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32 Forschung intensiv Forschung Frankfurt 3–4/2003 Z war bleiben Adornos »Ästhetische Theorie« und seine musikphilosophischen Schriften über die Jahre hinweg ein lebendiges Zentrum der weitver- zweigten Debatten über Anspruch und Aktualitätsge- halt moderner Kunst; kaum eine andere Theorie hat wohl die zeitgenössische Ästhetik so nachhaltig beein- flusst wie diejenige, die in den einschlägigen Schriften Adornos angelegt ist. Aber innerhalb der anderen Ge- biete, auf denen Adorno bis zuletzt intellektuell tätig war, kann von einer vergleichbaren Wirkungsgeschich- te kaum die Rede sein; im Gegenteil, mit Ausnahme des Poststrukturalismus verlor sich in den Hauptströmun- gen der Philosophie die Spur seines Werkes schon in Bald nach dem Tode Adornos setzte interna- tional eine intellektuelle Entwicklung ein, die der Hinterlassenschaft seines theoreti- schen Werkes nicht eben förderlich war. Unter dem wachsenden Druck der angel- sächsischen Philosophie, aber auch ange- sichts einer sich zunehmend vom marxisti- schen Erbe lösenden Gesellschaftstheorie, geriet die Rezeption seiner Schriften in ei- ne immer stärkere Isolation. In der jüngsten Zeit mehren sich nun die Zeichen, die in Richtung einer Wiederbelebung des Interes- ses am Werk Adornos weisen – als sei das Heranrücken seines 100. Geburtstags eine wissenschaftliche Herausforderung, der sich auch die herrschenden Strömungen in der Philosophie und den Sozialwissenschaften nicht gänzlich verschließen dürften. Kapriolen der Wirkungsgeschichte Tendenzen einer Reaktualisierung Adornos von Axel Honneth den späten 1980er Jahren beinahe vollständig, während innerhalb der Sozialwissenschaften das Interesse an sei- nen soziologischen Schriften in dem Augenblick rapide nachließ, in dem mit den Theorien von Foucault, Bour- dieu und Giddens ganz neue Formen der Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus auf den Plan getreten waren. Die Zirkel, in denen die Theorie Adornos mit dem Mut zur intellektuellen Opposition gleichwohl noch rezipiert wurde, befanden sich daher in der letzten Dekade des alten Jahrhunderts in einer Art von selbst- gewählter Isolation. In der Philosophie und den Sozialwissenschaften scheint jedoch gegenwärtig die Bereitschaft anzuwach- Als Direktor des Instituts für Sozialforschung und Professor für Sozialphilosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität hat Theodor W. Adorno entscheidende Jahre in Frankfurt ver- bracht. Adorno war einer der bedeutendsten Philosophen und Gesellschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Doch wie aktu- ell sind Kritische Theorie und Adornos Denken heute?

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Zwar bleiben Adornos »Ästhetische Theorie« undseine musikphilosophischen Schriften über dieJahre hinweg ein lebendiges Zentrum der weitver-

zweigten Debatten über Anspruch und Aktualitätsge-halt moderner Kunst; kaum eine andere Theorie hatwohl die zeitgenössische Ästhetik so nachhaltig beein-flusst wie diejenige, die in den einschlägigen SchriftenAdornos angelegt ist. Aber innerhalb der anderen Ge-biete, auf denen Adorno bis zuletzt intellektuell tätigwar, kann von einer vergleichbaren Wirkungsgeschich-te kaum die Rede sein; im Gegenteil, mit Ausnahme desPoststrukturalismus verlor sich in den Hauptströmun-gen der Philosophie die Spur seines Werkes schon in

Bald nach dem Tode Adornos se tz te in te rna-t iona l e ine in te l lek tue l le Entwick lung e in ,d ie der Hinte r lassenschaf t se ines theore t i -schen Werkes n icht eben fö rder l i ch war.Unte r dem wachsenden Druck der ange l -sächs ischen Ph i losoph ie , aber auch ange-s ichts e ine r s ich zunehmend vom marx i s t i -schen Erbe lösenden Gese l l schaf ts theor ie ,ge r ie t d ie Rezept ion se iner Schr i f ten in e i -ne immer s tä rke re I so la t ion . In der jüngs tenZe i t mehren s ich nun d ie Ze ichen, d ie inRichtung e ine r Wiederbe lebung des In te res -ses am Werk Adornos we isen – a l s se i dasHeranrücken se ines 100. Gebur ts tags e inewissenschaf t l iche Herausforderung, der s ichauch d ie her rschenden St römungen in derPh i losoph ie und den Soz ia lw issenschaf tenn icht gänz l ich ve rsch l ießen dür f ten .

Kapriolen der WirkungsgeschichteTendenzen einer Reaktualisierung Adornos

von Axel Honneth

den späten 1980er Jahren beinahe vollständig, währendinnerhalb der Sozialwissenschaften das Interesse an sei-nen soziologischen Schriften in dem Augenblick rapidenachließ, in dem mit den Theorien von Foucault, Bour-dieu und Giddens ganz neue Formen der Analyse desgegenwärtigen Kapitalismus auf den Plan getretenwaren. Die Zirkel, in denen die Theorie Adornos mitdem Mut zur intellektuellen Opposition gleichwohlnoch rezipiert wurde, befanden sich daher in der letztenDekade des alten Jahrhunderts in einer Art von selbst-gewählter Isolation.

In der Philosophie und den Sozialwissenschaftenscheint jedoch gegenwärtig die Bereitschaft anzuwach-

Als Direktor des Instituts für Sozialforschung und Professor fürSozialphilosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universitäthat Theodor W. Adorno entscheidende Jahre in Frankfurt ver-bracht. Adorno war einer der bedeutendsten Philosophen undGesellschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Doch wie aktu-ell sind Kritische Theorie und Adornos Denken heute?

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terpretiert wird: Wie die entsprechenden Passagen ausder »Dialektik der Aufklärung« deutlich machen, istAdorno einerseits mit Hegel der Überzeugung, dass derFormalismus der Pflichtethik Kants sogar bis zu einerRechtfertigung menschenverachtender, erniedrigenderHandlungen hin ausgedeutet werden kann; daher hatAdorno auch nie gezögert, im Rigorismus dieser Ethikeine der Ursachen für die Steigerung der instrumentel-len Vernunft zu sehen, deren Totalisierung er kulturge-schichtlich dafür verantwortlich macht, dass sich einefugenlose Herrschaftsordnung etablieren konnte.

Andererseits ist aber Adorno nie soweit gegangen,den Kern der Kantischen Achtungsmoral vollständigpreiszugeben; vielmehr hat er gerade in seinen jüngstveröffentlichten »Vorlesungen zur Moralphilosophie«immer wieder zeigen wollen, dass die Vermeidung vonErniedrigung den eigentlichen Impuls von Kants Begriffdes »Respekts« ausmacht, der daher unter Einbezie-hung auch von nichtmenschlichen Wesen unbedingtbewahrt werden sollte. In dieser »positiven« Schicht derMoralvorstellungen Adornos finden sich zudem Ele-mente einer geradezu existentialistischen Ethik, in derdie Widerständigkeit der intellektuellen Lebensform alsAusweis einer moralischen Antwort auf die »verwalteteWelt« gewertet wird. Hier berühren sich für AdornoFragen des persönlichen Lebensstils so eng mit den For-derungen einer Respektmoral, wie das von kaum einerzeitgenössischen Ethik heute noch vertreten wird. Es istwahrscheinlich diese Engführung von existentialisti-scher Ethik und Achtungsmoral, die in jüngster Zeit dasInteresse an den moralphilosophischen Betrachtungen

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sen, sich wieder mit Adornos Schriften auseinanderzu-setzen. Ob dieser Dammbruch mit soziokulturellenWandlungen zusammenhängt, wie sie sich etwa auseinem neu erwachten Bewusstsein für die zerstöreri-schen Effekte eines globalisierten Kapitalismus ergebenhaben mögen, oder auf innertheoretische Entwicklun-gen zurückzuführen ist, lässt sich aufgrund des Mangelsan historischer Distanz nur schwer ausmachen.

Innerhalb der Philosophie hat sicherlich die pragma-tische und hermeneutische Wende der analytischenTradition zum Abbau der Barrieren beigetragen, dieeiner Rezeption des Werkes von Adorno entgegenstan-den. In den Sozialwissenschaften hingegen scheint diegewachsene Sensibilität für kulturelle Pathologien einesolche Wiederannäherung bewirkt zu haben. Auf jedenFall sind heute, nur zehn Jahre nachdem das Interesse anseiner Theorie einen Tiefpunkt erreicht hatte, überra-schende, aber deutliche Signale einer Wiederbelebungder Rezeption zu vernehmen. Ich will fünf theoretischeBrennpunkte von Adornos Werk benennen, die im Au-genblick auf dem Grenzgebiet zwischen Philosophie undSoziologie erneut große Aufmerksamkeit auf sich ziehen;für alle diese Themenfelder kann gelten, dass sie eher ander Peripherie als im Zentrum seiner Schriften liegen:

Eine Mikrosoziologie des Sozialen – Adornos »Minima Moralia«

Die Gesellschaftstheorie von Adorno besitzt immerdann eine gewisse Neigung zu einem recht starren Dog-matismus, wenn es in ihr um die Bestimmung allgemei-ner Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung geht;an solchen Stellen wird deshalb häufig von Marx’schenTotalitätsbegriffen Gebrauch gemacht, um etwa voneiner wachsenden Tendenz der Subsumption lebens-weltlicher Verhältnisse unter den Imperativ der Kapital-verwertung sprechen zu können. Dieser Hang zu einerbloß deduktiven Gesellschaftsanalyse wird bei Adornoallerdings immer dort aufgebrochen, wo er sich derphänomenologisch inspirierten Feinanalyse sozialer Le-benswelten zuwendet: Hier treten Risse und Brüche imallgemeinen »Verblendungszusammenhang« in denBlick, die in Form von Gesten, Handhabungen und mo-ralischen Reaktionen eine Spur von mimetischem Wi-derstand dokumentieren.

Die »Minima Moralia«, die mit Recht zumeist alsaphoristischer Entwurf einer Lehre widerspenstiger Tu-genden interpretiert werden, lassen sich unter einer sol-chen Perspektive auch als Versuch einer Mikrosoziolo-gie verstehen, in der an den Prozessen eines wachsen-den Interaktionsverlusts die Gegentendenzen einer Be-harrung auf den Eigenwert von Dingen und Personenaufgespürt werden: In Analysen, die in ihrer phänome-nologischen Genauigkeit an Simmel oder Kracauer er-innern, wird aufgezeigt, inwiefern bestimmte Umgangs-formen oder Konventionen des Takts dazu angetansind, der diagnostizierten Verarmung zwischenmensch-licher Kontakte zu widerstehen. Wo immer die Kulturdes Kapitalismus heute unter einer solchen Perspektiveerschlossen wird, gewinnt die soziologische Phänome-nologie Adornos wieder an Prominenz. Dabei spielt einezentrale Rolle wohl die Tatsache, dass bei aller Auf-merksamkeit für den kulturellen Wandel menschlicherPraktiken nicht geleugnet wird, dass sie mit sozioökono-mischen Strukturbedingungen zusammenhängen.

Ethik nach Auschwitz – Adornos Konzeption der Moral

Adorno hat bekanntlich keine »Ethik« im klassischenSinne verfasst; aber alle Schriften, die er nach der Erfah-rung der Katastrophe des Nationalsozialismus geschrie-ben hat, sind implizit von ethischen Überlegungendurchzogen, die um die Voraussetzungen kreisen, eineWiederkehr der Barbarei zu verhindern. Was dieseSchicht seines Werkes anbelangt, so besteht sie weitge-hend aus einer ununterbrochenen Auseinandersetzungmit der Kantischen Moralphilosophie, die auf eine kom-plizierte, vielleicht »dialektisch« zu nennende Weise in-

»Minima Moralia – Reflexionen aus dembeschädigten Leben«: 1951 zum erstenMal veröffentlicht, begründeten die »Mi-nima Moralia« Adornos Ruhm als litera-rischer Philosoph. In den Aphorismenund Kurzessays verbindet sich stilisti-sche Prägnanz mit philosophischer Tiefesowie die Erfahrung einer barbarischenGeschichte mit dem Blick auf die Ge-sellschaft der Nachkriegszeit.

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Adornos wiederbelebt hat. Wie andere Strömungen derzeitgenössischen Ethik wirken auch sie der Tendenzentgegen, Fragen der Moral in allzu großer Distanz zuindividuellen Problemen des guten Lebens zu behan-deln.

Kulturindustrie und neue Medien – die Aktualität der Kultursoziologie Adornos

In der »Dialektik der Aufklärung« hatten Adorno undHorkheimer die Vorstellung entwickelt, dass auf derBasis eines monopolistisch organisierten Wirtschaftssys-tems die neuartigen Reproduktionstechniken des Films,des Radios und des Fernsehens mit der sich rasch aus-breitenden Vergnügungsindustrie zu einem kulturindu-striellen Komplex zusammenwachsen, dessen manipu-lativ eingesetzte Produkte das individuelle Bewusstseinbis in die kleinsten Regungen hinein zu kontrollieren

vermögen. Diese berühmte These von der »Kulturindu-strie« hat Adorno in seinen späteren Studien ohne Zö-gern auf das kulturelle Szenarium der Nachkriegszeitübertragen, wobei er freilich in einigen Studien der wi-derspenstigen Indifferenz des Publikums einen größerenStellenwert einräumt. Im Ganzen aber herrscht die Vor-stellung vor, dass die von den technischen Reprodukti-onsmedien ausgestrahlten Botschaften ohne Wider-stand die ich-geschwächten Individuen in ihren Regun-gen und Absichten manipulieren können.

Mit der nächsten, digitalen Revolutionierung dertechnischen Kommunikationsmedien, wie sie in derEntwicklung des Internets, des Mobilphones und derneuen Videotechniken zum Ausdruck gelangt, stellt sichnun die Frage, wie der manipulationstheoretische Ge-halt der Kulturindustrie-These heute zu beurteilen ist:Dem Eindruck, dass durch diese Entwicklungen dieChancen einer unreglementierten, kommunikativenVerwendung der technischen Medien erhöht werden,steht die Wahrnehmung gegenüber, dass die Gestal-tungsmacht der Kommunikationsmedien inzwischenbis in die innere Empfindungswelt der Individuen hi-neinreicht, die am Ende nicht mehr zwischen Fiktionund Wirklichkeit, zwischen Probehandeln und ver-pflichtender Interaktion unterscheiden können.

Während die erste Position sich auf die spekulativeKonzeption von Walter Benjamin berufen kann, der indem neuen Medium des Films stets auch das Potenzialeiner Demokratisierung des Massenpublikums gesehenhat, stützt sich die zweite, ungleich pessimistischere Po-sition bis heute vornehmlich auf die düsteren Beschrei-bungen Adornos. Daher ist es nicht überraschend, dassin den jüngsten Auseinandersetzungen über die kultu-relle Bedeutung der neuen Medien auch die einschlägi-gen Abhandlungen Adornos wieder zur Geltung gelangtsind: Mit ihrer Hilfe kann der Blick für soziale Patholo-gien geschärft werden, die neue Kommunikationsmedienstets dadurch auslösen können, dass sie einem Publi-kum nichtbeabsichtigt höchst deformative Rezeptions-haltungen aufzwingen.

Interaktionszerfall und menschen-würdige Beziehungen – die Moral-psychologie Adornos

Einen bedeutsamen, wenn auch häufig unterschätztenStrang des Werkes von Adorno bilden moralpsychologi-sche Überlegungen, in denen im Stile von Nietzschenach den psychischen Quellen von moralischen Einstel-lungen und Haltungen gefragt wird. Hat Nietzsche frei-lich in seiner »Genealogie der Moral« solche Erkundun-gen vor allem mit dem dekonstruktiven Interesse ange-stellt, die Herkunft unserer Pflichtmoral in Gefühlen desRessentiments und der Unterlegenheit nachzuweisen,so nimmt Adorno in konstruktiver Absicht durchausauch die psychischen Wurzeln von moralischen Einstel-lungen der Achtung und des kontextsensiblen Umgangsin den Blick. Unter diesem Gesichtspunkt stellen nichtnur die »Minima Moralia«, sondern auch seine sozial-psychologischen Arbeiten eine wahre Fundgrube anmoralpsychologischen Einsichten sowohl der ersten alsauch der zweiten Kategorie dar: Während Adorno dieFähigkeit zur moralischen Sensibilität und Aufmerk-samkeit immer wieder auf frühkindliche Erfahrungenliebender Sorge zurückführt, so dass die bürgerliche Fa-

Das Schlüsselwerkder KritischenTheorie in seinerErstausgabe: Inden 1940er Jahrenerwuchs aus derintensiven Diskus-sion zwischenHorkheimer undAdorno im ameri-kanischen Exil diegemeinsameSchrift über dieDialektik der Auf-klärung. In einerTheorie der moder-nen Massenkulturwird die Aufklä-rung über sichselbst aufgeklärt.Das Buch erschien1947 bei Queridoin Amsterdam.

Eine Sonderausga-be von »Dialektikder Aufklärung –PhilosophischeFragmente« bringtder S. Fischer Ver-lag zum 100. Ge-burtstag von Ador-no heraus.

Stilleben mit »The Authoritarian Personality« – diese 1950 erschienene Veröffentli-chung beschäftigte sich mit den Vorurteilen autoritärer Charaktere. Das Foto ent-stammt Horkheimers privatem Fotoalbum. In den 1940er Jahren wurden unter derLeitung von Horkheimer mit finanzieller Unterstützung des American Jewish Com-mittee in den USA umfangreiche Studien zum vorurteilsvollen Verhalten erarbeitet.Die grundlegende Untersuchung zum autoritätsgebundenem Charakter entstand imZusammenwirken Adornos mit amerikanischen Psychologen und wurde 1950 beiHarper in New York veröffentlicht.

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milie paradoxerweise als »Keimzelle des kompromißlo-sen Willens«, einer vernünftigen Ich-Stärke, erscheint,bringt er die wachsenden Tendenzen der bloß strategi-schen Einstellung und der habituellen Kälte mit denAuflösungserscheinungen jenes Familientyps in Zusam-menhang.

Wird dieser Strang des Werkes weiter verfolgt, sozeigt sich, dass Adorno über ein komplexes Netz vonmoralpsychologischen Erklärungen verfügt, in dem zwi-schen bestimmten Weisen des zwischenmenschlichenUmgangs und psychischen Reaktionsmustern kausaleVerbindungen hergestellt werden. Heute trägt eine Be-schäftigung mit diesem Thema Adornos nicht nur dazubei, unseren herkömmlichen Moralbegriff phänomeno-logisch zu präzisieren; vielmehr leisten seine Betrach-tungen auch einen Beitrag zu der philosophisch hoch-aktuellen Fragestellung, welche Sozialisationsbedingun-gen wir unterstellen müssen, wenn wir von Subjektendie Orientierung an moralischen Prinzipien erwarten.

Vermarktlichung und Interaktions-zerfall – Adornos Soziologie des Kapitalismus

In vielen seiner soziologischen Schriften, nicht zuletztaber auch in der »Minima Moralia«, hat Adorno einenengen Zusammenhang hergestellt zwischen den Prozes-sen einer wachsenden Vermarktlichung und Tendenzeneines Zerfalls zwischenmenschlicher Interaktion; ja,vielleicht lässt sich von heute aus sogar der mikro-sozio-logisch geführte Nachweis als der eigentliche Kern sei-ner Gesellschaftstheorie bezeichnen, dass die Auswei-tungen des kapitalistischen Marktes in die bislang un-berührten Sphären des Privatlebens hinein den Subjek-ten Verhaltensweisen aufzwingt, die gegenüber den spe-zifischen Eigenschaften des Gegenübers indifferent ma-chen und daher stets eine Tendenz zur Missachtung desAnderen aufweisen.

Über die letzten dreißig Jahre hinweg galt diesesHerzstück der soziologischen Theorie Adornos eher alsein Relikt seiner marxistischen Orthodoxie; und in vie-len Passagen seiner zeitdiagnostischen Beobachtungenklingen die entsprechenden Sätze tatsächlich so, alswürde Adorno die Marx’sche These einer »reellen Sub-sumption« aller Lebensverhältnisse unter das Kapital

bloß auf die Gegenwart anwenden. Angesichts derjüngsten Entwicklungen aber, in der unter dem Diktatder ökonomischen Flexibilisierung tatsächlich vielezuvor sozialstaatlich eingehegte Sphären dem Steue-rungsprinzip des privatkapitalistischen Marktes unter-worfen waren, scheint dieser Zeitdiagnose Adornos eineneue Aktualität zuzukommen. Vor allem besticht an sei-nen Analysen heute, mit welcher geradezu phänome-nologischen Akribie es ihm gelingt, an Alltagsinteraktio-nen die schleichende Verwandlung von zweckfreienKommunikationen in bloß noch strategische Begegnun-gen aufzuzeigen. Vielleicht ist dieser Teil der SchriftenAdornos sogar derjenige, der in Zukunft die größte Auf-merksamkeit auf sich ziehen wird; denn noch sind ge-sellschaftstheoretische Ansätze nur spärlich vertreten, indenen auf vergleichbarem Niveau der kausale Zusam-menhang zwischen Vermarktlichung und Interaktions-zerfall analysiert wird.

Prof. Dr. Axel Honneth,54, hat 1996 die Nachfol-ge des 1994 emeritiertenJürgen Habermas am Insti-tut für Philosophie der Jo-hann Wolfgang Goethe-Universität angetreten.Honneth, der 1992 bis1996 politische Philoso-phie an der Freien Univer-sität Berlin lehrte, war zu-vor in den 1980er Jahren

Hochschulassistent bei Habermas an der Universität Frank-furt, wo er sich mit einer Studie mit dem Titel »Kampf undAnerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflik-te« habilitierte. Im Anschluss an diese Frankfurter Zeit warHonneth, der Philosophie, Soziologie und Germanistik in

Bonn, Bochum und Berlin studiert hatte, »Fellow« am Berli-ner Wissenschaftskolleg. Er lehrte in der Folgezeit in Kon-stanz, in Berlin und an der New School for Social Researchin New York. Nach seiner Berufung an die Universität Frank-furt hatte er im Sommersemester 1999 den Spinoza-Lehr-stuhl am Department of Philosphy der Amsterdamer Univer-sität inne. Im April 2001 übernahm Honneth zusätzlich dieLeitung des Instituts für Sozialforschung und löste damitLudwig von Friedeburg als geschäftsführenden Direktor ab.Von Honneth sind in den vergangenen Jahren folgendeBücher erschienen: Die zerrissene Welt des Sozialen (erwei-terte Neuausgabe 1999), Das Andere der Gerechtigkeit(2000), Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierungder Hegelschen Rechtsphilosophie (2001), Unsichtbarkeit.Stationen einer Theorie der Intersubjektivität (2003), Um-verteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophischeKontroverse (zusammen mit Nancy Fraser) (2003).

Der Autor

Adorno als Postwertzeichen: Diese Briefmarke, gestaltet von dem Offenbacher Grafi-ker Gerhard Lienemeyer, erscheint pünktlich zum 100.Geburtstag des FrankfurterPhilosophen. Lienemeyers Marke zeigt einen Ausschnitt aus einer Manuskriptseiteaus dem Theodor W. Adorno Archiv (Ts 17750) mit dem Foto von Ilse Mayer Gehr-ken. Dazu die Jury des Kunstbeirats, der sich mit 9 :3 Stimmen für diesen Entwurfentschied: »Der Siegerentwurf zeigt ein Foto Adornos manuskriptlesend bei der Ar-beit. Im Hintergrund wird ein korrigiertes Manuskript gezeigt, was die Arbeitsatmos-phäre hervorhebt. Durch die Korrekturen wird die permanente Selbstreflektion desTheoretikers deutlich.«

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Das theoretische Werk Theodor W.Adornos zieht weiterhin interna-tional reges Interesse auf sich; inden verschiedensten Ländern fin-den regelmäßig Veranstaltungenzu seinen ästhetischen und philo-sophischen Schriften statt, die De-batte um den französischen Post-strukturalismus hat noch einmalein neues Licht auf die vernunft-kritischen Elemente seiner Theoriegeworfen, und aus der musikphilo-sophischen Diskussion ist sein Na-me nicht mehr wegzudenken.Aber in der Rezeption des Werkeshat sich in den letzten Jahrzehnteneine Kluft aufgetan, die der pro-duktiven Aneignung und Fortset-zung seiner Intentionen heute imWege steht: Gelesen und debattiertwerden die Schriften Adornos inwachsendem Maße vornehmlichin den theoretischen Zirkeln, dievon ihrer Bedeutung ohnehinüberzeugt sind, während sich dieheute vorherrschenden Strömun-gen in der Soziologie, Ethik oderErkenntnistheorie von dem Anre-gungspotenzial seiner Theorie nurwenig beeindruckt zeigen – inner-halb der neueren Forschungslitera-tur in diesen Bereichen ist der Na-me Adornos selten zu finden. DieInternationale Adorno-Konferenz,die das Institut für Sozialforschungim Rahmen der Veranstaltungender Stadt Frankfurt aus Anlass des100. Geburtstags von Theodor W.Adorno vom 25. bis 27. Septemberausrichten wird, soll unter dem Ti-tel »Dialektik der Freiheit« der da-mit umrissenen Tendenz entgegen-wirken. Im Vordergrund der breit-gefächerten Vorträge und Diskus-sionen wird der Versuch stehen,den kritischen Gehalt seiner Schrif-ten für die aktuellen Diskussionenin der Philosophie, Soziologie undÄsthetik fruchtbar zu machen.

Die Konferenz wird am Nach-mittag des 25. September von demSozialphilosophen Prof. Dr. JürgenHabermas zum Thema »›Ich selbstbin ja ein Stück Natur‹ – Adornoüber die Naturverflochtenheit derVernunft. Überlegungen zum Ver-hältnis von Freiheit und Unverfüg-barkeit« eröffnet. Am Abend folgtein Vortrag von Prof. Dr. Jan-Phi-lipp Reemtsma über »Adorno unddie Literatur«. Am zweiten Abendder Konferenz wird zudem in Ko-operation mit dem HessischenRundfunk eine Sonderveranstal-tung stattfinden, auf der unter Ein-beziehung von Originaldokumen-ten aus Rundfunk und Fernsehenüber »Adorno und die Medien«diskutiert wird. Diesem prominen-ten ersten Teil der InternationalenTheodor W. Adorno-Konferenz2003 schließt sich vom 28. Sep-tember (Sonntag) bis 30. Septem-ber (Dienstag) ein zweiter Teil un-ter dem Thema »MusikalischeAnalyse und Kritische Theorie« an.(weitere Informationen zu diesemTeil vergleiche Seite 37).

Diese Ausrichtung der Konfe-renz macht es nötig, auch die orga-nisatorische Struktur ein wenig an-ders anzulegen, als es vor zwanzigJahren bei der letzten großenAdorno-Tagung an der UniversitätFrankfurt der Fall gewesen ist:Während damals im Wesentlichendie zentralen Komplexe der Theo-rie Adornos in Podiumsveranstal-tungen mit mehreren Spezialistendiskutiert wurden, sollen diesmalKernelemente seines vielschichti-gen Werkes in der Konfrontationzwischen zwei international re-nommierten Theoretikern oderTheoretikerinnen erörtert und pro-duktiv weitergedacht werden; dashat es nötig gemacht, weniger dieeigentlichen Kenner des Werkes

als vielmehr theoretisch avancierteVertreter der jeweiligen Spezialdis-ziplinen zur Teilnahme zu gewin-nen. Um der Komplexität derSchriften Adornos gerecht zu wer-den, sind überdies in zeitlicher Ver-setzung zu den Plenarveranstal-tungen eine Reihe von Workshopsgeplant, in denen im kleinerenKreis nach einem einleitendenVortrag über die Aktualität einzel-ner, auch randständiger Schriftendiskutiert wird.

Die Kombination dieser beidenVeranstaltungsformen soll sicher-stellen, dass auf der Konferenz dieganze Breite des Werks Adornoszur Sprache kommt. Dabei wid-men sich die sechs Plenarveranstal-tungen, die jeweils von zwei Vor-tragenden bestritten werden, den-jenigen Themen, die heute wohlals bleibendes Erbe seiner philoso-phischen, soziologischen undästhetischen Schriften gelten kön-nen: Auf die Frage hin, inwiefernseine Einsichten heute in die aktu-elle Forschung einfließen könnenund müssen, sollen hier der Reihenach seine Beiträge zur Moralphi-losophie, zur Ästhetik, zur Er-kenntnistheorie, zur Moralpsycho-logie, zur Phänomenologie der All-tagskultur und zur Gesellschafts-theorie diskutiert werden. In Er-gänzung zu diesen Plenarveran-staltungen werden in den Work-shops diejenigen Bücher Adornosauf ihren Aktualitätsgehalt hin ge-prüft, die in der breiteren Öffent-lichkeit die größten Spuren hinter-lassen haben; zusätzlich wurden indiesen Teil der Veranstaltung auchdie verstreuten Aufsätze aufge-nommen, die Adorno im Laufe sei-nes Lebens der Psychoanalyse ge-widmet hat.Nähere Informationen unter:www.ifs.uni-frankfurt.de

»Dialektik der Freiheit« – Internationale Theodor W. Adorno-Konferenz

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Chancen eines Jubiläums

Mit diesen fünf Themen sind nur die intellektuellen Fel-der umrissen, in denen sich heute am deutlichsten Indi-katoren für eine Wiederbelebung des Interesses anAdorno erkennen lassen. Vergleichbare Entwicklungenmag es gegenwärtig aber auch innerhalb der Kernberei-che der Philosophie geben, weil hier neuere Strömun-gen in Richtung eines moderaten Naturalismus weisen,wie ihn auch Adorno in seinem Freiheits- und Subjekti-vitätskonzept vertreten hat; und schließlich zeichnensich selbst innerhalb der Erkenntnistheorie heute Ten-

denzen ab, die insofern den epistemologischen Erwä-gungen Adornos nicht sehr fern stehen dürften, als sieauf eine Form des rationalistischen Realismus zulau-fen.

Der 100.Geburtstag Adornos sollte daher zum Anlassgenommen werden, sein Werk wieder verstärkt in denMainstream der Philosophie und Sozialwissenschafteneinfließen zu lassen; der Auftrieb, den die Rezeption sei-ner Schriften in der jüngsten Zeit erhalten hat, könntegenutzt werden, um auf undogmatische Weise den Ak-tualitätsgehalt seiner Theorie erneut unter Beweis zustellen. ◆

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Theodor W. Adorno war Ph i losoph, Soz io lo -ge , L i te ra tu rk r i t i ke r, Mus ik theore t ike r,Komponis t . A l le se ine Tät igke i t sbere icheaber durchdr ingen s ich in se inem Werk so ,dass es kaum mögl ich i s t , e ine r so lchenAufzäh lung e ine ve rb ind l iche Re ihenfo lgezu geben, und manch andere Zuschre ibungmag h inzut re ten . E inem akademischen Be-t r ieb , de r s ich in Resso r t s und Zuständ ig -ke i ten , in e ine funkt ion ie rende Arbe i t s te i -lung aufg l iedern l i eße , entspr icht AdornosWerk n icht . Se ine Transd isz ip l ina r i tä t e r -schwer t b is heute se ine Aneignung und läss timmer w ieder wesent l iche Erkenntn isse undImpulse se ines überaus mot i v re ichen Den-kens entg le i ten . Der Ste l lenwer t de r Mus ikim Werk Adornos jedoch – e twa d ie Hä l f teder Gesammel ten Schr i f ten bet r i f f t d ieKunst , davon vo r a l lem d ie Mus ik – leg t d ieVermutung nahe, dass d ie Mus ik den gehe i -men F luchtpunkt se ines Denkens b i lde t .

Adorno am Klavier, 1967: Adorno ist zeitlebens ein leidenschaftlicher Musiker ge-blieben. Seine pianistische Ausbildung erhält er in Wien bei Eduard Steuermann. Eswird berichtet, dass er sogar Lieder, sich selbst am Klavier begleitend, vortrug. SeinFlügel begleitet ihn in das amerikanische Exil wie ein Stück seiner europäischen Hei-mat und steht nach seiner Rückkehr in seiner Wohnung im Kettenhofweg, in unmit-telbarer Nähe zur Universität.

Adorno und die Musik: In der Brüchigkeit erscheint das Bild von Versöhnung

von Markus Fahlbusch

D e r » m u s i k a l i s c h e « A d o r n o

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Bereits in den 1920er Jahren entfaltet Adorno einüberaus reiches Schrifttum zur Musik, schreibtKritiken, Rezensionen, Aufsätze, offenbar lange

bevor er mit seiner Habilitationsschrift von 1932 »Kier-kegaard, Konstruktion des Ästhetischen« und seinerAntrittsvorlesung philosophisch hervortritt. Die Musikist die exemplarische Kunst seiner Philosophie desÄsthetischen bis hin zur späten, posthum erschienenenund unvollendet gebliebenen »Ästhetischen Theorie«.Musikalische und philosophische Schriften befruchtensich in Adornos Werk gegenseitig. Zur Musik kehrtAdorno in allen Phasen seines Lebens immer wiederzurück. Mit ihr verbindet ihn ein emphatisches Verhält-nis, zu ihr verfasst er maßgebliche und wirkungsmäch-tige Schriften.

»Verheißt alle Musik mit ihremersten Ton, was anders wäre ...«

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Intime Erinnerung als geschichtliche Erfahrung

Hartmut Scheible lässt seine intellektuelle BiografieAdornos mit der 1933 geschriebenen Skizze »Vierhän-dig, noch einmal« /1/ beginnen, in der Adorno davonberichtet, wie seine Mutter und Tante sich beim häusli-chen Musizieren die symphonische Literatur des 19. Jahr-hunderts auf dem Klavier aneignen – während das desLesens noch nicht mächtige Kind die Seiten umblättert.Das Vierhändigspielen wird Adorno in späteren Jahrenzu einer »Geste der Erinnerung« /2/ – dies aber nicht nurim persönlich-biografischen Sinne, sondern im Sinneder Erinnerung der Moderne an das Vergangene, dessenVerlust ebenso sehr schmerzt, wie das Neue mit ihm be-wusst bricht. Adorno deutet hier eine private, fast inti-me Erinnerung als eine geschichtliche Erfahrung, als in-trospektiv gefundenes Zeichen für objektive geistigeVorgänge.

Die Erfahrungen der Kindheit sind auch später nochQuelle für sein vorrangiges Interesse an der Musik des18. und 19. Jahrhunderts. Sie bilden den Hintergrundfür die geschichtsphilosophische Reflexion des 20. Jahr-

hunderts und Ausgangspunkt für seinen Kunstbegriff.Das musikalische Bildungsbürgertum, das Adorno in dieWiege gelegt ist und seine kulturelle Sozialisation mit-bestimmt, schließt neben dem häuslich geborgenen Kla-vierspiel freilich auch Konzertwesen, Oper, Kunstlied,Kammermusik sowie die Werke ein, die er bei seinemViolin- und Klavierunterricht studiert.

Die frühen musikalischen Eindrücke führen beiAdorno nicht nur zu einem Primat der Musik, sie sindauch verbunden mit einem Primat der Kindheit, wennes um das philosophische Motiv von Glücksverspre-chen, Erlösung und Wahrheit geht: So heißt es von sei-nem zeitlebens verehrten Kompositionslehrer AlbanBerg, dem er 1968 seine letzte größere musiktheoreti-sche Arbeit widmet: »Unter den Exponenten der neuenMusik hat er die ästhetische Kindheit, das goldene Buchder Musik, am wenigsten verdrängt.« /3/ Noch in der»Negativen Dialektik« werden im Schlussabschnitt»Meditationen zur Metaphysik« die Namen von Dör-fern im Odenwald (siehe Beitrag »Ein Sohn aus gutemHause« Seite 44) zu Chiffren transzendenten Glücksver-sprechens und zu Belegen für die »Möglichkeit meta-physischer Erfahrung«. Nicht zuletzt diese Kindheitser-lebnisse sind Hintergrund für Adornos Vorstellung, dassin jedem Kunstwerk eine »promesse du bonheur« ver-körpert sei.

Adorno begegnet in den 1920er Jahren der »neuenMusik«, vermittelt unter anderem von Hermann Scher-chen, der ab 1922 Leiter der Frankfurter Museumskon-zerte ist und das Frankfurter Musikleben fortschrittli-chen Tendenzen öffnet. 1924 wohnt Adorno der Auf-führung von Teilen der Oper »Wozzeck« Alban Bergsbei und lernt den Komponisten bei dieser Gelegenheitauch persönlich kennen. Die neue Musik ist nach demErsten Weltkrieg bereits in ihre zweite Entwicklungs-phase eingetreten. Besonders an ihr entfalten sich seinemusikkritischen und musikphilosophischen Interessen.Sein Denken geht immer von der künstlerischen Ge-genwart aus und sucht so den Begriff der Kunst zu ent-wickeln. Bis in die späte »Ästhetische Theorie« hineinlässt sich Adorno von dem erkenntnistheoretischen undmethodischen Prinzip leiten, dass nur von den jüngstenPhänomenen her Licht auf das Frühere falle.

Die neue Musik und die »Tendenz des Materials«

Das bedeutendste Zeugnis für seine geschichtsphiloso-phisch orientierte Betrachtung der Musik ist die 1949erschienene »Philosophie der neuen Musik«. Sie ist ge-dacht als Exkurs zur »Dialektik der Aufklärung«, die ih-rerseits zum zentralen Text der späteren KritischenTheorie geworden ist. Die von Marx und Hegel beein-flusste »Philosophie der neuen Musik» weist ArnoldSchönberg und seine Schule dem musikalischen Fort-schritt, Igor Strawinsky der musikalischen Restaurationzu. Durch die eigentümliche Konzeption einer »Ten-denz des Materials« sucht Adorno diese Zuordnung zubegründen. Er baut dabei auf Schönbergs Formel vonder »Emanzipation der Dissonanz« auf, die die Spreng-kraft der modernen Harmonik bezeichnen und legiti-mieren sollte. Unter dem »Material« versteht Adornoden Inbegriff der historisch überlieferten Mittel undFormen, denen ein Komponist objektiv gegenüberstehtund denen er sich daher nicht entziehen kann. Alle spe-

Adorno mit Mutter und Tante, um 1918vor dem Gartenpavillon des »HotelsPost« in Amorbach: Die beiden musika-lisch prägenden Frauengestalten seinerJugend nannte Adorno einmal seine»zwei Mütter«: Maria Wiesengrund (links),seine Mutter, und Agathe Calvelli-Adorno, seine Tante. In dieser von Musikgeprägten Welt spielte Adornos Vater,der Weinhändler Oscar Alexander Wie-sengrund, offensichtlich keine Rolle. Diefürsorgliche Geborgenheit seines Eltern-hauses fördert die kritische Haltung deshochbegabten Schülers gegenüber allenKollektiven der »Außenwelt«, führt aberauch zu einem unerschütterlichenSelbstbewusstsein und zu äußersten An-sprüchen an sich selbst.

Der Dirigent Hermann Scherchen (1891 –1966) wirkt in Frankfurt am Main von1922 bis 1924 als Leiter der Sinfonie-konzerte der Museums-Gesellschaft, ergründet den »A-capella-Chor 1923« undleitet im selben Jahr die FrankfurterKammermusikwoche »Neue Musik«. Be-sonders setzt er sich für die musikalischeAvantgarde ein: Er führt unter anderemHindemith, Strawinsky, Schönberg, Bergund Krenek auf und tritt auch publizis-tisch in der von ihm begründeten Halb-monatsschrift »Melos«, den »Musikblät-tern des Anbruch« und im FrankfurterSender hervor. Als Dirigent des Musik-kollegiums Winterthur, ab 1923, zeich-net er für zahlreiche Uraufführungenverantwortlich und wirkt an den Musik-festen der Internationalen Gesellschaftfür Neue Musik in Donaueschingen mit.Beim 54. Tonkünstlerfest des Allgemei-nen Deutschen Musikvereins 1924 inFrankfurt leitet er die Aufführung der»Drei Bruchstücke aus Wozzeck« von Al-ban Berg, der auch Adorno beiwohnt.

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zifischen Züge des Materials sind »Male des geschichtli-chen Prozesses«/4/. Daher setzt sich der Komponist zu-gleich immer auch mit der Gesellschaft auseinander:»Desselben Ursprungs wie der gesellschaftliche Prozessund stets wieder von dessen Spuren durchsetzt, ver-läuft, was bloße Selbstbewegung des Materials dünkt,im gleichen Sinne wie die reale Gesellschaft, noch wobeide nichts mehr voneinander wissen und sich gegen-seitig befehden. Daher ist die Auseinandersetzung desKomponisten mit dem Material die mit der Gesellschaft,gerade soweit diese ins Werk eingewandert ist und nichtals bloß Äußerliches, Heteronomes, als Konsument oderOpponent der Produktion gegenübersteht.« /5/

Der Begriff des Materials ist zu einem zentralen Be-griff in der Musikgeschichtsschreibung des 20. Jahrhun-derts geworden. Er kann seine gleichsam materialisti-sche Funktion nur dadurch einnehmen, dass Adornoihn gegen Ontologie einerseits und gegen eine subjek-tiv-instrumentelle Auffassung künstlerischer Technikandererseits abgrenzt. Das Ideal kompositorischer Sub-jektivität ist es zu verwirklichen, was das Material vonsich aus will, dem »Triebleben der Klänge« nachzu-spüren, statt verfügend über sie disponieren zu wollen.Der Komponist verwirklicht nur auf diese Weise eineFreiheit zum Objekt, die die Rationalität von Naturherr-schung abgelegt hat.

Rätselcharakter und Entfremdung

Zugleich aber bezeichnet Adorno die Entfremdung, indie die Werke des 20. Jahrhunderts geraten. Ihr Gehaltist verschlüsselt. Sie enthalten eine Botschaft, die ihreeigene Zeit niemals ganz entschleiern kann, für die dieWerke vielmehr einen unaufhebbaren »Rätselcharak-ter« behalten. Adorno weist der neuen Musik dabeieine unverhohlen religiöse Mission zu. »Die Schocksdes Unverständlichen, welche die künstlerische Technikim Zeitalter ihrer Unverständlichkeit austeilt, schlagenum. Sie erhellen die sinnlose Welt. Dem opfert sich dieneue Musik. Alle Dunkelheit und Schuld der Welt hatsie auf sich genommen.«/6/ Diese Musik scheut es nicht,unverstanden zu bleiben; sie scheut es nicht, ihrem ei-gentlichen Gehalt nach eine »ungehörte Musik« zusein. Sie wendet sich insgeheim nicht mehr an die eige-ne Zeit, sondern an eine unbestimmte, ferne Zukunft.»Sie ist die wahre Flaschenpost.» /6/ Letzten Sinnes istihre Entfremdung, ihre »Entstelltheit und Bedürftig-keit« nur von einem Standpunkt aus zu verstehen, derder geschichtlichen Zeit enthoben ist: dem »Standpunktder Erlösung«, von dem auch der berühmte Schluss-aphorismus der »Minima moralia« spricht. /7/

Die Beschäftigung mit Musik nimmt nicht nur inAdornos frühem Werk den breitesten Raum ein. Siedurchzieht sein gesamtes Werk: die grundlegendenBeiträge für die Zeitschrift für Sozialforschung, die Zu-sammenarbeit mit Hanns Eisler über Filmmusik, sein be-

Faksimile einer Partiturseite aus den sechs kurzen Orchester-stücken, opus 4: Die zwischen 1925 und 1929 entstandenenOrchesterstücke opus 4 stehen in der Tradition der luziden undexakten Instrumentation der Wiener Schule. Wie sehr Adornoauch sehr frühen eigenen Konzeptionen vertraut, beweist dieTatsache, dass der erste Entwurf des sechsten Stückes sogarauf das Jahr 1920 datiert. Die Stücke stellen eine Brücke darzwischen Frankfurt, wo Adorno bei Bernhard Sekles studiert,und der Wiener Zeit bei Alban Berg.

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Adorno (rechts) nimmt von 1950 bis 1966 insgesamt acht Malan den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik teil, die nachdem Krieg sehr rasch zu einem Zentrum der europäischenAvantgarde in der Musik werden. 1946 von Wolfgang Steinecke(links) inauguriert, bieten sie den exponiertesten Komponistenund Interpreten aus aller Welt ein Forum. Sie sind verbundenmit Namen wie Boulez, Stockhausen, Varèse, Messiaen, Leibo-witz, Cage und vielen anderen. Ebenso wie Rudolf Kolisch(Mitte), der als Primus des Kolisch-Quartetts maßgeblich fürdie Aufführungsideale der Wiener Schule eintritt und zahlrei-che Werke Schönbergs, Bergs und Weberns zur Uraufführungbringt, ist Adorno ein wichtiger Mittler zwischen der WienerModerne und der neuen Musik nach dem Krieg. »Die Philoso-phie der neuen Musik« wurde auch von Musikern stark rezi-piert. Adorno nimmt zu den Entwicklungen der 1950er und1960er Jahre teils kritisch Stellung, teils veranlassen sie ihnzu philosophischen Aufsätzen, die sich unter neuen Bedingun-gen der Aufgabe einer »orientation ésthetique« stellen.

ratender Einfluss auf Thomas Manns »Doktor Faustus«,seine kritischen und strittigen Stellungnahmen, etwa zuHindemith oder dem Jazz, die Teilnahme an den Darm-städter Ferienkursen für neue Musik und die darausentstandenen Arbeiten, insbesondere die vielbeachteteIdee einer »musique informelle«, die Auseinanderset-zung mit der Wiener Moderne und der Schule ArnoldSchönbergs, die Monographien über Wagner, Mahlerund Berg und das Fragment gebliebene Beethoven-Buch, die Vorlesungen zur Musiksoziologie, die zahlrei-chen Sammlungen, die unter musikalischen Titeln wie»Dissonanzen«, »Moments musicaux«, »Impromtus«,»Der getreue Korrepetitor« erscheinen.

Musik ist Philosophie

Bereits im ersten Heft der Zeitschrift für Sozialforschungschreibt Adorno den richtungsweisenden Aufsatz »Zurgesellschaftlichen Lage der Musik« /8/, durch den er zuHorkheimers Progamm einer umfassenden Erkenntnis

des gegenwärtigen Zeitalters beiträgt. Er enthält das ent-scheidende Motiv von Adornos zugleich soziologischer,philosophischer und musikologischer Betrachtung vonMusik: Musik ist nicht bloß immanent, kompositions-technisch zu behandeln und so der historischen Musik-wissenschaft und Musiktheorie zu überlassen, sondernin der musikalischen Struktur selbst sind gesellschaftli-che und philosophische Fragen aufzunehmen. Musik,wie jede andere Kunst, ist selbst Philosophie, eine Philo-sophie, die mit theoretischen Mitteln zu Bewusstseingebracht werden will. Jedes Kunstwerk ist eine »ge-schichtsphilosophische Sonnenuhr« /9/ und Ausdruckeines geschichtlich sich verändernden philosophischenSelbstbewusstseins. »Kunstwerke sind die bewusstloseGeschichtsschreibung des geschichtlichen Wesens undUnwesens. Ihre Sprache verstehen und sie als solcheGeschichtsschreibung lesen, ist das Gleiche. Der Wegdazu aber ist vorgezeichnet von der künstlerischenTechnik, der Logik des Gebildes, seinem Gelingen oderseiner Brüchigkeit.« /10/ In allen seinen Schriften zur

Thomas Manns Widmung in Adornos »Doktor Faustus«: »DemWirklichen Geheimen Rat in dankbarer Verbundenheit«. Mitdieser Titulierung bedankt sich Thomas Mann bei Adorno fürseine Mitarbeit an dem Musikerroman. Mann, der bekennt,dass ihm im Bereich der musikalischen Technik die notwendige»Studiertheit« abgehe, bittet Adorno um »charakterisierende,realisierende Exaktheiten, die dem Leser ein plausibles, jaüberzeugendes Bild geben«. Die Detailkenntnisse der musikali-schen »Geheimwissenschaft«, die ihm Adorno reichhaltig liefert,werden in den poetischen Kontext übertragen und verwandelt.

Adorno ist beratender Mitarbeiter Tho-mas Manns bei der Abfassung seinesKünstlerromans »Doktor Faustus«. DieBeethoven-Vorträge Wendell Kretschmars,die Entwürfe für Leverkühns Spätwerkund anderes, die Mann seinem Romaninkorporierte, gehen aus den Gesprächenmit Adorno hervor, der hierbei die glei-chen Erwägungen anstellt, die er »alsKomponist angestellt hätte«. In derberühmten Teufelsszene ist eine der Ver-wandlungen als Porträt Adornos lesbar,den Thomas Mann in seiner intellektuel-len Schärfe, seinem kulturellen Pessi-mismus, seinen Visionen zu einer poeti-schen Figur transformiert.

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Auch mit Igor Strawinsky (1882 – 1971)– hier 1931 als Dirigent des Orchestersder Berliner Funkstunde – befasst sichAdorno in einem speziellen Teil seiner»Philosophie der neuen Musik«. Er insis-tiert darauf, dass dieser ebenso sorgfäl-tig gelesen werde wie der über Schön-berg. Die Analyse der Musik Strawinskysist ein wichtiges Zeugnis der RezeptionSigmund Freuds, dessen Theorien Ador-no bis hin zu einer »Psychose in derKunst« fruchtbar zu machen sucht. Vonseiner Kritik nimmt er unter anderem die»Histoire du soldat« aus, ein Werk, mitdem sich Adorno bereits in den 1920erJahren beschäftigt.

Thomas Mann und Adorno nehmen in der Ent-stehungsphase des Musikerromans »Doktor Faustus«einen intensiven Briefwechsel auf. Mann hatte Ador-nos Abhandlung »Schönberg und der Fortschritt« imManuskript gelesen und wendet sich im Dezember1945 an den in Kalifornien in unmittelbarer Nähe le-benden Adorno mit der Bitte, ihn in Fragen der musi-kalisch-technischen Details zu beraten. Das Span-nungsfeld von Moderne und Tradition, in dem Ador-nos Musikphilosophie steht, kommt Manns Intentio-nen entgegen. Er nimmt von Adorno den »Begriff vonmodernster Musik« auf, dessen er für die Darstellungder »Situation der Kunst« bedarf. Er stellt ihm seineArbeitsweise der »Montage« vor, die es ihm erlaubt,Adornos schriftliche Entwürfe und gesprächsweiseMitgeteiltes ihrer Substanz nach fast unverändert zuübernehmen.Der Briefwechsel, der bis zu Manns Tod 1955 reicht, istgeprägt von Anteilnahme und Interesse an den Arbei-ten des jeweils anderen und von großem persönlichenRespekt. Beide berichten von dem Fortgang der eige-nen Arbeiten, ihren Plänen, treten in die Diskussionvon Fragen der Kunst und der politischen Entwicklun-gen ein – bis hin zur Frage der Rückkehr aus der Emi-gration. Auch die persönlichen Verhältnisse kommenimmer wieder vertrauensvoll zur Sprache.

Die Ausgabe ist informativ annotiert sowie mit einemNachwort der Herausgeber und einem Register verse-hen. Christoph Gödde vom Theodor W Adorno-Archivin Frankfurt edierte zusammen mit Henri Lonitz dieBriefe Walter Benjamins, den Briefwechsel Adornosmit Horkheimerund mit AlfredSohn-Rethel underhält zusammenmit Henri Lonitzfür seine archiva-rische Arbeit2003 den KarlJaspers Förder-preis der StiftungNiedersachsen.Thomas Sprecherist Mitarbeiteram ThomasMann-Archiv inZürich unddurch Heraus-gebertätigkeit zuThomas Mannund Karl Schmidhervorgetreten.

Briefwechsel rund um »Doktor Faustus«

Arnold Schönberg (1874 –1951) ist einer der wichtigsten Ex-ponenten der musikalischen Moderne vor dem Ersten Welt-krieg. Vom Expressionismus dieser Zeit bleibt er auch spätergeprägt. Anfang der 1920er Jahre entwickelt er die »Komposi-tion mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen«, die die Mu-sik des zwanzigsten Jahrhunderts nachhaltig beeinflusst.Adorno begegnet in ihm der führenden charismatischen Per-sönlichkeit der Wiener Schule, zu der er mit seiner Übersied-lung nach Wien 1925 hinzustößt. Schönberg wacht misstrau-isch über die Originalität seiner Ideen, kompositorisch beson-ders gegenüber Webern, in der Deutungshoheit unter anderemgegenüber Adorno. Von seinem Berliner Lehrstuhl vertrieben,emigriert Schönberg 1933 über Paris, wo er ein Bekenntniszum Judentum ablegt, in die USA, um als Sechzigjähriger einneues Leben zu beginnen. Nach Deutschland wird er bis zuseinem Tode 1951 nicht mehr zurückkehren.

Der Komponist Alban Berg (1885 –1935), um 1930 (oben): Adorno studier-te, nach dem Abschluss seiner Disserta-tion, ab 1925 bei Berg Komposition. Erbleibt ihm kompositorisch stark ver-pflichtet. Bereits 1937, zwei Jahre nachBergs Tod, beteiligt er sich mit Werkana-lysen an der Berg-Monographie WilliReichs. Von der Kritik an der Zwölfton-technik und ihren technischen Aporiennimmt er Berg bis zu einem gewissenGrade aus, als habe er Scheu, den Leh-rer einem zu scharfen intellektuellen Zu-griff auszusetzen.

Theodor W. Adorno / Thomas Mann,Briefwechsel1943 – 1955, her-ausgegeben vonChristoph Göddeund Thomas Spre-cher, Fischer Taschenbuch Ver-lag, Frankfurt,2003, ISBN 3-596-15839-7,192 Seiten, 9,90 Euro.

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Kunst, zu einzelnen Werken, Werkgruppen und demŒuvre einzelner Komponisten hat Adorno diesen An-satz in konkreten Deutungen zu verwirklichen gesucht.

Gerade in einem Bereich, in dem man meinen könn-te, das Kunstwerk für sich selbst zu betrachten: derTechnik, in den Begriffen seiner fachwissenschaftlichgefassten Analyse, gewahrt Adorno seine konstitutivenBeziehungen zu dem, was nicht mehr seinerseits Kunst

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In Zusammenarbeit mit dem Insti-tut für Sozialforschung, der StadtFrankfurt am Main und der Bürger-stiftung Frankfurt veranstaltet dasMusikwissenschaftliche Institutzum 100. Geburtstag Theodor W.Adornos vom 28. bis 30. Septemberim Frankfurter Holzhausen-Schlöss-chen eine Konferenz, zu der nam-hafte Wissenschaftler aus dem In-und Ausland gewonnen werdenkonnten. Sie trägt den Titel »Musi-kalische Analyse und KritischeTheorie«. Mit der Frage nach demStellenwert der musikalischen Ana-lyse in der Musikästhetik Adornosist ein zentraler Aspekt ihrer Inter-pretation in den Mittelpunkt derdreitägigen Konferenz gestellt. Dadie enge Beziehung von musikali-scher Erfahrung und philosophi-schem sowie soziologischem Den-ken bei Adorno etablierte Fach-grenzen in Frage stellt, ist das Sym-posion interdisziplinär angelegt undbezieht Philosophie, Soziologie undMusikwissenschaft mit ein.Aufgabe der Konferenz soll eine

möglichst breit angelegte Vergegen-wärtigung der Mittel sein, die Ador-no anwendet, um die Phänomena-lität von Kunstwerken methodischeinsichtig zu erschließen, ästheti-sche Kategorien aus technischenhervorgehen zu lassen, philosophi-sche und soziologische Perspekti-ven und Motive in der Sache selbstzu verankern. Vorgesehen sind da-her zwei sich ergänzende Herange-hensweisen: Zum einen die Fragedes Verhältnisses von musikalischerAnalyse und philosophischem Be-griff, zum anderen Genese und Ge-schichte von Adornos analytischenVerfahren, die sein musikästheti-sches Werk durchziehen.

Die Konferenz wird in Zusam-menarbeit mit der Stadt Frankfurtergänzt durch ein Rahmenpro-gramm »Der Komponist Adorno«mit Konzerten am 26., 28. und29. September, jeweils 20 Uhr, imFrankfurter Goethe-Museum,Großer Hirschgraben 23–25. Weitere Informationen:www.uni-frankfurt.de/fb09/muwi/

»Musikalische Analyse und Kritische Theorie« –Beitrag des Musikwissenschaftlichen Institutszur Internationalen Adorno-Konferenz

ist. Hier sucht er ihrem Weltgehalt auf die Spur zu kom-men; das heißt den Momenten von gesellschaftlicherRealität, der die Kunstwerke den Spiegel vorhalten.Hier sucht er aber auch ihres Wahrheitsgehalts inne zuwerden: die Kunstwerke im Lichte von Erlösung zu be-trachten, indem er sie als »Spiegelschrift ihres Gegen-teils« /7/ liest.

»Dechiffrierung« nur im Dialog der Disziplinen

Für die Musikwissenschaft stellen diese Ansätze bisheute eine Herausforderung und teilweise auch eineÜberforderung dar. Die Rezeption Adornos wurde nichtnur durch seinen essayistischen und aphoristischen Stilund die außerordentliche Sprachkunst seiner Texte er-schwert sowie durch die Schwierigkeit, einen bündig re-ferierbaren Lehrgehalt aufzunehmen, sondern auchdurch die Einbeziehung von Soziologie und philosophi-scher Logik, die die Musikwissenschaft gern den ent-sprechenden Nachbardisziplinen überlassen hätte. DieÜbersetzungsleistung, die »Dechiffrierung«, die einePhilosophie der Musik konkret erbringen soll, kannaber nur gelingen, wenn es zu den Bereichen, die jen-seits der Werke liegen und auf die sie sich beziehen,einen zweiten, theoretischen Zugang gibt und die dahervon Anbeginn auf soziologische und philosophischePerspektiven nicht verzichten kann.

In seinem Ansatz einer Musikphilosophie, die ihregeschichtlichen und metaphysischen Deutungen ausder kompositorischen Technik gewinnen will, gehtAdorno von dem musikgeschichtlich erreichten Standder autonomen Musik aus, die sich von funktionalenZwecken in Kirche und Gesellschaft und von der Vokal-musik, deren Texte die Bedeutungsstruktur ihrer Verto-nung entscheidend bestimmen, gelöst hat. Die so ge-nannte »absolute« Musik des 19. Jahrhunderts, ihreSymphonik und Kammermusik, bildete das Paradigmavon Adornos Verständnis musikalischer Struktur. Ergreift daher die musikalische Formenlehre und Form-theorie kritisch auf, die bereits das 19. Jahrhundert ent-wickelte und in der es mit der Vorstellung vom Kunst-werk als einer in sich abgeschlossenen und keinesÄußeren bedürftigen Welt werkanalytisch ernst machte,und transformiert gerade diesen »Formalismus« zueinem Auskunftsmittel für das, was über die Werke undüber »das, was in ihnen der Fall ist«, hinausweist. Die-ser Ansatz wirkt auch in den Typus der Materialanalysehinein, den insbesondere die »Philosophie der neuenMusik« repräsentiert, und in Adornos Wahrnehmungund Deutung von Phänomenen des musikalischen Aus-drucks, wie er sie unter anderem in der Monographie»Mahler – Eine musikalische Physiognomik« entfaltet.

Der Formbegriff ist es insbesondere, durch den Ador-no den Bogen vom musikalischen Denken zum philoso-phischen Denken schlägt. Er vergleicht das autonomeWerk seiner formalen Struktur nach mit dem philosophi-schen System. Die Parallelisierung von Beethoven undHegel, die sich bei Adorno an vielen Stellen findet, istvon diesem Gedanken geleitet. Adorno fragt daher auchin der Musik nach der Grenze der Immanenz des Den-kens, nach Möglichkeit und Scheitern eines in sich ge-schlossenen Denkzusammenhangs, nach dem Charakteridentifizierenden Denkens. Indem Adorno in der Kunstein Bild des Nichtseienden erblickt und sucht, die Zei-

Die »Philosophieder neuen Musik«ist zu einem klas-sischen Text derMusikästhetik undMusikgeschichts-schreibung deszwanzigsten Jahr-hunderts gewor-den. Sie erscheint1949 in Tübingenund erreicht bis zuAdornos Tod zweiweitere Auflagen.Neben dem Buchüber Mahler von1960, das in diemusikwissen-schaftliche Würdi-gung Mahlersstark eingreift unddie Wiederauf-führungen seinerSinfonien mit her-vorruft, zählt es zuden bedeutends-ten Texten Ador-nos zur Musik.

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ihrem Leid und ihrer Brüchigkeit das Bild von Versöh-nung festzuhalten.

Die Frage nach Adornos Verhältnis zur Musik, kann,wie es hier fragmentarisch versucht wird, nicht erörtertwerden, ohne sich auf grundlegende kunsttheoretischeMotive zu beziehen. Dem Denken Adornos wird nichtgerecht, wer seine musikalischen Schriften bloß einzel-wissenschaftlich liest und ihn nur als Musikwissen-schaftler rezipiert, obgleich ihm gerade auch auf diesemFeld wesentliche Einsichten zu verdanken sind. Ador-nos Schriften zeugen davon, wie außerordentlich inten-siv er sich lesend und musizierend mit Partituren aus-einandersetzt. Diese Intensität lässt ihn auch ganz un-scheinbare Einzelheiten und Momente entdecken, andenen sich die Deutung entzündet.

Seine Monographie über Alban Berg beispielsweiseenthält ein Konzept, um nicht zu sagen eine Vision vonmusikalischer Analyse, hinter deren Anspruch ihre zahl-reichen Einzelanalysen zwar, wie Adorno selbst gesteht,teilweise zurückbleiben, die aber gerade darum einenwertvollen Anstoß darstellt. Durch seine zahlreichenArbeiten zur zeitgenössischen Musik begründet Adornodas Interesse der Musikwissenschaft an der Moderneentscheidend mit, während die traditionelle Disziplinsich rein historisch, vergangenheitswissenschaftlich ver-standen hatte. Er trägt zur Orientierung an der Kompo-sitionsgeschichte als einer Geschichte musikalischerStrukturen bei und bietet ein Vorbild für die Verbindungvon Ästhetik und Analyse. Die Kategorien einer »mate-rialen Formenlehre« in seinem Buch über Mahler, wie»Durchbruch«, »Suspension«, »Erfüllung«, durch dieAdorno die Defizite einer an starren Modellen orientier-ten musikalischen Formenlehre zu überwinden sucht,sind noch immer nicht ausgeschöpft. Seine Wagnerkri-tik bildet ein bleibendes Paradigma der Verbindung »mi-krologischer« Partituranalyse mit Perspektiven einer his-torischen Gesellschaftstheorie. Zu wünschen ist seinemüberaus umfangreichen Schrifttum zur Musik, dass esin interdisziplinärer Zusammenarbeit in seinen Vernet-zungen erneut zum Gegenstand gemacht wird unddabei weder seine musikologische Subtilität, noch seinephilosophische und soziologische Theoriebildung ge-scheut werden. ◆

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chen ihrer Zerrüttung, ihr Scheitern, ihre Wunde freilegt,wird ihm die Kunst zum Anwalt des Nichtidentischen.»Dadurch dass die Kunst ihrer eigenen Identität mit sichfolgt, macht sie dem Nichtidentischen sich gleich: das istdie gegenwärtige Stufe ihres mimetischen Wesens.« /11/

Die Ausdrucksqualitäten von Kunst und gerade auchder Musik gehen einerseits hervor aus der Abbildungeiner als schmerzlich und unversöhnt erfahrenen gesell-schaftlichen Realität, sie sind »Bewusstsein von Nöten«.Gleichzeitig aber liegt in der Kunst die Sehnsucht nachder Aufhebung dieser »Nöte«, die in der Kunst nur zumAusdruck gebracht, nicht aber beseitigt werden können.Selbst gesellschaftlich ohnmächtig, drückt Kunst daherauch die Sehnsucht nach der Aufhebung von Kunstaus: die Sehnsucht danach, nicht mehr nötig zu sein.Kunstwerke bescheiden sich nicht in bloßer Wiederga-be, als hätten sie darin ihren Frieden, sondern suchen in

/1/ HartmutScheible: TheodorW. Adorno. MitSelbstzeugnissenund Bilddokumen-ten. Reinbek beiHamburg, 1989,S. 8. Vgl. Gesam-melte Schriften 17, S. 303 ff.

/2/ GesammelteSchriften 17, S. 305.

/3/ GesammelteSchriften 13, S.334.

/4/ GesammelteSchriften 12, S. 38.

/5/ GesammelteSchriften 12, S.39 f.

/6/ GesammelteSchriften 12, S. 126.

/7/ GesammelteSchriften 4, S. 283.

/8/ GesammelteSchriften 18, S. 729 ff.

/9/ GesammelteSchriften 11, S. 60.

/10/ GesammelteSchriften 13, S.506.

/11/ GesammelteSchriften 7, S. 202.

Anmerkungen

/1/ HartmutScheible: TheodorW. Adorno. MitSelbstzeugnissenund Bilddokumen-ten. Reinbek beiHamburg, 1989,S. 8. Vgl. Gesam-melte Schriften 17, S. 303 ff.

/2/ GesammelteSchriften 17, S.

Dr. Markus Fahlbusch, 39, ist seit2002 wissenschaftlicher Assis-tent am MusikwissenschaftlichenInstitut der Universität Frankfurt.Er erhielt eine praktisch-musikali-sche Ausbildung an der Hoch-schule für Musik und DarstellendeKunst Frankfurt und studierte von1988 bis1994 Philosophie, Sozio-logie und Musikwissenschaft inFrankfurt. Seine Magisterarbeit

beschäftigte sich mit der Ästhetischen Theorie Adornos,seine Dissertation galt dem II. Streichquartett ArnoldSchönbergs sowie dem Konzept des musikalischen Gedan-kens und seiner Darstellung. Seine Forschungstätigkeit be-trifft die Wiener Moderne, Musikästhetik und Musikge-schichte des 20. Jahrhunderts, den Zusammenhang vonÄsthetik und Analyse, die Geschichte musikalischer Struk-turen, das systematische Verhältnis von Musik und Sprache.Er arbeitet interdisziplinär und sucht das »Aufeinander-verwiesensein« von Musik und Philosophie, für die das WerkAdornos in besonderem Maße einsteht, weiterzuverfolgen.

Der Autor

Adorno in seinem Musikzimmer in derYale Street, Santa Monica, im Frühjahr1949: Die Jahre in Kalifornien sind imLeben Adornos besonders fruchtbar.Hier entstehen die »Dialektik der Auf-klärung« (zusammen mit Max Horkhei-mer), die »Philosophie der neuen Mu-sik« und die »Minima moralia«, Werke,die nach Adornos Rückkehr aus dem Exilsein Ansehen begründen. Es schärft sichdie Vorstellung von künstlerischer Praxisals Widerstand gegen Kulturindustrie.Immer mehr gewinnt der Begriff der Mi-mesis an Bedeutung, dessen Erfah-rungsquellen bei Adorno in der Kunstund im Musizieren liegen.

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1930 war dies »das Annachen«, dasmehr als zwanzig Jahre für die Fa-milie arbeitete und mit dem Adornoüber Jahrzehnte in Verbindungblieb.

Geboren wurde Theodor LudwigWiesengrund am 11.September1903, morgens um halb sechs, imHaus »Schöne Aussicht« Nr. 9 amMain. Von dem stattlichen Gebäudesteht heute kein Stein mehr – 1944wurde es bei einem Luftangriff demErdboden gleich gemacht. Als Ador-no sich 1949, aus der Emigrationzurückgekehrt, im »Viertel um dieAussicht«, dem »Quartier meinerKindheit«, umsah, fand er »[a]n-stelle von Nummer 9 das absoluteNichts« vor. /1/ Der standesamtli-chen Eintragung vom 14.September1903 /2/ ist zu entnehmen, dassAdornos Vater Oscar Wiesengrund»israelitischer Religion« war, alsokeineswegs »bei der Geburt desSohnes bereits zum Christentumübergetreten«. /3/ Adorno wurde am4.Oktober 1903 durch DomkaplanFranz Perabo katholisch getauft.Taufpaten sind im Taufbuch /4/ nichteingetragen, die beiden Vornamenverweisen jedoch auf den Großva-ter väterlicherseits und den Onkelmütterlicherseits, Theodor Wiesen-grund und Louis Calvelli-Adorno.Für die kürzlich erneut kolportierte

Legende, Adornos Mutter MariaCalvelli-Adorno habe darauf be-standen, dass ihr Sohn unter demNamen Wiesengrund-Adorno»registriert wurde« /5/, gibt es kei-nen Beleg.

Beneidet um sein»herrliches äußeres Dasein«

Sein Vater Oscar Wiesengrund(1870 –1946), ein gebürtiger Frank-furter – schon dessen Eltern lebtenin der Stadt am Main /6/–, hatte esals Inhaber einer Weingroßhand-lung mit Sitz an der »Schönen Aus-sicht« Nr. 7 zu einigem Wohlstandgebracht und konnte der Familieein materiell sorgenfreies Leben bie-ten. Um sein »herrliches äußeres Da-sein« /7/ wurde »Teddie« nicht nurvon dem mit ihm seit der Gymnasial-zeit befreundeten Journalisten undFilmtheoretiker Siegfried Kracauer(1889 –1966) beneidet. AdornosMutter Maria Calvelli-Adorno(1864 – 1952) kam im heutigenFrankfurter Stadtteil Bockenheimzur Welt und war, wie ihre Schwes-ter Agathe (1868 –1935), eine aus-gebildete Sängerin. In der zweitenHälfte der 1880er Jahre hatte sieEngagements am Hof-Operntheaterin Wien, wo sie unter anderem denHirtenknaben in Richard Wagners»Tannhäuser« sang, und an den

Ein Sohn aus gutem HauseTheodor W. Adornos Kindheit in Frankfurt

»Teddie« mit seiner Mutter Maria Wie-sengrund (links) und seiner Tante Aga-the Calvelli-Adorno, um 1915/16. Ador-nos »zwei Mütter«, Töchter eines mittel-losen Fechtlehrers, waren keineswegs»Enkelin[nen] alten italienischen Adels«(Max Horkheimer) – ihre Großeltern vä-terlicherseits lebten vielmehr als einfa-che Bauern und Analphabeten auf Korsi-ka. Die Frage, ob in seinen Adern nichtvielleicht doch blaues Blut fließe, be-schäftigte Adorno sein Leben lang.

Adorno als Schüler, um 1910.

Theodor Wiesengrund-Adornowar ein Nesthocker. Noch mit

Ende Zwanzig, nach seiner Habilita-tion, zu der ihm der Vater einenneuen Bechstein-Flügel schenkte,wohnte »Teddie« – wie er seit seinerfrühen Kindheit genannt wurde –bei seinen Eltern. Unter einem Dachmit ihm, Maria und Oscar Wiesen-grund lebten außerdem: AgatheCalvelli-Adorno, eine unverheirate-te Schwester der Mutter, derenHund und ein Dienstmädchen – bis

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Tochter von Adornos Cousin Franz,die Auguste Adorno noch persön-lich kannte, in ihren unveröffent-lichten Lebenserinnerungen. In derTat: die Verwandtschaft Maria Wie-sengrunds und ihrer SchwesterAgathe mit dem Genueser Adelsge-schlecht Adorno, auf die sie beidesich so viel einbildeten – und »Ted-die« nicht minder –, ist allem An-schein nach frei erfunden.

Über Adornos frühe Kindheit ander »Schönen Aussicht«, derenGeräuschkulisse zeitweise das Sä-gen, Bohren und Hämmern derMöbelfabrik Schneider & Hanau imHinterhaus der Nr. 9 bildete, ist bis-her nur wenig bekannt. Zu seinenSpielgefährten gehörten die»Kömpfbuben«, Söhne einesSchreinermeisters und Kistenbauersaus der benachbarten Mainstraße,die dem Muttersöhnchen – »Mama-

kindchen«, wie man auf hessischsagt /12/ – so manchen Streich spiel-ten. /13/

Schwerer tat »Teddie« sichmit der Mathematik

Von der »Schönen Aussicht« austrat »Teddie« am Morgen des4. April 1910 seinen ersten Schul-weg an, der ihn in ein paar Minutenvom Elternhaus über die heutigeIgnatz-Bubis-Brücke auf die andere

Stadt-Theatern in Köln und Riga.Agathe Calvelli-Adorno hingegenblieb eine Karriere als Opernsänge-rin wegen ihrer Kleinwüchsigkeitversagt.

Maria Wiesengrund und AgatheCalvelli-Adorno machten »Teddie«von Kindesbeinen an nicht nur mitklassischer Musik vertraut, sondernauch mit vielen heute vergessenenpopulären Liedern, die er beispiels-weise in seinen »Minima Moralia«(1951) zitiert oder auf die er darinanspielt: so etwa »Das Kanapee«(»Die Seele schwinget sich wohl indie Höh’ juchhe, /der Leib, der blei-bet auf dem Kanapee« /8/), »Immerlangsam voran« /9/ oder »der schön-ste Platz, den ich auf Erden hab, dasist die Rasenbank am Eltern-grab«. /10/ Mit seinen »zwei Müt-tern« spielte er als Kind sehr gerneKarten, vor allem das »Komponis-ten-Quartettspiel«, das er »beson-ders liebte«/11/, und besuchte schonfrüh Klavierabende und Opernauf-führungen.

Wenn er mit »der Dädd« – wie erseine über alles geliebte Tante Agathe

nannte – ins Konzert ging, konntees passieren, dass sich ihre Wege mitdenen einer Dame gleichen Nach-namens kreuzten: Auguste Adorno,Opern- und Konzertsängerin undLeiterin einer Frankfurter Gesang-schule. Auguste Adorno soll sich»schon in jungen Jahren über Ver-wechslungen« mit den anderenAdornos »geärgert« haben – »dasseien keine richtigen Adornos, sagtesie«, so Elisabeth Reinhuber, eine

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Die Deutschherren-Mittelschule am Mainufer, die Adorno von 1910 bis 1913 besuchte.

»Teddie« um 1910, vermutlichfür eine (private?) Theaterauf-führung kostümiert. AdornosLust am Verkleiden und Schau-spielern wird auch von demNachbarsjungen Wilhelm Reut-linger (1907–1991) bezeugt,der im Haus »Schöne Aus-sicht« Nr. 12 wohnte. Er konn-te sich erinnern, dass ihm ein-mal an Fastnacht »unter denvielen maskierten Kindern aufder Straße […] ein besondersinteressanter Bub mit einemsehr fremdartigen Kostüm«auffiel. »Auf die Frage, wasdiese Kleidung denn zu bedeu-ten habe, antwortete er sehrtheatralisch: ›Ich bin ein Spa-nier aus dem Mittelalter!‹ Die-ser Bub war niemand andersals der später unter dem Na-men Adorno berühmt geworde-ne Theodor Wiesengrund!«

Der Fluss kenne seinen Weg, jeder Tropfen finde ins Meer, heißtes in dem unveröffentlichten Theaterstück »Kimiko. SiebenBilder für die Bühne« (1922) des knapp 19-jährigen TheodorWiesengrund-Adorno (Manuskript im Theodor W. Adorno ArchivFrankfurt a.M.; es handelt sich um die Dramatisierung einerNovelle von Lafcadio Hearn). Blick auf den Frankfurter Domund die »Schöne Aussicht« (rechte Bildhälfte) am Main, um1903. An dieser Uferpromenade, im Haus Nr. 9, verbrachteAdorno die ersten elf Jahre seines Lebens, im Haus Nr. 7 hattedie Weingroßhandlung seines Vaters ihren Sitz. Neben der Fir-ma Wiesengrund gab es an der »Schönen Aussicht« bis ins ers-te Drittel des 20. Jahrhunderts noch andere Weinhandlungen,die in ihren riesigen Kellern lange Reihen von Fässern lagerten.

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Die Handschriftdes Sechzehn-jährigen: Aus-schnitt aus einembislang unbekann-ten Brief Adornosan seinen CousinFranz Calvelli-Adorno vom 28.April 1920 mit derErwähnung einesgemeinsam mitdem Vater unter-nommenen Spa-ziergangs durchdie FrankfurterAltstadt (Erstver-öffentlichung).Adorno-Briefe ausden Jahren vor1921 sind außer-ordentlich selten.

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Seite des Mains zur Deutschherren-Mittelschule führte, heute Bergius-Berufsschule, Deutschherrnufer Nr.17. An der Mittelschule, einer»Pflanzstätte bürgerlicher Tüchtig-keit, vaterländischer Gesinnungund wahrhafter Religiosität« /14/

verbrachte Adorno drei Jahre, bis erOstern 1913 an das »KöniglicheSachsenhäuser Gymnasium i(n)E(ntstehung)», ab 1917 Kaiser Wil-helms-Gymnasium, überwechselte.Das K.W.G., heute Freiherr-vom-Stein-Gymnasium, dessen Original-

gebäude nicht mehr existiert, warein Reformgymnasium mit Franzö-sisch als erster Fremdsprache, andem Adorno vor allem in denFächern Deutsch, Musik und Erd-kunde glänzte. Schwerer tat er sichmit der Mathematik und soll, wie erJahrzehnte später in einer Vorle-sung erzählte, »einmal« seinen Leh-rer im Geometrieunterricht durcheine »philosophische« Bemerkung»in maßloses Entsetzen […] ge-bracht« haben; der Studienrat habeihn als »ganz töricht und mathema-tikfremd angeschaut«. Dass amK.W.G. ein Klima »der Toleranz und

Die Schimpansin „Basso“, eine derHauptattraktionen des Frankfurter Zoos,um 1914. Adorno in seiner »ÄsthetischenTheorie« (1970, postum): »[…] nichts soausdrucksvoll wie die Augen von […]Menschenaffen […], die objektiv darüberzu trauern scheinen, daß sie keine Men-schen sind«. Im überaus turbulenten Jahr1969 gab es jeden Samstag eine Stunde,in der nicht einmal befreundete Professo-ren-Kollegen Adorno zu stören wagten:dann schauten seine Frau Gretel und ersich regelmäßig Ivan Tors’ »Daktari« an,eine vom ZDF ausgestrahlte Serie mit dergezähmten Schimpansin »Judy« und demschielenden Löwen »Clarence«. Für dres-sierte Affen interessierte sich »Teddie«bereits als Kind, als er mit seinen Elternsonntags in den Zoo ging und der Schim-pansin »Basso« bei ihren Kunststück-chen zuschaute. »Sie fährt Rad in einerWeise, die einem Kunstradfahrer Konkur-renz machen könnte, geht mit ausge-spanntem Schirm über ein Seil, kurz siegehorcht jedem leisesten Wink, den ihrder Wärter gibt.« (Zoologischer Beobach-ter, 1913). Zur Erheiterung ihrer Familieerlaubte sich Adornos Mutter gelegent-lich den Spaß, »de Aff zu machen«, ei-nen »Menschenaffen im Zoo mit allenBewegungen von Händen und Füßen« zuimitieren (Franz Calvelli-Adorno).

Das Kaiser Wil-helms-Gymnasiumin Frankfurt-Sach-senhausen, dasAdorno von 1913bis 1921 besuch-te.

Adornos ElternMaria und OscarWiesengrund vorihrer Vertreibungdurch die Nazis.1939 emigriertensie über Kuba indie USA.

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Liberalität« herrschte und die (an-geblich) »relativ vielen jüdischenMitschüler […] ganz selbstverständ-lich wie alle anderen behandeltwurden« /15/ – wie Adornos dreiJahre jüngerer Mitschüler KarlHolzamer, später NS-Rundfunk-kommentator und ZDF-Gründungs-intendant, behauptet –, darf bezwei-felt werden. Adorno »figurierte« inseiner Klasse »trotz [s]einer Teil-nahme am protestantischen Religi-onsunterricht […] als der Jude«und hat von zwei Jungen berichtet,»die sich antisemitisch verhielten,der eine offen, der andereversteckt« /16/.

Noch als Hoch-schullehrer Dauer-gast im Hotel Ma-ma: GedruckterBriefkopf Adornos,1933 (Ausschnittaus einem bislangunbekanntenSchreiben an sei-nen Cousin FranzCalvelli-Adorno).

/1/ Theodor W.Adorno: Briefe andie Eltern 1939-1951. Im Auftragdes Theodor W.Adorno Archivsherausgegeben vonChristoph Göddeund Henri Lonitz.Frankfurt a. M.2003, S. 532 f.(Brief aus Frank-furt a.M. an dieMutter in NewYork vom 24. De-zember 1949).

/2/ Institut fürStadtgeschichteFrankfurt a.M., Sig-natur: S 2/969, I, S.111, Nr. 4895.

/3/ FrankfurterAdorno BlätterVIII. Im Auftrag desTheodor W. Ador-no Archivs heraus-gegeben von RolfTiedemann. Mün-chen 2003, S. 174.

/4/ Taufbuch derFrankfurterDompfarrei 1903,

Anmerkungen

S. 99, Nr. 739(briefliche Aus-kunft des Domar-chivars Herbert Na-tale vom 11. No-vember 2002).

/5/ Vgl. Roger Beh-rens: Adorno-ABC.Leipzig 2003, S.232; im übrigen hatAdorno als Kindauch nie im „Frank-furter Westend“ ge-wohnt (S. 123).

/6/ Gedenksteinefür Adornos 1894und 1920 verstor-bene Großeltern Li-na und TheodorWiesengrund aufdem JüdischenFriedhof an derRat-Beil-Straße ,Feld 45, Epitaphe591A und 591B.

/7/ Siegfried Kra-cauer an LeoLöwenthal, 4. De-zember 1921. Zit.nach: Peter-ErwinJansen und Christi-an Schmidt (Hrsg.):

/10/ Vgl. MinimaMoralia, Aphoris-mus 2: »Rasen-bank« (wie Anm.8, S. 22f.). Text hierzit. nach TheodorW. Adorno/WalterBenjamin: Brief-wechsel 1928-1940. Herausgege-ben von Henri Lo-nitz. Frankfurt a.M.1994, S. 372.

/11/ Theodor W.Adorno: Gesam-melte Schriften(wie Anm. 8). Bd.16, S. 282.

/12/ Das Wort, daser vermutlich öfterzu hören bekam,verwendet Adornoin seinem 1932/33entstandenenStück »Der Schatzdes Indianer-Joe«(Singspiel nachMark Twain. He-rausgegeben undmit einem Nach-wort versehen vonRolf Tiedemann.

In steter Freund-schaft. Leo Löwen-thal – Siegfried Kra-cauer. Briefwechsel1921 – 1966. Sprin-ge 2003, S. 32.

/8/ Vgl. MinimaMoralia, Aphoris-mus 151: »Thesengegen den Okkul-tismus«. TheodorW. Adorno: Gesam-melte Schriften.Herausgegeben vonRolf Tiedemann.Frankfurt a.M.2003. Bd. 4, S. 27.

/9/ Vgl. MinimaMoralia, Aphoris-mus 102: »Immerlangsam voran«(wie Anm. 8, S.184f.). Adorno zi-tiert den Anfangdes Liedes »Immerlangsam voran, im-mer langsam vo-ran, dass der Kräh-winkler Landsturmnachkommenkann!«.

Frankfurt a.M.1979, S. 53).

/13/ Vgl. TheodorW. Adorno: Briefean die Eltern (wieAnm. 1), S. 457f.

/14/ So HeinrichHerber, Rektor derDeutschherren-Mit-telschule und Duz-freund von Ador-nos Eltern. Vgl.Theodor W. Ador-no: Kindheit inAmorbach. Bilderund Erinnerungen.Mit einer biographi-schen Rechercheherausgegeben vonReinhard Pabst.Frankfurt a.M. undLeipzig 2003, S. 88,153 und 156f.

/15/ Karl Holzamer:Der gestopfteSweater, in: Kind-heit im Kaiserreich.Erinnerungen anvergangene Zeiten.Hrsg. von RudolfPörtner. München1989, S. 269.

/16/ FrankfurterAdorno Blätter VIII(wie Anm. 2), S.85.Vgl. dazu auchReinhard Pabst,Adorno – Kindheitin Amorbach,Frankfurt a. M.2003 (siehe Anm.14), S. 112–116.

/17/ Theodor W.Adorno ArchivFrankfurt a.M., Ts51732.

/18/ TagebuchnotizAdornos vom 10.November 1949.Zit. nach TheodorW. Adorno Archiv(Hrsg.): Adorno. Ei-ne Bildmonogra-phie. Frankfurta.M. 2003, S. 213.

Mitte September 1914, knapp eineWoche nach »Teddies« elftem Ge-burtstag, zog Adornos Familie vonder »Schönen Aussicht« in denFrankfurter Stadtteil Oberrad, See-heimer Straße 19, um, wo sie einVierteljahrhundert lang, bis zur Ver-treibung durch die Nazis, wohnte.»Teddies« Zimmer und das des »An-nachens« lagen im zweiten Oberge-schoss, im ersten Stock waren dasElternschlafzimmer, ein Bad, ein be-gehbarer Schrank sowie das mit Bie-dermeiermöbeln »behaglich« einge-richtete Erkerzimmer Agathe Calvel-li-Adornos. Im Erdgeschoss, in demsich auch die Küche befand, führte

eine Treppe von einem der beidenWohnräume in den Ziergarten, indem ein Springbrunnen plätscherte.

Von seinem Oberräder Eltern-haus hat Adorno, wie er 1948 in ei-nem unveröffentlichten Traumpro-tokoll /17/ festhielt, im Exil immerwieder geträumt, es wurde für ihngeradezu zum Symbol des verlore-nen europäischen Lebens. Als er1949 in seine »Vaterstadt« zurück-kehrte und vor den Trümmern deshalbzerstörten Gebäudes in der See-heimer Straße 19 stand, musste erfeststellen, dass »die Welt« seinerKindheit unwiederbringlich »unter-gegangen« war /18/. ◆

Der Autor

Reinhard Pabststudierte Musik-wissenschaft, Ger-manistik und Phi-losophie an derJohann WolfgangGoethe-Univer-sität. Er lebt alsfreier Autor in BadCamberg. Der vonihm herausgege-bene Band »Theo-dor W. Adorno:Kindheit in Amor-bach. Bilder undErinnerungen« istsoeben im InselVerlag erschienen.

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Theodor W. Adorno zählte zu denbedeutendsten Gelehrten der

Bundesrepublik. Er ist einer derGründer der »Frankfurter Schule«.Sein wissenschaftlicher Werdegangist eng mit der Universität Frankfurtverknüpft: Adorno studierte, pro-movierte und habilitierte sich inFrankfurt. Anfang der 1950er Jahrekehrte er nach seiner Emigration andas wiedereröffnete Institut für So-zialforschung zurück und erhielt ander Johann Wolfgang Goethe-Uni-versität die Professur für Philoso-phie und Soziologie.

Adornos Einfluss erstreckte sichvon der Musik- bis zur Gesellschafts-kritik. Zusammen mit Max Horkhei-mer schrieb er den wichtigsten Textder Kritischen Theorie, die »Dialek-tik der Aufklärung« (1944, DruckAmsterdam 1947). Das Buch gilt alseines der klassischen Werke der Phi-losophie des 20. Jahrhunderts.

Am 18. April 1921 immatrikulier-te sich der gebürtige FrankfurterTheodor Ludwig Wiesengrund ander Universität Frankfurt am Main.Er wählte ein Studium an der Philo-sophischen Fakultät und besuchteVeranstaltungen in Philosophie, Mu-sikwissenschaft, Psychologie und So-ziologie. »Sein Studium«, so erin-nerte sich Max Horkheimer, »fiel indie gute Zeit der Frankfurter Univer-sität nach der Niederlage im Ersten

Weltkrieg, als in den philosophischenDisziplinen, in Psychologie und So-ziologie, eine intellektuelle Avant-garde sich zusammenfand.« /1/

Promotion in Rekordzeit – »Zeitmangel und Examens-zwang«

Mit einer Doktorarbeit beim Neu-kantianer Hans Cornelius schlossAdorno sein Studium in Frankfurtab. Innerhalb weniger Wochen fer-tigte er seine Dissertation an. Ador-no schreibt über diese Zeit an seinenFreund Leo Löwenthal:»Mein lieberLeo! Verzeih mir, dass ich Dir heuterst schreibe und auch diesmal nurkurz; es ist nicht die Unfähigkeit zumSchreiben – wäre ich frei genug, Dirzu schreiben, was ich Dir zu schrei-ben habe – sondern bloß purer Zeit-

mangel und Examenszwang, dermich jetzt noch stillegt. Ich will Dirdie äußeren Daten des Halbjahresberichten. Die zweite Aprilhälfte warich in Ammerbach, in einem Trubelvon Menschen und arbeitete Hus-serl. Mitte Mai [1924] disponierteich meine Dissertation und trug am26. den Gedankengang Corneliusvor, der die Arbeit annahm. Am6. Juni war die Arbeit fertig, am 11.diktiert, am 14. abgegeben.« /2/

Die Philosophische Fakultät pro-movierte den Kandidaten wenigeTage nach Abgabe der Dissertationund urteilte über den Verlauf derPrüfung kurz und bündig: »vorzüg-lich«. Adorno bemerkte zu demPromotionsverfahren: »Corneliushat meine Arbeit anstandslos undohne die Änderung eines Wortes zuverlangen angenommen und derKorreferent Schumann hat sich sei-nem Referat angeschlossen.« /3/

Nach der Erlangung des höchstenakademischen Grades setzte Adornofür zwei Jahre seine philosophi-schen und musikalischen Studien inWien fort. Er studierte bei AlbanBerg Komposition und EduardSteuermann Klavier. Zugleich warer als Schriftleiter der Wiener Mu-sikzeitschrift »Anbruch« tätig.

Mit der Habilitation hatte esAdorno nicht so eilig wie mit seinerPromotion. Seinen ersten Habilitati-onsversuch brach er ab, weil seineZulassungsschrift »Der Begriff desUnbewußten in der transzendenta-len Seelenlehre« /4/ von seinem aka-demischen Lehrer Cornelius abge-lehnt wurde. Hans Cornelius hattesich am 8. Januar 1928 gegenüberder Fakultät negativ über AdornosHabilitationsschrift geäußert: »Ich

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Eine Brücke über die SenckenberganlageAdorno und die Universität Frankfurt

Als Theodor W. Adorno aus der Emigration nach Frankfurt zurückkam und eine Pro-fessur an seiner alten Universität übernahm, die ihn 1933 vertrieben hatte, wurdenseine Vorlesungen zu Massen-Ereignissen. »Adornit« zu sein, gehörte zum intellektu-ellen guten Ton.

Theodor Wiesen-grund, hoch be-gabter Sohn ausdem FrankfurterBürgertum, kaman der jungen Uni-versität seinerHeimatstadt mitder intellektuellenAvantgarde inKontakt, die seinspäteres Denkenentscheidend prä-gen sollte.

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muss also beantragen, dass HerrnWiesengrund der Rat erteilt werde,sein Gesuch zurückzuziehen, da sei-ne Arbeit in der vorliegenden Formwenigstens den zu stellenden An-forderungen nicht entspricht.« /5/

Der zweite Anlauf fürdie Habilitation

Dreieinhalb Jahre später unternahmAdorno einen zweiten Anlauf, sichin Frankfurt zu habilitieren. SeineSchrift »Kierkegaard. Konstruktiondes Ästhetischen« (Druck: Tübingen1933) nahmen die Professoren derPhilosophischen Fakultät positiv

auf. Am 6. Februar 1931 tagte dieHabilitationskommission, bestehendaus Paul Tillich, Franz Schultz, MaxHorkheimer und Karl Reinhardt.Zehn Tage später fiel der Beschluss,Adorno zur Habilitation zuzulas-sen/6/. Nach seinem Probevortragüber »Kants Kritik der rationalenPsychologie« und anschließendemKolloquium erteilte ihm die Philo-sophische Fakultät die venia legendifür das Fach Philosophie /7/.

Im September 1933 wurde Ador-no, der katholisch getauft, aber imGymnasium am protestantischenReligionsunterricht teilnahm und

dort den ersten massiven antisemiti-schen Attacken ausgesetzt war, we-gen seiner »nichtarischen Abstam-mung« die Lehrbefugnis von denNationalsozialisten entzogen. Erverließ Deutschland und ging nachOxford, wo er seine wissenschaftli-che Arbeit am Marton College fort-setzte. Ende der 1930er Jahre wech-selte Adorno mit seiner Frau dannnach Amerika. Er arbeitete an demvon Frankfurt nach New York ver-legten Institut für Sozialforschungund als musikalischer Direktor desPrinceton Radio Research Projekts.In Amerika wurde die Zusammen-

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Die Eingangshalle des alten Instituts für Sozialforschung, vom Erdgeschoß bis zumersten Obergeschoss durchgehend. In dem Institut waren auch Räume der Wirt-schafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät untergebracht. Das Gebäude spiegel-te im Inneren die sachliche Zweckmäßigkeit wider, die an seiner Außenfassade zumAusdruck kommt.

Theodor Wiesengrund immatrikuliertesich am 18. April 1921 an der Univer-sität Frankfurt für das Fach Philosophie.

Das alte Institut für Sozialforschung vonder Bockenheimer Landstraße aus gese-hen. Den Anstoß zur Gründung des Insti-tuts gab 1922 Kurt Albert Gerlach, Pro-fessor der Staatswissenschaften an derWirtschafts- und Sozialwissenschaftli-chen Fakultät. Das Institut konnte am22.Juni 1924 eröffnet werden. Der Ar-chitekt des Gebäudes war Franz Röckle(1879 – 1953), der auch die Westend-synagoge in den Jahren 1908 bis 1910bauen ließ.

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arbeit und Freundschaft mit MaxHorkheimer, den er aus Frankfurtkannte, enger.

Aus Theodor Wiesengrundwurde Theodore Adorno

Theodor Wiesengrund erwarb dieamerikanische Staatsangehörigkeitund änderte seinen Namen in Ador-no um: »Sehr verehrtes gnädigesFräulein, unter Bestätigung unseresTelephonats möchte ich Ihnen mit-teilen, dass ich bei meiner amerika-nischen Naturalisation im Jahre1943 meinen Namen in Adorno(den Mädchennamen meiner Mut-ter) geändert habe und bitte, michin amtlichen Dokumenten lediglichals Adorno zu führen«, kommen-tierte er seine Namensänderung ge-

genüber der Universität Frank-furt /8/ .

Nach dem Ende des DrittenReichs, im März 1947, fasste diePhilosophische Fakultät den Be-schluss, Horkheimer und Adornonach Frankfurt zurückzuholen unddamit zu rehabilitieren/9/. Der De-kan der Philosophischen Fakultät,Otto Vossler, unterbreitete Adornodann das Angebot der Universität,in seine Geburtsstadt zurückzukom-men. Adorno beriet sich mit Hork-heimer. Beide fassten den Ent-schluss, nach Deutschland zu reim-migrieren, um an der Erziehung ei-ner neuen Generation mitzuwirkenund »entgegen dem Zug der ver-walteten Welt, wie Adorno sie tauf-te, den autonomen Gedanken in

unseren Studenten zu entfalten,unbekümmert um das statistischeAusmaß seiner Möglichkeiten«, wieHorkheimer es formulierte /10/. Be-reits im Wintersemester 1949/50lehrte Adorno wieder an der Jo-hann Wolfgang Goethe-Universität.Er vertrat die Professur für Sozial-philosophie, nach der RückkehrHorkheimers aus dem Exil über-nahm Adorno zunächst kommissa-risch die Philosophie-Professur, biser schließlich 1953 zum Professorfür Philosophie und Soziologie er-nannt wurde.

Gemeinsam mit Horkheimerkümmerte sich Adorno um die Wie-dereröffnung des Instituts für Sozial-forschung in Frankfurt. Da das alteGebäude des Instituts im Krieg zer-stört worden war, begannen im No-vember 1950 die Bauarbeiten zu ei-nem Neubau in der Senckenbergan-lage 26. Nach einer Bauzeit von nureinem Jahr konnte das neue Ge-bäude des Instituts für Sozialfor-schung bezogen werden.

Straßenüberquerung»Studenten, unmittelbarmit dem Tod bedroht...«

Im Frankfurter Universitätsarchivhat sich ein Vorgang erhalten, derdokumentiert, dass Adorno um dasWohl seiner Studenten besorgt war.Am 12. Mai 1958 schrieb er an denRektor der Universität: »Der Ver-kehr auf der Senckenberganlagemacht es den zahlreichen Angehöri-gen der Universität, die gezwungensind, diese überbelastete Straße zuüberqueren, gerade in nächsterUniversitätsnähe […] außerordent-lich schwer. Oftmals überqueren siedie Senckenbergstraße im Lauf-schritt […] Dieser Zustand ist be-denklich. Wenn ein Student, wie esdoch schließlich sein Recht seinsollte, in Gedanken über die Straßegeht, ist er der unmittelbarsten Le-bensgefahr ausgesetzt.«/11/ Der Poli-zeipräsident schaltete sich ein undversprach Hilfe: Er ließ einenFußgängerweg auf der Straße mar-kieren. Allerdings bewährte sichdieser »Zebrastreifen« aus SichtAdornos nicht. Er forderte deshalb,eine Brücke von der Universitäthinüber zum Institut für Sozialfor-schung zu bauen. Am 29. Novem-ber 1961 wandte er sich nochmalsan die Universitätsleitung: »Studen-ten, die, was doch wohl legitim wä-re, in Gedanken sind, werden dafürunmittelbar mit dem Tod bedroht.

Adorno nahm 1943die amerikanischeStaatsbürgerschaftan. Aus TheodorWiesengrund wur-de TheodoreAdorno. Nach sei-ner Rückkehr ausAmerika an daswiedergegründeteFrankfurter Institutfür Sozialfor-schung machte erdie »Naturalisa-tion« wieder rück-gängig. Den Na-men Adorno führteer aber weiterhin.

Über ein Drittelder Dozenten derUniversität wurdeaufgrund des Ge-setzes zur Wieder-herstellung desBerufsbeamten-tums vom 7. April1933 von den Na-tionalsozialistendie Lehrbefugnisentzogen. Auszugaus dem Personal-verzeichnis derUniversität Frank-furt, Wintersemes-ter 1933/34, mithandschriftlichenVermerken desUniversitätssekre-tariats: »Lehrbe-fugnis entzogen«.

»Barba non facitphilosophum.« EinBart macht zwarnoch lange keinenPhilosophen, aberselbst mit dieserVerkleidung zu Fa-sching hätte Ador-no einen vorderenRang im »Adorno-Ähnlichkeitswett-bewerb« belegt.Zumindest diebeiden Studentin-nen neben ihmscheinen davonfest überzeugt.

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Die Ausstellung der Stadt- und Universi-tätsbibliothek zum 100. Geburtstag Theo-dor W. Adornos konzentriert sich aufAdornos Beziehungen zu seiner Geburts-stadt, die neben einem seinen musikali-schen Studien dienenden Aufenthalt inWien und der durch die Nationalsoziali-sten erzwungenen Emigration nach Eng-land und Amerika Zentrum seiner Biogra-fie und seines wissenschaftlichen Wirkenswar. Vom 4. September bis zum 13. Okto-ber (Ende der Buchmesse) ist diese Aus-stellung im Bibliotheksbereich der B-Ebe-ne der U-Bahnstation Bockenheimer War-te zu sehen.

Ein großer Schatz an Quellen, Doku-menten, Erinnerungsstücken und Berich-ten ist heute in verschiedenen FrankfurterEinrichtungen verstreut. Das Archivzen-trum der Stadt- und Universitätsbibliothekmit den Nachlässen Max Horkheimers,Friedrich Pollocks, Leo Löwenthals, Her-bert Marcuses und anderer fand Freunde

und Partner für diese Ausstellung im Ador-no-Archiv, im Universitätsarchiv der Jo-hann Wolfgang Goethe-Universität, im In-stitut für Stadtgeschichte, im HistorischenMuseum der Stadt, in der Hochschule fürMusik und bei vielen Privatpersonen. DieAusstellung unternimmt den Versuch, dieLeihgaben zu einer sinnvollen Schau zu-sammenzuführen und so die Verflechtungeiner Biografie mit der Stadt zu zeigen.

In die Stadt und ihrer näheren Umge-bung erlebte Adorno seine geborgene undglückliche Kindheit, im Kaiser Wilhelm-Gymnasium konnte der begabte Schülervorzeitig die Abiturprüfungen ablegen, da-nach studierte er an der Universität Frank-furt und wurde mit einer Arbeit bei HansCornelius promoviert. Daneben nahm erKompositionsunterricht bei Bernhard Se-kles am Dr. Hoch’schen Konservatorium.An mehreren Zeitschriften arbeitete er alsMusikkritiker. Nachdem er sich 1931 habi-litiert hatte, wirkte er als Privatdozent an

der Universität bis zum Entzug der Lehrer-laubnis aufgrund der nationalsozialisti-schen Rassengesetze 1933. In diese Zeitfällt auch seine erste Mitarbeit im Institutfür Sozialforschung.

Nach der Zerschlagung des Dritten Rei-ches setzte er seine Kräfte voll ein, um denWiederaufbau des Instituts für Sozialfor-schung voranzutreiben, gleichzeitig eta-blierte er sich wieder im wissenschaftli-chen Leben an der Universität und in derStadt. Den turbulenten Nebenerscheinun-gen der Studentenbewegung stand er zumTeil ratlos gegenüber. Freundschaft undkollegiale Verbundenheit verknüpfte seineBiografie mit dem Kreis von Wissenschaft-lern, die dem Institut für Sozialforschung,zunächst in Frankfurt, dann in Genf, da-rauf in New York und schließlich wiederin Frankfurt verbunden waren.

Jochen Stollberg ist Leiter des Archivzentrums derStadt- und Universitätsbibliothek und hat dieseAusstellung organisiert.

Theodor W. Adorno in Frankfurt – Ausstellung der Stadt- und Universitätsbibliothek

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[…] Helfen könnte nur entwedereine Brücke für Fußgänger über dieSenckenberganlage oder eine Um-leitung des gesamten Verkehrs.« /12/

In einem Leserbrief an die F.A.Z.machte Adorno am 18. Juli 1962sein Anliegen auch einer breiterenÖffentlichkeit bekannt. Allerdingsbaute die Stadt Frankfurt weder dieBrücke, noch leitete sie den Verkehrum. Der Polizeipräsident ließ abereine Ampelanlage installieren, dieheute noch Studierenden das siche-re Überqueren der Senckenbergan-lage ermöglicht.

Die Kunst war für Adorno auf-grund ihrer Autonomie in der Lage,Kritik an gesellschaftlicher Herr-schaft zu üben. Diese Kritik erfolgeohne Anwendung von Gewalt. Einesolche Position stand im Gegensatzzur Bereitschaft vieler Studenten inden späten 1960er Jahren, den»Muff von tausend Jahren« kämp-

Adorno verhandeltim Juni 1969, nurzwei Monate vorseinem Tod, mitStudenten, ob erseine nachStörungen wo-chenlang ausge-setzte Vorlesung»Einführung indialektisches Den-ken« wiederauf-nehmen kann – al-lerdings auch andiesem Tag ohneErfolg.

/1/ Max Horkhei-mer, Jenseits derFachwissenschaft.Adorno zum Ge-burtstag. Frankfur-ter Rundschau vom11.September 1963.

/2/ Brief von Ador-no an Leo Löwen-thal,16. Juli 1924,in: Leo Löwenthal,

Anmerkungen

Mitmachen wollteich nie. Ein auto-biographisches Ge-spräch mit HelmutDubiel. Frankfurt1980, S. 247.

/3/ Ebenda, S. 249.

/4/ Adorno, Gesam-melte Schriften I,S. 79–322.

/5/ Vgl. Univer-sitätsarchiv Frank-furt, Abteilung 4,Nr. 2.

/6/ Vgl. Univer-sitätsarchiv Frank-furt, Protokollbuchder Philosophi-schen Fakultät II, S.128, Sitzung vom16. Februar 1931.

/7/ Vgl. Univer-sitätsarchiv Frank-furt, Protokollbuchder Philosophi-schen Fakultät II,S.129, Sitzung vom23. Februar 1931.

/8/ Brief von Ador-no an das Kuratori-umssekretariat,28.3.1950, Univer-

sitätsarchiv Frank-furt, Abteilung 14,Nr. 20, Blatt 19.

/9/ Vgl. Univer-sitätsarchiv Frank-furt, Protokollbuchder Philosophi-schen Fakultät III,S. 146, Sitzungvom 21. März1947.

/10/ Horkheimer,Jenseits (wie An-merkung 1).

/11/ Vgl. Univer-sitätsarchiv Frank-furt, 630 – 50 alt,Blatt 86.

/12/ Ebenda,Blatt 66.

ferisch aus den Talaren der Professo-ren zu treiben. Adorno, dessen Wer-ke von den Mitgliedern der Studen-tenbewegung eifrig gelesen wurden,ging auf Distanz zu der Generation1968. Seine Vorlesungen und Semi-nare wurden gestört, Adorno littpersönlich sehr unter der neuen Si-

Der Autor

Dr. MichaelMaaser, Historiker,leitet das Univer-sitätsarchiv der Johann WolfgangGoethe-Universität.

tuation. Ob er allerdings schließlichan den Folgen eines »Busen-Atten-tats« zweier Studentinnen in seinerVorlesung starb, wie der Schriftstel-ler Robert Gernhardt in seinemgleichnamigen Gedicht nahe legt,gilt als nicht erwiesen. ◆

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stellte. In zahlreichen Arbeitsgän-gen wurden diese Typoskripte korri-giert und immer wieder überarbei-tet, bis schließlich eine endgültigeDruckvorlage entstand.

Auch Aufsätze ausder Schulzeit

Adornos Nachlass umfasst zirka70 000 Blatt Manuskripte und Typo-skripte sowie 45 erhaltene philoso-phische Notizhefte. Acht weitereHefte enthalten frühe Reisetage-bücher und Aufsätze aus seinerSchulzeit. Zum Bestand gehörenferner Drucke, handschriftlich kor-rigierte Druckfahnen und Umbruch-exemplare, die in Sammelbändenund Zeitschriften erschienenen Auf-sätze Adornos sowie eine Samm-lung seiner in Zeitungen erschienenArtikel. Darüber hinaus befinden

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Im Jahr 1985 wurde das TheodorW. Adorno Archiv von der Ham-

burger Stiftung zur Förderung vonWissenschaft und Kultur, die Inha-berin der urheberrechtlichen Nut-zungsrechte und Eigentümerin derNachlässe von Theodor W. Adornound Walter Benjamin ist, in Ador-nos Geburtsstadt Frankfurt am Maingegründet. Vor ihrem Tod, sie starbam 16. Juli 1993, hatte Gretel Ador-no den gesamten Nachlass ihresMannes, den sie als Alleinerbin be-saß, der Hamburger Stiftung über-geben. Die Witwe wusste, welcheSchätze sie in die Obhut der Stiftunggab, es war auch ein großer Teil ih-res Lebenswerks. Denn schließlichhatte die promovierte Chemikerin,die Adorno 1922 kennenlernte und1937 heiratete, auf ihre eigene be-rufliche Karriere verzichtet, um sich

ganz dem Werk ihres Mannes zuwidmen. Als seine Sekretärin, Lek-torin und kritische Gesprächspart-nerin war sie unmittelbar am Ent-stehungsprozess der Adorno’schenSchriften beteiligt.

Zahlreiche Dokumente aus demNachlass zeigen Spuren einer fürAdorno sehr spezifischen Arbeits-weise: Seine Einfälle, Überlegungenoder Beobachtungen hielt Adornoin Notizheften fest, in denen er von1938 bis 1969 seine philosophischenGedanken und Notizen für projek-tierte Arbeiten zu Papier brachte;gelegentlich finden sich in den Hef-ten auch Eintragungen von GretelAdornos Hand. Seine Texte hatAdorno, auf diese stichwortartigenFormulierungen sich stützend, sei-ner Frau diktiert, die dann eine ma-schinenschriftliche Textfassung er-

Privates Ambiente im Theodor W. Adorno Archiv: Adornos Flügel und einen Teil seiner Privatbibliothek aus der Frankfurter Woh-nung im Kettenhofweg 123 überantwortete Gretel Adorno nach dem Tod ihres Mannes der Hamburger Stiftung zur Förderung vonWissenschaft und Kultur.

Vergangenes wird GegenwartBlick in die Arbeit des Theodor W. Adorno Archivs in Frankfurt am Main

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dern Stücke vor den Kopf stoßen,und deshalb nehme ich es kauman.« /1/ Gretel Adorno begann dannnach ihrer Rückkehr aus den USA,im Institut für Sozialforschung dasliterarische Vermächtnis Benjaminsaufzuarbeiten.

So redigierte Ador-no Texte, die seineSekretärin ElfriedeOlbrich oder seineFrau Gretel zu-nächst stenogra-fierten und dannabtippten: DiesesTyposkript der»ÄsthetischenTheorie« zeigtAuszüge über dasNatur- und Kunst-schöne.

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Die nüchterne Seite des Archivs: In Spe-zialschränken lagern bestens sortiert dieSchätze des Adorno Archivs: Dazugehören zirka 70 000 Blatt Manuskripteund Typoskripte sowie 45 erhaltene phi-losophische Notizhefte. Acht weitereHefte enthalten frühe Reisetagebücherund Aufsätze aus seiner Schulzeit. Auf-bewahrt werden außerdem Drucke,handschriftlich korrigierte Druckfahnenund Umbruchexemplare, die in Sammel-bänden und Zeitschriften veröffentlich-ten Aufsätze Adornos sowie eine Samm-lung seiner in Zeitungen erschienenenArtikel.

sich im Adorno Archiv ein Teil sei-ner Bibliothek mit zirka 2000 Bän-den, seine Noten- und Schallplat-tensammlung und sein Flügel.

Die Archivierung der Werkmanu-skripte, das heißt der von Adornovollendeten Schriften und Kompo-sitionen einschließlich sämtlicherVorstufen, wurde in den vergange-nen Jahren abgeschlossen und stehtsomit der wissenschaftlichen For-schung zur Verfügung. In naher Zu-kunft wird auch die Archivierungder zirka 50 000 Briefe beendetwerden.

Das Theodor W. Adorno Archivbeherbergt auch eine umfangreicheFotosammlung und eine audiovisu-elle Sammlung mit Bild- und Ton-trägern. Das Archiv ist bemüht, er-haltene Tonaufnahmen von Vorträ-gen, Gesprächen und Diskussionen,die Adorno vor allem nach seinerRückkehr nach Frankfurt gehaltenoder an denen er teilgenommen hat,vollständig zu sammeln. Von denakademischen Vorlesungen, die inder Regel mit dem Tonband aufge-zeichnet wurden, ist leider nur dieim Sommersemester 1968 gehaltene»Einleitung in die Soziologie« alsBandaufnahme überliefert. Von denmeisten Vorlesungen haben sich je-doch weitgehend die Transkriptio-nen der Tonbänder und AdornosStichwort-Vorlagen erhalten.

Wie Benjamins Manuskriptein die Hände Gretel Adornoskamen

Zum Nachlass Adornos gehörte auchjener Teil des literarischen Nachlas-ses von Walter Benjamin, den erselbst während seiner EmigrationAdorno und seiner Frau zur vorläu-figen Aufbewahrung anvertrauthatte. Für Benjamin war insbeson-dere Gretel Adorno eine wichtigeBezugsperson. Sie war nicht nur ei-ne intellektuelle Partnerin, sondernauch seine seelische Stütze. Darüberhinaus half sie Benjamin mit regel-mäßigen Geldanweisungen über diefinanzielle Not der ersten Exilmona-te hinweg und kümmerte sich umBenjamins Archiv, das er in seinerBerliner Wohnung hinterlassen hat-te. Von Benjamin erstellte Übersich-ten mit Ordnungskriterien zu seinerSammlung von Dokumenten undBüchern belegen, wie sehr ihm diesichere Aufbewahrung seines Ar-chivs am Herzen lag. In einem Briefan Gretel Adorno vom 10.Juni 1933schreibt er: »Liebe Felizitas, für heu-

te schließe ich ab. Natürlich sollenmeine Bücher bei Ihnen bleiben.Nur die Scripten liefern Sie bitte aus;diese, der Einfachheit halber, bittevollzählig. Es sei denn, daß Sie zu-fällig auf irgendein Stück besondernWert legten. Aber das würde die an-

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wish National and University Li-brary Jerusalem.

Der Frankfurter Nachlass vonWalter Benjamin umfasst zirka 3000Blatt Manuskripte und zirka 2000Blatt Typoskripte, hinzu kommenDrucke und Dokumente. 1990

Anmerkung/1/ Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. IV, herausgegebenvon Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt am Main 1998,Seite 233.

Informationen zur Ausstellung im Internet unter:www.strauhof.ch, www.historischesmuseum.frankfurt.de

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Der Kulturphilosoph Walter Benjamin(1892-1940) war sehr eng mit dem Ehe-paar Adorno befreundet und vertraute ih-nen während seiner Emigration einenTeil seiner literarischen Schriften zurvorläufigen Aufbewahrung an, auch die-se übergab Gretel Adorno Mitte der1980er Jahre an die Hamburger Stif-tung. Für Benjamin war Gretel Adorno,die er »Felizitas« nannte (so hieß dieweibliche Hauptperson in dem Schau-spiel »Ein Mantel, ein Hut, ein Hand-schuh« von Wilhelm Speyer, an demBenjamin mitgearbeitet hatte), intellek-tuelle Partnerin, aber auch seine seeli-sche Stütze.

Gretel Adorno und Walter Benjamin tauschten sich sehr inten-siv über ihre persönliche Situation aus. Sie nannte ihn »Det-lef« nach seinem Pseudonym »Detlef Holz«. In diesem Briefvom 12.Oktober 1933 beschreibt Gretel Adorno ihren seeli-schen Zustand: »Du fragst so lieb, wie es mir geht. Und offenkönnte ich Dir nur antworten jämmerlich, in einem großen Kä-fig, ohne die leiseste Hoffnung jemals entweichen zu können.Die Isolierung, unter deren Druck mein Leben auch früher ge-standen hat, allerdings damals mehr wie in der Adrienne Me-surat, während die Familie als belastender Faktor schon längstfür mich überwunden ist, wird von Tag zu Tag unerträglicher,mit keinem Menschen kann ich ein vernünftiges Wort spre-chen, im Geschäft alles sehr nett, aber doch finster kleinbür-gerlich und immer nur Handschuhe....« Benjamin notiert aufdiesem Brief Stichworte für sein Antwortschreiben an Gretel,unter anderem auch Notizen über seine Berliner Bibliothek:»Pappkartons, Anweisungen wegen Bücher: schicken ..., Be-handlung der Bibliothek..., Bibliothek reinigen...«

Dieser Teil des Benjamin-Nach-lasses, der mit zahlreichen Manu-skripten und Drucken vereinigt wur-de, die Walter Benjamin Theodor W.und Gretel Adorno geschenkt hatte,bildete den Grundstock für das heu-tige Walter Benjamin Archiv. 1997gelang es der Hamburger Stiftung,wesentliche Nachlassteile von Wal-ter Benjamin aus der BibliothèqueNationale in Paris und Manuskripte,die nach dem Zweiten Weltkriegzunächst nach Moskau gebrachtworden waren, nach der Wieder-vereinigung aus der Berliner Aka-demie der Künste in das Theodor W.Adorno Archiv nach Frankfurt amMain zurückzuführen, so dass derNachlass von Walter Benjamin nunweitgehend geschlossen im Frank-furter Adorno Archiv aufbewahrtund betreut wird. Ein kleiner Teilbefindet sich noch im Institut fürneuere deutsche Literatur der Ju-stus-Liebig-Universität Gießen undin der Sammlung Scholem der Je-

konnte ein großer Teil dieser Archi-valien erstmals in einer Ausstellung,die das Theodor W. Adorno Archivin Verbindung mit dem DeutschenLiteraturarchiv in Marbach amNeckar ausrichtete, gezeigt werden. Zu den Beständen des Theodor W.

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Adorno Archivs gehört auch die Bi-bliothek von Leo Löwenthal, die vo-rübergehend in einem Depot derFrankfurter Stadt- und Universitäts-bibliothek magaziniert wird. In derBibliothek des Archivs wird auchdie in Buchform erscheinende Se-kundärliteratur zu Adorno undBenjamin gesammelt.

Im Mittelpunkt der Archivarbeit

In erster Linie widmet sich dasTheodor W. Adorno Archiv der Auf-gabe, die Nachlässe von Adornound Benjamin zu erfassen, zu ver-wahren und zu erschließen sowiedie Bestände konservatorisch undrestauratorisch zu betreuen. Das Ar-chiv macht die Quellen durch Publi-kationen, Vermittlungen, Präsenta-tionen der Archivalien in Ausstel-lungen nutzbar und fördert Auf-führungen der Adorno’schen Kom-positionen. Darüber hinaus ist dieHamburger Stiftung zur Förderungvon Wissenschaft und Kultur be-müht, durch Ankäufe die Samm-lungen des Archivs zu ergänzen. Neben der archivarischen Betreu-ung der beiden Nachlässe hat dasArchiv wichtige Editionen erarbei-tet. Zum Abschluss gebracht wur-den die »Gesammelten Schriften«Adornos und die Gesamtausgabeder Schriften Benjamins sowie einesechsbändige Ausgabe der Briefevon Walter Benjamin. Im Zentrumder editorischen Arbeit des Archivssteht die Herausgabe der »Nachge-lassenen Schriften« Adornos, diesich in die Abteilungen der »Frag-ment gebliebenen Schriften«, »Phi-losophischen Notizen«, »PoetischenVersuche«, »Vorlesungen, Improvi-sierte Vorträge« sowie »Gespräche,Diskussionen und Interviews« glie-dert. Darüber hinaus wird AdornosBriefwechsel vom Archiv kontinu-ierlich herausgegeben.

Die Bestände des Theodor W.Adorno Archivs stehen den Besu-chern für wissenschaftliche, literari-sche und publizistische Arbeitenund Studien zur Verfügung. Durchdie beengten Raumverhältnissekönnen den Benutzern, die aus

dem In- und Ausland nach Frank-furt kommen, leider nur wenige Ar-beitsplätze angeboten werden. Ar-chive werden oft als verstaubte Auf-bewahrungsorte für chaotische Hin-terlassenschaften von Schriftstellernbezeichnet – nach dem Motto: EinGrab hat der Mensch. Aber derDichter hat ein zweites: das Archiv.Die seit Bestehen des Theodor W.Adorno Archivs stetig steigende Be-nutzerfrequenz macht deutlich, wienachhaltig das wissenschaftliche In-teresse an den Werken Adornosund Benjamins ist. Handschriftenlassen Vergangenes als Gegenwarterscheinen. Durch die Archivierungder Nachlässe werden erstmalsQuellen zugänglich gemacht, die ei-ne wesentliche Grundlage für dieErforschung der Werke sind oderüberhaupt erst eine biografischeSpurensuche ermöglichen. Die be-reits inventarisierten und archivier-ten Materialien werden in mehre-ren Bestandskatalogen und Find-

büchern nachgewiesen. Für die vor-bereitende Orientierung stehen die-se Hilfsmittel den Archivbenutzernzur Verfügung.

Aktivitäten im Adorno-Jahr:Ausstellung im November

Im Jubiläumsjahr wird in zahlrei-chen Veranstaltungen, Vorträgen,Symposien und Lesungen dem100.Geburtstag Adornos gedacht.Das Theodor W. Adorno Archiv be-

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teiligt sich an diesen Festivitätenunter anderem mit einer umfassen-den Ausstellung zu Leben undWerk Adornos. Erstmals seit Beste-hen des Archivs wird eine Vielzahlvon bislang unpublizierten Text-zeugnissen, unbekannten Fotogra-fien und Dokumenten einer interes-sierten Öffentlichkeit präsentiert.Von den frühen Zeugnissen ausAdornos Kindheit, über seine Do-kumente aus den Studien- undExiljahren bis hin zur Rückkehr ausder Emigration sowie seiner Arbeitam Institut für Sozialforschung undder Frankfurter Universität fächertsich etwas von der Vielschichtigkeitdieses bedeutenden Philosophen,Soziologen, Musiktheoretikers undKomponisten auf. Die Ausstellungwurde gemeinsam mit dem Präsidial-departement der Stadt Zürich kon-zipiert und ist am 3.September imMuseum Strauhof in Zürich eröff-net worden, wo sie bis zum 9. No-vember zu sehen sein wird. Ansch-

ließend wird die Ausstellung vom19. November bis 14. Februar 2004im Historischen Museum Frankfurtam Main gezeigt.

Parallel zur Ausstellung erscheintim Suhrkamp Verlag neben den lau-fenden Archiveditionen eine vonden Mitarbeitern des Archivs bear-beitete Bildmonographie überTheodor W. Adorno. (Siehe Buch-tipps Neuerscheinungen im Ador-no-Jahr, Seite 98). ◆

Nach ihrer Rückkehr aus Amerika lebte das Ehepaar Adorno im Frankfurter Westend. Vom Kettenhofweg123 aus konnte Adorno bequem zu Fuss zum Institut für Sozialforschung und zur Universität laufen. Die-ses Bild entstand 1967 im Wohnzimmer der Adornos.

Die Autorin

Dr. Gabriele Ewenz, Literatur- und Thea-terwissenschaftlerin, leitet seit 2001das Theodor W. Adorno Archiv. Zuvor warsie wissenschaftliche Mitarbeiterin beider Hamburger Stiftung zur Förderungvon Wissenschaft und Kultur.

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Screening« (VS) mit Hilfe von spezi-ellen Computerverfahren /1/. BeideKonzepte beruhen überwiegend aufheuristischen Ansätzen, die auf einevollständige Suche notwendiger-weise verzichten. Mit Hilfe moder-ner vollautomatisierter HTS-Verfah-ren können bis zu 100 000 Substan-zen pro Tag getestet werden. DieMöglichkeiten des VS sind ungleichgrößer , liefern allerdings auch nurHypothesen, die der experimentel-len Überprüfung bedürfen. Ein Ar-gument für den Einsatz von virtuel-len Screeningmethoden ist jedochunschlagbar: Die Kosten liegendeutlich unter denjenigen, die fürbiochemisch-experimentelle Ansät-ze aufzuwenden sind. So wird ver-stärkt das Konzept verfolgt, zu-nächst rechnergestützt eine Voraus-wahl an potenziellen Wirkstoffkan-didaten zu bestimmen, die an-schließend im HTS auf ihre tatsäch-liche biologische Aktivität hin über-prüft werden. Zum einen werdenauf diese Weise Kosten eingespart,zum anderen wird eine weitgehend»blinde« Suche zu einer »informier-ten« Suche. Gängige HTS-Verfahrenfinden etwa ein aktives Molekül pro 100 oder 1000 überprüften Ver-bindungen einer typischen Sub-stanzsammlung großer Pharmaun-ternehmen. Durch den Einsatz vonVS-Methoden kann diese Erfolgsra-te aber oft deutlich erhöht werden.So sind bis zu zehn Prozent Trefferin so genannten »fokussierten Sub-stanzbibliotheken«, also durch vir-tuelle Screeningverfahren spezifischausgewählte Molekülsammlungen,keine Seltenheit. Ein auf diese Weise gefundener Wirkstoffkandi-dat ist das in gezeigte Molekül,ein Kaliumkanal-Blocker. DiesesMolekül wurde vollständig vomComputer entworfen /2/.

Aber auch ein anderes Problemkann zumindest in Anfängen mitComputermodellen bearbeitet wer-den: die Frage, welche der »Treffer«für die pharmazeutische Entwick-lung zu einem Arzneistoff weiter-verfolgt werden sollten, denn nichtjedes bioaktive Molekül ist auch alsMedikament geeignet. Die Vorher-sage von pharmakokinetischen undpharmakodynamischen Substanz-

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Unterwegs in chemischen RäumenChemieinformatik und Moleküldesign

Modell einesvom Computervorgeschlagenenund biologischaktiven Kalium-kanal-Blockers. Dieses Molekülwurde mit Metho-den des rechner-basierten Molekül-designs und virtu-ellen Screening-verfahrens ent-worfen/2/.

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diese unvorstellbar große Zahl che-mischer Verbindungen systematischdurchmustert werden kann? Dochdie Situation ist nicht so hoffnungs-los, wie sie auf den ersten Blick er-scheint. Dies zeigt die erfolgreicheEntwicklung immer neuer Medika-mente. Das Forschungsgebiet derChemieinformatik befasst sich mitder Entwicklung von intelligentenLösungsansätzen, die Chemikernbei dieser Suche nach den »Nadelnim riesigen Heuhaufen« helfenkönnen.

Zwei sich gegenseitig ergänzendeStrategien werden gegenwärtig beider Wirkstofffindung eingesetzt: ex-perimentelle Hochdurchsatzverfah-ren (high-throughput screening,HTS), die ausgewählte Verbindun-gen in biologischen und biochemi-schen Experimenten auf ihre Akti-vität hin testen, und »virtuelles

Wie findet man einen neuenWirkstoff? Die pharmazeu-

tisch-chemische Forschung stehtmit diesem Vorhaben vor einerscheinbar unlösbaren Aufgabe,denn der »chemische Raum« allerwirkstoffartigen Moleküle ist un-vorstellbar groß. So wurde ge-schätzt, dass man prinzipiell aus1060 bis 10100 verschiedenen Verbin-dungen die geeigneten Kandidatenauswählen kann. Zum Vergleich:Seit dem Urknall sollen »nur« etwa1018 Sekunden, etwa 14 MilliardenJahre, vergangen sein. Dies bedeu-tet, dass der chemische Raum prak-tisch unendlich ist. Aus dieser Über-legung lassen sich zumindest zweiSchlussfolgerungen ziehen: Zum einen gibt es die begründete Hoff-nung, dass ein Molekül mit der ge-wünschten Aktivität existiert, zumanderen stellt sich die Frage, wie

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Ein bekannter Inhibitor der Cyclooxy-genase-2 wurde in die Bindetasche desEnzyms (PDB-code 1CX2) durch auto-matisches Docking eingepasst und kannnun hinsichtlich der Passgenauigkeitund Wechselwirkungsenergie bewertetwerden (rote Struktur). Zum Vergleichist die durch Röntgenstrukturanalyse ge-wonnene Konformation desselben Inhi-bitors in grün dargestellt. Die Binde-tasche ist nach dem elektrostatischenPotenzial eingefärbt. AutomatischeDocking- und Bewertungsverfahren stel-len ein sehr aktives Forschungsgebietder Chemie- und Bioinformatik dar.

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eigenschaften stellt für die sinnvolleDurchforstung des chemischenRaums einen weiteren, äußerstwichtigen Aspekt dar und kann me-dizinischen Chemikern wertvolleHinweise für die Auswahl und Ent-wicklung einer chemischen Leit-struktur geben /3/.

Ein vom Computer vorgeschla-genes Molekül kann mit Hilfe spezi-eller Software in die Bindetasche ei-nes Rezeptor eingepasst werden(»Docking«), um zu überprüfen, obes ein geeigneter Kandidat für dieSynthese und biologische Testungsein könnte . Voraussetzung dafürist allerdings, dass ein brauchbaresModell der Bindetasche verfügbarist. Ein Rezeptormodell wird meis-tens durch die Röntgenstrukturana-lyse oder mit Methoden der kern-magnetischen Resonanzspektrosko-pie (NMR) erhalten. Beide Metho-den sind an der Universität Frank-furt in verschiedenen Arbeitsgrup-pen fest etabliert und stellen einewichtige Grundlage für das struk-turbasierte Moleküldesign dar.

Am Institut für Organische Che-mie und Chemische Biologie(OCCB) der Johann WolfgangGoethe-Universität wurde im Jahr2001 erstmalig die Beilstein-Stif-tungsprofessur für Chemieinforma-tik besetzt, die durch eine großzügi-ge Stiftung des Beilstein-Institutszur Förderung der ChemischenWissenschaften in Frankfurt ermög-licht wurde. Diese Professur – die ers-te mit dieser Widmung in Deutsch-land–hat sich zur Aufgabe gesetzt,neue Verfahren für den Entwurfvon Molekülstrukturen (»Molekül-design«) und die Erforschung deschemischen Raums mit Methodendes virtuellen Screenings zu ent-wickeln. Schwerpunkte liegen im»evolutionären Moleküldesign«und der Entwicklung und Anwen-dung maschineller Lernverfahren.Besonders verschiedene Typenkünstlicher neuronaler Netze undverwandter Methoden kommenzum Einsatz, um schnelle Vorhersa-gen von Substanzeigenschaften zu

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erhalten. Die interdisziplinäreProfessur erfüllt mit ihrerinhaltlichen Ausrich-tung eine Brücken-funktion zwischen ver-schiedenen wissen-schaftlichen Disziplinenund ergänzt zugleich dasLehrangebot für Studierendeder Naturwissenschaften, speziellder Chemie und Biochemie sowieder Bioinformatik. Mehrere Koope-rationen mit Pharma- und Biotech-nologieunternehmen unterstützenzusätzlich eine anwendungsorien-tierte Forschung und Lehre. Her-vorzuheben ist, dass das Fach »Che-mieinformatik und -information«bereits seit vielen Jahren als ver-pflichtende Lehrveranstaltung für

Studierende der Chemie in Frank-furt existiert und dieser Bereich nunverstärkt ausgebaut wird. In diesemZusammenhang wurde im Februar2003 ein neues Computerzentrumfür die naturwissenschaftliche Aus-bildung eingerichtet, ebenfalls ge-stiftet vom Beilstein-Institut zurFörderung der Chemischen Wissen-schaften.

Ein virtueller Molekülbaukasten

Für das virtuelle Screening ist esvon grundlegender Bedeutung, dieWechselwirkung von einem nieder-molekularen Liganden mit seinem

Rezeptor zu verstehen und in einerfür den Rechner verständlichenSprache zu beschreiben /4/. Eine be-sondere Stellung nehmen dabeiPharmakophormodelle ein. DerPharmakophor beschreibt die räum-liche Anordnung funktioneller che-mischer Gruppen im Liganden, diefür eine Bindung an den Rezeptorerforderlich sind. Ein Beispiel dafür,wie aus bekannten Liganden einPharmakophormodell erstellt wer-den kann, ist in gezeigt. DiesesModell wurde aus drei verschiede-nen Molekülen errechnet, die dasmembrangebundene Enzym Cyclo-oxygenase-2 (COX-2) inhibieren .■4

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Drei bekannteInhibitoren desEnzyms COX-2.

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Pharmakophormodell von Inhibitoren des Enzyms Cyclooxy-genase-2 (COX-2). Potenzielle Wechselwirkungszentren mit dem Enzym sind durch farbige Gitterkugeln dargestellt, zum Beispiel lipophile Zentren und Wasserstoffbrückendonoren beziehungsweise -akzeptoren. Die Größe und Farbintensität der Kugeln ist proportional zu ihrer Gewichtung im Modell.Pharmakophorhypothesen werden mit Hilfe von bekannten Inhibitoren erstellt undkönnen dann zum Durchsuchen großer Substanzsammlungen verwendet werdenoder für den Entwurf neuartiger Verbindungen dienen.

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/1/ Böhm, H.-J.,Schneider, G.(Hrsg.) (2000) Vir-tual Screening forBioactive Molecules.Wiley-VCH, Wein-heim/New York.

Literatur

/2/ Schneider, G.,Chomienne-Cle-ment, O., Hilfiger,L., Kirsch, S.,Böhm, H.-J.,Schneider, P., Neid-hart, W. (2000) Vir-tual screening for

bioactive moleculesby evolutionary denovo design. An-gew. Chemie Int. Ed.39, 4130-4133.

/3/ Schneider, G.,Böhm, H.-J. (2002)Virtual screeningand fast automateddocking methods.Drug Discov. Today 7,64 –70.

/4/ Böhm, H.-J.,Schneider,G.(Hrsg.)(2003) Protein-Li-gand Interaction–From Molecular Reco-gnition to Drug Design.Wiley-VCH, Wein-heim/New York.

/5/ Schneider, G.(2002) Trends invirtual combinato-rial library design.Curr. Med. Chem. 9,2095 – 2101.

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Auch der Wirkstoff Acetylsalicyl-säure (Aspirin®) hemmt COX-2, allerdings unspezifisch. Die spezifi-sche Hemmung von COX-2 würdeeine Nebenwirkung des Aspirins be-seitigen, nämlich das Auftreten vonSchädigungen der Magen- undDarmwand bei hohen Dosierungen.Mit geeigneten Pharmakophorhypo-thesen und anderen Vorhersageme-thoden können nun Milliarden vonMolekülen innerhalb kürzester Zeitvirtuell auf ihre Überlappung mitden Pharmakophorpunkten über-prüft werden und auf diese Weiseneue Synthesevorschläge für denChemiker erhalten werden.

Wie kann man die Vielfalt dervirtuellen Moleküle noch weiter er-höhen? Einen Lösungsansatz bietetdie virtuelle kombinatorische Syn-these /5/ . Die Idee ist dabei, einenoder mehrere chemische Grund-gerüste mit Seitenketten so zu »de-korieren«, dass die Vorhersagen fürdiese vom Computer erzeugtenStrukturvorschläge systematisch op-timiert werden können. Am Anfangeines solchen Experiments ist dieVielfalt der Seitenketten groß, dasheißt, es werden sehr unterschiedli-che virtuelle Moleküle erzeugt. Imweiteren Verlauf des Optimierungs-prozesses »lernt« der Computer–

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gesteuert durch Verfahren des ma-schinellen Lernens –, an bestimm-ten Bereichen des Grundgerüstesnur ganz bestimmte Seitenkettenzuzulassen. Die Vielfalt der Struk-turvorschläge nimmt dabei immerweiter ab, bis schließlich hinsichtlichder vorhergesagten Moleküleigen-schaften optimierte Vorschläge er-halten werden. Auf diese Weise istes inzwischen möglich, in virtuellenchemischen Räumen zu suchen, dieetwa 1020 Verbindungen enthaltenkönnen. Die dafür notwendige Re-chenleistung wird an der Universitätdurch leistungsfähige Computer-cluster zur Verfügung gestellt, dochauch mit einem Personalcomputerkann man bereits erfolgreich derar-tige Experimente durchführen. DieFrankfurter Chemieinformatik ar-beitet in diese Richtung und auchan der Entwicklung neuer Algorith-men, die noch stärker als bisherchemisches Wissen für die virtuellekombinatorische Synthese berück-sichtigt, um zu leichter synthetisier-baren Molekülentwürfen zu kom-men.

Es gibt eine Vielzahl von Syner-gien zwischen der Chemieinforma-tik und anderen naturwissenschaft-lichen Disziplinen. Die Chemiein-formatik verwendet beispielsweiseviele Methoden und Konzepte derInformatik, insbesondere Daten-banksysteme, Such- und Optimie-rungsalgorithmen und graphen-theoretische Ansätze. Aber auch As-pekte der Visualisierung chemischerInformation stellen ein aktuellesForschungsthema dar. Die enge Zu-sammenarbeit zwischen Chemikern,Biologen und Informatikern ist fürden Erfolg eines virtuellen Scree-ningprojekts eine notwendige Vo-raussetzung. Es gibt viel voneinan-der zu lernen, und die Möglichkei-ten dafür sind an der UniversitätFrankfurt hervorragend. ◆

F o r s c h u n g F r a n k f u r t 3 – 4 / 2 0 0 3 58

F o r s c h u n g a k t u e l l

Prinzip einer virtuellen kombinatorischen Molekülbiblio-thek. Ein chemisches Grundgerüst (scaffold; blau dargestellt)wird mit Hilfe lernfähiger Computerprogramme systematischdurch Hinzufügen verschiedener Molekülbausteine (buildingblock; R1, R2, R3; als rote, graue und grüne Kugeln darge-stellt) optimiert. Die Anzahl an virtuellen Molekülen, die sofür einen Strukturvorschlag berücksichtigt werden kann, istungleich größer als bei der klassischen Suche in chemischenDatenbanken.

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Der Autor

Prof. Dr. Gisbert Schneider, 38, ist Inha-ber der Beilstein-Stiftungsprofessur fürChemieinformatik. Schwerpunkte seinerForschung und Lehre liegen im rechner-gestützten Entwurf bioaktiver Moleküleund der Entwicklung und Anwendungmaschineller Lernverfahren in der Che-mie- und Bioinformatik.

LinkBeilstein-Stiftungsprofessur:http://www.modlab.de

Center for Scientific Computing:http://www.csc.uni-frankfurt.de

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F o r s c h u n g F r a n k f u r t 3 – 4 / 2 0 0 3 59

F o r s c h u n g a k t u e l l

Die aus Lipi-den freigesetzteArachidonsäurekann durch denEinbau von Sau-erstoff mit Hilfevon 5-Lipoxygena-se in Leukotrieneund durch Cyclo-oxygenasen inProstaglandineumgewandeltwerden. Leukotrie-ne und Prosta-glandine stellenMediatoren dar,die bei entzünd-lichen und allergi-schen Prozessenvermehrt gebildetund freigesetztwerden.

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Lipide sind essentielle Struktur-elemente von Zellen. Sie sind

unter anderem Hauptbestandteilvon Membranen, die einerseits ver-schiedene Kompartimente inner-halb der Zelle gegeneinander ab-grenzen und andererseits die Zellenach außen abschotten. Membra-nen regulieren den Transport vonIonen, kleinen polaren Molekülensowie peptidartigen Botenstoffen, dasie für viele Bestandteile des Orga-nismus nicht oder nur wenig durch-lässig (permeabel) sind . In denMembranen lokalisierte Membran-proteine überprüfen dabei als biolo-gische Schleusenwärter, welcheStoffe in die Zelle hinein oder ausihr heraus transportiert werden sol-len. Außerdem geben sie als Rezep-toren von Botenstoffen bestimmteSignale ins Innere der Zellen weiter.

Lipide dienen darüber hinausauch als Reservoir für Fettsäuren,die die Zellen zur Energiegewin-nung nutzen. Dazu werden diesezunächst mit Hilfe von Enzymen,den Lipasen beziehungsweise Phos-pholipasen, aus Phospholipidenfreigesetzt und dann durch die sogenannte �-Oxidation in Einheitenmit zwei Kohlenstoffatomen(Acetyl-CoA) zerlegt. Durch Oxida-tion zu Kohlendioxid (CO2) undWasser (H2O) wird daraus Energiegewonnen und in Form von Ade-nosintriphosphat (ATP), der »Ener-giewährung« der Zelle, gespeichert.

Neben ihrer Funktion als Ener-gielieferanten dienen insbesondereungesättigte Fettsäuren als Aus-gangsstoffe für die Bildung verschie-dener Botenstoffe /1/. Zu den unge-sättigten Fettsäuren gehören zumBeispiel die Ölsäure, die Linol- undLinolensäure und die Arachidon-säure. Sie sind dadurch gekenn-zeichnet, dass jeweils zwei der Koh-lenstoffatome innerhalb der Kettedurch energiereiche Doppelbindun-gen miteinander verbunden sind.Viele ungesättigte Fettsäuren kannder Organismus nicht selbst bilden;sie müssen mit der Nahrung aufge-nommen werden und werden da-her als essentiell bezeichnet.

Durch den enzymatischen Ein-bau von Sauerstoff können Fettsäu-ren in Moleküle mit Hormonwirkungumgewandelt werden. Die Um-

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wandlung der Arachidonsäure, einerFettsäure mit 20 Kohlenstoffatomenund vier »ungesättigten« Doppel-bindungen, in Prostaglandine undLeukotriene ist dabei von großempharmazeutischen Interesse .

Prostaglandine

Prostaglandine sind Hormone, dielokal und in geringen Konzentra-tionen von bestimmten Zelltypen

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freigesetzt werden und am Freiset-zungsort ihre Wirkung entfalten.Ihre pharmakologisch, physiolo-gisch und pathophysiologisch rele-vanten Eigenschaften und Funktio-nen sind sehr vielfältig und hängenvom Zell- beziehungsweise Gewe-betyp ab . Die für die ersten Reak-tionsschritte bei der Bildung derProstaglandine verantwortlichenEnzyme heißen Cyclooxygenasen.

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Nicht alles, was »Fett« ist, macht dickFettsäuren – Botenstoffe von großem pharmazeutischen Interesse

Lipide als Bestandteile von Membranen

Phosphatidylcholin

Phospholipase A2

Arachidonsäure

Lysophosphatidylcholin

CH3H3C

H3CN+

O

OO

O

O

O

O

O–P

CH3

CH3

CH3H3C

H3CN+

O

OO

OH

O

OO–P

CH3

O

CH3–O

+

Umwandlung der Arachidonsäure in Prostaglandine und Leukotriene

Phospholipide

Phospholipase

Arachidonsäure

5-Lipoxygenase Cyclooxygenasen

NSAR (Aspirin® etc.)Inhibitoren

PGG2LTA4

COOH

OOH

COOHO O

O

Leukotrien B4 Leukotrien C4Leukotrien D4Leukotrien E4

ProstglandineThromboxaneProstacyclin

COOH

Phospholipide wie Phosphatidylcholin lagern sich zu Lipiddoppelschichten zusammen, wobei der hydro-phile Teil dem Wasser zugewandt, während der fettlösliche (lipophile) Anteil nach innen orientiert ist

und eine lipophile Barriere ausbildet, die den Transport von polaren Molekülen durch die Membran ver-hindert. Polare Zellbestandteile wie Ionen können von Proteinen, die in die Membran eingelagert sind,transportiert werden. Phosphatidylcholin dient jedoch nicht nur als Membranbestandteil, sondern auch alsQuelle für Fettsäuren wie der Arachidonsäure, die durch Phospholipasen freigesetzt werden kann(LTA4=Leukotrien A4, PGG2 =Prostaglandin G2).

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rheumatoiden Arthritis eingesetzt.Prostacyclin und Prostaglandine

stimulieren die Produktion vonSchleim und hemmen die Säurese-kretion im Magen und entfalten da-durch eine Schutzwirkung (zyto-protektiver Effekt). Durch die Ein-nahme unselektiver Antirheumati-ka wird die endogene Prostaglan-dinbiosynthese unterbunden undsomit die zytoprotektiven Effekteaufgehoben. Die Folge: Die Entste-hung von Magengeschwüren wirdbegünstigt, was sich häufig therapie-begrenzend auswirkt.

Seit Beginn der 1990er Jahre istbekannt, dass zwei Cyclooxygen-asen im Organismus für die Prosta-

Hemmstoffe der Prostaglandinsyn-these entfalten ihre Wirkung durchdie Blockade der Cyclooxygenasen.Die Hemmstoffe werden als nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR)bezeichnet, sie wirken entzündungs-hemmend, fiebersenkend undschmerzlindernd (analgetisch). Zudieser Arzneistoffklasse gehörenWirkstoffe wie Ibuprofen, Indome-tacin (Amuno®), Diclofenac (Volta-ren®) oder Acetylsalicylsäure (Aspi-rin®). Diese Arzneistoffe werden beiverschiedenen Schmerzzuständenwie Kopfschmerzen, Gelenkschmer-zen, fiebrigen Erkrankungen undden verschiedensten Formen rheu-matischer Erkrankungen wie der

glandinbiosynthese verantwortlichsind, wobei ein seit langem bekann-tes Gen für das COX-1-Protein unddas 1990 entdeckte COX-2-Gen fürdas COX-2-Protein kodiert. BeideCyclooxygenasen besitzen zwarsehr ähnliche katalytische Eigen-schaften, werden aber in verschie-denen Zelltypen und unterschiedli-chen Mengen gebildet. Das COX-1-Protein wird in Thrombocyten,Endothelzellen und der Magen-schleimhaut synthetisiert; es ist fürdie Prostaglandinsynthese im Zu-sammenhang mit vielen physiologi-schen Vorgängen, wie der Regulati-on der Thrombozytenaggregationund der Steuerung gastrischerFunktionen, verantwortlich .Auch das COX-2-Protein besitztphysiologische Bedeutung und wirdin verschiedenen Geweben, wie derNiere oder dem Zentralnervensy-stem, dauernd ausgeprägt. Norma-lerweise ist das COX-2-Protein je-doch in vielen Zelltypen gar nichtoder nur in geringen Mengen zufinden; seine Bildung wird dort erstnach Stimulation von Zellen imEntzündungsgewebe induziert: Eineerhöhte Prostaglandinfreisetzung istdie Folge .

Die so genannten Coxibe, eineKlasse neu entwickelter Antirheu-matika, sind selektive COX-2-Inhi-bitoren ohne wesentliche gastroin-testinale Nebenwirkungen /2/. Klini-sche Untersuchungen ergaben, dassdie COX-2-Inhibitoren Celecoxibund Rofecoxib entzündungshem-mende Eigenschaften besitzen undpraktisch keine Magenbeschwerdenhervorrufen. Allerdings fehlt denCOX-2-Inhibitoren die kardiopro-tektive Wirkung von COX-1-Hem-mern, darunter der niedrig dosiertenAcetylsalicylsäure, die die Throm-bocytenaggregation hemmen /3/.

Leukotriene

Arachidonsäure dient ferner alsSubstrat für die 5-Lipoxygenase, diedaraus Leukotrien A4 (LTA4) syn-thetisiert, das anschließend durchweitere Reaktionen in das entzün-dungsauslösende Leukotrien B4

(LTB4) beziehungsweise die Leu-kotriene LTC4, LTD4 und LTE4 um-gewandelt wird . Letztere sindmaßgeblich an allergischen Prozes-sen bei asthmatischen Reaktionenbeteiligt. Sie induzieren die Kon-traktion der Bronchialgefäße undsind wesentlich an der Verengungder Atemwege beteiligt. Ferner ver-

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F o r s c h u n g F r a n k f u r t 3 – 4 / 2 0 0 3 60

F o r s c h u n g a k t u e l l

Physiologische Effekte von Prostaglandinen

Darmmotilität

Thrombocyten-Aggregation (TXA2)

MagenschleimproduktionMagensäureproduktion

Sensibilisierung vonNozizeptoren

ProstaglandineNa+-Ausscheidungin der Niere

Fieberinduktion

Beteiligung der Cyclooxygenasen an physiologischen Funktionen

COX-1-Gen COX-2-Gen

COX-1-Proteinkonstitutiv

COX-2-Proteinkonstitutiv

COX-2-Proteininduzierbar

traditionelle NSAR

Coxibe

Entzündungsgewebe

ZNS (PGE2) Schmerz, Fieber

GI-Trakt (PGE2, PGI2) Schleimhautprotektion

Kreislauf (PGI2)

Niere (PGE2, PGI2)Durchblutung

Niere (PGE2,)Filtrationsrate

Thrombozyten-Aggregation (TXA2)

Für die Prostaglandinbiosynthese sind zwei unterschiedliche Proteine, die alsCOX-1 und COX-2 bezeichnet werden, verantwortlich. Während die klassischen Anti-rheumatika wie Diclofenac mehr oder weniger unspezifische Inhibitoren darstellenund somit die Prostaglandinbiosynthese generell hemmen, inhibieren die Coxibe se-lektiv die COX-2 und reduzieren unter anderem die vermehrte Prostaglandinproduk-tion im Entzündungsgewebe. COX-2-Hemmer steigern die Aggregationsneigung desBlutes durch die Hemmung der Prostacyclinproduktion im Gefäßendothel und inhi-bieren wie die klassischen Antirheumatika die Ausscheidung von Wasser und Ionendurch die Nieren, wodurch die Wassereinlagerung im Gewebe (Ödembildung) be-günstigt wird (PGE2=Prostaglandin E2, PGI2=Prostacyclin, TXA2=Thromboxan A2).

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Die von Prosta-glandinen vermit-telten Effekte sindvielfältig und ge-webeabhängig. Inder Abbildungsind die pharma-kologisch relevan-ten Effekte vonProstaglandinenim Organismuszusammengefasst(TXA2=Thromboxan A2).

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Der Autor

Prof. Dr. DieterSteinhilber, Insti-tut für Pharma-zeutische Chemie,beschäftigt sichseit vielen Jahrenmit dem Arachi-donsäure-Stoff-wechsel.

ursachen sie eine vermehrteSchleimproduktion in den Atemwe-gen. Im Gegensatz zur Cyclooxyge-nase-2 wird die Aktivität der 5-Li-poxygenase und somit die Entste-hung der entzündungsförderndenLeukotriene nicht über die Mengedes Enzyms in der Zelle gesteuert,sondern durch die Regulation seinerAktivität. Die in vielen Immunzel-len vorhandene 5-Lipoxygenasewird entweder durch die Erhöhungdes intrazellulären Calciumspiegelsoder durch chemische Modifikationdes Enzyms aktiviert /4/ . Dabeispielt die Anhängung von Phos-phatgruppen (Phosphorylierung)durch verschiedene Proteinkinasenwie der p38-Kinase und der Pro-teinkinasen ERK1 und ERK2 einegroße Rolle: Die p38-Kinase gehörtzur Familie der Proteinkinasen, diedurch Zellstress und durch Entzün-dungsreaktionen aktiviert werden.Die Proteinkinasen ERK1 undERK2 sind an der Weiterleitung vonWachstumssignalen beteiligt.

Die Entwicklung von Rheuma-und Asthma-Medikamenten

Stoffe, die die 5-Lipoxygenase hem-men oder die Effekte der Leukotrie-ne blockieren (Leukotrienrezeptor-Antagonisten), sind aufgrund ihrerentzündungshemmenden Effektesowie der Hemmung der Gefäßkon-traktion bei asthmatischen Prozes-sen von großem pharmazeutischenInteresse.

Zur Behandlung von Asthmawerden Wirkstoffe eingesetzt, diedie Bronchokonstriktion blockieren,indem sie die Bindung der Leuko-triene C4 und D4 an ihren Rezeptorverhindern. Leukotrienrezeptor-Antagonisten werden bei leichtembis mittelschwerem Asthma und alsZusatzmedikation bei der Therapievon Asthmatikern mit Cortison-Präparaten eingesetzt mit dem Ziel,die Cortisondosis zu reduzieren.

Inhibitoren der 5-Lipoxygenasemit ausreichender klinischer Wirk-samkeit zur Behandlung von rheu-matischen und allergischen Erkran-kungen konnten dagegen bis heutenicht entwickelt werden, obwohl 5-Lipoxygenasehemmer gegenüberden CysLT1-Rezeptor-Antagonistenden Vorteil besitzen, dass sie die Bil-dung sämtlicher 5-Lipoxygenase-Produkte im Organismus hemmen,während die Rezeptorantagonistenlediglich die Wirkung der Cystein-

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/1/ Funk, C.D.(2001) Prostaglan-dins and leukotrie-nes: advances in ei-cosanoid biology.Science 294, 1871–1875.

/2/ FitzGerald, G.A.and Patrono, C.(2001) The coxibs,selective inhibitorsof cyclooxygenase-2. N Engl J Med 345,433– 442.

/3/ FitzGerald, G. A.(2002) Cardiovas-

Literatur

cular pharmacolo-gy of nonselectivenonsteroidal anti-inflammatorydrugs and coxibs:clinical considerati-ons. Am J Cardiol89, 26 D–32 D.

/4/ Werz, O., Bür-kert, E., Fischer, L.,Szellas, D., Dishart,D., Samuelsson, B.,Rådmark, O. andSteinhilber, D.(2002) Extracellu-lar signal-regulatedkinases phosphory-

late 5-lipoxygenaseand stimulate 5-li-poxygenase pro-duct formation inleukocytes. FASEBJ 16, 1441–1443.

/5/ Werz, O., Szel-las, D., Henseler,M. and Steinhilber,D. (1998) Nonre-dox 5-lipoxygenaseinhibitors requireglutathione peroxi-dase for efficient in-hibition of 5-lipo-xygenase activity.

Mol Pharmacol 54,445– 451.

/6/ Fischer, L., Szellas, D., Rådmark, O.,Steinhilber, D. andWerz, O. (2003)Phosphorylation-and stimulus-dependent inhibiti-on of cellular 5-lipoxygenase ac-tivity by nonredox-type inhibitors. FASEB J 28, 10.1096/fj. 02 – 0815fje.

F o r s c h u n g F r a n k f u r t 3 – 4 / 2 0 0 3 61

F o r s c h u n g a k t u e l l

Beteiligung der Cyclooxygenasen an physiologischen Funktionen

Ligand

Rezeptor

Zellantwort

p38MK2 ERK 1,2

MAP kinases

Zelle

Zellkern

Leukotriene

+ Ca2+

Arachidon- säure

cPLA2

FLAP

5-LO?

Phospho-lipase C

5-LO

Eine Zellaktivierung geht oft mit einer Erhöhung des intrazellulären Calziumspie-gels und der Aktivierung verschiedener Proteinkinasen einher. Die p38-Kinase ge-hört zur Familie der Proteinkinasen, die durch Zellstress und durch Entzündungs-stimuli aktiviert werden. Die Proteinkinasen ERK1 und ERK2 sind an der Weiterlei-tung von Wachstumssignalen beteiligt. Ein weiteres, für die zelluläre Leukotrienbio-synthese relevantes Protein ist FLAP (5-Lipoxygenase-aktivierendes Protein), das dievon der cytosolischen Phospholipase A2 (cPLA2) aus Membranlipiden freigesetzteArachidonsäure der 5-Lipoxygenase als Substrat präsentiert (5-LO = 5-Lipoxygenase,cPLA2= cytosolische Phospholipase A2, FLAP = 5-Lipoxygenase aktivierendes Protein).

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haltigen Leukotriene (LTC4, LTD4)blockieren. Die bisher gefundenen5-Lipoxygenase-Hemmer der zwei-ten Generation waren nur bei einererhöhten intrazellulären Calcium-konzentration wirksam. Wurde diezelluläre 5-Lipoxygenase-Aktivitätdagegen durch Phosphorylierungoder andere Mechanismen, wie derErhöhung der intrazellulären Per-oxidkonzentration, stimuliert, zeig-te sich kaum eine Wirkung /5,6/. Da-bei haben sich in den letzten Jahrendurch zahlreiche Arbeiten auf demSektor Anhaltspunkte ergeben, dass5-Lipoxygenasehemmer nicht nurein therapeutisches Potenzial beiEntzündungen, sondern bei einerganzen Reihe weiterer Erkrankun-

gen besitzen, dazu zählen Athero-sklerose, Osteoporose und bestimm-te Krebserkrankungen wie Prostata-karzinome und Neuroblastome. DieEntwicklung von 5-Lipoxygenase-inhibitoren für bestimmte Krebser-krankungen, wie Neuroblastomeoder Prostatakarzinome, beruht aufder Beobachtung, dass das Wachs-tum dieser Krebszellen unter ande-rem auf der Freisetzung von 5-Li-poxygenaseprodukten beruht unddass die Hemmung des Enzyms beidiesen Zellen zum programmiertenZelltod (Apoptose) führt. Vor demHintergrund dieser Ergebnisse gehtdie Suchenacheffizienten 5-Lipoxy-genase-Inhibitoren in die nächsteRunde. ◆

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Die Häufigkeitsrate atopischerErkrankungen bei Kindern, wie

Heuschnupfen, Asthma, Neuroder-mitis (atopische Dermatitis), nimmtweltweit zu. Die Gründe sind viel-schichtig. Gesichert ist der Zusam-menhang zwischen der erblichenÜberempfindlichkeit gegenüber na-türlichen Substanzen (Atopie) undvermehrter Allergen- und Passiv-rauch-Exposition sowie Zunahmeder Ein-Kind-Familien, Veränderungder mikrobiologischen Besiedlungdes Darmes und Infektexposition.

Besonders gut untersucht wur-den diese Zusammenhänge von Eri-ka von Mutius in einer Studie, inder sie von 1991 bis 1992 die Häu-figkeit von Asthma in München(5030 Kinder) und Leipzig/Bitter-feld (2623 Kinder) verglichen hat/1/.Überraschenderweise war sowohldie allergische Sensibilisierung alsauch die Häufigkeit atopischer Er-krankungen, wie Heuschnupfenund Asthma, in München deutlichhöher als in Leipzig/Bitterfeld und

dies, obwohl die genetischen Vo-raussetzungen gleich waren. In denfolgenden fünf Jahren nach derWende nahm die Atopie im Ostenerheblich zu. Auch die Häufigkeitvon Heuschnupfen und die Anzahlpositiver Prick-Tests für die Allerge-ne Gräser-, Birkenpollen und Milbestieg signifikant an/2/.

Hinter diesen »nackten« Zahlenverbirgt sich oft großes individuellesLeid der betroffenen Kinder, dennnicht selten sind die kleinen Patien-ten von alltäglichen und selbstver-ständlichen Dingen ausgeschlossen,wie dem Sportunterricht in derSchule oder Ausflügen in die Natur,die in der pollenreichen Jahreszeitzu einer Strapaze werden können.Deshalb ist es wichtig, Risikokinderfrühzeitig zu behandeln.

Lebensbedingungenund Allergierisiko

Alm und Mitarbeiter verglichen dieHäufigkeit atopischer Erkrankungenzwischen 295 Kindern mit anthro-

posophischer Lebensführung aus ei-ner Steiner-Schule mit 380 Kindernaus einer Kontrollgruppe/3/. Dabeiergab sich ein signifikanter Unter-schied in den beiden Gruppen beiAsthma, Heuschnupfen, Atopie undPrick-Test: 13 Prozent atopische Er-krankungen bei Steiner-Kindern,25 Prozent bei Kontrollkindern. Diegenaue Analyse der unterschiedli-chen Lebenssituation beider Grup-pen zeigte keine Unterschiede hin-sichtlich Familienanamnese undAtopiebelastung der Eltern, im Sozialstatus, bei der Größe der Woh-nung, bei Haustieren und Passiv-rauch-Exposition. Anthroposophi-sche Kinder wurden allerdings häu-figer gestillt, nahmen weniger An-tibiotika und fiebersenkende Mittel(Antipyretika), waren kaum gegenMasern geimpft, hatten folglich mehrMasern-Infektionen und aßen mehrprobiotischen Joghurt. Diese insge-samt »natürlichere« Lebensweisekann nach den Ergebnissen der Stu-die die Wahrscheinlichkeit der Atopie

Immer mehr Kin-der leiden unter sogenannten atopi-schen Erkrankun-gen wie Heu-schnupfen, Asthmaund Neurodermitis(atopische Derma-titis). Ein Allergie-test ist meist einesder ersten diagnos-tischen Mittel.

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F o r s c h u n g a k t u e l l

Asthma und Allergien bei Kindern – Ursachen, Konsequenzen, Therapiestrategien

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reduzieren. Epidemiologische Studi-en konnten zeigen, dass atopischeErkrankungen, besonders Asthma,seltener bei Kindern von Landwir-ten, bei jüngeren Geschwistern undbei Frühgeborenen auftraten. DasTraining des Immunsystems ist beidiesen Kindern offenbar besser.

Eine normale mikrobiologischeBesiedlung des Darmes ist ebenfalls

von zentraler Bedeutung für die al-lergische Sensibilisierung sowie Ent-stehung allergischer Erkrankungen.Die stabilisierende Wirkung vonprobiotischen Mikroorganismen aufdie Darmflora und die Stimulationder Immunantwort auf spezifischeAntigene bilden die Grundlage fürerfolgreiche klinische Versuche, ato-pischen Erkrankungen durch die

Gabe von probiotischen Mikroorga-nismen entgegenzuwirken. In zweifinnischen Studien aus der Arbeits-gruppe von Isolauri zeigten Säuglin-ge mit atopischem Ekzem und Kuh-milchallergie nach vier- beziehungs-weise achtwöchiger Gabe von Lac-tobacillus GG eine signifikante Bes-serung der akuten Symptome/5/.

Diese Daten dürfen nicht darü-ber hinweg täuschen, dass es sichbei atopischen Erkrankungen, wieatopischer Dermatitis und Asthma,um ein multifaktorielles Geschehenhandelt. Wie das Training des Im-munsystems in Richtung Infektab-wehr und Immuntoleranz am bes-ten erreicht werden kann, müssenzukünftige Studien zeigen (siehe»Welchen Effekt haben lebende Jo-ghurtkulturen (Probiotika) auf dieEntwicklung von Allergien undAsthma?«, Seite 68).

Was ist Asthmabronchiale?

Das Asthma bronchiale ist die häu-figste chronische Erkrankung derAtemwege; acht Prozent aller Kin-der sind betroffen. Das Asthmabronchiale wird definiert als einechronisch entzündliche Erkrankungder Atemwege mit Atemnot als Fol-ge einer bronchialen Übererregbar-keit . Histopathologisch findet sichtypischerweise eine zelluläre Ent-zündung. Als Marker für die bron-chiale Entzündungsreaktion in derAusatemluft gilt Stickstoffmonoxid(NO) . Dieser Entzündungsmar-ker ist bei Patienten mit Asthma oh-ne Therapie signifikant erhöht.

Die alarmierende Zunahme vonAsthma erfordert eine frühere Er-kennung von asthma-gefährdetenRisikokindern. Klinische Zeichenfür ein Asthma bronchiale sindnächtlicher Husten und/oder pfei-fende Atmung, die bis zur Atemnotführen kann . Während früherviele Ärzte glaubten, dass sich kind-liches Asthma im Laufe des Lebensverwächst, weiß man heute, dassdie meisten Kinder mit Asthmabronchiale auch im Erwachsenenal-ter daran leiden. Aus diesem Grundwäre es sinnvoll, frühzeitig eineTherapie durchzuführen, die unterUmständen verhindern kann, dassdie Krankheit chronisch wird.

Es gibt eine Vielzahl von Asthma-auslösern, die in buntem Wechselvorkommen können, wobei die Al-lergie im Kindesalter, insbesondereab dem dritten Lebensjahr, sehr ver-

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F o r s c h u n g a k t u e l l

Entzündungsreaktion bei Asthma bronchiale

Mediatoren

Zytokine

Leukotriene

NO

Chronifizierung

SubepithalialeFibrose

FixierteHyperreagibilität?

Schwergradeinteilung der asthmatischen Erkrankung

Schwergrad Asthmakrisenpro Jahr

KörperlicheBelastbarkeit

Schlaf

1 leicht (episodisch) Bis 5 Normal Nicht oderselten gestört

2 mittelschwer 6 – 12 MäßigesAnstrengungsasthma

Gelegentlichgestört

3 schwer 11 – 20 StarkesAnstrengunsgasthma

Häufiggestört

Messung vonStickstoffmonoxid(NO) in der Aus-atemluft: NO giltals feinster Markerfür den Grad derbronchialen Ent-zündung, im Bildeine junge Patien-tin gemeinsammit Prof. Dr.Stefan Zielen, derdieses Verfahrenin der Behandlungam Zentrum fürKinderheilkundeund Jugendmedi-zin des Universi-tätsklinikumsFrankfurt neu ein-geführt hat.

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Mit Hilfe dieserTabelle lässt sichder Schweregradder asthmatischenErkrankungfeststellen.

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Dieses Schemaerläutert, wie derEntzündungsprozess bei Asthmabronchialeverlaufen kann.

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breitet ist und letztendlich bei etwa80 Prozent aller Kinder mit Asthmakrankheitsauslösend ist. Hierbeihandelt es sich vor allem um eineHausstaubmilbenallergie, Tierhaar-allergie und Pollenallergie. Infektespielen vor allem bei jungen Kin-dern eine wichtige Rolle (RS-Virus,Mykoplasma Pneumoniae-Infektio-nen) und führen häufig zu episodi-schen Asthmakrisen. Eine Entzün-dung der Bronchien kann aber auchdurch Atemwegsgifte verursachtsein. In der Außenluft sind diewichtigsten Schadstoffe Stickoxideund Ozon. In Innenräumen ist ne-ben Formaldehyd der Zigaretten-rauch der gefährlichste Luftschad-stoff, der die Gesundheit der Kinderdirekt beeinträchtigt, weil er dieTätigkeit der Flimmerhärchen inden Bronchien (Zilien) lähmt undso die allergische Sensibilisierungzunimmt.

Der Zusammenhang zwischendem Rückfluss des Mageninnerenin die Speiseröhre (Gastroösopha-gealer Reflux) und wiederkehren-den Infektionen der tiefen Atem-wege ist als Ursache des Intrinsic-Asthma auch bei Säuglingen be-kannt. Das Krankheitsbild variiertsehr und reicht von chronischemHusten über wiederkehrende Lun-genentzündungen (rezidivierendePneumonien) bis zu sackartigerAusweitung der Bronchien (Bron-chiektasen). Als Folge des Rückflus-ses (Reflux) von Magensäure in dieSpeiseröhre kann es zu einer chro-nischen Entzündung der Speiseröh-re und, bedingt durch eine Nerven-reizung, auch zu einer Verengungder Bronchien kommen. In einigenFällen steigt die Magensäure in derSpeiseröhre so hoch, dass sie überden Kehlkopf in die Luftröhre ge-

langt und so einen ständi-gen Reiz für die Lungendarstellt. Die wichtigsteUntersuchung zur Fest-stellung eines Reflux istdie pH-Metrie. Findensich bei dieser Untersu-chung erhöhte Säure-werte, so werden zurTherapie säure-blockierende Medika-mente oder eine operati-ve Korrektur eingesetzt.

Schwierigkeit derDiagnose imSäuglingsalter

Leider steht bisher keinTest zur Verfügung, mitdem frühkindlichesAsthma sicher diagnosti-ziert wird. Daher ist dieUnterscheidung zwischenwiederkehrender spasti-scher Bronchitis (rezidi-vierender obstruktiverBronchitis) und früh-kindlichem Asthmaschwierig. Nur 30 Prozentder Kleinkinder mit mehrals drei Krankheitsanfäl-len entwickeln ein chro-nisches Asthma. Erste ei-gene Untersuchungenzeigen aber, dass eine Un-terscheidung zwischenfrühkindlichem Asthmaund rezidivierenderBronchitis möglich ist,wenn man die Lungen-funktion des Kindes mis-st. Dazu wird dem schla-fenden Kind eine Maskeaufgesetzt, die es erlaubt,den Atemstrom aufzu-zeichnen und die bron-chiale Empfindlichkeit zu

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In diesem »Babybody« kann dieLungenfunktion bei schlafenden Säug-lingen höchst effizient und für das Kindäußerst schonend ermittelt werden: DieMaske erlaubt es, den Atemstrom aufzu-zeichnen und die bronchiale Empfind-lichkeit zu messen. Dieses Diagnose-gerät gibt es bisher nur in wenigendeutschen Kliniken, in Frankfurt ist esseit 2001 erfolgreich im Einsatz.

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Page 37: Forschung intensiv Kapriolen der Wirkungsgeschichte · 34 Forschung intensiv Forschung Frankfurt 3–4/2003 Adornos wiederbelebt hat. Wie andere Strömungen der zeitgenössischen

messen . Das Kind atmet aus ei-nem Vorratsbeutel Metacholin ein,bis es zu einem gewissen Abfall desAtemflusses kommt. Bei empfindli-chen Kindern kann Metacholin zueiner leichten Verengung der Atem-wege führen. Entwickelt ein Kinddabei in sehr seltenen Fällen einepfeifende Atmung, wird mit Hilfeeines bronchienerweiternden Medi-kaments (�-2-Mimetikum) sofortgegengesteuert.

■4 Diagnostik

Angesichts der Häufigkeit wieder-kehrender entzündlicher Erkran-kungen der Atemwege im Kindesal-ter ist ein pragmatisches Vorgehenin der Diagnostik und der Behand-lung wichtig und nötig. Zunächst istdabei zwischen häufigen und selte-nen Störungen des pulmonalen Ab-wehrsystems zu unterscheiden .Für die weiterführende Diagnostik

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ist die exakte Charakterisierung derverschiedenartigen entzündlichenErkrankungen der Atemwege einewichtige Voraussetzung. Allerdingskanndie pfeifende Atmung (»whee-zing«) in einigen Fällen auch ganzandere Ursachen haben, zum Bei-spiel Fehlbildungen im Säuglingsal-ter wie ein angeborener oder er-worbener Stabilitätsverlust der Luft-röhre durch Erweichung der Knor-pelringe.

Therapie: Je früher desto besser

Die zur Behandlung des Asthmabronchiale zur Verfügung stehen-den Medikamente können in zweiGruppen unterteilt werden: Die eine behebt ausschließlich die Symp-tome, die andere lindert vorbeu-gend die Entzündung der kleinenAtemwege. Zur ersten Gruppe ge-hören die �-2-Mimetika (Sultanoloder Bricanyl); zu den vorbeugen-den Medikamenten zählen dieChromoglycinsäure (DNCG), einLeukotrien-Antagonist (Montelu-kast) und inhalative Kortikostero-ide. Die anti-entzündliche Wirkungvon Chromoglycinsäure ist relativschwach, so dass bei frühkindli-chem Asthma entweder Montelu-

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Juckende Hautrötungen und/oderwiederholte »spastische Bronchiti-den« bei Kleinkindern sind oft dererste Hinweis auf eine Allergieoder ein Asthma bronchiale. Neue-re Erkenntnisse weisen auf die Be-deutung einer gestörten Darmflorafür die Entstehung atopischer Er-krankungen (Allergie und Asthma)hin und bilden die Grundlage fürerfolgreiche klinische Versuche, derAtopie durch die Gabe von probio-tischen Mikroorganismen entge-genzuwirken. In zwei finnischenStudien fand sich bei Säuglingenmit atopischem Ekzem und Kuh-milchallergie nach vier- beziehungs-weise achtwöchiger Gabe von Lac-tobacillus GG eine signifikante Bes-serung der akuten Symptome.Weitere Studien belegen einen ef-fektiven Nutzen von LactobacillusGG bei atopischer Dermatitis. Lac-tobacillus GG stärkt die Schutz-funktion der Darmschleimhautund erzeugt eine Immuntoleranz

bei Neurodermitikern und Nah-rungsmittelallergikern.

Eine frühe, präventive Behand-lung mit Probiotika könnte mögli-cherweise die Entwicklung von Al-lergien und Asthma bei Kindernverhindern. Eine Studie unter derLeitung von Prof. Dr. Stefan Zielensoll jetzt die Wirkung von Probioti-ka (Lactobacillus GG) bei Kindernmit leichter Allergie und Verdachtauf Asthma bei Erkältungen unter-suchen. Bei etwa 150 Kindern sollgeprüft werden, ob LactobacillusGG die Beschwerden von Klein-kindern mit häufigen obstruktiven(spastischen) Atembeschwerdenlindern kann.

Wer an dieser Studie teilnehmen möchte, kann sich an die Studienzentrale von Prof. Dr. Stefan Zielen wenden: Telefon 069/6301– 5732.

Welchen Effekt haben lebende Joghurtkulturen (Probiotika)auf die Entwicklung von Allergien und Asthma?

Dieses Kind mit deutlichen Hautentzün-dungen als Folge einer atopischen Er-krankung nimmt an der Probiotika-Stu-die des Zentrums für Kinderheilkundeund Jugendmedizin des Universitätskli-nikums Frankfurt teil. Dr. FranziskaStieglitz, Assistenzärztin, untersucht diekleinen und etwas größeren Patienten.

Störungen des pulmonalen Abwehrsystems und Behandlungsschritte

Mundatmung (Adenoide) HNO-Arzt

Zigarettenrauch Nicht im Haushalt rauchen!

Allergie Allergietest, IgE, ECP

Bronchiale Hyperreagibilität Lufu /Methacholintest

1. Behandlungsversuch über drei Monate mit Leukotrienantagonistoder inhalativen Steroiden.

2. Wenn keine Besserung weitere Diagnostik:

Partielle Immunstörungen (IgA-/IgG-Subklassen)

Pulmonal relevanter Gastro- pH-Metrie/ösophagealer Reflux Bronchoskopie/

Gastroskopie

Mukoviszidose Schweißtest

Malformationen der Lunge Bronchoskopie

Zilienstörung Frequenzmessung

häufig

selten

Ein abgestuftesKonzept zur Diag-nostik von wie-derkehrenden ent-zündlichen Er-krankungen derAtemwege hatsich in der Praxisbewährt.

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Der Autor

Prof. Dr. Stefan Zielen leitet seit 2001 den Schwerpunkt Pneu-mologie und Allergologie am Zentrum für Kinderheilkunde undJugendmedizin des Universitätsklinikums Frankfurt. Zu seinenForschungsschwerpunkten zählen allergische sowie Lungen-und Immun-Erkrankungen.

Datum

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FORSCHUNG FRANKFURT, das Wissenschafts-magazin der Johann Wolfgang Goethe-Univer-sität, stellt viermal im Jahr Forschungsaktivitätender Universität Frankfurt vor. Es wendet sich andie wissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit

und die Mitglieder und Freunde der Universität innerhalb undaußerhalb des Rhein-Main-Gebiets.

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Abonnement FORSCHUNG FRANKFURT

/1/ Von Mutius etal., 1994: Preva-lence of asthmaand atopy in twoareas of West andEast Germany. AmJ Respir Crit CareMed 194, 358–64.

/2/ Von Mutius etal.; 1998: Increa-sing prevalence ofhay fever and ato-py among childrenin Leibzig, EastGermany. Lancet351, 862–66.

/3/ Alm et al., 1999:Atopy in children

Literatur

with an anthro-posophic life style. Lancet 353,1485–8.

/4/ Gereda et al.,2000: Relation be-tween house-dustendotoxin exposu-re, type 1 T-celldevelopment andallergen sensitisati-on in infants athigh risk of asthma.Lancet 355, 1680–3.

/5/ Majamaa H, Iso-lauri E Probiotics: Anovel approach in

the management offood allergy. J All-ergy Clin Immunol1997, 99: 179–85.

/6/ Kuehr J, Brau-burger J, Zielen Set al. Efficacy ofcombination treat-ment with anti-IgEplus specific immu-notherapy in poly-sensitized childrenand adolescentswith seasonal all-ergic rhinitis.J Allergy ClinImmunol. 2002;109(2): 274–80.

kast oder inhalative Kortikosteroide eingesetzt werdensollten. Dabei gilt: Je früher die Therapie beginnt, destobesser.

Neue Therapiestrategienmit Kombinationspräparaten

In der modernen Asthmatherapie nehmen die Kombi-nationspräparate, eine Kombination aus einem inhala-tiven Kortikosteroid und lange wirksamen �-2-Mimeti-kum, einen immer größeren Stellenwert ein. Die Kom-binationspräparate vereinfachen ganz wesentlich dieTherapie und führen zu einer besseren Therapieeinstel-lung und Lebensqualität bei den Patienten.

Für Patienten mit schwerem allergischen Asthmabronchiale steht seit kurzem ein völlig neues Therapie-prinzip zur Verfügung/6/. Es handelt sich um einenmonoklonalen Antikörper gegen Immunglobulin E(IgE); IgE-Antikörper werden insbesondere bei allergi-schen Reaktionen gebildet. Allergiker haben daher er-höhte IgE-Werte im Blut. Das neue MedikamentXolair® ist ein Antikörper, der das IgE im Blut des Aller-gikers abbindet und neutralisiert. Dadurch wird der All-ergiker zum Nichtallergiker. Xolair® wird je nach Höhedes allergischen Antikörpers IgE alle zwei bis vier Wo-chen den betroffenen Patienten unter die Haut gespritzt.Die klinischen Symptome sowie die Lungenfunktionverbessern sich bei Patienten mit schwerem Asthmaerheblich und damit steigt auch die Lebensqualität.Gleichzeitig kann in den meisten Fällen die inhalativeKortisontherapie um die Hälfte reduziert werden. Diesesehr kostenintensive Therapie wird sicherlich nur beierheblichem Leidensdruck eingesetzt werden können.

Allergien nehmen in den Industriestaaten weltweitzu. In den letzten Jahren haben sich Diagnostik undTherapiemöglichkeiten von Allergien deutlich verbes-sert, so dass die Betroffenen in den allermeisten Fällenin ihrer Lebensqualität weniger beeinträchtigt sind. ◆

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Die Pleitewelle in Deutschlandsteuert nach Angaben des Bun-

desverbandes Deutscher Inkasso-Unternehmen (BDIU) auf einenneuen Höchststand zu. Für 2003 er-wartet der Verband bereits zumvierten Mal in Folge sowohl bei Un-ternehmens- als auch Verbraucher-insolvenzen Rekordmarken: Die für2003 geschätzten 40 000 Unterneh-menspleiten (zuzüglich weiterer58 000 Pleiten von Selbstständigenund Privaten) mit einem zu erwar-tenden volkswirtschaftlichen Ge-samtschaden von über 50 Milliar-den Euro tragen erheblich zurschlechten Stimmung in Deutsch-land bei. Diese Zahlen verdeutli-chen auch, wie außerordentlichwichtig ein modernes Insolvenz-recht ist, das neben dem Gläubiger-schutz auch der möglichen Sanie-rung eines Unternehmens Rech-nung trägt.

Im Gegensatz zu den USA, wodie Anzahl der Konkurse deutlichhöher liegt als in Deutschland, fin-den hierzulande Sanierungsbe-mühungen bei Unternehmen inSchwierigkeiten oftmals vor demKonkursantrag statt. Banken über-nehmen in vielen Fällen eine kon-struktive Rolle, wenn einige Bedin-gungen erfüllt sind, über die eineempirische Studie des FrankfurterCenter for Financial Studies vonAntje Brunner und Prof. Dr. Jan-Pieter Krahnen Aufschluss gibt (CFSworking paper 2001/04 »CorporateDebt Restructuring–Evidence onLender Coordination in FinancialDistress«).

Kreditdaten vonsechs Banken alsBasis der Studie

Brunner und Krahnen arbeiten aufder Basis empirischer Kreditdatenvon sechs führenden deutschenBanken des privaten, öffentlichensowie genossenschaftlichen Sektors.Dabei werden Daten von Kreditenausgewertet, die an insgesamt 124mittelständische westdeutsche Un-ternehmen mit einem Umsatz vonzwischen 25 und 250 Millionen Eu-ro und einem Mindest-Kreditvolu-

men von 1,5 Millionen Euro verge-ben wurden und die laut internemBankrating innerhalb des unter-suchten Zeitraums von 1992 bis1997 mindestens einmal in Schwie-rigkeiten geraten beziehungsweisevon einem Ausfall bedroht waren.Untersucht wird, wie die Gläubiger-struktur unter der bis 1998 gelten-den »alten« Konkursordnung dasVerhalten der Gläubiger in der Sa-nierungsphase beeinflusst. Insbe-

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Bankenpools beeinflussen Sanierung positivÜber Einflüsse des Insolvenzrechts auf das Verhalten der Gläubiger

Im Schatten dergroßen Banken:Demonstration fürden Erhalt vonHolzmann. Nichtimmer sind dieBemühungen derBanken erfolg-reich, die sich beidrohenderZahlungsunfähig-keit von Unterneh-men in so genann-ten Bankenpoolszusammenschlie-ßen, um eineaußergerichtlicheSanierung der Fir-ma zu erreichen.

sondere die Zahl und die Intensitätder Bankbeziehungen und ihre ge-zielte vertragliche Koordinationdurch Gründung eines Bankenpoolsnehmen die Wirtschaftswissen-schaftler unter die Lupe.

Wichtigstes Ergebnis: Die Grün-dung eines solchen Bankenpoolswirkt sich positiv auf die Erfolgsaus-sichten einer außergerichtlichenSanierung des Unternehmens aus.Zusätzlich gilt: Je gleichmäßiger die

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Kredite auf die Banken verteilt sind,desto höher die Wahrscheinlichkeit,dass ein Pool gegründet wird, da sogenannte »Free-Rider-Probleme«verringert werden können, beidenen sich Kleinkreditgeber nichtfür die Rettung des Unternehmensengagieren, weil sie sich hinter dengroßen verstecken und diese agie-ren lassen. Der positive Effekt desBankenpools reduziert sich jedochmit zunehmender Zahl der beteilig-ten Gläubigerbanken: Zu großePools erzeugen zu hohe Koordinati-

onskosten. Ob Pools überhauptgegründet werden, hängt von demerwarteten Sanierungserfolg ab: Je deutlicher die Schieflage desUnternehmens, gemessen am letz-ten bankinternen Rating, und jehöher der zu erwartende Forde-rungsausfall, desto stärker der Eini-gungsdruck bei den Gläubigerban-ken und ergo der Koordinationser-folg. Die Anreize des deutschenInsolvenzrechts begünstigen außer-dem auch die Bildung von Banken-pools.

Unterschiede im Insolvenz-recht USA – Deutschland

Das deutsche Insolvenzrecht, dassich traditionell eher am Gläubiger-schutz orientiert, fördert eine be-sondere Entwicklung: Die vertragli-che Koordination innerhalb einesBankenpools kann bei Unterneh-men, die in eine Schieflage geratensind, aber eine gesunde wirtschaftli-che Basis haben, eine vorzeitigeKündigung der Kreditgeber (»Run«)und damit einen Konkurs oft schon

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Das Center for Financial Studies(CFS), 1967 als »Institut für Kapi-talmarktforschung« an der JohannWolfgang Goethe-Universität ge-gründet und eng verknüpft mitdem Fachbereich Wirtschaftswis-senschaften, hat sich in den ver-gangenen fast 40 Jahren zu einerwichtigen Institution in der inter-nationalen Bankenstadt Frankfurtentwickelt, die Banker und Wis-senschaftler zusammenführt. DasCenter for Financial Studies hatsich drei wesentliche Aufgabenzum Ziele gesetzt:

• Es betreibt Forschung über Fi-nanzmärkte, Finanzintermediäreund Monetäre Ökonomie.

• Es fördert den Dialog zwischenWissenschaft und Praxis.

• Es bietet hochgradige Qualifizie-rung und Weiterbildung.

ForschungGefördert von mehr als 120 Ban-ken, Versicherungen, Industrieun-ternehmen und öffentlichen Insti-tutionen, betreibt das Center forFinancial Studies unabhängige undinternational ausgerichtete For-schung über Finanzmärkte, Finanz-intermediäre und Monetäre Öko-nomie. Dabei kooperiert das Cen-ter als deutscher Partner mit inter-nationalen Forschungszentren undist Partner mehrerer internationa-ler Forschungsnetzwerke zu The-men der Finanzmarktarchitektursowie der Rolle von Banken undBörsen. Anerkannte Wissenschaft-ler aus dem In- und Ausland besu-chen regelmäßig das Institut undwirken an den Forschungsprojek-ten mit. Die Forschung wird vonden beiden Direktoren, Prof. Dr.Jan Pieter Krahnen und Prof.

Volker Wieland, Ph. D. geleitet, diebeide auch eine Professur an derUniversität Frankfurt innehaben.

DialogDas Center for Financial Studiesbietet ein Diskussionsforum überForschungsinhalte und Praxisbe-lange in den Bereichen Finanz-märkte, Finanzintermediäre undMonetäre Ökonomie für Wissen-schaftler und Praktiker. Zu diesemZweck veranstaltet das Centerregelmäßig internationale Kon-ferenzen, Kolloquien, wissen-schaftliche Foren und Fachvor-träge zu finanzmarktrelevantenFragen. Gleichzeitig fördert dasCenter so den Gedanken- undInformationsaustausch zwischenWissenschaft und Praxis und denWissenstransfer.

WeiterbildungMit ein- bis viertägigen offenen Se-minaren sowie Inhouse-Veranstal-tungen trägt das Center for Finan-cial Studies zur Qualifizierung undWeiterbildung in den Bereichen Fi-nanzmärkte, Finanzintermediäreund Monetäre Ökonomie bei.

Renommierte Hochschullehrer,führende Praktiker und bedeuten-de ausländische Kooperationspart-ner vermitteln qualitativ hochwer-tiges Wissen sowie Methoden undInstrumente für die Umsetzung indie Praxis. Die Seminare, Konfe-renzen und Workshops wendensich dabei an mittlere und obereFührungskräfte sowie an Expertenin Fachabteilungen von Banken,Versicherungen, Handel undIndustrie.Ausführliche Informationen unter:http://www.ifk-cfs.de

Das Center for Financial Studies (CFS)

Erfahrungsaus-tausch von Ban-kern und Wirt-schaftswissen-schaftlern: Das »Center for Finan-cial Studies« ver-anstaltet regel-mäßig Tagungenund Kongresse.

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im Vorfeld verhindern. Wird einKonkurs aber tatsächlich beantragt,findet mangels Masse in zwei Drittelder Fälle keine Verfahrenseröffnungstatt. Von dem übrigen Drittel wer-den weitere 20 Prozent nach Eröff-nung mangels Masse eingestellt.Wird ein Konkurs abgewickelt, er-halten die Gläubiger durchschnitt-lich nur zwischen drei und fünf Pro-zent ihrer Forderungen.

Konkurse in Deutschland neh-men zwar zu, sind aber im Vergleichzu den USA selten. In den USA istbei Konkursen, die unter Kapitel 11(»Reorganisation«) des US-Kon-kursrechts abgewickelt werden, dieWahrscheinlichkeit eines (vorüber-gehenden?) Sanierungserfolgesdeutlich größer. Beide Systemeführen zu unterschiedlicher Macht-verteilung zwischen dem Schuldnerund seinen Gläubigern in der Krise:In Deutschland ist eine enge Ab-stimmung des Managements mitseinen Gläubigerbanken im Vorfeldeines Konkurses Voraussetzung fürdas weitere Engagement der Ban-ken. Setzt dann das offizielle Kon-kursverfahren ein (was es zu ver-hindern galt), hat das Managementhingegen keine operativen Möglich-keiten mehr; ein Konkursverwalterübernimmt die Führung. In Ameri-ka hingegen bleibt die Entschei-dungskompetenz länger beim Ma-nagement (»automatic stay«). So-mit ist es den Gläubigern erschwert,die Forderungen einzutreiben. Dasbedeutet, dass die Gläubiger ge-

genüber dem Schuldner nicht mehraktiv werden können. Die gesetzlichfestgelegte Rangfolge der amerika-nischen Gläubiger (»secured-priori-ty-unsecured creditors«) führt dar-über hinaus eher dazu, dass bevor-zugte Investoren bereit sind, frischesGeld für eine Sanierung zu geben,da ihre Ansprüche an das Unter-nehmen dann besser abgesichertsind.

Die vorherrschende Kritik am al-ten deutschen Konkursrecht, es seiwenig sanierungsorientiert – häufigim amerikanischen Vergleich – er-weist sich also sogar für das alte, bis1998 geltende Konkursrecht als fehlam Platze. Deutsche Unternehmenim Konkurs befinden sich in einemStadium, in dem die Bemühungender Gläubiger bereits gescheitertsind; meistens findet schon kein Ge-schäft mehr statt, die Produktion istlängst gestoppt. In amerikanischenKonkursverfahren hingegen be-ginnt die Umstrukturierung des Un-ternehmens und die Abstimmungmit den Gläubigern über einen Sa-nierungsplan häufig erst mit derformellen Eröffnung des Konkurs-verfahrens.

Auswirkungen der neuen In-solvenzordnung

Die neue Insolvenzordnung inDeutschland, die seit dem 1. Januar1999 gilt, ersetzt alle bisher im Kon-kursrecht geltenden Gesetze. Sie hatdie alte Konkursordnung von 1877in Teilen geändert und Teile der

amerikanischen Gesetzgebungübernommen. So gibt es jetzt bei-spielsweise auch in einem abge-schwächten Sinne die Möglichkeitdes »automatic stay«, wenn derSchuldner den Schutz der Insolvenz-ordnung sucht: Das Managementbehält aber auch weiter keine Kon-trolle über das Unternehmen, diesegeht an einen Insolvenzverwalterüber, jedoch wird der Zugriff aufund die Verwertung von Sicherhei-ten durch die Gläubiger beschränkt,ähnlich wie es im amerikanischenRecht der Fall ist.

Die Bankenpools, die das altedeutsche Insolvenzrecht induzierthat, waren für die deutsche Indus-trie von Vorteil, weil so ein sanie-rungsfreundliches Umfeld geschaf-fen wurde. Die Anreize, im Vorfeldder Insolvenz einen Gläubigerpoolzu bilden, werden unter dem neuenGesetz zwar nicht ganz abgeschafft.Welche Auswirkungen dies aller-dings auf die Bereitschaft der Ban-ken zu Poolbildung und Sanie-rungsaktivität haben wird, musserst die Praxis der nächsten Jahrenzeigen. ◆

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Die Autorin

Diplom-Volkswirtin Ulrike Lexis arbeitetezunächst als Referentin im Wirtschaft-ministerium Schleswig-Holstein, dannfür die Bertelsmann Stiftung Güterslohals Projektleiterin »Ökonomische Bil-dung und Qualifizierung« und ist seit Fe-bruar 2003 im Center for Financial Stu-dies als Head of Research Managementtätig.

Weitere Informationen im Internet:www.ifk-cfs.de.Working paper2001/04

Neuer Höchst-stand: 40 000Pleiten von Unter-nehmen und Ge-schäften werdenfür dieses Jahr er-wartet.