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Fortschritt oder Manipulation total?Medizinische Einflussnahme von der Wiege bis zur Bahre
Teil 1: LebensanfangNeonatologie – die Wissenschaft vomLeben um jeden Preis?
Priv. Doz. Dr. med. habil. Thomas ErlerChefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Entwicklung der Neugeborenen-Intensivmedizin
50 – 60er Jahre: Kinder unter 2000 g begrenzt
lebensfähig, z.B. keine künstliche Beatmung
siebziger Jahre: Kinder unter 1500 g wurden nicht
beatmet
achtziger Jahre: Kinder unter 1000 g galten als Abort
neunziger Jahre: Überlebensgrenze 500 g
21. Jahrhundert: ?????????????
Frage:
Kann die Entscheidung für oder gegen medizinische Maßnahmen von einer Dezimalstelle abhängig gemacht werden?
Statistik - 1 -
6 – 10% aller Kinder in westlichen Industrienationen sind Frühgeborene
0,6% kommen mehr als 12 Wochen zu früh zur Welt und wiegen weniger als 1000g
0,2% kommen mehr als 15 Wochen zu früh zur Welt und wiegen unter 750g
in Deutschland: jährlich 7500 FG vor der 32. SSW (= 1% aller NG)
bis 30% der FG haben bleibende motorische und kognitive Störungen
jedes 4. dieser Kinder besucht eine Sonderschule
Mortalität bei Frühgeborenen mit 25 SSW
liegt unter 30%
bei 24 SSW Mortalität 5 – 10% höher
vor 22. SSW keine Lebensfähigkeit
Statistik - 2 -
Kleinstes Baby der Welt hat gute Chancen auf Überleben
Mit 243 g geborenes Mädchen entwickelt sich prächtig
Wenige Tage vor Weihnachten 2004 haben amerikanische Kinderärzte vom wundersamen Überleben eines winzigen Frühchens berichtet. Das kleine Mädchen, das bei seiner vorzeitigen Geburt vor nunmehr sechs Monaten nicht viel größer als ein Mobiltelefon war, entwickele sich prächtig und solle im Januar das Krankenhaus verlassen können, teilten Kinderärzte der Uniklinik von Loyola im US-Bundesstaat Illinois mit. Noch nie zuvor habe ein so kleines Baby überlebt. Die kleine Rumeisa Rahman habe bei ihrer Geburt nur 243 g auf die Waage gebracht. Nach 3 Monaten im Brutkasten habe sie inzwischen auf 1,19 Kilo zugelegt. Ihre Zwillingsschwester Hiba sei von 567 g auf stattliche 2,25 Kilo angewachsen.
Kneifel G: Frühgeborene im Zentrum. In Perinatalzentren haben die ganz Kleinen die besseren Chancen. Pädiatrix 1/03, 2005, 19-21
10
15
20
25
30
35
1950 196519601955 1970 19801975
Geburtsjahrgänge
Häu
figke
it in
%
Entwicklung des prozentualen Anteils schwerer Behinderungen bei kranken Früh- und Neugeborenen
Einführung der CPAP-Atemhilfe zur Behandlung des ANS beim Frühgeborenen
12
3
4
5 6 78
91011, 12,
1314
15
16
Der Fall 1 aus der Praxis: in einem kleinen Krankenhaus der Region
erleidet eine junge Frau einen Abort geboren wird ein 600 g schwerer Fötus ohne
Lebenszeichen er wird in einer abgedeckten Schüssel (ohne
Wasser!) in einer Gerätekammer vorläufig aufbewahrt
nach einigen Minuten hört die Hebamme ein klägliches Schreien aus der Schüssel
Der Fall 1 aus der Praxis:
aus Cottbus wird der Baby-Notarzt benachrichtigt das Kind wird vor Ort intensivmedizinisch versorgt und nach
Cottbus verlegt hier erleidet es eine schwere Hirnblutung mit nachfolgender
Entwicklung eines Hydrocephalus (Wasserkopf) über mehrere Wochen muss Hirnwasser abpunktiert werden lange Zeit ist eine künstliche Beatmung erforderlich im Alter von ca. 2 Monaten wird eine Hirnwasserableitung
implantiert nach etwa 6 Behandlungsmonaten wird das Kind nach Hause
entlassen die gesamten Behandlungskosten belaufen sich auf mind. 100.000
€
Der Fall 1 aus der Praxis:
Julia heute
Der Fall 1 aus der Praxis:
Betreuung in Spezialklinik: Frühgeburtsbestrebungen in 26.
SSW
Geburt per Kaiserschnitt: 500 g Geburtsgewicht
sofortige intensivmedizinische Betreuung
am 2. Lebenstag schwere Hirnblutung
Ausgang: Überleben mit schwerster Behinderung: kein Laufen,
kein Sprechen, Epilepsie, kein Leben ohne fremde Hilfe
Der Fall 2 aus der Praxis:
um 20.37 Uhr kommt ein 606 g schwerer Junge zur
Welt
um 20.42 Uhr folgt ein 596 g schweres Mädchen
Ausrüstung: modernstes Neonatal-Equipment
Entscheidung: keine Intensivtherapie beide Kinder
sterben fast gleichzeitig um 21.05 Uhr
Der Fall 3 aus der Praxis:
Meinung der zuständigen Chefärztin:„Jeder Versuch einer intensivmedizinischen Behandlung wäre eine unzumutbare Gewalt gegen einen sterbenden Menschen gewesen!“
Der Fall 3 aus der Praxis:
Anzeige der Mutter bei Staatsanwaltschaft:Ermittlung gegen Chefärztin wegen des Verdachts der Tötung durch Unterlassen.Veranlassung einer gerichtsmedizinischen Obduktion beider Kinder.
Fragen zur Diskussion: Wo liegt die Grenze der Überlebensfähigkeit?
Wann ist „früh“ zu früh, wann ist „klein“ zu klein?
Wie weit soll medizinische Forschung gehen dürfen?
Wer soll über den Einsatz intensivmedizinischer Maßnahmen bei FG
entscheiden?
Wo endet unterlassene Hilfeleistung und beginnt passive oder gar aktive
Sterbehilfe?
Wann darf Intensivmedizin beendet werden?
Was ist unmoralischer: Maßnahmen vorzuenthalten oder schwere
Behinderungen in Kauf zu nehmen?