als Vertretung der »Mitgestaltung von Bil-

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dungspolitik« gegenüber den KollegInnen als »Reformpeit-sche« aufzutreten, indem sie zur Mehrarbeit auffordert, umdie Schulen zu »reformieren«. Natürlich wird sie das inbester Absicht tun, das Ergebnis werden aber nicht bessereSchulen sein, sondern »Profilschulen«, in denen sich dieKollegien über Einsparungen, Personaleinsatz, interneBewertungen die Köpfe einschlagen werden.

Ein Beispiel hat schon die GEW in NRW geliefert. Dasdortige Schulministerium plante eine Untersuchung, um die»tatsächliche Lehrerarbeitszeit« festzustellen, um daraus einneues Arbeitszeitmodell entwickeln zu können. Dafür soll-ten KollegInnen bei der Arbeit für die Schule, die nicht in derKlasse stattfindet (zum Beispiel zu Hause), eine Art Stoppuhrbenutzen, die sie immer dann drücken, wenn sie was für dieSchule tun. Alle Lehrerverbände rochen den Braten undwaren dagegen -bis auf die GEW, mit deren Hilfe die Unter-suchung jetzt durchgeführt wird. Die Gewerkschaft als Ratio-nalisierungsvorreiter! Eine Gewerkschaft, die in Zeiten desNiedergangs und der »Reformen nach rückwärts« glaubt, alsmitgestaltende Kraft auftreten zu können, wird vernutzt undvon den KollegInnen auch noch für die Verschlechterungenverantwortlich gemacht werden.

Es wird darauf ankommen zu zeigen, daß sich den staat-lichen Plänen zu verweigern nicht gleichbedeutend ist mitdem Verzicht darauf, an den Schulen im Interesse derSchüler und insbesondere im Interesse der Benachteiligtenin der Gesellschaft zu wirken, das heißt für die Mehrheit.Dabei wird helfen, daß es zwei Wege der Schulentwicklunggeben wird, die zunehmend weniger miteinander vereinbarsind. Den einen, dessen Richtung von Bundespräsident Her-zog in seiner Berliner Rede vorgegeben worden ist: mehrKonkurrenz, mehr Elite, weniger Bildung und Ausbildungfür die Masse. Den anderen: Entwicklung von Solidarität unddie Vermittlung von breiter Bildung für die Mehrheit imKampf gegen die Selektion nach den Maßstäben von Brauch-barkeit und Verwertbarkeit für den kapitalistischen Wirt-schaftsprozeß.

Mitgliederschwund und GewerkschaftsstrategieDie (linke) Hamburger GEW-Führung steckt in einer durch-aus unangenehmen Zwickmühle. Zum einen ist ihr die GALals Hoffnungsträger abhanden gekommen, was die möglicheDurchsetzung eigener Forderungen angeht. Zum anderenmuß sie irgendwann auch mal Erfolge für KollegInnen auf-weisen, wenn sie den Mitgliederschwund bremsen will, dersich monatlich in langen Austrittslisten widerspiegelt.

Angesichts des sich abzeichnenden Horrorszenarios(13.500 mehr Schüler ohne neue Stellen versorgen zu müs-sen) muß sie jetzt versuchen, Widerstand zu entwickeln, umvielleicht das Schlimmste abwenden zu können. Das ist abergar nicht so einfach, wenn man sich neben den Problemen:Resignation und zunehmende Müdigkeit die oben geschil-derte Situation der »Bildungsgewerkschaft« klarmacht. Wiesoll man Widerstand entwickeln in einer Organisation, in derein Großteil gar nicht an Widerstand, sondern an Mitgestal-tung interessiert ist? Und dann auch noch in einer Situation,in der die Liste der monatlichen Austritte immer erheblichlänger ist als die der Eintritte?

Der naheliegende Schluß ist der Spagat: Vorbereiten einesStreiks und Ablehnung einer Verweigerungsstrategie. Aufden Streik können sich alle einlassen, besonders die aktivenGewerkschafter, die »Reformer« auch, denn ein Streik dauert

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ja nur einen Tag, und denen läßt man ihre Spielwiese. DasProblem wird nur sein, daß die Rechnung nicht aufgeht. Dader Niedergang nicht aufzuhalten ist und »Erfolge« kaumdurchzusetzen sind, werden die Leute weiter austreten. Die»Reformer« werden die Verschlechterungen mitgestaltenund die Gewerkschaftsführung wird die Prügel dafür bezie-hen. Und sie wird Prügel dafür beziehen, daß sie angesichtsgeringer werdender Einnahmen den Aktiven Gelder fürgewerkschaftliche Projekte kürzen und eventuell sogar Ange-stellte entlassen muß.

Langfristig gesehen hat die GEW nur eine Chance, wennsie nicht vernutzt werden will: den staatlichen Arbeitgeberals Gegner wahrzunehmen, sich ideologisch von ihm zu tren-nen und vor allem diejenigen zu organisieren und deren Ar-beitnehmer-Interessen in den Mittelpunkt zu stellen, die jetztzu verschlechterten Bedingungen eingestellt werden. Als dif-fuse »Bildungsgewerkschaft« geht sie kaputt. 1.3.98 n

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Wie lange noch bestimmen Bankenund Unternehmer den Konkurs?Auf einer Solidaritätsveranstaltung der Belegschaft von Ort-mann & Herbst (O&H) auf dem Rathausmarkt in Hamburgwurde von dem Sprecher folgendes ausgeführt (Wir gebendie Rede auszugsweise und gekürzt wieder): » Das Unter-nehmen gehört seit vier Jahren zur bayerischen Unterneh-mensgruppe Kettner, einem Familienunternehmen derGetränkeindustrie, das mit seinen Maschinen zur Fla-schenabfüllung und -reinigung sehr gute Marktchancenhatte. Durch den ruinösen kapitalistischen Konkurrenz-kampf, dem damit verbundenen erhöhten Kapitaleinsatzund katastrophalen unternehmerischen Fehlentscheidun-gen . . . ist jetzt eine Gesamtunternehmensgruppe mit ins-gesamt über 2000 BeschäjSgten in Rosenheim, München,Dortmund und in Hamburg ins tideln gekommen, und somuj3te am Donnerstag letzter Woche unser Betrieb in Ham-burg Konkurs anmelden.

Die 530 Kolleginnen und Kollegen und ihre Familien-angehörigen hier in Hamburg müssen seit vier Wochen aufihre Löhne und Gehälter warten. Viele Familien sind deshalbnatürlich jetzt am Ende.

Viele von uns haben dennoch an einem erfolgreichenAusgang der Verhandlungen mit dem ins Spiel gebrachtenInvestor einer italienischen Unternehmensgruppe gehofi.Das war für viele von uns der bekannte Strohhalm zum Ret-tungsbalken. Dabei waren wir doch nur der Joker beim Pokerder Banken um die höchste Profitquote, um beim miesenGeschäft durch die sogenannte Marktbereinigung einen Kon-kurrenten plattzumachen. Jetzt hat ein Sequester (Zwangs-verwalter) die Geschicke in die Hand genommen. Dieser hatschon in anderen Firmen sein Werk erfolgreich< verrichtet.So etwa beim Bremer Vulkan und bei der Zeise-Propeller-fabrik. Letztere ist heute ein Freizeitzentrum - aber mitSicherheit nicht für die bei Zeise entlassenen Kollegen . . Fürviele unserer Familien steht über dem Wie< die der Weiter-führung unserer Firma die Glaubwürdigkeit unseres Gesell-schaftssystems. Wenn dieses aber nicht in der Lage ist, Beleg-. _

sich für viele von uns die Frage stellen, ob dieses Systemnoch in der Lage ist, unsere Grundbedürfnisse zu befriedi-gen. Deshalb sind jetzt Bund und Länder gefordert, dafür zusorgen, daj3 ein in sich gesundes Unternehmen mit markt-fähigen Produkten nicht von einem Konkursverwalter inseine Einzelteile zerlegt wird. Wir brauchen eine Firmenpoli-tik, durch die die von uns bisher hergestellten Anlagen amStandort Hamburg erhalten werden - denn was für denWachtelkönig gilt, muj3 doch wohl auch für 530 Familien inHamburg gelten. Beide brauchen hier in Hamburg einelebensfähige Grundlage.

Die Forderungen der Belegschaft an Politik, Banken undUnternehmen sind: Überbrückung der Finanzierungslückedurch öffentliche Bürgschaften, verbunden mit Arbeitsplatz-garantie. Erhalt der Unternehmensstruktur und deren Aus-bau für alle Produkte von O&H, Freigabe der seit vier Wochenüberfälligen Löhne und Gehälter durch die Banken bzw. denKonkursverwalter, Bemühungen der Wirtschaftsbehörde umeinen Investor zur Weiterführung der Produktion. Der Seque-ster hatte auf der gerade stattgefundenen Betriebsversamm-lung die Weiterführung der Restproduktion mit zirka 130Arbeitsplätzen in Aussicht gestellt. Aber mit dieser geringenAnzahl kann eine normale Produktion nicht aufrechterhal-ten werden. Hilfreich zum überleben könnte auch eine Auf-fanggesellschaft sein, die jetzt ins Leben gerufen werden soll.

Unterstützt daher diese Bemühungen und verhindert,da$’ wieder ein Betrieb von der Bildfläche verschwindet mitArbeitsplätzen im produktiven Gewerbe. Denn zu den 530Arbeitsplätzen kommen noch einmal genauso viele in denZulieferfirmen, die durch die Schlie$?ung von O&H ihreArbeitsplätze verlieren werden.«

Wir bringen diese Ausführungen, um zu zeigen, daß somanche Illusionen über die Sicherheit der Arbeitsplätze undArbeitsbedingungen im Kapitalismus schon zerstört sind,aber noch so manche vorhanden sind, die den Widerstandbehindern. Es ist richtig, daß der kapitalistische Konkurrenz-kampf, der von Banken und Unternehmen auf dem Rückender Beschäftigten ausgetragen wird, die entscheidende Ursa-che für die Massenarbeitslosigkeit ist. Die unternehmeri-schen Fehlentscheidungen sind von geringerer Bedeutung.Sie drücken aber auch aus, daß sie selber »Opfer« ihres sonstso verherrlichten Kapitalismus werden können (wenn auchbesser abgesichert, als die von ihnen ausgebeuteten Mitarbei-ter), aber doch mit empfindlichen Machtverlust. Unterneh-merische Fehlentscheidungen (auch als Versagen des Mana-gements bezeichnet) hat es auch in den Jahren der Konjunk-tur gegeben, haben jedoch kaum die Folgen gehabt wie in derKrise. Die Einbehaltung der Löhne und Gehälter können sichBanken und Unternehmen leisten, solange sie keinen Wider-stand zu befurchten haben. Für Banken und Unternehmensind Konkurse ein profitables Geschäft. Daß sie die Hinter-gründe der Transaktionen vor uns verschleiern können -liegt an der mangelnden Kontrolle ihrer Tätigkeit durch unsselbst. Auch die Gewerkschaften stehen diesen Machen-schaften passiv gegenüber und glauben, durch Entgegenkom-men an die Gegenseite die Entwicklung stoppen zu können.Das Gegenteil ist aber der Fall: Das Entgegenkommen an Ban-ken und Unternehmer (der Appell »Eigentum verpflichtet«)ist eine Ermunterung an diese, daß sie keinen wirklichenWiderstand zu befürchten haben. Dasselbe gilt für die Hoff-

Standortpolitik und Standortideologie der Gewerkschaf-ten stützen die Politik der Banken und Unternehmer. Zeigenaber auch auf, was durch völligen Rückzug aus der Verant-wortung für soziale Absicherung und Arbeitsmarktpolitikauf die Werktätigen zukommt. Dem sogenannten Wirt-schaftsliberalismus - auf den die Politik ohne großen Einflußist - werden Arbeiter und Angestellte dem »Gesetz des Stär-keren« geopfert.

Auch sollten wir uns keine Illusionen über die Perspekti-ven von Auffanggesellschaften machen, sie linderrrvielleichtdie augenblickliche Notlage, aber sie sind kein Wechsel aufdie Zukunft. Schon deshalb nicht, weil mit den Auffang-gesellschaften Aufhebungsverträge verbunden sind, die denVerzicht auf Rechte aus Betriebszugehörigkeit usw. zur Folgehaben. In dessen Genuß die Mitarbeiter meistens aber auchsonst nicht kommen, weil nach einem Konkurs selten genugMasse, sprich Geld, zur Verfügung steht und das Betriebsver-fassungsrecht in Konkursfällen sehr eingeschränkt ist (keinesoziale Auswahl, kein Sozialplan, bei Übernahme meistensneue [und schlechtere] Verträge vom neuen Investor).

Die Erklärung, daß die Arbeiterklasse und deren Familiennicht weniger Lebensrechte haben dürften (als der Wachtel-könig), ist insofern interessant, weil sie die Frage aufwirft,die bald eine größere Bedeutung erhalten wird: Wie verhal-ten wir uns unter kapitalistischen Bedingungen zu Fragendes Autobahnbaus, des Transrapid-Vorhabens, der Ansied-lung von Dasa in Naturschutzgebieten usw. Was hat Vorrang-Arbeitsplätze oder Ökologie? 22.2.1998 n

b S T R E I K S I M S P A N I S C H E N B E R G B A U

Hatte Überlebenskämpfe derasturischen BergleuteÄhnlich wie die Bergleute im März letzten Jahres hier inDeutschland oder die russischen Bergleute, die seit Monatenum ihren Lohn kämpfen, hatten auch die Bergleute in Astu-rien einen äußerst harten Überlebenskampf führen müssen.Es kam zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei.Der Kampf endete mit einem Kompromiß.

Der spanische Kohlenbergbau ist ähnlich unrentabel wieder deutsche. Hier kostet eine Tonne Kohle das vierfache desWeltmarktpreises. Diese Branche kann auch nur mit erhebli-chen staatlichen Subventionen überleben. Sie belaufen sichauf zwei bis drei Mrd. DM pro Jahr. Auch hier gab es einenschleichenden Abbau. Waren 1990 noch rund 45.000 imBergbau beschäftigt, so sind es derzeit nur noch rund 25.000.

Das Herzstück des Bergbaus in Spanien liegt in Asturien.Der Hauptbetreiber ist die Bergwerksgesellschaft Hullerasdel Norte (Hunosa), die 1967 aus 18 Bergwerken mit über25.000 Beschäftigten gegründet wurde. Diese Gesellschafterzielte nie Gewinn und war auf Staatshilfen angewiesen.Allein zwischen 1994 und 1997 wurde sie mit 2,44 Mrd. DMunterstützt. Dieses Geld sollte aber nicht ausreichen underhöhte sich nun auf 3,45 Mrd. DM. Gleichzeitig wurde dieBelegschaft in den letzten fünf Jahren auf 10.000 Bergleutehalbiert.

Jede spanische Regierung - egal ob unter Gonzales oderjetzt die konservative unter Aznar - mußte auf die asturi-sehen Kumpel Rücksicht nehmen. Denn neben dem Bergbaubefinden sich auch die wichtigsten anderen Industriezweige(wie Stahl, Schiffbau, Rüstung) in einer Krise. Allein im Zeit-

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raum zwischen 1991 und 1996 wurden hier 50.000 der insge-samt 361.000 Arbeitsplätze vernichtet. In bestimmten Gegen-den gibt es bis zu 40 Prozent Arbeitslosigkeit, und in anderensind bis zu 80 Prozent vom Bergbau abhängig. In Asturien hatsich daher auch ein enormes Konfliktpotential angesammelt.

Von daher war die Regierung bei der sozialen Ausgestal-tung der Arbeitsplatzvernichtung immer kompromißbereit.Bereits im Juli letzten Jahres wurde daher nach achtmonati-gen Verhandlungen mit der Gewerkschaft ein Vertrag - derPlan de Carbon - ausgehandelt, der die Senkung der Kohle-förderung von derzeit 18 auf 33 Mio. Tonnen bis 2005 vor-sieht. Gleichzeitig sollen 7000 Arbeitsplätze vernichtet wer-den. Bis zum Jahr 2001 sollen 3400 Kumpel ab 52 Jahre (bis-lang 55 Jahre) in den Vorruhestand gehen - bei einer hun-dertprozentigen Nettolohngarantie zwischen 1500 und 3400DM mit jährlichen Inflationsausgleich. (Durchschnittslohnder Spanier 2400 DM, Rentenalter ab 62 mit 70 Prozent desNettolohnes. Allein diese erneute Anpassungsmaßnahmekostet den Staat rund sechs Mrd. DM. Darüber hinaus sollenzur Neuschaffung von Arbeitsplätzen weitere 4.8 Mrd. DMals Strukturhilfen in diese Region fließen.

Dieser Plan de Carbon wurde aber von der Kommissionder Europäischen Union abgelehnt. Sie verlangt eine drasti-schere Reduzierung der Kohleförderung durch Einstellungdes Tagebaus, einen drastischeren Belegschaftsabbau,Begrenzung des staatlichen Verlustausgleichs auf 500 Mio.DM und keine Neueinstellungen.

Als die Regierung dem Druck aus Brüssel nachzugebendrohte, traten die 10.000 Kumpel in Asturien am 26.Dezem-ber 1997 in den Streik. Es kam zu massiven Störungen desöffentlichen Verkehrs durch Blockierung von Straßen, Auto-bahnen und Eisenbahnlinien. Die fast täglichen Straßen-schlachten mit den Sicherheitskräften wurden immer bruta-ler. Mit Schleudern und Feuerwerkskörpern gingen die Kum-pel gegen die Polizei vor. Zur Verteidigung der besetztenZechen bewaffneten sie sich. Auf der Zeche Maria Luisa rich-teten die Kumpel sogar selbst gebastelte Raketenwerfer gegendie anrückende Polizei. Als dann ein Kumpel, als er auf derAutobahn nach Madrid eine brennende Barrikade errichtethatte, von einem Autofahrer getötet wurde, riefen die fünfgrößten asturischen Gewerkschaften für den 12. Januar zueinem Generalstreik auf. Alle 25.000 Bergleute ehrten somitauf diese Weise ihren verunglückten Kollegen.

Nach über einem Monat Kampf wurde dann dieser Streikbeendet. Viele Zeitungen verglichen diese Unruhen an derBiskayaküste mit den großen Bergarbeiterstreiks in Asturienwährend der spanischen Republik oder später unter der Dik-tatur Francos, die ebenfalls mit Truppen bekämpft wurden.

Die Regierung mußte dem Druck der Bergleute nachgebenund mit kleinen Veränderungen in etwa den gleichen Vertragwie vom Juli 1997 unterschreiben.

Hinzu gekommen ist die Neuschaffung von 1060 Stellenals Beitrag zur Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit. Wiesie das jedoch in Brüssel verkaufen will, kann nicht Sacheder um ihre Existenz kämpfenden Bergleute sein.

Aber in Regierungskreisen wurde deutlich, daß man sichauch in der Vergangenheit nicht immer an die Anforderun-gen der EU gehalten hat. So wurde in den Bergwerken zwarPersonalabbau betrieben, aber gleichzeitig die Produktions-zahlen leicht erhöht. So wollen sie dann in Brüssel erklären,daß der soziale Frieden auch ein wirtschaftliches Gut sei.

Dortmund, 20.2.1998 n

ARBEITERPOLITIK NR.,, MÄnzIgQ8