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Michel Foucault Was ist Kritik? Aus dem Französischen von Walter Seitter Merve Verlag Berlin JUMo  I niv rsität  amburg Fachlr.b c'-iok Sozial- i.cchafisn v<  k  MM

FOUCAULT 1992 Was Ist Kritik

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Michel Foucault

Was ist Kritik?

Aus dem Französischen

von Walter Seitter

Merve Verlag Berlin

J U M o I

Universität HamburgF a c h l r . b c ' - i o k

S o z i a l - i . c c h a f i s n

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Titel der O r iginalausg abe:

Qu'est-ce que lacr i t ique?

[crit ique et Aufklärung]

© Bullet in de la Societe fransaise de Philosophie,

Band LXXXIV, Paris Apri l-Juni 1990

© der deutschen Ausgabe 1992 beim Merve Ver lag Ber l in

Post fach 150 927,1 Ber l in 15. Pr inted in Germany.

Druck- und Bindearbeiten: Dressler, Berl in

Satz: SupportAgentur Gabler & Lutz, Berl in

Umschlagentwurf : Jochen Stankowski, Köln

ISBN 3-88396-093-4

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Anstatt eines Textes eines unserer Vortragenden, der

die Veröffentlichung seines Textes nicht wünschte,

liegt hier - unter einem Titel, der nicht von seinemAutor stammt - der Beitrag von Michel Foucault vor,

der am 27. Mai 1978 vorgetragen wurde und veröf-

fentlicht werden sollte. Der Text ist von seinem Autor

nicht redigiert worden und ist so in unserem Archiv

geblieben. W ir haben uns nicht autorisiert ge fühlt, sei-

nen Text zu überarbeiten. Vielmehr haben wir dem

Text seinen mündlichen Vortragscharakter belassen(und davon setzen w ir den Leser in Kenntnis), indem

wir ein Minimum an Interpunktion und grammatischer

Konstruktion einführen, um den Gewohnhe iten des

Leserauges Genüge zu tun.

Als Inhaberin dieses Textes, der vor ihr und für sie

gesprochen worden ist, hat die Societö frangaise de

philosophie die Transkription in ihrer eigenen Verant-

wortung vorgenom men. Die Fehler, die sich einge-schlichen haben mögen, gehen daher auf das Konto

der Transkriptoren, die dem Publikum einen bedeu-

tenden Beitrag nicht vorenthalten wollten.* Wir hoffen,

daß diejenigen, d ie Michel Foucault gekannt, geliebt,

bewundert haben, hier etwas von seinem Denken,

etwas von seiner Stimm e wiederfinden.

Die Redaktion des Bulletin de la

Sociötö frangaise de philosophie

* Der Text wurde von Mon ique Em ery transkribiert und dann vo n

Suzann e Delorme , Christiane Me nasseyre, Frangois A zouvi,

Jean Marie Beyssade und Dominique Seglard durchgesehen.

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Henri Gouhier: Meine Damen und Herren! Ich dankezunächst einmal Herrn Michel Foucault dafür, daß er

diesen Vortrag trotz vielen Verpf l ichtungen zugesagthat - wir hören ihn kurze Zeit nach seiner Rückkehraus Japan. Deswegen war die Einladung zu dieserSitzung eher lakonisch gehalten. Und eben deswegenist der Vortrag Michel Foucaults eine Überraschung.Da es sich um eine gute Überraschung handelndürfte, schiebe ich das Vergnügen ihn zu hören nicht

länger hinaus.

Michel Foucault: Ich danke Ihnen vielmals für die Ein-ladung zu dieser Versammlung und in diese Gesel l-schaft. Ich glaube, daß ich hier bereits vor ungefährzehn Jahren einen Vortrag gehalten habe zumThema: Was ist ein Autor?

Der Frage, über die ich heute zu Ihnen sprechenmöchte, habe ich keinen Titel gegeben. Herr Gouhierhat Ihnen nachsichtigerweise mitgeteil t , der Grunddafür sei mein Japan-Aufenthalt. Das ist eine sehr lie-benswürdige Modif iz ierung der Wahrheit . Tatsächl ichhatte ich bis vor einigen T age n k einen Titel ge fund en -oder vielmehr es gab einen, der mich verfolgt hat, denich jedoch nicht wählen wollte. Sie werden gleichsehen warum : es wäre un anständig gewesen.

In Wirklichkeit lautet die Frage, von der ich Ihnensprechen wol l te und sprechen wi l l : Was ist Kritik? Ichsollte versuchen, etwas zu diesem Projekt zu sagen,

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das sich unablässig formiert, sich fortsetzt und immerwieder von neuem ersteht - an den Grenzen der Phi-losophie, ganz bei ihr, ganz gegen sie, auf ihre Ko-sten, im Hinblick auf eine kommende Philosophie oderanstelle jeder möglichen Philosophie. Mir scheint, daßes im modernen Abendland (etwa seit dem 15. oder16. Jahrhundert) zwischen der erhabenen Unterneh-mung Kants und den kleinen polemisch-professionel-len Aktivitäten, die den Namen Kritik tragen, eine

Gemeinsamkeit gibt: eine best immte Art zu denken,zu sagen, zu handeln auch, ein bestimmtes Verhältniszu dem, was exist iert , zu dem, was man weiß, zudem, was man macht, ein Verhältnis zur Gesellschaft,zur Kultur, ein Verhältnis zu den anderen auch -etwas, was man die Haltung der Krit ik nennen könnte.Sie mögen wohl erstaunen, wenn Sie hören, daß so

etwas wie die kritische Haltung für die moderne Zivil i-sation typisch sein soll, wo es doch Krit iken, Polemi-ken usw. in Hülle und Fülle gegeben hat und sogardie kantischen Probleme Ursprünge haben, die weitüber das 15. oder 16. Jahrhundert zurückreichen.Man m ag auch darüber erstaunen, daß man hier jenerKrit ik eine Einheit zusprechen möchte, wo doch die

Krit ik von Natur aus und sozusa gen von Berufs w eg ender Zerstreuung, der Abhängigkeit, der puren Hetero-nomie unterliegt. Schließlich existiert die Kritik nur imVerhältnis zu etwas anderem als sie selbst: sie ist In-strument, Mittel zu einer Zukunft oder zu einer Wahr-

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heil, die sie weder kennen noch sein wird, sie ist einBlick auf einen Bereich, in dem sie als Polizei auftre-

ten wil l , nicht aber ihr Gesetz durchsetzen kann. Alldas macht, daß sie eine Funktion ist, die dem unter-geordnet ist , was die Phi losophie, die Wissenschaft ,die Polit ik, die Moral, das Recht, die Literatur usw.posit iv darstel len. Und welches auch die Vergnügenoder die Entschädigungen sein mögen, die mit diesersonderbaren Kri t ik-Akt ivi tät verbunden sind: es

scheint, daß sie zumeist nicht nur ihren strengenNützl ichkeits-Anspruch vor sich her trägt, sondernauch noch von einem al lgemeineren Imperat iv getra-gen wird - nicht nur von dem Imperativ, Irrtümer aus-zumerzen. Es gibt etwas in der Krit ik, das sich mit derTugend verschwägert. Ich möchte Ihnen gewisser-maßen von der kr i t ischen Haltung als Tugend im alt-

gem einen sprechen.Es gibt ziemlich viele Wege, um die Geschichte

dieser krit ischen Haltung zu schreiben. Ich möchteIhnen hier einen mögl ichen Weg vorschlagen - dervon der christ l ichen Pastoral ausgeht. Die christ l ichePastoral bzw. die christ l iche Kirche, insofern sie ebeneine spezif isch pastorale Aktivität entfaltete, hat dieeinzigart ige und der antiken Kultur wohl gänzlich frem-de Idee entwickelt , daß jedes Individuum unabhängigvon seinem Alter, von seiner Stel lung sein ganz es Le-ben hindurch und bis ins Detail seiner Aktionen hineinregiert werden müsse und sich regieren lassen rrtüs-

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se: daß es sich zu seinem Heil lenken lassen müsseund zwar von jem andem , mit de m es in einem um fas-

senden und zugleich peniblen Gehorsamsverhältnisverbunden sei. Und diese Operation der Lenkung zumHeil in einem Gehorsamsverhältnis mit jemandemmuß sich in einem dreifachen Verhältnis zur Wahrheitvollziehen: Wahrheit verstanden als Dogma; Wahrheitauch insofern, als diese Lenkung eine speziel le undindividualisierende Erkennung der Individuen impli-

ziert; un d sch ließlich auch insofern, als diese Le nku ngsich als eine reflektierte Technik entpuppt, die allge-meine Regeln, besondere Erkenntnisse, Vorschriftenund Methoden für Untersuchungen, Geständnisse,Gespräche usw. enthält. Man darf nicht vergessen,daß es die Gewissensführung war, die man jahrhun-dertelang in der griechischen Kirche techne technon

und in der röm ischen K irche ars artium nannte: es wardie Kunst, die Menschen zu regieren. Gewiß ist dieseRegierungskunst lange Zeit, auch noch in der mittel-alterl ichen Gesellschaft, relativ beschränkt geblieben:gebunden an die klösterl iche Existenz, praktizierthauptsächl ich von besonderen geist l ichen Gruppen.Aber ich glaube, daß es vom 15. Jahrhundert an, be-

reits vor der Reformation, eine wirkliche Explosion derMenschenregierungskunst gegeben hat - Explosion ineinem zweifachen Sinne. Zunächst ist diese Kunstüber ihre religiöse Herkunft hinausgegangen: sie hatsich also laisiert und in der zivilen Gesellschaft ausge-

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breitet. Sodann hat sich diese Regierungskunst in denverschiedensten Bereichen vervielfält igt: wie regiert

man die Kinder, wie regiert man die Armen und dieBettler, wie regiert man eine Familie, ein Haus, wie re-giert man die Heere, wie regiert man die verschiede-nen Gruppen, die Städte, die Staaten, wie regiert manseinen eigenen Körper, wie regiert man seinen eige-nen Geist? Wie regiert man? - ich glaube, daß daseine der grundlegenden Fragen des 15. und 16. Jahr-

hunderts gewesen ist. Auf diese grundlegende Fragehat die Vervielfält igung aller Regierungskünste - derpädagogischen Kunst, der pol i t ischen Kunst, der öko-nomischen Kunst - sowie die Vervielfält igung allerRegierungseinr ichtungen geantwortet - in dem weitenSinn, den da s Wort R egierung dam als hatte.

Doch kann von dieser Regierungsentfal tung, die

mir für die Gesel lschaften des europäischen Abend-landes im 16. Jahrhundert charakterist isch erscheint,die Frage, "wie man denn nicht regiert wird", nicht ge-trennt we rden . Dam it wil l ich nicht sagen, daß sich derRegierungsintensivierung direkt die konträre Behaup-tung entgegengesetzt hätte: "Wir wollen nicht regiertwerden und wir wollen rein gar nicht regiert werden!"

Ich wil l sagen, daß sich in jener großen Unruhe umdie Regierung und die Regierungsweisen auch dieständige Frage feststellen läßt: "Wie ist es möglich,daß man nicht derart ig, im Namen dieser Prinzipienda, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren

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regier! wird - daß man nicht so und nicht dafür undnicht von denen da regiert wird?" Wenn man diese

Bewegung der Regierbarmachung der Gesel lschaftund der Individuen historisch angemessen einschätztund einordnet, dann kann man ihm, glaube ich, daszur Seite stellen, was ich die kritische Haltung nenne.Als Gegen stück zu den Regierungskünsten, g leichzei-tig ihre Partnerin und ihre Widersacherin, als Weiseihnen zu mißtrauen, sie abzulehnen, sie zu be gren zen

und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transfor-mieren, ihnen zu entwischen oder sie immerhin zuverschieben zu suchen, als Posten zu ihrer Hinhal-tung und doch auch als Linie der Entfaltung der Re-gierungskünste ist damals in Europa eine Kulturformentstanden, eine moralische und polit ische Haltung,eine Denkungsart, welche ich nenne: die Kunst nicht

regiert zu werden bzw. die Kunst nicht auf diese Wei-se und um diesen Preis regiert zu werden. Als ersteDefinition der Kritik schlage ich also die allgemeineCharakterisierung vor: die Kunst nicht dermaßenregiert zu w erden .

Sie mögen mir sagen, daß diese Definit ion ziem-lich allgem ein, vage und unb estimm t ist. Gew iß! Trotz-dem glaube ich, daß sie es möglich macht, einigehistorische Anhaltspunkte für die von mir so genanntekritische Haltung zu fixieren:

1. Erster Anhaltspunkt: in einer Epoche, in der dieMenschenregierung wesentl ich eine geistl iche Kunst

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war bzw. eine religiöse Praktik, die an die Autorität derKirche, an das Lehramt der Heil igen Schrift gebunden

war, l ief der Wil le, nicht dermaßen regiert zu werden,darüber, daß man zur Heil igen Schrift ein anderesVerhältnis suchte als dasjenige, das mit der Lehre vonGott verbunden war; nicht regiert werden wollen hießdas kirchl iche Lehramt verweigern, zurückw eisen o dereinschränken; es hieß zur Heil igen Schrift zurückkeh-ren; es hieß sich fragen , was in der Sch rift au then tisch

ist, was in der Schrift tatsächlich geschrieben wordenist, welche Art von Wahrheit von der Schrift gesagtwird, wie man den Zugang zu dieser Wahrheit derSchrift in der Schrift und viel leicht trotz des Geschrie-benen f indet; schließlich hieß es sogar zu der einfa-chen Frage vo rdr ingen : Ist die Schri ft wahr? V on J oh nWiclif bis zu Pierre Bayle hat sich die Kritik zu einem

beträchtl ichen Teil im Verhältnis zur Heil igen Schriftentwickelt, Die Kritik ist historisch gesehen biblisch,

2. Zweiter Anhaltspunkt: nicht regiert werden wol-len, nicht dermaßen regiert werden wollen, das heißtauch, diese Gesetze da nicht mehr annehmen wol len,weil sie ungerecht sind, weil sie unter ihrer Altehrwür-digkeit oder unter dem bedrohl ichen Glanz, den ihnender heut ige Souverän ver leiht, eine wesenhafte Un-rechtmäßigkeit bergen. Unter diesem Gesichtspunktheißt also Krit ik: der Regierung und dem von ihr ver-langten Gehorsam universale und unverjährbareRechte entgegensetzen, denen sich jedwede Regie-

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rung, handle es s ich um den Monarchen, um das Ge-r icht , um den Erzieher, um den Famil ienvater, unter-

werfen muß. Wir haben es hier mi t dem Problem desNaturrechts zu tun.

Das Naturrecht is t gewiß keine Erf indung der Re-naissance. Aber es hat sei t dem 16. Jahrhundert einekr i t ische Funkt ion angenommen, d ie es immer behal -ten wird. Auf die Frage "Wie nicht regiert werden?"antwortet es: "Welches s ind die Grenzen des Rechtszu regieren?" Hier ist die Krit ik wesentl ich juridisch.

3. "Nicht regiert werden wol len" heißt s c h l i e ß l i c h

auch: nicht als wahr annehmen, was eine Autori tät alswahr ansagt, oder jedenfal ls nicht etwas als wahrannehmen, wei l eine Autori tät es als wahr v o r s c h r e i b t .

Es heißt : etwas nur annehmen, wenn man die Grün-

de es anzunehmen s e l b e r für gut bef indet. DiesesMa l geht die Krit ik vom Pro blem d er G e w i ß h e i t g e g e n -

über der Autori tät aus.

Die Bibel, das Recht, die Wissenschaft; die Schrif t ,die Natur, das Verhältnis zu sich; das Lehramt , dasbesetz, die Autorität des Dogmatismus. Man sieht ,

wie das Spiel zwischen der Regierungsintensivierung

und der Kritik zu Phänomenen geführt hat, die in derGeschichte der abendländischen Kultur sehr wichtig

sind: sei es für die E n t w i c k l u n g der p h i l o l o g i s c h e n

Wissenschaften, sei es für die Entwicklung der Refle-

xion, der juridischen Analyse sowie der methodologi-

schen Reflexion. Vor allem aber sieht man, daß der

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Entstehungsherd der Kritik im wesentlichen das Bün-

del der Beziehungen zwischen der Macht, der Wahr-heit und de m Subjekt ist. W en n es sich bei der Reg ie-

rungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen

Praxis die Individuen zu unterwerfen - und zw ar durch

Machtmechanismen, die sich auf Wahrhei t berufen,

dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in

welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die

Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und

die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist dieKritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft , der

ref lekt ierten Unfügsam keit. In dem Spiel, das m an die

Politik de r W ahrheit n enn en könnte, hätte die Kritik die

Funkt ion der Entunterwerfung.Obwohl diese Definition bloß empirisch und ziem-

lich ungenau ist, maße ich mir an zu denken, daß sie

nicht weit entfernt ist von jener Definition, die Kant

gegeben hat: allerdings nicht von der Kritik sondernvon der Aufklärung\ Tatsächlich hat Kant in seinemText von 1784 Was ist Aufklärung? die Aufklärung imVerhältnis zu einem Zustand der Unmündigkeit defi-niert, in welchem die Menschheit - autoritärerweise -

gehalten werde. Zweitens hat er diese Unmündigkeitals eine gewisse Unfähigkeit charakterisiert, in der die

Menschheit gehalten werde: die Unfähigkeit, sichseines eigenen Vers tandes ohne die Leitung eines

anderen zu bedienen - er verwendet das Wort leiten,

Aufklärung im Original immer deutsch

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das einen historisch bestimmten rel igiösen Sinn hat.Drittens glaube ich, ist es charakteristisch, daß Kant

diese Unfähigkeit durch eine bestimmte Beziehungzwischen einer übermäßigen Autorität, welche dieMenschheit in dem Zustand der Unmündigkeit halte,und andererseits einem Mangel an Entschlossenheitund Mut definiert hat. Folglich ist diese Definition derAufklärung nicht einfach eine historische und spekula-t ive Definit ion, sondern etwas was man beinahe eine

Predigt nennen könnte - oder sagen wir: einen Appellan den Mut. Man darf nicht vergessen, daß es einZeitschriftenartikel war. Es wären die Beziehungenzwischen der Philosophie und dem Journalismus seitdem Ende des 18. Jahrhunderts zu untersuchen ... essei denn, sie sind schon untersucht, aber ich bin nichtsicher. Es ist sehr interessant zu sehen, von welchem

Moment an die Philosophen in den Zeitungen auftau-chen, um etwas zu sagen, was für sie philosophischinteressant ist und wa s sich doch - mit App ell-Effekten- an die Öffentlichkeit richtet. Und schließlich ist escharakterist isch, daß Kant in dem Text zur Aufklärung

als Beispiele für die Unmündigkeit, aus der die Aufklä-

rungöle Menschen ausgehen lassen sollte, die Berei-che der Religion, des Rechts und der Erkenntnisnennt. Was Kant als Aufklärung beschrieben hat, isteben das, was ich als Kritik charakterisiere: als diekrit ische Haltung, die man im Abendland als besonde-re Haltung neben dem großen historischen Prozeß

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der Regierbarmachung der Gesel lschaft auftauchensieht. Wie definiert nun Kant die Kritik im Verhältnis

zur Aufklärung - deren Devise (Kant erinnert daran)"sapere aude" lautet, der wiederum die Stimme Fried-richs II. kontrapunktisch gegenübersteht: "Räsonniert,so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; abergehorcht!"? Ich maße mir nicht an, Kants krit ischesProjekt in seiner philosophischen Strenge zu bestim-men - schon gar nicht vor einem solchen Auditor iumvon Phi losophen, wo ich doch selber kein Phi losophbin, vielleicht gerade noch ein Kritiker... Aber wie kannman die eigentl iche Krit ik im Verhältnis zu jenerAufklärung situieren? Wenn Kant die gesamte vor-angegangene kr i t ische Bewegung als Aufklärung

bezeichnet - wie situiert er dann das, was er selberunter Krit ik versteht? Im Verhältnis zur Aufklärung is tdie K rit ik für Kant das, wa s er zum W isse n sagt: We ißtdu auch, wie weit du wissen kannst? Räsonniere soviel du wil lst - aber weißt du denn, bis wohin du ohneGefahr räsonnieren kannst? Die Krit ik also wirdsagen: um unsere Freiheit geht es weniger in dem,was wir mit mehr oder weniger Mut unternehmen als

vielmehr in der Idee, die wir uns von unserer Erkennt-nis und ihren Grenzen machen, und folgl ich brauchtman sich nicht von einem anderen "Gehorcht!" sagenlassen, um das Prinzip der Autonomie zu entdecken,vielmehr hat man sich von seiner eigenen Erkenntniseine r ichtige Idee zu machen. Dann wird das "Ge-

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horcht!"auf der Auton om ie selbst gegrün det sein.Ich möchte hier nicht den Gegensatz aufzeigen,

den es bei Kant zwischen der A nalyse der Aufklärungund dem Projekt der Krit ik geben mag. Es l ieße sichleicht zeigen, daß für Kant selber jener wahre Mut zuwissen, den die Aufklärung errufen wol l te, daß ebenjener Mut zum Wissen dar in besteht, die Grenzen derErkenntnis zu erkennen; und es ließe sich leicht zei-gen, daß für ihn die Autonomie keineswegs dem

Gehorsam gegenüber den Souveränen entgegen-steht. Dennoch bleibt es wahr, daß Kant dem kriti-schen Unternehmen der Entunterwerfung gegenüberdem Spiel der Macht und der Wahrheit als vorgängigeAufgabe - als Prolegomenon zu jeder gegenwärt igenund künft igen Aufklärung - die Erkenntnis der Erkennt-nis aufbürdet.

*

Bei Kant sind also Aufklärung und Krit ik dergestalt ge-geneinander verschoben - doch möchte ich nicht da-bei verw eilen. Ich wil l nur auf den historischen As pek tdes Problems eingehen, das sich aus dem ergibt, wasim 19. Jahrhundert passiert ist. Die Geschichte des19. Jahrhunderts hat der Unternehmung der Krit ik, dieKant selber hinter der Aufklärung angesetzt hatte, einstärkeres Weiterleben verschafft als der Aufklärung

selbst. Die Geschichte des 19. Jahrhunderts - und

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erst recht die des 20, Jah rhun derts - schien K ant inso-fern recht geben zu müssen, als sie jene neue krit i-

sche Haltung konkretisiert hat, die Kant im Rückstandzur Aufklärung eröffnet hatte.

Die geschichtl iche Entfaltung, die der kantischenKri t ik in weit höherem Ausmaß beschieden war alsdem Mut der Aufklärung, vollzog sich auf drei Linien.Erstens war es die posit ivist ische Wissenschaft, d.h.eine Wissenschaft , die ein vol lständiges Vertrauen zusich hatte, wofern sie gegenüber jedem ihrer Ergeb-nisse sorgfält ig krit isch war. Zweitens die Entwicklungeines Staates oder eines staat l ichen Systems, dassich selbst als grundlegende Vernunft oder Rationali-tät der Geschichte ausgab und dessen Methoden Ra-t ional isierungen der Wirtschaft und der Gesel lschaft

waren. Drittens entstand schließlich an der Nahtstel lezwischen diesem wissenschaft l ichen Posit iv ismus unddieser Staatenentwicklung eine Staatswissenschaftoder ein "Etat ismus". Zwischen ihnen knüpft sich einNetz von engen Beziehungen, insofern die Wissen-schaft für die Entfaltung der Produktivkräfte immerbest immender wird und zum anderen die Staatsge-

wa lten sich in imm er raff inierter we rden den Tec hnike nvol lziehen. Deswegen nimmt die Frage von 1784'Was ist Aufklärung?" oder vielmehr die Art und Wei-se, in der Kant mit seiner Stellungnahme sein kriti-sches Unternehmen situiert, nimmt also die Problema-t isierung der Beziehungen zwischen Aufklärung und

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Kritik die F orm eines M ißtrauens , jedenfalls eines Ve r-dachts an: für welche Machtsteigerungen, für welche

Regierungsentfal tung, die umso unabwendbarer sindals sie sich auf Vernunft berufen, ist diese Vernunftselbst historisch verantwortlich?

Die Entwicklung dieser Frage war in Deutschlandund in Frankreich nicht die gleiche - und zwar aushistorischen Gründen, die analysiert werden müßten,we il sie komplex sind.

Man könnte etwa folgendes sagen: weniger auf-grund einer jüngeren Entwicklung eines neuen undvernünft igen Staates in Deutschland als vielmehr auf-grund einer alten Zugehörigkeit der Universitäten zurWissenschaff und zu den administrativen und staatl i-chen Strukturen hat sich der Verdacht, daß etwas inder Rationalisierung und vielleicht gar in der Vernunft

selbst für den Machtexzeß verantwortlich ist, hat sichalso dieser Verdacht vor al lem in Deutschland und dawiederum vor al lem in einer deutschen Linken ent-wickelt. Von der hege lschen L inken bis zur FrankfurterSchule hat es eine ganze Kritik des Positivismus, desObjektivismus, der Rationalisierung, der techne undder Technisierung gegeben, eine Krit ik der Beziehun-gen zwischen dem Fundamentalprojekt der Wissen-schaft und der Technik, die zeigen möchte, wie einenaive Anmaßung der Wissenschaft mit den eigentüm-l ichen Herrschaftsformen der zeitgenössischen

Im Or ig ina l deu tsch

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sellschaft verknüpft ist. Um ein Beispiel zu nennen,das von einer linken Kritik weit entfernt ist, erinnere

ich daran, d aß H us se rl im Jahre 1936 die aktuel le Kri-se der europäischen Menschheit auf das Problem derBeziehungen der Erkenntnis zur Technik, der episte-

me zur techne bezog.In Frankreich waren die Bedingungen der Aus-

übung der Philosophie und der polit ischen Reflexionganz andere und deswegen scheint die Kr i t ik der

anmaßenden Vernunft und ihrer spezif ischen Macht-wirkungen nicht in derselben Weise geleistet wordenzu sein. Im 19. und 20. Jahrhundert f indet sich ebendiese histor ische Bes chuldigung der Vernunft oder derRational isierung wegen ihrer Machtwirkungen auf Sei-

ten eines Denkens, das polit isch rechts steht. InFrankreich hat die Verbindung von Aufklärung und

Revolut ion zweifellos verhindert , daß diese Bez iehungzwischen der Rat ional isierung und der Macht wirkl ichgründlich in Frage gestell t worden ist. Viel leicht hatauch die Tatsache, daß die Reformation, die in ihrenfrühesten Wurzeln die erste kr i t ische Bewegung alsKunst, sich nicht regieren zu lassen, gewesen ist, hatalso die Tatsache, daß die Reformation in Frankreichnicht die Tragweite und den Erfolg gehabt hat wie inDeutschland, dazu geführt , daß in Frankreich dieserBegriff der Aufklärung mit al len seinen Problemstel-lungen nicht eine so weitreichende und andauerndeBedeutung gehabt hat wie in Deutschland. In Frank-

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reich hat man den Philosophen des 18. Jahrhundertseine gewisse pol i t ische Wertschätzung entgegenge-

bracht und gleichzeit ig hat man das Denken der Auf-klärung als eine mindere Episode in der Geschichteder Philosophie disqualifiziert. In Deutschland hin-gegen wurde die Aufklärung immer als eine wichtigeEpisode betrachtet - sei es im positiven oder im nega-tiven Sinn: als eine eklatante M anifestation der ab end -ländischen Vernunft. In der Aufklärung und in der ge-

samten Periode vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, dieder Aufklärung zugrundeliegt, identifizierte und analy-sierte man die m arkanteste Linie der abe ndlän dische nVernunft, während die mit ihr verbundene Politik miß-trauisch beäugt wurde. Das ist der Chiasmus, der dieStellung des Problems der Aufklärung im 19. und inder ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frankreich

und in Deu tschland charakterisiert.Nun hat sich, glaube ich, die Situation in Frank-

reich im Laufe der letzten Jahre geändert. Und dasProblem der Aufklärung (wie es für das deutsche Den -ken seit Mendelssohn, Kant und über Hegel, Nietz-sche, Husserl, die Frankfurter Schule usw. wichtiggewesen ist) kann nun in Frankreich in einer bemer-kensw erten Nachbarschaft zu den Arbeiten der Frank-furter Schu le aufge griffen we rden. Uns ist diese Fragenach der Aufklärung - und das ist kaum verwu nderl ich- durch die Phä nom enologie un d die vo n ihr a ufgew or-fenen Probleme nahegebracht worden. Sie ist uns

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wieder nahegelegt worden durch die Frage nach demSinn und nach dem, was den Sinn konst i tuieren mag:

Wie ist es möglich, daß es Sinn gibt aufgrund vonNicht-Sinn? Wie kommt der Sinn zustande? Eine Fra-ge, die offensichtl ich komplementär ist zu jener ande-ren: Wie kommt es, daß die große Bewegung derRationalisierung uns zu so viel Lärmen und Toben, zuso viel Schw eigen und düstere m M echan ismus geführthat? Man darf ja nicht vergessen, daß Der Ekel und

Die Krisis nur wen ige Monate a useinand erl iegen . Undnach dem Krieg hat sich durch die Analyse der Tat-sache, daß sich der Sinn dank Zwangssystemen derSignif ikanten-Maschinerie konstituiert, durch die Ana-lyse der Tatsache, daß es Sinn nur dank d en Zw angs -wirkungen von Strukturen gibt, hat sich also in einersonderbaren Abkürzung das Problem zwischen ratio

und Macht wiedereingestell t . Ich glaube auch (dazuwäre gewiß eine Untersuchung nöt ig), daß die Analy-sen der Geschichte der Wissenschaften, diese ganzeProblematisierung der Geschichte der Wissenschaf-ten (die ebenfalls in der Phänomenologie wurzelt undin Frankreich mit Cavailles, mit Bachelard, mit Geor-ges Cangui lhem einen ganz anderen Weg eingeschla-

gen hat), mir scheint also, daß das historische Pro-blem der Geschichtl ichkeit der Wissenschaften einigeAnalogien zum Problem der Sinnkonst i tuierung auf-weist (wenn sie nicht gar ein Echo dazu bildet): Wieentsteht, wie form iert sich diese Rationalität au s e twas

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anderem? Also die Gegenfrage und die Umkehrfragezum Problem der Aufklärung : Wie kommt es, daß die

Rationalisierung zur Raserei der Macht führt?Mir scheint, daß diese Untersuchungen über die

Konstituierung des Sinnes mit der Entdeckung, daßsich der Sinn den Zwangsstrukturen des Signif ikantenverdankt, sowie die Analysen der Geschichte der wis-senschaft l ichen Rationalität mit den Zwangswirkun-gen, die an ihre Institutionalisierung sowie an die

Modellbildung geknüpft sind, daß also alle diese histo-r ischen Forschungen mit dem schmalen Licht eineruniversitären Schießscharte die aktuelle Grundbewe-gung unserer Geschichte getroffen haben. Wie sehrman uns auch eingeredet hat, daß es unserer gesell-schaft l ichen oder wirtschaft l ichen Organisation an Ra-tionalität mangelt: tatsächlich fanden wir uns vor ich

weiß nicht zu viel oder zu wenig Vernunft - jedenfallsgewiß vor zu viel Macht; wie sehr wir auch die Ver-heißungen der Revolution angepriesen haben: ichweiß nicht, ob die Revolution dort, wo sie stattgefun-den hat, gut oder böse ist - auf jeden Fall fanden wiruns vor der Beharrlichkeit einer Macht, die sich endloshielt; und wie sehr wir auch den Gegensatz zwischen

den Ideologien der Gewalt und der wahren wissen-scha ft lichen Theorie der Ge sellschaft, des Proletariatsund der Geschichte verkündet haben: wir haben unsmit zwei Machtformen konfrontiert gesehen, die sichglichen wie zwei Brüder: Faschismus und Stalinismus.

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Folglich die Wiederkehr der Frage 'Was ist Aufklä-

rung?" und die Reaktivierung der Probleme, welche

Max Webers Analysen markiert haben: Wie steht esmit der Rationalisierung, die seit dem 16. Jahrhundertnicht nur das Denken und die Wissenschaft desAbendlandes charakterisiert, sondern auch die gesell-schaft l ichen Beziehungen, die staatl ichen Organisatio-nen, die wirtschaft l ichen Praktiken und sogar dasVerhatten der Individuen? Wie steht es mit der Ratio-

nalisierung, die zu Zwangswirkungen und viel leicht zuVernebelungseffekten führt, während sie in zuneh-mendem Maße und ohne radikale Bestrei tung einumfassendes wissenschaft l iches und technischesSystem implantiert?

Die Frage 'Was ist Aufklärung?" ist ein Problem,dessen wir uns in Frankreich endl ich anzunehmen

haben. Man kann sich seiner auf unterschiedlichenWegen annehmen. Deswegen ist der Weg, den icheinschlagen wil l , keineswegs von Polemik oder Krit ikbestimmt - ich möchte, daß Sie mir das glauben. Ausden beiden eben gena nnten G ründen suche ich ledig-l ich die Unterschiede zu markieren und ich möchtesehen, wie weit man die verschiedenen Formen derAnalyse des Problems der Aufklärung , das vielleichtdas Hauptproblem der modernen Philosophie ist, ver-vielfält igen, voneinand er a bsetzen und ablösen kann.

Indem ich mich diesem Problem nähere, das unsin eine Posit ion der Brüderl ichkeit gegenüber der

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Frankfurter Schule setzt, möchte ich bemerken, daßes einige Implikationen gibt, wenn man aus der Auf-

klärung die zentrale Frage macht. Es bedeutet zu-nächst einmal, daß man sich auf eine Praktik einläßt,die man eine historisch-philosophische nennen könnte- die aber weder mit der Philosophie der Geschichtenoch mit der Geschichte der Philosophie etwas zu tunhat. Diese historisch-philosophische Praktik ist einephilosophische Arbeit, deren Erfahrungsbereich kein

festgelegter und exklusiver ist. Es handelt sich nichtum die innere Erfahrung, nicht um die grundlegendenStrukturen der wissenschaft l ichen Erkenntnis undauch nicht um historische Inhalte, die von den Histori-kern bereits als fert ige Tatsachen ausgearbeitet undakzeptiert sind. Vielmehr geht es in dieser historisch-philosophischen Praktik darum, sich seine eigene

Geschichte zu machen: gleichsam fikt ional dieGe schichte zu fabrizieren, die von der Frage nac h d enBeziehungen zwischen den Rational i tätsstrukturendes wahren Diskurses und den daran geknüpftenUnterwerfungsmechanismen durchzogen ist - welcheFrage die den Historikern vertrauten historischen Ge-genstände zum Problem des Subjekts und der Wahr-

heit hin verschiebt, um das sich die Historiker nichtkümmern. Desgleichen verleiht diese Frage der philo-sophischen Arbeit , dem phi losophischen Denken, derphilosophischen Analyse empirische Gehalte, die vonihr selber gezeichnet worden sind. Deswegen pflegen

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die Historiker angesichts dieser historischen oder phi-losophischen Arbeit zu sagen: "Ja, ja, gewiß, mag

sein..." Jeden falls ist es nie das, was es se in soll - auf-grund der Verwirrung, die sich der Verschiebung zumSubjekt und zur Wahrheit hin verdankt. Und die Philo-sophen, wenn sie nicht gerade die beleidigten Perl-hühner spielen, pflegen zu denken: "Die Philosophieist al lerdings doch etwas ganz anderes!" So denkensie aufgrund dieses Falles, dieses Abfalles in eine

Empirizität, die sich gleichwohl auf keine innere Erfah-rung berufen kann.

Gestehen wir diesen seit l ichen Stimmen dieBedeutung zu, die sie haben - und sie ist groß. Siezeigen mindestens negativ an, daß man auf dem rich-t igen Wege ist: daß man anläßlich der historischenInhalte, die man bearbeitet und an die man gebunden

ist, weil sie wahr sind oder als wahr gelten, die Fragestellt: was bin denn nun eigentlich ich, der ich zu die-ser Menschheit gehöre, zu dieser Franse, zu diesemMoment, zu diesem Augenbl ick von Menschheit , derder Macht der Wahrheit im allgemeinen und derWahrheiten im besonderen unterworfen ist? Die philo-sophische Frage durch den Rekurs auf den histori-

schen Gehalt entsubjektivieren, die historischen Inhal-te durch die Befragung der Machteffekte, mit denensie von ihrer Wahrheit ausgestattet werden, losma-chen: das ist die erste Charakteristik dieser historisch-philosophischen Praktik. Zum anderen steht diese

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historisch-philosophische Praktik offensichtlich ineinem privi legierten Bezug zu einer empirisch be-

stimmbaren Epoche: auch wenn sie nicht vollständigdefinierbar ist, wird diese Epoche als Form ierungsm o-ment der modernen Menschheit bezeichnet, als Auf-

klärung in dem weiten Sinn, in dem Kant oder Webersich auf sie bezogen. Es ist eine Periode ohne festeDatierung und mit vielfält igen Eingängen, denn mankann sie ebenso durch die Formierung des Kapital is-

mus, die Konstituierung der bürgerl ichen Welt, die In-stal l ierung der staatl ichen Systeme, die Gründung dermodernen Wissenschaft mitsamt ihren technischenEntsprechungen, die Organisat ion eines Gegenüberzwischen der Kunst regiert zu werden und der Kunstnicht dermaßen regiert zu werden definieren. Darausergibt sich für die historisch-philosophische Arbeit

eine faktische Privi legierung dieser Periode: denn daentstehen direkt und an der Oberfläche sichtbarerTransformationen die Beziehungen zwischen Macht,Wahrheit und Subjekt, die es zu analysieren gilt. Privi-legiert aber ist diese Periode auch insofern, als von daaus die Matrix zu entwickeln ist, mit der andere mögli-che Bereiche behandelt werden können. Man stößtnicht auf das Problem der Aufklärung, wei l man das18. Jahrhundert privilegiert, weil man sich für es inter-essiert. Sondern weil man das Problem Was ist Auf-

klärung? gründlich aufwerfen wil l , stößt man auf dashistorische Schema unserer Modernität. Es wird nicht

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darum gehen zu sagen, daß die Griechen des 5. Jahr-hunderts ein bißchen wie die Philosophen des 18.

Jahrhunderts sind oder daß das 12. Jahrhundertbereits eine Art Renaissance war, sondern darum, zuversuchen zu sehen, unter welchen Bedingungen, umden Preis welcher Modif izierungen oder Generalisie-rungen man diese Frage der Aufklärung, diese Frageder Beziehungen der Mächte, der Wahrheit und desSubjekts auf irgendeinen Moment der Geschichte

anwenden kann.Das ist der al lgemeine Rahmen dieser Forschung,

die ich die historisch-philosophische nenne. Und nunzur Art ihrer Durchführung.

*

Ich sagte eben, daß ich andere mögliche Wege alsdie bisher am häuf igsten begangenen andeuten wol l-te. Das heißt keineswegs, daß ich diese bezichtigenwil l, zu nichts zu führen oder kein brauchb ares Ergeb-nis zu zeit igen. Ich wollte nur dies sagen und nahele-gen: mir scheint, daß diese Frage der Aufklärung seit

Kant, wegen Kant und wahrscheinl ich wegen seinerAuseinanderschiebung von Aufklärung und Kritik imwesentl ichen als Problem der Erkenntnis eingeführtwurde: man ging von der histor ischen Best immungder Erkenntnis im Moment der Konstituierung der mo-derne n W issenschaft aus; man suchte nach dem , wa s

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bereits in dieser Bestimmung auf die endlosen Macht-effekte hindeutete, mit denen sie durch Objektivismus,

Posit ivismus, Technizismus usw. verbunden sein soll-te; man bezog diese Erkenntnis auf die Konstituie-rungs- und Legit imitätsbedingungen jeder möglichenErkenntnis und schließlich untersuchte man, wie sichin der Geschichte das Heraustreten aus der Legit imi-tät vollzogen hat (Il lusion, Irrtum, Vergessen, Ver-deckung usw.). Dieses Analyse-Verfahren scheint mir

durch die von Kant eingeführte Verschiebung der Kri-

tik gegenüber der Aufklärung motiviert zu sein. Seitherist diese Analyse-Prozedur am häufigsten befolgt wor-den: eine Legit imitätsprüfung der geschichtl ichenErkenntnisweisen. Sie f indet sich bei gewissen Philo-sophen des 18. Jahrhunderts, bei Dilthey, Habermasusw. Ihre Fragestellung lautet: welche falsche Ideehat sich die Erkenntnis von sich selbst gemacht, wel-chem exzessiven Gebrauch sah sie sich ausgesetztund an welche Herrschaft fan d sie sich folgl ich ge bun -den?

Anstatt dieser Prozedur, welche die Form einerLegit imitätsprüfung der historischen Erkenntnisweisen

annimmt, könnte man viel leicht eine andere Vor-gangsweise ins Auge fassen. Anstatt über das Pro-blem der Erkenntnis könnte diese über das Problemder Macht in die Frage der Aufklärung einsteigen; siewürde nicht als Legit imitätsprüfung vorgehen, sondernals Ereignishaftigkeitsprüfung oder Ereignishaftma-

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chun9- Verzeihen Sie das j d — J J Jdem Verfahren der Ereign,shaf tmachung h r e i e n

- mögen auch die H istoriker vor Entsetze- etwa folgendes: zunächst nimmt man sch Me g

von Eiementen vor, bei denen, m an ^ ^

läufig Verschränkungen von Zwangst

und Erkenntnisinhalten fes tstellen

che Zwangsmechanismen, v i e ™ materielle

gebungs- und Reglementierungsvorgange, ^ ^

Dispositive, Autoritätsphänomene uswu u n d

Erkenntnisinhalte werden in ihrer M a n n g f ^ k e i t ^

Heterogenität au fgegriffen und s.e w erd ^ ^ g „ (

Machteffekte hin untersucht, deren iay M a n

tige Elemente eines Erkenntnissy^ems «n

möchte nicht wissen, wa s wa hr ode falscn y

oder nicht begründet, wirklich oder ^ s 0 " ^b r ä u c h

, iC

h

schaftlich oder ideologisch, legitim oder mii^ra

ist . Man möchte wissen, welche Verbindungen,^^

che Verschränkungen zwischen Z w a " g sd e n kön-

und Erkenntniselementen aufgefunden ^

nen, welche Verweisungen und Stutzung b e s t j m m t e s

sehen ihnen entwickeln, ° ^ a h r s c h e i n l i c h

Erkenntniselement - sei es wahr oder waoder ungewiß oder falsch - M a c h t w « ^bringt und wieso ein bestimm ^ M ^rationale, kalkulierte, technisch ettizienwRechtfertigungen annimmt. j c h t d i e

Auf diesem ersten Niveau wird aisu

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Scheidelinie zwischen Legitimität und Illegitimität ge-zogen und ebensowenig diejenige zwischen Irr tum

und Wahrheit .Deswegen kann man auf diesem Niveau zwei

Worte verwenden, die nicht Entitäten, Mächte oder soetwas wie Transzendental ien zu bezeichnen haben:sie sollen nur hinsichtlich ihrer Referenzgebiete einensystematischen We rtentzug vornehm en: eine Neutrali -sierung in Sachen Legit imität und eine Beleuchtung

ihrer jeweil igen Akzeptabil i tät und ihrer tatsächlichenAkzeptanz. Das Wort Wissen wird also gebraucht, umalle Erkenntnisverfahren und -Wirkungen zu bezeich-nen, die in einem bestimmten Moment und in einembest immten Gebiet akzeptabel sind. Und zweitenswird der Begriff Macht gebraucht, der viele einzelne,definierbare und definierte Mechanismen abdeckt, die

in der Lage scheinen, Verhalten oder Diskurse zu in-duzieren. Offensichtl ich haben diese beiden Begriffenur eine methodologische Funktion: mit ihnen sollennicht al lgemeine Wirkl ichkeitsprinzipien ausfindiggemacht werden, es soll gew isserma ßen die Ana lyse-front, es soll der relevante Elemententyp fixiert wer-den. Auf diese Weise soll vermieden werden, daß von

vornherein die Perspektive der Legit imierung einge-führt wird - wie das die Begriffe Erkenntnis und Herr-schaft nahelegen. Jene beiden Worte sollen auch injedem Moment der Analyse einen best immten Inhalt ,ein best immtes Wissenselement, einen best immten

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Machtmechanismus präzis bezeichnen können; nie-mals darf sich die Ansicht einschleichen, daß ein Wis-

sen oder eine Macht existiert - oder gar das Wissenoder die Macht, welche selbst agieren würden. Wis-sen und Macht - das ist nur ein Analyseraster. Unddieser Raster ist nicht aus zwei einander fremden Ka-tegorien zusammengesetzt - dem Wissen einerseitsund der Macht andererseits (wie die gerade gebrauch-ten Formulierungen nahelegten). Denn nichts kann als

Wissenselement auftreten, wenn es nicht mit einemSystem spezif ischer Regeln und Zwänge konformgeht - etwa mit dem System eines best immten wis-senschaft l ichen Diskurses in einer bestimmten Epo-che, und wenn es nicht andererseits, gerade weil eswissenschaft l ich oder rational oder einfach plausibelist, zu Nötigungen oder Anreizungen fähig ist. Umge-

kehrt kann nichts als Machtmechanismus funkt ionie-ren, wenn es sich nicht in Prozeduren und Mittel-Zweck-Beziehungen entfal tet , welche in Wissens-systemen fundiert sind. Es geht also nicht darum, zubeschreiben, was Wissen ist und was Macht ist undwie das eine das andere unterdrückt oder mißbraucht,sondern es geht darum, einen Nexus von Macht-W issen zu ch arakter isieren, mit dem sich die Akz epta-bil i tät eines Systems - sei es das System der Geistes-krankheit, der Strafjustiz, der Delinquenz, der Sexuali-tät usw . - erfass en läßt.

Von der empir ischen Beobachtbarkeit - für uns

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jetzt - zu seiner historischen Akzeptabilität - in einerbestimmten Epoche - geht der Weg über eine Analyse

des Nexus von Macht-Wissen, der die Tatsache sei-nes Akzeptiertseins auf das hin verständlich macht,was es akzeptabel macht - nicht im allgemeinen son-dern eben dort, wo es akzeptiert ist: das heißt es inseiner Positivität erfassen. Es handelt sich also umein Verfahren, das sich nicht um die Legitimierungkümmert und das folgl ich den grundlegenden

Gesichtspunkt des Gesetzes eliminiert: es durchläuftden Zyklus der Positivität, indem es vom Faktum derAkzeptiertheit zum System der Akzeptabilität über-geht, welches als Spiel von Macht-Wissen analysiertwird. Das ist in etwa das Niveau der Archäologie.

Zweitens ist nicht zu übersehen, daß diesem Typvon Analyse gewisse Ge fahren drohe n, die als negati-

ve und kostspielige Konsequenzen einer derartigenAnalyse erscheinen müssen.

Jene Positivitäten sind Ensembles, die sich nichtvon selbst verstehen. Durch welche Gewohnheit oderdurch welche Abnutzung sie uns auch vertraut gewor-den sind, welche Verblendungen auch von ihrenMachtmechanismen ausgehen mögen oder welche

Rechtfertigungen sie auch hervorgebracht habenmögen: sie sind nicht kraft irgendeines ursprünglichenRechtes akzeptabel gemacht worden. Um zu erfas-sen, was sie akzeptabel gemacht hat, muß man her-vortreten lassen, daß das gerade nicht selbstver-

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ständlich war, daß es durch kein Apriori vorgeschrie-ben war, daß es in keiner altehrwürdigen Traditionfestgeschrieben war. Die Akzeptabil i tätsbedingungeneines Systems herausarbeiten und die Bruchlinienseines Auftauchens verfolgen - das sind die beidenkorrelativen Operationen. Es verstand sich keines-wegs von selbst, daß der Wahnsinn und die Geistes-krankheit sich im institutionellen und wissenschaftli-chen System der Psychiatr ie überlagern; es war auchnicht vorgegeben, daß die Strafverfahren, die Einsper-rung und die Besserungsdisziplinen sich in einemStraf just izsystem zusammenfügen; ebensowenig wares vorgegeben, daß das Verlangen, die Begehrl ich-keit, das sexuelle Verhalten der Individuen sich ineinem Sexualität genannten Wissens- und Normali-tätssystem ineinander fügen. Die Auff indung der Ak-zeptabilität eines Systems ist nicht zu trennen von derAuff indung der Akzeptanzschwierigkeiten: seiner Wil l-kürlichkeit (bezogen auf Erkenntnis), seiner Gewalt-samkeit (bezogen auf Macht) - also seiner Energie.Also muß man diese Struktur in Betracht ziehen, umihre K ünstl ichkeiten um so besser zu sehen.

Die zweite Konsequenz ist ebenfalls kostspieligund negativ und sie besteht darin, daß jene Ensem-bles nicht als Universalien analysiert werden, denendie Geschichte mit ihren besonderen Umständen ge-wisse Modif izierungen beibringt. Gewiß mögen vieleakzeptierte Elemente, mögen viele Akzeptabilitätsbe-

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dingungen eine lange Karriere hinter sich haben: aberin der Analyse jener Posit ivitäten sind gewissermaßen

reine Singularitäten zu erfassen: nicht die Inkarnationeiner Wesenheit, nicht die Individualisierung einerSpezies. Eine Singularität wie der Wahnsinn in dermodernen abendländischen Welt , eine absolute Sin-gularität wie die Sexualität, eine absolute Singularitätwie das juridisch-moralische System unserer Strafen.

Kein Rekurs auf eine Grundlegung, keine Aus-

flucht in eine reine Form: das ist einer der wichtigstenund anfechtbarsten Punkte dieses historisch-philoso-phischen Vorgehens. Wenn es weder in eine Ge-schichtsphilosophie noch in eine historische Analyseumkippen wil l , muß es sich im Immanenzfeld der rei-nen Singularitäten halten. Also Bruch, Diskontinuität,Singularität, reine Beschreibung, unbewegliches

Tableau, keine Erklärung, kein Übergang - Sie kennenall das. Die Analyse jener Positivitäten gehört tatsäch-lich nicht zu den Erklärungsverfahren, die Kausalitätan drei Bedingungen knüp fen:

Erstens zielen sie auf eine tiefe und einzige letzteInstanz (Ökonomie für die einen, Demographie für dieanderen);

zweitens zielen sie pyramidalisierend auf den ein-zigen Ursprung;

drittens impliziert ihre Kausalität eine gewisseUnausweichlichkeit oder Notwendigkeit. Die Analyseder Positivitäten hingegen, die reine Singularitäten

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nicht auf eine Spezies oder auf eine Wesenheitbezieht, sondern auf banale Akzeptabil i tätsbedingun-

gen, entfaltet ein Kausalnetz, das zugleich komplexund beschränkt ist - aber gewiß ganz andersart ig istund nicht der Sätt igung durch ein einheit l iches t iefesund pyramidal isierendes nöt igendes Prinzip bedarf.Es geht um die Schaffung eines Netzes, welches die-se Singularität da als einen Effekt verständlich macht:daher müssen die Beziehungen verviel fäl t igt werden,müssen die verschiedenen Typen von Beziehungen,die verschiedenen Verkettungsnotwendigkeiten di f-ferenziert werden, müssen die Interakt ionen und diezirkulären Akt ionen entzi f fert werden, müssen hetero-gene Prozesse in ihrer Überlagerung betrachtet wer-den. Also ist einer solchen Analyse nichts fremder als

die Verwerfung der Kausalität. Aber es geht nichtdarum, verschiedene Phänomene auf eine Ursachezurückzuführen, sondern darum, eine singulare Posi-tivität gerade in ihrer Singularität einsichtig zu ma-chen.

Im Gegensatz zur Zurückführung einer viel fäl t igenNachkommenschaft auf eine einzige gewicht ige Ursa-

che handelt es sich hier um eine Genealogie: es han-delt sich darum, die Erscheinungsbedingungen einerSingular i tät in viel fäl t igen best immenden Elementenausfindig zu machen und sie nicht als deren Produktsondern als deren Effekt erscheinen zu lassen. Alsoeine Einsichtigmachung - die aber nicht in der Art

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einer Schließung vorgeht. Dies aus mehreren Grün-den.

Erstens weil die Beziehungen, die so einen singu-lären Effekt verständlich machen können, wenn schonnicht zur Gänze so doch in einem erheblichen Aus-maß Interaktionsbeziehungen zwischen Individuenoder Gruppen sind, d.h. sie implizieren Subjekte, Ver-haltenstypen, Entscheidungen, Optionen. Die Basisdieses Netzes einsichtiger Beziehungen findet man

also nicht in der Natur der Dinge, sondern in der eige-nen Logik eines Spiels von Interaktionsbeziehungenmit seinen ständig wechselnden Margen von Unge-wißheit.

Und die Genealogie geht nicht als Schließung vor,weil das Netz der Beziehungen, die eine Singularitätals Effekt einsichtig machen sollen, nicht eine einzige

Ebene bildet. Es handelt sich um Beziehungen, diesich immer wieder voneinander loshaken. Die Logikder Interaktionen, die sich zwischen Individuen ab-spielen, kann einerseits die Regeln, die Besonderheitund die singulären Effekte eines bestimmten Niveauswahren und doch zugleich mit den anderen Elemen-ten eines anderen Interaktionsniveaus zusammen-

spielen - dergestalt, daß keine dieser Interaktionen alsvorrangig oder absolut totalisierend erscheint. Jedekann in ein Spiel eintreten, das über sie hinausgeht;und umgekehrt kann sich jede, wie lokal beschränktsie auch sein mag, auf eine andere auswirken, zu der

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sie gehört oder von der sie umgeben wird. Es handeltsich also, schematisch ausgedrückt, um eine immer-währende Beweglichkeit , um eine wesenhafte Zer-brechl ichkeit : um eine Verstrickung zwischen Prozeß-erhaltung und Prozeßumformung. Hier geht es alsodarum, eine Form von Analysen zu entwickeln, dieman als strategische bezeichnen könnte.

Indem ich von Archäologie, von Strategie und vonGenealogie spreche, meine ich nicht drei Niveaus, dienacheinander und auseinander zu entwickeln sind.Vielmehr wil l ich drei simultane Dimensionen ein undderselben Analyse charakterisieren: drei Dimensio-nen, die gerade in ihrer Simultanität erfassen lassensollten, was es an Positivem gibt: welches die Bedin-gung en sind, die eine Singularität akzeptabe l m achen,die durch die Auffindung der Interaktionen und Strate-gien, in die sie sich integriert, einsichtig wird. Eine sol-che Forschung berücksichtigt ... [wegen Tonband-

wechsels fehlen einige Sätze ] ... produziert sich alsEffekt und schließlich Ereignishaftmachung insofern,als man es mit etwas zu tun hat, dessen Stabil ität,dessen Einwurzelung, dessen Fundierung nie einesolche ist, daß man nicht sein Verschwinden oderzumindest das Wodurch und das Woher seines mögli-chen Verschwindens denken kann.

Ich sagte eben, daß das Problem - anstatt in denBegriffen der Erkenntnis und der Legitimierung - überdie Macht und die Ereignishaftmachung aufzuwerfen

39Universi tät Hamburg

Fachbibliothek

S 0 Z ! w h W j - j icC. i a f i ^n

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wäre. Doch handelt es sich nicht darum, die Macht alsBeherrschung oder Herrschaft zu verstehen und so

als Grundgegebenheit, als einziges Erklärungs- oderGesetzesprinzip gelten zu lassen; vielmehr gilt es, siestets als eine Beziehung in einem Feld von Interaktio-nen zu betrachten, sie in einer unlöslichen Beziehu ngzu Wissens formen zu sehen und sie immer so zu den-ken, daß man sie in einem Möglichkeitsfeld und folg-lich in einem Feld der Umkehrbarkeit, der möglichen

Umkehrung sieht.Somit lautet die Frage nicht mehr: Welcher Irrtum,

welche Illusion, welches Vergessen, welche Legitimi-tätsmängel haben die Erkenntnis dazu geführt, Herr-schaftswirkungen zu entfalten, wie sie in der moder-nen Welt der übermächtige Einfluß ... [ unhörbares

Worf\ manifestiert? Vielmehr wäre die Frage: Wie

kann die Unlöslichkeit des Wissens und der Macht imSpiel der vielfältigen Interaktionen und Strategien zuSingularitäten führen, die sich aufgrund ihrer Akzepta-bilitätsbedingungen fixieren, und zugleich zu einemFeld von möglichen Öffnungen und Unentschieden-heiten, von eventuellen Umwendungen und Verschie-bungen, welches sie fragil und unbeständig macht,

welche aus jenen Effekten Ereignisse machen, nichtmehr und nicht weniger als Ereignisse? Wie könnendie Zwangsw irkunge n, die jenen Positivitäten eignen -anstatt durch eine Rückkehr zur rechtmäßigenBestimmung der Erkenntnis oder durch eine Reflexion

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auf ihr transzendentales oder quasi-transzendentalesW esen verflüchtigt zu we rden - innerhalb des kon kre-

ten strategischen Feldes, das sie herbeigeführt hat,und aufgrund der Entscheidung eben nicht regiert zuwerden, umgekehrt oder entknotet werden?

Die Bewegung, welche die kritische Haltung in dieFrage der Kritik hat umkippen lassen, die Bewegung,welche das Unternehmen der Aufklärung in das Pro-jekt der Kritik hat übergehen lassen, worin sich dieErkenntnis von sich eine richtige Idee machen wollte,diese Kippbewegung, diese Verschiebung, diese Ver-schickung der Frage der Aufklärung in die Kritik ...müßte man nicht versuchen, jetzt den umgekehrtenWeg einzuschlagen? Könnte man nicht versuchen,diesen W eg wieder zu du rchlaufen - aber in der ande-ren Richtung? Und wenn man die Frage der Erkennt-nis im Hinblick auf die Herrschaft au fzuw erfen hat - sodoch wohl vor al lem aufgrund eines entschiedenenWillens nicht regiert zu werden, jenes entschiedenenWillens - einer individuellen und zugleich kollektivenHaltung, aus seiner Unmün digkeit herauszutreten, wieKant sagte. Eine Haltungsfrage. Sie sehen nun, war-um ich nicht imstande war, warum ich nicht gewagthabe, meinem Vortrag den Titel zu geben, der gewe-sen wä re: "Was ist Aufklärung?"

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Henri Gouhier: Ich danke Michel Foucault sehr herz-l ich dafür, uns ein so wohlgeordnetes Ensemble von

Reflexionen geliefert zu haben, die ich als philosophi-sche bezeichnen würde - obgleich er gesagt hat, ersei kein Philosoph. Er hat aber gleich hinzugefügt, ersei viel leicht gerade noch ein bißchen Krit iker. Nachseinen Ausführungen frage ich mich, ob man nicht,wenn man ein bißchen Kritiker ist, sehr Philosoph ist.

Noel Mouloud: Ich möchte viel leicht zwei oder dreiAnmerkungen machen. Erstens die folgende: HerrFoucault scheint uns eine allgemeine Haltung desDenkens vorgestell t zu haben: die Verweigerung derMacht oder die Verweigerung der zwingenden Regel,die zu einer allgemeinen Haltung, zur kritischen Hal-tung führt. Von da ist er zu einer Problematik überge-

gangen, die er als eine Verlängerung, eine Aktualisie-rung jener Haltung präsentiert hat: es handelt sich umProbleme, die derzeit von den Beziehung en zwischendem Wissen, der Technik und der Macht aufgeworfenwerden. Ich würde darin lokalisierte kritische Haltun-gen sehen, die sich um best immte Problemkerne dre-hen, welche historische Quellen bzw. Grenzen haben.

Wir müssen bereits über eine bestimmte Praktik, übereine Methode verfügen, die bestimmte Grenzen er-reicht, die Probleme aufwirft, die auf Sackgassenstößt, damit sich eine krit ische Haltung abzeichnenkann. So zum Beispiel die methodologischen Erfolge

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des Posit ivismus, welche mit ihren Schwierigkeitenseit einem halben Jahrhundert die bekannten krit i-

schen Reaktionen auslösen, d.h. die logizist ischeReflexion, die kritizist ische Re flexion: ich den ke a n dieSchule von Popper oder an Wittgensteins Reflexionüber die Grenzen einer normalisierten wissenschaft l i-chen Sprache. In diesen kr i t ischen Momenten siehtman häuf ig eine neue Entschlossenheit auftauchen:die Suche nach einer erneuerten Prakt ik, nach einer

Methode, die selbst einen regionalen und einen histo-r ischen Aspekt hat.

Michel Foucault: Sie haben vol lkommen recht. Ebenauf diesem Wege hat sich die krit ische Haltung gebil-det und vor al lem im 19. Jahrhundert entfaltet. Ichwürde das den kant ischen Kanal nennen: das Haupt-

moment der kr i t ischen Haltung muß gerade die Befra-gung der Erkenntnis über ihre eigenen Grenzen oderSackgassen sein, auf die sie in ihrem anfänglichenund konkreten V ol lzug stöß t.

Zwei Dinge haben mich überrascht. Zum einen,daß dieser kant ische Gebrauch der kr i t ischen Haltung

nicht verhindert hat (selbst bei Kant ist dieses Pro-blem ausdrücklich gestell t) , daß die Krit ik auch (obdas zu ihrem Wesen gehört, darüber kann man disku-t ieren) das Problem aufwirft: Was für ein Gebrauchder Vernunft kann sich auf die Mißbräuche der Macht-ausübung auswirken und somit auch auf die konkrete

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Bestimmung der Freiheit? Kant ignoriert dieses Pro-blem keineswegs und es hat vor allem in Deutschland

eine weitläufige Reflexion über dieses Thema gege-ben, welche das eigentliche kritische Problem auf an-dere Gebiete erweitert hat. Sie zitieren Popper - aberschließlich war auch für Popper der Machtexzeß eingrundlegendes Problem.

Zum andern will ich noch - allzu überfliegend - zurGeschichte der kritischen Haltung, zu ihrer Besonder-

heit im Abendland, im modernen Abendland seit dem15., 16. Jahrhundert, bemerken, daß ihr Ursprung inden religiösen Kämpfen und geistlichen Haltungen derzweiten Hälfte des Mittelalters zu suchen ist. Sobaldsich das Problem stellt, wie man regiert wird, ob manes akzeptiert, dermaßen regiert zu werden: in demMoment erreichen die Dinge ihre größte Konkretheit

und historische Bestimmtheit. Alle Auseinanderset-zungen um die Pastoral in der zweiten Hälfte des Mit-telalters haben die Reformation vorbereitet und w arensozusagen die geschichtliche Schwelle, auf der sichjene kritische Haltung entwickelt hat.

Henri Birault: Ich möchte nicht die Rolle des aufge-

scheuchten Perlhuhns spielen! Ich bin ganz einver-standen damit, daß die Frage der Aufklärung bei Kanteinerseits ausdrücklich aufgeworfen wird und dochgleichzeitig eine entscheidende theoretische Ein-schränkung erfährt - aufgrund von Imperativen morali-

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scher, religiöser, politischer Art, die für das kantische

Denken charakteristisch sind. Ich glaube, daß darüberzwischen uns völlige Übereinstimmung herrscht.Was nun den direkter positiven Teil des Exposes

betrifft, wo es darum geht, die Kreuzfeuer zwischendem Wissen und der Macht im Gelände selbst, an denEreignissen selbst zu studieren, so frage ich mich, obes nicht doch Platz für eine tieferliegende, für eine

wesentlichere und traditionellere philosophische Fragegibt, die diesen wertvollen Studien der Spiele zwi-schen Macht und Wissen in unterschiedlichen Berei-chen zugrundeliegt. Diese metaphysische und histori-sche Frage ließe sich folgendermaßen formulieren:kann man nicht sagen, daß in einem bestimmten Mo-ment unserer Geschichte und in einer bestimmten Ge-gend der Welt das Wissen in sich selbst, das Wissenals solches, die Form einer Macht oder einer Mächtig-keit angenommen hat, während die Macht ihrerseits,die immer als ein savoir-faire, als eine Geschicklich-keit, ein Wissen um das erfolgreiche Handeln definiertwurde, schließlich das dynamische Wesen des Noeti-schen selbst manifestiert hat? Sollte es so sein, sowäre es nicht erstaunlich, daß Michel Foucault dievielfältigen Netze und Beziehungen zwischen demWissen und der Macht en twirren kann - da zum indestseit einer bestimmten Epoche das Wissen im Grundeeine Macht ist und die Macht im Grunde ein Wissen,wobei das Wissen und die Macht ein und demselben

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Willen zugehören, den ich wohl Willen zur Macht nen-nen muß.

Michel Foucault: Ihre Frage würde sich auf die Allge-meinheit dieser Beziehung richten?

Henri Birault: Nicht so sehr auf ihre Allgemeinheit,sondern auf ihre Radikalität oder ihre Gründlichkeit,die vor der Dualität der Begriffe liegt. Ist es nicht mög-

lich, so etwas wie eine gemeinsame Wesenheit vonWissen und Macht zu finden, wo das Wissen sich insich als Wesen der M acht definiert und die M acht sichihrerseits als Wissen (von) der Macht definiert?

Michel Foucault: Abso lut, ja. Da war ich zu wenig kla r.Denn ich wollte gerade verständlich machen, daß

man es - jenseits einer einfachen Beschreibung: esgibt die Intellektuellen und die Machtmenschen, esgibt die M änner der W issenschaft und die Anforderun-gen der Industrie - mit einem Geflecht zu tun hat. Esgibt nicht bloß Wissenselemente und Machtelemente.Sondern: damit das Wissen als Wissen funktionierenkann, muß es eine Macht ausüben. Innerhalb der tat-

sächlichen Wissensdiskurse übt jede als wahrbetrachtete Aussage eine bestimmte Macht aus undschafft gleichzeitig eine Möglichkeit; und umgekehrtimpliziert jede Machtausübung, auch eine Tötung, zu-mindest eine Geschicklichkeit: schließlich ist auch die

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grausame Vernichtung eines Individuums noch eineArt von Wissen wie man's macht. Ich bin also ganzeinverstanden und gerade das wollte ich zeigen: unterden Polaritäten die von der Macht wegzuführen schei-nen, ist so etwas wie ein Sch illern...

Noel Mouloud: Ich komme auf die Herrn Birault undmir gemeinsame Referenz zurück: Popper. Eine derAbsichten Poppers ist es zu zeigen, daß bei der Kon-stituierung von Machtsphären - seien es Dogmen,Imperative Normen, Paradigmen - nicht das Wissenselbst verantwortlich ist, sondern eine abweichendeRationalität, die eigentlich kein Wissen mehr ist. DasWissen oder sagen wir die Rationalität als bildendekommt ohne Paradigmen, ohne Rezepte aus. Ihreeigentliche Initiative besteht darin, ihre eigenen Versi-cherungen, ihre eigene Autorität in Frage zu stellenund "gegen sich selbst zu polemisieren". Eben ausdiesem Grunde ist sie Rationalität und die Methodolo-gie, die Popper konzipiert, besteht darin, diese beidenVerhalten zu trennen und die Vermengung zwischender Anwendung von Rezepten, der Durchführung vonVerfahren und der Erfindung von Argum enten unmög-lich zu machen. Und ich frage mich, obwohl es daschw ieriger ist, ob nicht auc h im m enschlichen, gesell-schaftlichen, geschichtlichen Bereich die Sozial-wissenschaften insgesamt und vor allem die Rolle derÖffnung spielen: die Situation ist allerdings schwierig,

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denn sie sind solidarisch mit der Technik. Zwischeneiner Wissenschaft und den sie gebrauchenden

Mächten besteht eine Beziehung, die nicht wirklichwesenhaft ist; auch wenn sie wichtig ist, bleibt sie ge-wissermaßen "kontingent". Eher als die Bedingungendes W issens selbst sind es die technische n Bedingun -gen der Anwendung des Wissens, die sich direkt aufdie Ausübung einer Macht beziehen: einer Macht, diesich dem Austausch oder der Nach forschung entzieht.

In diesem Sinn verstehe ich das Argument nicht ganz.Im übrigen hat Herr Foucault erhellende Bemerkun-gen gem acht, die er zwe ifellos we iterführen wird. Aberich stelle mir die Frage: gibt es wirklich ein direktesBand zwischen den Verpfl ichtungen oder Anforderun-gen des Wissens und denen der M acht?

Michel Foucault: Ich wäre begeistert, wenn man wirk-lich sagen könnte: es gibt die gute Wissenschaft, diewahr ist und doch nicht an die schnöde Macht rührt;und dann gibt es natürlich die schlechten Verwe ndun-gen der Wissenschaft, ihre interessengebundeneAnwendung, ihre Irrtümer. Wenn Sie mir das garantie-ren, mach en Sie mich wah rhaft glücklich!

Noel Mouloud: Ich gehe ja nicht so weit. Ich gebe zu,daß die Verbindung auf der Ebene der Geschichte,der Ereignisse, stark ist. Aber ich bemerke einige Din-ge: daß die neuen wissenschaft l ichen Forschungen

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(der Biologie, der Humanwissenschaften) den Men-schen und die Gesellschaft in eine Situation der Nicht-

Bestimmtheit versetzen, daß sie ihnen Freiheitswegeeröffnen und sie sozusagen zwingen, von neue m Ent-scheidungen zu treffen. Und die Unterdrückungs-mächte stützen sich selten auf ein wissenschaft l ichesWissen, sondern eher auf ein Nicht-Wissen, auf einevon vornherein auf einen "Mythos" reduzierte Wissen-schaft: man kennt die Beispiele des Rassismus, derauf einer Pseudo-Genetik beruht, oder eines polit i-schen Pragmatismus, der sich auf eine lamarckistischdeformierte Biologie beruft. Schließlich verstehe ichsehr gut, daß die posit iven Informationen einer Wis-senschaft nach einem distanzierten krit ischen Urtei lrufen. Aber was ich eigentlich sagen wollte, ist, daßeine humanistische Kritik, die sich auf kulturelle undaxiologische Kriterien beruft, sich nur dann voll entfal-ten kann, we nn sie sich auch auf die E rkenntnis selbststützt, die ihre Grundlagen, ihre Voraussetzungen,ihre Vorgänger kritisiert. Das betrifft vor allem dieErhel lungen, welche die Wissenschaften vom Men-schen, von der Geschichte geliefert haben. Und mir

scheint, daß besonders Habermas in seiner Krit ik derIdeologien - auch der vom Wissen erzeugten - dieseanalytische Dimension einschließt.

Michel Foucault: Ebe n das ist der Vo rteil der Kritik!

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Henri Gouhier: Ich möchte Ihnen eine Frage stel len.Ich bin ganz einverstanden mit ihrer Abgrenzung und

mit ihrer Einschätzung der Reformation. Aber mirscheint, daß es in der abendländischen Tradit ion einkritisches Ferment gibt, das der Sokratismus ist. Ichmöch te Sie fragen, ob nicht das Wo rt Kritik, wie Sie esdef iniert und verwendet haben, das bezeichnen könn-te, was ich das krit ische Ferment des Sokratismus imabendländischen Denken nennen würde - welches im

16. und 17. Jahrhundert durch die Rückkehren zuSokrates wirksam w ird?

Michel Foucault: Sie packen mich mit einer schwieri-geren Frage. Ich würde sagen, daß jene Wiederkehrdes Sokratismus (ich glaube, man spürt sie, man f in-det sie, man sieht sie historisch an der Wende vom

16. zum 17. Jahrhundert) erst möglich war vor demHintergrund jener Sache, die meines Erachtens vielwicht iger w ar, nämlich der pastoralen Ause inanderset-zungen und jenes Problems der Regierung der Men-schen - Regierung in dem sehr vollen und weiten Sinndes späten Mittelalters. Die Menschen regieren: daswar sie an der Hand nehmen, sie zu ihrem Heil gelei-

ten - mithi l fe einer detail l ierten Führungstechnik, dieeine Menge Wissen implizierte: Wissen über das Indi-viduum , das man führte, Wissen über die W ahrheit , zuder man führte...

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Henri Gouhier: Könnten Sie Ihre Analyse erneut auf-nehmen, wenn Sie über Sokrates und seine Zeit ar-

beiten würden?

Michel Foucault: Das ist in der Tat das wahre Pro-blem. Um auf diese schwierige Frage rasch zu ant-worten, würde ich sagen, mir scheint, wenn man So-krates so befragt, oder gar wenn - ich wage es kaumzu sagen - ich frage mich, ob nicht Heidegger, wenner die Vorsokratiker befragt... nein, nein, es geht nichtdarum, e inen Anachronismus zu produzieren und das18. Jahrhundert auf das 5. zu projizieren... Aber dieseFrage der Aufklärung , die wohl grundlegend ist für dieabendländische Philosophie seit Kant, ich frage mich,ob man nicht mit ihr bis zu den radikalen Ursprüngen

die ganze mögl iche Geschichte der Phi losophie ge-wissermaßen auskehrt , so daß man den Prozeß desSokrates tatsächl ich von dem Problem aus untersu-chen kann, das von Kant als das Problem der Aufklä-

rung geseh en wo rden ist.

Jean-Louis Bruch: Ich möchte Ihnen eine Frage zu

einem zentralen Punkt Ihres Vortrags stel len, der mirjedoch in zwei unterschiedl ichen Formulierungen aus-gedrückt schien. Sie haben zum Schluß von einem"entschiedenen Wil len nicht regiert zu werden" ge-sprochen: als von einer Grundlegung oder einer Wie-derkehr der Aufklärung , die das Thema Ihres Vortrags

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war. Am Anfang haben Sie davon gesprochen, "nichtauf diese Weise regiert zu werden", "nicht dermaßen

regiert zu werden", "nicht um diesen Preis regiert zuwerden". In dem einen Fall ist die Formulierung abso-lut, in dem anderen ist sie relativ - aufgrund welcherKriterien? Ist es der Mißbrauch der Regierungsentfal-tung, der Sie zur radikalen Position geführt hat, zumentschiedenen Wil len nicht regiert zu werden? Und istnicht diese Posit ion wieder zu befrage n, wied er in Fra-

ge zu stel len - und zwar in eine w esen haft philosop hi-sche Frage?

Michel Foucault: Das sind zwei gute Fragen. Zur Ver-schiedenheit der Formulierungen: ich denke nicht,daß der Wille überhaupt nicht regiert zu werden etwasist, was man als eine ursprüngliche Aspiration

betrachten kann. Vielmehr ist der Wille nicht regiert zuwerden immer der Wil le nicht dermaßen, nicht vondenen da, nicht um diesen Preis regiert zu werden.Wenn man sagt "überhaupt nicht regiert werden wol-len", so scheint mir diese Formulierung gewisserma-ßen der philosophische und theoret ische Paroxysm usjenes Willens zu sein, nicht so oder so regiert zu wer-

den. W enn ich zum Schluß sagte: "entschiedener Wil-le nicht regiert zu werden", so war das ein Versehenmeinerseits. Ich wollte sagen: "nicht so, nicht der-maßen, nicht um diesen Preis regiert zu werden". Ichbezog mich nicht auf eine Art fundamentalen Anar-

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chismus, nicht auf eine ursprüngliche Freiheit, die sichschlechterdings und grundlegend jeder Regierungs-

entfaltung widersetzt. Ich habe davon nicht gespro-chen - aber ich wil l es nicht absolut ausschließen.Mein Exposö macht hier halt: weil es schon zu langgedauert hat; aber auch weil ich mich frage ... wennman diese Dimension der Krit ik erkunden wil l , die mirso wichtig scheint, weil sie ein Teil der Philosophieund gleichzeit ig kein Teil der Philosophie ist, wenn

man also diese Dimension der Kr i t ik erkunden möch-te, müßte man sich dann nicht mit einem Sockel derkrit ischen Haltung beschäft igen, die entweder diehistorische Praktik der Revolte, das Nicht-Akzeptiereneiner wirkl ichen Regierung oder die individuelle Erfah-rung der Verweigerung der Regierungsreal i tät wäre?Was mich sehr überrascht - mich bedrängen dieseDinge, weil ich mich viel damit beschäft ige - ist dies:wenn man die Matrix der krit ischen Haltung in der mit-telalterl ichen Welt in rel igiösen Einstellungen imUmfeld der pastoralen Machtausübung suchen muß,so ist es sehr erstau nlich zu sehen , daß die M ystik alsindividuelle Erfahrung und die institut ionelle polit ische

Auseinandersetzung ganz eng zusammengehören.Eine der ersten großen Revolten im Abendland wardie Myst ik und al le Widerstandsnester gegen dieAutorität der Schrift , gegen die Vermitt lung durch denPastor haben sich entweder in den Klöstern oderaußerhalb der Klöster bei den Laien entwickelt . Jene

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geistl ichen Erfahrungen und Bewegungen l iefertenhäufig das Gewand und den Wortschatz, ja sie warendie Seinsweisen und die Basen für die Kampfhoff-nung, die man als wirtschaft l ich oder volkstümlichoder - marxistisch gesprochen - als klassenmäßigbezeichnen kann. Eine fundam entale Sache.

Wenn man die krit ische Haltung, deren geschichtl i-cher Ursprung in jenem Moment zu f inden ist, durch-geht, so muß man wohl jetzt die Frage stel len, was

eigentl ich der Wil le nicht so und nicht dermaßen usw.regiert zu werden ist: sowohl als individuelle Erfah-rungsform wie auch als kollektive Form. Es ist jetztdas Problem des Wil lens aufzuwerfen. Man kann nichtden Faden der Macht verfolgen, ohne zur Frage desWillens zu gelangen. Eigentlich ist das so klar, daß iches gleich hätte merken sollen; aber da das Problem

des Wil lens von der abendländischen Philosophieimmer sehr vorsicht ig un d zögerl ich behande lt wo rdenist, habe ich versucht, es möglichst zu vermeiden. Esist allerdings unvermeidlich. Ich habe Ihnen Über-legungen einer in Gang befindlichen Arbeit vorgelegt.

Andre Sernin: Auf welche Seite würden Sie sich eher

stel len? Auf die Seite von Auguste Comte, der diegeistl iche Macht von der welt l ichen Macht str ikttrennt? Oder auf die Seite Piatons, der sagte, die Din-ge würden nie gut gehen, solange nicht die Philoso-phe n selbst die we ltl iche Macht innehä tten?

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Michel Foucault: Muß man tatsächlich w ählen?

Andre Sernin: Nein, man muß nicht wählen, aber zuwelcher Seite würden Sie eher neigen...?

Michel Foucault: Ich würde versuchen, mich durchzu-schwindeln!

Pierre Hadji-Dimou: Sie haben uns sehr gut das Pro-

blem der Krit ik in ihrer Verbindung mit der Philosophiedargelegt und S ie sind bei de n Bez iehung en zwische nMacht und Erkenntnis angelangt. Ich möchte eine klei-ne Erhel lung zum gr iechischen Denken beitragen. Ichdenke, daß dieses Problem vom Herrn Vorsi tzendenbereits aufgeworfen wurde. "Erkennen" heißt: denlogos und den mythos haben. Mit der sogenannten

Aufklärung gelangt man nicht zum Erkennen. Die Er-kenntnis ist nicht bloß die Rationalität; im geschichtli-chen Leben gibt es nicht nur den logos, es gibt einezweite Quel le: den mythos. Bezieht man sich auf dieDiskussion zwischen Protagoras und Sokrates: wennProtagoras in bezug auf den Staat die Frage nachdem Recht, nach der Macht zu strafen aufwir f t , sosagt er, daß er sein Denken bezügl ich des mythos

präzisieren und veranschaul ichen wi l l : der mythos is tmit de m logos verb und en, we i l es dar in eine Rationali-tät gibt: je lehrreicher er ist, umso schöner ist er. Dasist die Frage, die ich anfügen möchte: kann man,

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indem man einen Teil des Denkens, das irrationaleDenken, das zum logos dazukommt, also den mythos

unterdrückt, die Quellen der Erkenntnis erkennen: dieErkenntnis der Macht, die auch einen mythischenSinn hat?

Michel Foucault: Ich bin mit Ihrer Frage einverstan-den.

Sylvain Zac: Ich möchte zwei Bemerkungen machen.Sie haben zurecht gesagt, daß die kritische Haltungals eine Tugend betrachtet werden kann. Nun gibt eseinen Philosophen, Malebranche, der diese Tugendstudiert hat: die Geistesfreiheit. Zum anderen bin ichmit Ihnen nicht einverstanden, was das Verhältnis zwi-schen Kants Aufsatz zur Aufklärung und seiner Er-

kenntniskritik betrifft. Diese setzt gewiß Grenzen, abersie selber hat keine Grenze: sie ist total. Liest manaber den Artikel über die Aufklärung, so sieht man,daß Kant eine sehr wichtige Unterscheidung zwischenöffentlichem und privatem Gebrauch macht. Im Falledes öffentlichen Gebrauchs muß jener Mut verschwin-den. Also...

Michel Foucault: Es ist umgekehrt; denn was er denöffentlichen Ge brauch nennt, das ist...

Sylvain Zac: Wenn jemand zum Beispiel einen Lehr-

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stuhl für Philosophie an einer Universität innehat, sohat er da den öffentlichen Gebrauch und er darf dieBibel nicht kritisieren; hingegen kann er das im priva-ten Gebrauch tun.

Michel Foucault: Es ist umgekehrt und das ist sehrinteressant. Kant sagt nämlich: "Es gibt einen öffent-lichen Gebrauch der Vernunft, der nicht eingeschränktwerden darf." Was ist dieser öffentliche Gebrauch? Esist derjenige, der zwischen den Gelehrten zirkuliert,der über die Zeitschriften und Bücher läuft und der andas Gewissen eines jeden einzelnen appell iert. Dieseöffentlichen Ge bräuche, diese öffentlichen Ge bräucheder Vernunft dürfen nicht beschränkt werden, undmerkwürdigerweise ist das, was er den privaten

Ge brauch nennt, der Ge brauch des Beam ten. Der Be-amte, der Offizier, sagt er, hat nicht das Recht, zu sei-nem Vorgesetzten zu sagen: "Ich gehorche dir nicht,dein Befehl ist absurd!" Der Gehorsam eines jeden In-dividuum s, insofern es ein Te il des Staates ist, gegen-über seiner Obrigkeit, gegenüber dem Souverän oderdessen Repräsentanten; das nennt er merkwürdiger-

weise den privaten Gebrauch.

Sylvain Zac: Ich stimme mit Ihnen überein, ich habemich getäuscht, aber es folgt doch daraus, daß es injenem Artikel Grenzen für die Bezeigung des Mutesgibt. Diese Grenzen habe ich überall gefunden, bei

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allen Aufklärern, natürlich bei Mendelssohn. Es gibt inder deutschen Aufklärungsfoewegurig einen Konfor-mism us, den m an in der f ranzös ischen Au fklärung des18. Jahrhunderts nicht findet.

Michel Foucault: Ich bin ganz einverstanden, ich sehenicht recht, worin das meinen Aussagen widerspricht.

Sylvain Zac: Ich glaube nicht, daß es ein enges histo-

r isches Band zw ischen der B ewe gung der Aufklärung,die Sie ins Zentrum gerückt haben, und der Entwick-lung der krit ischen Haltung, der Widerstandshaltungim intel lektuellen oder polit ischen Sinn gibt. GlaubenSie nicht, daß man diese Präzisierung anbringenkann?

Michel Foucault: Zum einen glaube ich nicht, daß sichKant der Aufklärung fremd gefühlt hat, die für ihn sei-ne Aktualität war und innerhalb derer er agierte - mitjenem Artikel, aber auch in vielen anderen Angelegen-heiten...

Sylvain Zac: Das Wort Aufklärung f indet sich in der

Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft:aber da bezieht es sich auf die Reinheit der Gefühle,auf etwas Inneres. Es hat sich eine Inversion vollzo-gen wie bei Rousseau.

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Michel Foucault: Ich möchte zu Ende führen, was ichsagen wollte... Also Kant fühlt sich sehr wohl mit der

Aktualität verbunden, die er Aufklärung nennt und dieer zu def inieren sucht. Und gegenüber dieser Aufklä-

rung sbewegung, scheint mir, führt er eine Dimensionein, die wir als eine speziellere oder auch als eine all-gemeinere und radikalere ansehen können, näml ich:der erste Mut, den m an fasse n m uß, w en n es um Wis-sen und Erkennen geht, besteht dar in, zu erkennen,

was man erkennen kann. Das ist die Radikalität undfür Kant übrigens die Universalität seines Unterneh-mens. Ich glaube an diese Zusammengehör igkei t -welches auch die Grenzen des Mutes der Aufklärer

sein mögen. Ich sehe nicht, inwiefern die Ängstl ichkei-ten der Aufklärer an jener Operat ion Kants (die ihmeinigermaßen bewußt war) etwas ändern sol l ten.

Henri Birault: Ich glaube in der Tat, daß die krit ischePhi losophie gegenüber der Aufklärung überhauptsowohl eine Einschränkung wie auch eine Radikal is ie-rung darstel l t.

Michel Foucault: Aber die Verbindung mit der Aufklä-rung war damals die Frage für al le Leute! Was sagenwir gerade jetzt? Was ist das für eine Bewegung, dieuns etwas vorausgegangen ist , der wir noch immerangehören und die s ich Aufklärung nennt? Der besteBeweis ist , daß jene Art ikel , der von Mendelssohn,

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der von Kant, in einer Zeitschrift erschienen sind... Eswar die Frage der Aktualität. So etwa, wie wenn wiruns heute die Frage stellten: Wie steht es mit der Kri-se der ak tuellen W erte?

Jeanne Dubouchet: Ich möchte Sie fragen, welchenInhalt Sie in den Begriff "Wissen" legen. Die Macht -das glaube ich verstanden zu haben, denn es wardavon die Rede, nicht regiert werden zu wollen. Aber

was für eine Art von Wissen?

Michel Foucault: Eben, we nn ich dieses Wort verwen-de, dann hauptsächlich, um alles zu neutralisieren,was Legitimierung oder auch nur Hierarchisierung vonWerten sein könnte. Wenn Sie wollen, wie skandalösdas auch in den Augen eines Gelehrten oder eines

Methodologen oder selbst eines Wissenschaftshistori-kers scheinen mag, für mich ist zwischen dem Urteileines Psychiaters und einem mathematischen Be-weis, wenn ich von Wissen spreche, zunächst einmalkein Unterschied. Unterschiede führe ich nur ein, woes um die Machteffekte geht, die solche Aussageninnerhalb ihres Wissenschaftsgebietes - Mathematik,

Psychiatrie - induzieren, oder darum, mit welchen in-stitutionellen, nicht-diskursiven, nicht formalisierbaren,nicht spezifisch wissenschaftlichen Machtnetzen sieverbunden sind, wenn sie in Umlauf gesetzt sind. Daswürde ich das Wissen nennen: Erkenntniselemente,

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die unabhängig von ihrem Wert für uns, für einen rei-nen Geist, innerhalb ihres Bereichs und außerhalbMachteffekte produzieren.

Henri Gouhier: Ich glaube, es bleibt mir, Michel Fou-cault dafür zu danken, daß er uns so eine interessan-te Sitzung verschafft hat, die gewiß zu einer beson-ders wichtigen Publikation führen wird.

Michel Foucault: Ich dank e Ihnen.

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