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Frank Fischer - Die Suedharzreise

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Die Südharzreiseein SuKuLTuR Produkt

Erste Auflage März 2010

Lektorat: Antje TöpelUmschlaggestaltung: Andreas Vogel

Satz und Produktionsleitung: Torsten FranzDruck und Bindung: DDZ-Berlin

Printed in Germany

SuKuLTuR, Artemisstraße 15, 13469 Berlinwww.sukultur.de · [email protected]

ISBN 978-3-941592-12-4

Veröffentlicht unter derCreative Commons-Lizenz

BY-NC-SA 3.0 DE

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Frank Fischer

Die Südharzreise

Abstrakter Tourismuszwischen Leipzig und Göttingen

Mit einem Nachwort vonDavid Woodard

und

Bildern vonAndreas Vogel

SuKuLTuR2010

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2. Oktober 2008Leipzig, »Telegraph«, 23:59 Uhr 0 km

3. Oktober 2008Leipzig, Völkerschlachtdenkmal, 0:37 Uhr 5 kmRastplatz »Pösgraben«, 0:59 Uhr 27 kmBelantis, 1:09 Uhr 44 kmGroßgörschen, 1:30 Uhr 64 kmLützen, 1:53 Uhr 72 kmRöcken, 2:22 Uhr 77 kmRippach, 2:28 Uhr 81 kmPoserna, 2:34 Uhr 84 kmWeißenfels, Schloss, 3:01 Uhr 93 kmGoseck, Sonnenobservatorium, 3:32 Uhr 104 kmKreuz Rippachtal, 3:59 Uhr 135 kmAbfahrt Leuna/Merseburg, 4:03 Uhr 142 kmBad Lauchstädt, 4:28 Uhr 159 kmHalle-Neustadt, 5:02 Uhr 196 kmEisleben, 6:14 Uhr 228 kmAllstedt, 6:45 Uhr 257 kmSangerhausen, Autohof, McDonald’s, 7:04 Uhr 269 kmSangerhausen, Rosarium, 8:16 Uhr 273 kmSangerhausen, Café Kolditz, 9:28 Uhr 276 km

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Sangerhausen, Friedhof, 9:41 Uhr 277 kmKyffhäuserdenkmal, 10:37 Uhr 308 kmBad Frankenhausen, Panorama-Museum, 12:25 Uhr 323 kmSondershausen, 13:14 Uhr 347 kmRastplatz »Goldene Aue«, 14:00 Uhr 373 kmStolberg, 14:44 Uhr 392 kmNordhausen, 15:30 Uhr 427 kmMittelbau-Dora, 16:06 Uhr 434 kmBleicherode, 17:04 Uhr 466 kmLeinefelde, 17:32 Uhr 494 kmTeistungen, Grenzlandmuseum Eichsfeld, 18:05 Uhr 512 kmHeiligenstadt, 19:16 Uhr 545 kmHeidkopftunnel, 19:40 Uhr 560 kmFriedland, 19:51 Uhr 568 kmDreieck Drammetal, 20:33 Uhr 577 kmBördel, Sesebühl, 20:53 Uhr 596 kmGöttingen, 21:20 Uhr 612 km

4. Oktober 2008Leipzig, »Telegraph«, 01:01 Uhr 864 km

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2. Oktober 2008LEIPZIG, »TELEGRAPH«

23:59 Uhr | 0 km

Von der Thomaskirche her schlägt es Mitternacht, der Tagder Deutschen Einheit beginnt und gleich auch die Südharz-reise. Im Prinzip will ich lediglich innerhalb von 24 Stundenentlang der A38 von Leipzig nach Göttingen fahren und zwi-schendurch immer wieder kurz ins Hinterland abbiegen,»gegen die Anmaßung der Autobahn, zwischen Punkt A undB könne es nur sie geben«.

Die Weltgeschichte hat ein paar Dutzend Orte neben die-ser neuen Autobahn verteilt und der Tourismusindustrie ei-nige Superlative und Einmaligkeiten geliefert. Manchmalmüssen diese aber auch klug erfunden werden, denn es kannnur ein größtes Denkmal der Welt, eine größte Kirche Eu -ropas, ein größtes Gebäude der Stadt geben. Also wird zeit-lich, typologisch und regional eingeschränkt, was schnelllächerlich wirken kann wie die sprichwörtliche ›größte spät-gotische Hallenkirche Ostsachsens‹. Und das Kyffhäuser-denkmal ist nur das drittgrößte Denkmal in Deutschland,

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nach dem Konkurrenten an der Porta Westfalica aber schondas zweitgrößte Kaiser-Wilhelm-Denkmal und sicher das allergrößte Denkmal Nord-, Süd-, Ost-, West- und Mittel-thüringens.

Den Genius loci bekommt man normalerweise nur nochgegen Eintrittsgeld zu spüren, aber vielleicht genügt schondas hypertouristische Vorbeirennen an den Orten. In diesemalten Godard-Film zum Beispiel stürmt die »Bande à part«in nur 9 Minuten und 43 Sekunden durch den gesamtenLouvre. Für die A38, den über 200 Kilometer langen Flur-gang eines riesigen Open-Air-Museumskomplexes, reichenvielleicht 24 Stunden.

Im »Telegraph« interessiert es alle noch mal kurz ein biss-chen, einer der Freunde findet es eine gute Idee, dass ich perGPS die Bewegungsdaten aufzeichnen und die aneinander-gereihten Koordinaten danach als Reisebericht veröffentli-chen möchte. Denn im Prinzip müsse überhaupt niemandmehr selbst von den Dingen erzählen, an denen er vorbei-fahre. Auch der Text dieser Reise entstehe einfach schon da-durch, dass ich mich mit meinem Auto »in die Streckeeinschreibe«.

Am Ende gibt es noch einen Sturzkaffee aufs Haus, es ist0:27 Uhr, und nachdem ich mehrfach unverhohlen der Pi-gafetta des 21. Jahrhunderts geschimpft werde, ist es Zeit.

Über den Martin-Luther-Ring umfahre ich südlich dasZentrum, an der Stadtbibliothek vorbei, die mir aus derFerne entgegenleuchtet. Das Gebäude ist von außen schönwie eine Matroschka, und ich nutze eine rote Ampelphase,um kurz etwas genauer hinüberzusehen.

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3. Oktober 2008LEIPZIG, VöLKERSCHLACHTDENKMAL

0:37 Uhr | 5 km

Beim Völkerschlachtdenkmal, dem größten europäischenDenkmal der Welt, sozusagen, halten sich Schönheit undKlotzigkeit halbwegs die Waage. Der Bau verliert aber schonbedeutend an Monstrosität, wenn man während der öff-nungszeiten einen rettenden Blick in das Dienstzimmer amEingang zur Ruhmeshalle wirft und sich bewusst macht, dasssich in der Holzvertäfelung darin seit gut hundert Jahren derSchweiß der Pförtner sammelt. Diese Linderung durch einenMoment Weltlichkeit ist um diese Uhrzeit jedoch nicht mög-lich, und überhaupt ist hier nicht das Geringste zu sehen,denn das Monument wird gerade aus unerfindlichen Grün-den nicht angestrahlt. Erst nach einigen Sekunden in derDunkelheit kann ich in der Höhe ein paar Schemen ausma-chen, die wachenden Walhalla-Krieger, die um die Spitze he-rumgruppiert sind.

Das Denkmal wurde 1913 eingeweiht, zum hundertjäh-rigen Jubiläum der Schlacht. Ein paar Jahrzehnte davor hatteNietzsche den Sieg noch als gesamtdeutsches Armutszeugnisinterpretiert: »Die Deutschen haben ... mit ihren ›Freiheits-Kriegen‹ Europa um den Sinn, um das Wunder von Sinn inder Existenz Napoleon’s gebracht, – sie haben damit Alles,was kam, was heute da ist, auf dem Gewissen, ... sie habenEuropa selbst um seinen Sinn, um seine Vernunft – sie habenes in eine Sackgasse gebracht.«

Immerhin gibt es gleich zweihundert Meter weiter einenNapoleonstein, auf dem der Satz zu lesen ist: »Hier weilteNapoleon am 18. Oktober 1813, die Kämpfe der Völker-

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schlacht beobachtend.« Es wird also aus historischen Grün-den daran erinnert, dabei hätte man zum Ausgleich ruhigauch ein paar Dankesworte für den Code civil mit unterbrin-gen können.

Statt über die B2 weiterzufahren und den Anfang der A38zu verpassen, suche ich die B6 und nehme von dort aus dieA14 bis zum Dreieck Parthenaue. Dort beginnt die A38, dieden touristisch klingenden Beinamen »Südharzautobahn«trägt, die den Harz selber aber nicht einmal streift, daher alsoeher »Südlich-vom-Harz-Autobahn« genannt werdenmüsste. Oder noch treffender: »Kultur- und Weltgeschichts-Supertrasse«. Sie wird seit 1995 gebaut, als Nr. 13 der 17 Ver-kehrsprojekte Deutsche Einheit, die als großangelegteIntegrationsleistungen die Ex-DDR schnell ins europäischeVerkehrsnetz hereinholen sollten. Ursprünglich waren anihrer Stelle zwei kleinere Autobahnen geplant, die man A82und A140 nennen wollte, auch sehr schöne Namen.

Die A38 zieht sich, zweispurig, über 219 Kilometer vomwestlichen Sachsen über das südliche Sachsen-Anhalt durchdas nördliche Thüringen und inklusive eines Abstechersnach Nordhessen bis nach Südniedersachsen. Sie endet (oderbeginnt) südlich von Göttingen, an der A7, der längsten derdeutschen Autobahnen. Noch fehlen ihr aber etwa 35 Kilo-meter, zwei Teilstücke, von denen das größere zwischenHalle und Eisleben noch Mitte Dezember 2008, das kleinerezwischen Bleicherode und Breitenworbis Ende 2009 freige-geben werden soll.

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RASTPLATZ »PöSGRABEN« 0:59 Uhr | 27 km

Die Dunkelheit lenkt wenigstens nicht vom Weg ab. Auf denersten Kilometern gäbe es auch nicht viel zu besichtigen,außer der relativ schwer vermittelbaren Sehenswürdigkeit›Leipziger Tieflandsbucht‹. Trotzdem halte ich kurz auf demersten Rastplatz »Pösgraben« an, als Hommage an die inter-nationale Rastplatzforschung.

Julio Cortázar und Carol Dunlop sind im Frühsommer1982 die Autobahn von Paris nach Marseille abgefahren,ohne sie in 33  Reisetagen auch nur einmal zu verlassen.Übernachtet haben sie in ihrem VW-Bus, mehr oder weni-ger strikt auf jedem zweiten der insgesamt 65 Rastplätze. IhrExpeditionsgebiet sollte ursprünglich die Autobahn sein, amEnde wird ihr Material aber zu einer Verherrlichung der Au-tobahnraststätten, einem Zwischenreich namens ›Parking-land‹.

Ihr Bericht »Die Autonauten auf der Kosmobahn« ist einSchlüsseltext des abstrakten Tourismus. Die erkundetenRastplätze sind als Readymades plötzlich Sehenswürdigkei-ten und gleichzeitig ihr eigenes Museum. Die ordnungsge-mäße Beschriftung dieser Kunstwerke ist nur eine Frage derZeit: »Auf diesem Rastplatz verbrachte der argentinischeSchriftsteller Julio Cortázar die Nacht vom 9. zum 10. Juni1982, nachdem er gebratene Bananen mit Eiern und Schin-ken verspeist hatte.«

Während ich weiterfahre und überhaupt während der ak-tuellen Jahrzehnte entsteht links und rechts von mir dasLeipziger Neuseenland, ein Verbund aus Tagebaurest -löchern, die sich langsam mit Badewasser füllen. Rechter-

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hand sehe ich den Cospudener See schimmern, der erst vorein paar Jahren vollgelaufen ist, der aber wirkt, als sei erschon immer dagewesen. Ein paar Sekunden später er-scheint auf derselben Seite die goldgelb funkelnde Pyramidevon Belantis.

BELANTIS 1:09 Uhr | 44 km

Der Betreiber dieses neuen Lustparks wirbt ja tatsächlich mitder Behauptung, ›Europas größte Pyramide‹ zu haben. DasBauwerk ist dabei integraler Bestandteil einer Wildwasser-bahn, die über einen Fahrstuhl im Innern der Pyramide unddann beim Abgleiten über eine der Seitenwände ihrenSchwung gewinnt. Die klassische Pyramidensemantik wirdalso ziemlich unterlaufen, und insofern wirkt es herrlich ver-messen, dass die Meldung vom Superlativ einfach so verbrei-tet wird. Auch wenn zum Beispiel die gläsernen Louvre-Pyra miden im Vergleich dazu edler, kunstvoller, sehenswer-ter, interessanter, schöner und berühmter sind – sie sindeben auch mickriger.

Der Superlativ stimmt natürlich nur, solange kein anderereuropäischer Flecken mit einer noch größeren Pyramide be-baut wird. Das ist aber vielleicht schon bald der Fall, wennsich Ingo Niermanns Idee von der »Great Pyramid« verwirk-licht, die er vor zwei Jahren in seiner Vorschlagssammlung»Umbauland« beschrieben hat. Grab- und Gedenksteine vonMillionen von Menschen, potenziell allen, sollen sich dabeizu einer riesigen Totenpyramide auswachsen, zum »größtenBauwerk der menschlichen Kultur«. Als möglicher Standort

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wurde bereits das Dorf Streetz bei Dessau sondiert, aller-dings unter dem wilden Protest der bestürzten Anwohner.

Acht Autobahnkilometer hinter Belantis endet Sachsen.Sachsen-Anhalt beginnt und bringt eine reichhaltige Ab-fahrt: Großgörschen, Lützen, Röcken, Poserna, Rippach,Weißenfels, Goseck.

GROSSGöRSCHEN1:30 Uhr | 64 km

Nach der Ausfahrt rechts ab und über Starsiedel nach Groß-görschen. Auf der Straße vor dem Scharnhorst-Denkmalsteht ein Traktor, der sich eilig davonmacht, als ich direkthinter ihm halte. Vielleicht hat hier ein Bauer zur Feier desTages noch schnell Scharnhorst gehuldigt. Praktischerweisekann man bis an das Ehrenmal heranfahren und muss nichteinmal aussteigen, um den relativ unsympathischen Riesen-adler, der flugbereit auf dem hohen Sockel steht, aus nächsterNähe zu betrachten.

Die A38 ist Kriegsgebiet, entlang der Strecke ist ziemlichviel Blut in die Erde gesickert. Hier in Großgörschen hat Na-poleon am 2. Mai 1813 die erste Schlacht nach dem Rückzugaus Russland noch mal heimgeholt. Der gegnerische Scharn-horst wurde dabei ins linke Knie geschossen, erlag dieserVerletzung dann Wochen später ganz woanders, in Prag, hataber heute trotzdem ein Denkmal hier stehen.

Der kürzeste Weg nach Lützen führt über die OrtschaftKaja. Die Straße ist dann aber ausschließlich mit Stolperstei-nen gepflastert, dagegen muss die Via Appia ein glattgebü-gelter Salzsee gewesen sein. Eigentlich will ich in Kaja kurz

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an das Haus heranfahren, in dem Marschall Ney am Vor-abend der Schlacht übernachtet hat, aber der Ort zieht un-bemerkt an mir vorüber. Irgendwann erreiche ich mit derB87 wieder das 21. Jahrhundert, allerdings nur kurz.

LÜTZEN1:53 Uhr | 72 km

Ich durchquere die gesamte Stadt bis irgendwo am Ortsaus-gang die Gedenkstätte für den hier 1632 gefallenen Gustav II.Adolf erscheint. Deshalb wissen alle Schweden, wo Lützenliegt, denn ihr Lieblingsheld hat es bis nach München, biszum Rhein und zuletzt, immerhin, bis an den Rand diesersachsen-anhaltinischen Kleinstadt geschafft.

Heute befinden sich zwei Museumsblockhütten und eineschöne Gustav-Adolf-Kapelle südlich der alten Straße nachLeipzig, dort, wo auch das protestantische Heer den kaiser-lichen Truppen unter dem reaktivierten Wallenstein gegen-überstand. Die aktuelle Straßenführung entspricht ungefährder alten, sodass der Lützener Museumsmann bei seinenFührungen stets vermeldet: »Die Kaiserlichen standen nörd-lich der B87.«

Den Auftakt zur Schlacht am 6. November haben GoloMann und sein Zitatgeber Wallenstein gemeinsam so be-schrieben: »Gegen 11 Uhr beginnt das Eigentliche. Es be-ginnt mit ›einer solchen furia, daß niemand je solchesgesehen noch gehört hat‹, und geht auch so weiter«:

Bis 12 Uhr scheinen die Schweden zunächst zu gewinnen.Allerdings trifft dann Pappenheim mit 3.000 Reitern ein, dasKriegsglück beginnt sich zu wenden. Allerdings wird Pap-

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penheim bald tödlich verwundet, die Schweden gewinnenwieder die Oberhand. Allerdings setzt 13 Uhr Nebel ein, diekaiserliche Front stabilisiert sich. Allerdings verlässt GustavAdolf dann den rechten Flügel, um den schwächelnden lin-ken zu unterstützen. Allerdings reitet der kurzsichtigeSchwede zwischen den Fronten entlang und merkt nicht, wieer den kaiserlichen Linien zu nahe kommt. Er wird abge-schossen, danach ausgeraubt. Allerdings beginnt daraufhinein Rachesturm der Schweden, die Kaiserlichen ziehen ir-gendwann ab. Allerdings steht es am Ende doch eher unent-schieden.

Vor der Kapelle ist ein Findling aufgebahrt, ein von derEiszeit herangerollter Vorbote der Ereignisse, der die Stellemarkieren soll. Er wurde irgendwo auf dem Schlachtfeld ge-funden, später ein bisschen hin und her geschoben und dientnun als körperlicher Ersatz für den gefallenen Schwedenkö-nig. Überdacht ist er standesgemäß mit einem von Schinkelpersönlich entworfenen Baldachin. All das kann ich jedochkaum erkennen, denn wie eben beim Völkerschlachtdenk-mal ist hier nichts beleuchtet, ex septentrione lux nulla.

Da sich wegen der vorgeschrittenen Jahreszeit knapp zweiDrittel der Südharzreise im Dunkeln oder Dämmrigen ab-spielen werden, beschließe ich, eine Taschenlampe aufzutrei-ben. Ich fahre wieder längs durch Lützen, zur Aral-Tankstelleam anderen Ende der Stadt. Sie wurde ungefähr genau dortgebaut, wo Klein-Nietzsche einmal mit seinem Vater gestan-den hat:

»Wohl kann ich mich noch erinnern, wie ich einstmalsmit den lieben Vater von Lützen nach Röcken ging und wiein der Mitte des Weges die Glocken mit erhebenden Tönendas Osterfest einläuteten. Dieser Klang tönt so oft in mir

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wieder und Wehmuht trägt mich sodann nach den fernen,theuren Vaterhause hin.«

Das steht in der Autobiografie, die er sich als 14-Jährigerverfasst hat. Und heute gibt es an dem beschriebenen Orteben einen Tankstellenladen, in dem man für 2,95  Euroschrottige kleine Taschenlampen kaufen kann. Aus gegebe-nem Anlass nehme ich auch noch einen Anti-Nietzsche-Es-presso. Keinen Kaffee trinken, rät er im Ernährungskapitelseiner späten Autohagiografie »Ecce homo«, denn: »Caféverdüstert«. Draußen ist es im Moment aber sowieso schondüster, also rein mit dem Zeug und wieder raus auf die Bun-desstraße.

RöCKEN2:22 Uhr | 77 km

Noch größer als das Nietzsche-Hinweisschild ist das Protest-plakat »TAGEBAU IN UNSERER REGION – NEIN«. 2006hat die Mitteldeutsche Braunkohlengesellschaft mit Probe-bohrungen begonnen, um das dort verborgene Kohlevor-kommen zu sichten. Mittlerweile wurde das Tagebauvor -haben für Röcken offiziell abgesagt, im näheren Umkreiswurden in den letzten Jahrzehnten aber schon zu viele Dör-fer ausgesiedelt, das Schild bleibt also aus taktischen Grün-den erst mal noch da stehen. Wobei Nietzsche die Nihi-lisierung seines Grabs wahrscheinlich gar nicht schlecht ge-fallen hätte. Ein Schaufelradbagger als Umwerter der Werte.

Neben der Kirche steht ein weißes Figurenensemble:zweimal der nackte Nietzsche mit einem Hut als Lenden-schurz, was irgendwie auf einen von ihm brieflich geschil-

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derten Traum anspielt. Und einmal Nietzsche mit Mutter alsStütze, was auf ein bekanntes Foto zurückgeht. Die eben ge-kaufte Nietzsche-Taschenlampe leistet gute Dienste. Auf deranderen Seite der Kirche die Grabplatten: Friedrich –Schwester Elisabeth – Eltern und Bruder. Die Schwester hatja mit ihrem wahnwitzigen Ehemann Bernhard Förster inParaguay die Kolonie Nueva Germania gegründet und späterin Weimar den Nachlass ihres Bruders verwaltet und ver-herrlicht, obwohl dieser sich auf ganz allgemeine Art undWeise von Schwester und Mutter losgesagt hatte: »mit sol-cher canaille mich verwandt zu glauben wäre eine Lästerungauf meine Göttlichkeit«.

Im alten Stall hinter der Kirche wird übrigens ein kleinesMuseum bereitgehalten. Die öffnungszeiten habe ich heutegrob unterschritten, alles ist zu und dicht, nur in der angren-zenden Gemeindeverwaltung wird noch in den Feiertag hi-neingetrunken. Man prostet mir von innen durch die klarenScheiben fröhlich zu.

Um den kulturhistorischen Anreiz des Ortes noch zu stei-gern und die Kohlebagger endgültig zu vertreiben, könnteman an dieser Stelle ein Wirtshaus »Zum Großen Mittag«einweihen. Dafür gäbe es sicher EU-Fördergelder, es müsstenur mal jemand den entsprechenden Antrag ausfüllen. WieZarathustra könnte man hier täglich um 12 Uhr mit einemumfangreichen Festmahl zu subventionierten Preisen den»Großen Mittag« feiern, um durch übergroßzügig vollge-häufte Teller endlich mal dem Übermenschen ein Stücknäher zu kommen, wenn auch vorerst nur im Bauchbereich.

Allerdings würde das Haus einen ernstzunehmendenKonkurrenten in der Nähe haben, schon zwei Minuten wei-ter entlang der B87, in Rippach.

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RIPPACH2:28 Uhr | 81 km

Dort bleibe ich zehn Sekunden vor dem historischen Gasthofstehen, der es bis in Goethes »Faust« geschafft hat. Und Goe-the hat es an die Fassade des Hauses geschafft, dort stehtnämlich jetzt das Rippach-Zitat aus der Szene in AuerbachsKeller in Leipzig. Mephisto setzt sich zum Studentenpack,und Frosch fragt ihn gleich:

Ihr seid wohl spät von Rippach aufgebrochen?Habt ihr mit Herren Hans noch erst zu Nacht gespeist?

Er spielt damit auf die Saufgelage des dortigen Hausherrnan, aber Mephisto erkennt die billige Ironie und verneint. Errichtet dagegen schöne Grüße an Hansens Saufkumpane ausund haut damit Frosch seinen Scherzversuch um die Ohren.Diesen etwas umständlichen Witz muss man nicht gleichverstehen, aber zumindest hier in der Region ist er legendär,und zur Verständnissicherheit wird er auch in allen Stellen-kommentaren zum »Faust« noch mal miterklärt.

Wegen des erhaltenen Gasthofs macht die B87 hier übri-gens eine scharfe Kurve, in deren Scheitelpunkt sich einegroße Plakatfläche befindet, um die sich die Parteien kurzvor den Wahlen immer streiten. Denn man kann nicht an-ders als im Schritttempo direkt darauf zufahren, und diesesplötzliche Tête-à-tête mit einem Politikergesicht brennt sichbis zum Wahltag ins Gedächtnis.

Auch die B87 hat ein Hinterland, nach Rippach biege ichkurz links ab und fahre über die Landstraße in den nächstenOrt, Poserna.

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POSERNA 2:34 Uhr | 84 km

Ich passiere die Kirche, der mal der Büchermörder JohannGeorg Tinius als Pfarrer vorgestanden hat, bis er im März1813 aus dem Verkehr gezogen wurde. Bis dahin hatte er60.000 Bände gebunkert, finanziert durch die Mitgift seinerzweiten Frau, durch Schulden, Raubaktionen und offenbarauch durch einige Morde.

Von der Hauptstraße aus fahre ich dann tief in die Seu-mestraße hinein, bis ungefähr dahin, wo 1763 Johann Gott-fried Seume geboren wurde. Das originale Haus wurde imSchlachtenjahr 1813 zerstört und danach durch ein anderesersetzt, an dessen rotem Backstein dann irgendwann ein Re-liefbild und eine Gedenktafel angebracht wurden.

Seume ist als sozialkritischer Fußreisender in die Litera-turgeschichte eingegangen, vor allem durch seinen rund6.000 Kilometer langen »Spaziergang nach Syrakus im Jahre1802«. Mit steigendem Ingrimm wettert er gegen scheinhei-ligen Katholizismus und napoleonische Entfremdungser-scheinungen. Bei all der protestantischen Correctnessverliert Seume aber seinen leicht kauzigen Humor nicht,etwa wenn er irgendwelche propagierten Tourismuszieleblitzschnell abhakt: »Ich lief eine Stunde in Pompeji herum,und sah was die andern auch gesehen hatten, ... Die Altenwohnten doch ziemlich enge.«

Kurz vor dem Ende seiner Tour besucht er hier in Posernanoch schnell seine Mutter. Sie hat schon gehört, dass ihrSohn auf seiner Rückreise kurz vor Rom ausgeraubt wordenist und steckt ihn nun, keinen Widerspruch duldend, ineinen Wagen, der ihn zu seiner Endstation Leipzig bringt.

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Nur ein paar Jahre später wird der Buchjunkie Tinius aufderselben Strecke Ausschau nach derlei Reisenden halten,um sie mit präpariertem Schnupftabak einzuschläfern undauszurauben.

Ich muss weiter in die andere Richtung und fahre auf derB87 wieder nach Westen, Richtung Weißenfels und Goseck.Gegen 2:45 Uhr unterquert die Bundesstraße die A9, die alsErbe der Reichsautobahn Berlin–München natürlich eineganz andere Aura hat als die blutjunge A38.

WEISSENFELS, SCHLOSS3:01 Uhr | 93 km

In Weißenfels nehme ich die Leipziger Straße ins Zentrum.Über der Altstadt schwebt das Schloss Neu-Augustusburg,das von unten riesig und unerreichbar wirkt wie Kafkas»Schloss«. Die Weißenfelser Kurzfassung des eigentlich un-abschließbaren »Schloss«-Romans geht dann aber so: DerLandvermesser K. kommt in der Stadt an, parkt an der Pro-menade, rennt dann einfach die Schlossgasse hoch und wei-ter durch das Tor in den riesigen Schlosshof, Ende.

Im Durchgang zum westlichen Schlossvorplatz hängt eineTafel zu Ehren der 69. Infanteriedivison der US Army, dieMitte April 1945 die Stadt eingenommen hat. Vielleicht mussdamit das große Weißenfels-Amerika-Buch beginnen, überden behaupteten Zusammenhang zwischen WeißenfelserKindheit und anschließender US-amerikanischer Karriere:

Horst P. Horst, hier 1906 geboren, studiert dann Archi-tektur in Hamburg und bei Le Corbusier in Paris, wird dannaber doch lieber Fotograf und stilbildend vor allem mit sei-

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nen Arbeiten für die »Vogue«, in der er 1931 zum ersten Malpubliziert. Kurz darauf siedelt er nach Amerika über.

Konrad Dannenberg, hier 1912 geboren, ist als Raketen-ingenieur unter Wernher von Braun an der Entwicklung derV2 beteiligt, geht dann mit dem German Rocket Team in dieUSA und bastelt dort mit an der Mondflugrakete Saturn V.

Gérard Tichy, hier 1920 geboren, beendet den Krieg alsLeutnant, flieht dann recht abenteuerlich aus französischerGefangenschaft und wird in seiner neuen Heimat Spanienzum Selfmade-Schauspieler. Relativ schnell bekommt er guteRollen, auch in US-amerikanischen Großproduktionen mitspanischen Drehorten, in Nicholas Rays »King of Kings«, inAnthony Manns »El Cid« oder David Leans »Doktor Schi-wago«.

Hermann Eilts, hier 1922 geboren, schon 1930 amerika-nischer Staatsbürger, wächst in Scranton, Pennsylvania, auf.Ist dann US-Botschafter in Saudi-Arabien und Ägypten, ent-geht einem Attentat libyscher Killer und handelt 1978 dasCamp-David-Abkommen mit aus.

Max Frankel, zwar in Gera geboren (1930), aber kurz da-rauf eröffnen seine Eltern ein Geschäft auf dem WeißenfelserMarktplatz. Als Juden werden sie 1938 nach Polen depor-tiert, Frankel sieht die Stadt zum vorerst letzten Mal von derRückbank eines Gestapowagens aus. 1940 trifft er mit seinerMutter in New York ein, beginnt nach dem Studium gleichbei der »New York Times« und ist von 1986 bis 1994 ihrChefredakteur. Er besucht die inzwischen hoffnungslos tristeStadt seiner Kindheit zum ersten Mal wieder Mitte der Sech-ziger und schreibt daraufhin für die »Times« seinen erstenText in der Ich-Form.

Das große Weißenfels-Amerika-Buch, demnächst.

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Um die Ecke, in der Klosterstraße, steht das Novalishaus.Bevor 2001 der 200. Todestag Friedrich von Hardenbergs be-gangen wurde, waren die oberen Etagen noch weitgehendmit Büros der Stadtverwaltung belegt, auch das Sterbezim-mer, wo ihn Friedrich Schlegel hat aushauchen sehen. Bisvor ein paar Jahren also lagen japanische Novalistouristenmit Sommerhüten noch heulend vor diesem authentischstenOrt deutscher Popromantik, weil ihnen der Zugang verwehrtwurde.

Wie Hedwig Courths-Mahler in ihren Jugendjahren pil-gere ich schnell noch zum Novalisgrab im Stadtpark. Sie hatdort nach eigener Aussage ihre »Phantasie in das Land derTräume versetzt« und dann, offenbar aufgrund dieser fehl-geleiteten Novalisrezeption, über 200 Romanschmonzettenverfasst. Vielleicht sollte man an der Novalisbüste eine Info-tafel anbringen, die ganz kurz die Ergebnisse der historisch-kritischen Novalisedition zusammenfasst, damit so etwas niewieder geschieht.

Die letzte Station dieses ersten Vorstoßes ins Hinterlandder A38 ist die Kreisgrabenanlage bei Goseck. Ich überqueredie Saale und biege nach links ab, fahre durch Markwerben,Uichteritz und Markröhlitz und folge dann dem touristi-schen Hinweisschild, das kurz vor Goseck nach rechts zeigt.

GOSECK, SONNENOBSERVATORIUM3:32 Uhr | 104 km

Es ist sicher der falscheste Zeitpunkt, um ein Sonnenobser-vatorium zu besuchen. Es ist stockfinster, denn wie vorhindas Völkerschlachtdenkmal und der Gustav-Adolf-Findling

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sind auch die mächtigen Palisadenringe der Kreisgrabenan-lage nicht beleuchtet.

Laut Tourismus-PR handelt es sich hier also um den Ort,an dem das älteste bekannte Sonnenobservatorium der Weltvor 7.000 Jahren seinen Betrieb aufnahm. Auf Luftbildernhatte man in den Neunzigern einen ungefähren Ring im Feldentdeckt, der auf ein Stück künstlich veränderten Boden hin-wies. Es kam zu Ausgrabungen und zu der Vermutung, dasshier anhand von ein paar Lücken in einem längst verrottetendoppelten Holzpfahlring die Sonnenwenden begangen wur-den. Inzwischen hat man vor Ort alles entlang dieser Ver-mutungen rekonstruiert. Die frischen Holzpfähle, die manaus auratischen Gründen für Originale halten möchte, stam-men aus einem nahen Forst.

Natürlich wurde alles archäologisch korrekt abgeglichenmit anderen Funden in Europa. Mit etwas neolithischer Fan-tasie kann ich mir auch vorstellen, was hier eventuell gesche-hen ist. Es kann aber alles auch ganz anders gewesen sein.An einigen Stellen wurden Rinderschädel gefunden, die viel-leicht zu Opfertieren gehört haben. Viel interessanter wärees doch aber, wenn die Überreste der Nutztiere darauf hin-wiesen, dass es sich hier um eine Kuhweide für besonderseigensinnige Tiere gehandelt hat, die daher zur Sicherheitvon einem doppelten Ring aus Holzpflöcken eingezäunt war.

Ich lese mit der Nietzsche-Taschenlampe noch schnell dieInfotafeln ab, ob sich inzwischen nicht doch neue Erkennt-nisse ergeben haben. Eine historische Kuhweide würde ichmir besonders gern ansehen wollen.

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KREUZ RIPPACHTAL3:59 Uhr | 135 km

Über die B176 gelange ich wieder zur B87 und auf dieser zuder Ausfahrt, wo ich die Autobahn vor zweieinhalb Stundenverlassen habe. Nach ein paar Minuten auf der A38 erreicheich das Kreuz Rippachtal, wo sie auf die A9 trifft. Der Be-tonstrang zur Auf- und Abfahrt wirkt wie eine verbogeneVariante der Schwebebahnlinien von Gotham City. Wer dasnicht selber sieht, muss sich Hans-Christian Schinks Foto-reihe zu den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit ansehen.Mit seinem Faible für die Zweckarchitektur von Fahrbahnen,Straßenbrücken und Pfeilerwäldern treibt er das Projekt vonCortázar und Dunlop weiter und schafft leichte Vorlagen fürdie Fantasie. Die beiden Rastplatztouristen hatten die Ab-falleimer an den Parknischen nur für »teutonische Ritter«gehalten. Bei Schinks Fotos der A38-Brücke zwischenSchkortleben und Oeglitzsch, die ich zwei Minuten nachdem Autobahnkreuz überquere, wird eine so einfacheWahnvorstellung nicht ausreichen. Er zeigt die Konstruktionvon unten, beide Fahrbahnen werden von vielen staksigenDoppelpfeilern getragen, und von Tausendfüßlern und Di-nosauriern bis hin zu DNA-Strängen und einer Ansamm-lung von Hydraköpfen kann man hier alles assoziieren.

ABFAHRT LEUNA/MERSEBURG4:03 Uhr | 142 km

An der Erdölraffinerie bei Leuna muss man tief nachts vor-beifahren. Denn nur dann passiert man ein hell erleuchtetes

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Industrie-Manhattan, eine Lichter-Silhouette, an der mansich nicht satt sehen kann. Ex Leuna lux. Die schöne Erstrah-lung dieses schrecklichen Chemiestandortes ist eine beson-ders gelungene apokryphe Schrift zu Marinettis futu risti- schem Manifest.

Das blaue Hinweisschild für die Abfahrt nach Leuna undMerseburg verschweigt übrigens einen Ort, der nur einenKilometer Luftlinie von der Autobahn entfernt liegt: Groß-korbetha. Seine literaturgeschichtliche Bekanntheit wird mitden Jahren allerdings sicher steigen, denn Robert Gernhardtund sein lyrisches Ich sind einmal mit dem ICE am Ankün-digungsschild »Großkorbetha« vorbeigefahren und habendieses Erlebnis in dem Gedicht »An der Strecke Berlin–Wei-mar« verarbeitet.

Zunächst schoss die Bahn allerdings am Ortsschild »Mer-seburg« vorbei und erweckte damit automatisch die Erinne-rung an einen Schwung ältester deutscher Verse, dieMerseburger Zaubersprüche aus dem 9. oder 10. Jahrhun-dert. In Gernhardts Gedicht werden am Ende jeder Stropheauch ein paar der heidnischen Worte zitiert:

Auf einmal heißt es:Merseburg.Und du, wie unterZauberSiehst nicht die laubfroschgrüneLokHörst nur den alterswehenKlang:Eiris sazun idisi

Während dieser Schwelgerei in Literaturgeschichte zieht eineneue Ortstafel vorbei:

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Schau an: Jetzt heißts Groß-korbethaDas endet jedenZauber

Der Name dieses Dorfs, Großkorbetha, ist also in der Lyrikvon Robert Gernhardt das Entzauberungswort schlechthin,der genaue Gegensatz zu dem von Novalis besungenen»Einen geheimen Wort«, vor dem »das ganze verkehrteWesen« der Welt demnächst fortfliege. Und der verärgerteDichter tut dem Ort dafür das Schlimmste an, was man ihminnerhalb eines Gedichtes antun kann: Er verteilt den Orts-namen vorsätzlich per hart eingefügtem Trennzeichen aufzwei Zeilen.

BAD LAUCHSTÄDT4:28 Uhr | 159 km

Wieso werden in den Zeitungen neben Büchern und Filmeneigentlich nicht systematisch Autobahnen rezensiert? Diehaselnussbraunen Kulturhinweisschilder, die am Fahrbahn-rand verteilt sind, bilden ja schon ein perfektes Inhaltsver-zeichnis für die zu besprechende Strecke.

Auch das historische Goethe-Theater in Bad Lauchstädtwird am Rand der A38 in beiden Fahrtrichtungen auf einemderartigen Schild verschlagwortet. Im Stadtzentrum wirdman dann anhand einer Einbahnstraße direkt am Theatervorbeigeführt. Ich halte dort an und stelle mich jetzt auchwirklich ein paar Sekunden so schräg dem Eingang gegen-über. Im Prinzip ist in diesem Gebäude nicht viel geschehen.

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Es wurde 1802 eingeweiht und danach für ein paar weitereSommer lang vom Weimarer Theater bespielt, das hier schonseit 1791 gastierte. Dabei wurde für die gelangweilten Kur-gäste und ein paar Hallenser Studenten noch mal das Pro-gramm der vergangenen Saison abgespult. Die Bühne istheute noch in Betrieb, und der zugehörige Superlativ, nachdem es sich hier um »das einzige original erhaltene Theater-gebäude der Goethezeit« handelt, trägt sicher einiges zurTourismusfähigkeit der Immobilie bei.

Ich laufe noch ein bisschen umher. Die Kur-Atmosphäreist um diese frühe Zeit ganz gut nachvollziehbar. Es ist zwaretwas kalt, aber auch erholsam still. Ganz in der Nähe gibtes noch ein Haus mit Gedenkhinweis. Goethe hat zwei Mo-nate darin gewohnt, um den Bau des Theaters zu überwa-chen. Sein Gedicht »Ein Gleiches« mit seinen Gipfeln undWipfeln musste er noch selber an die Jagdhütte auf dem Ki-ckelhahn ritzen, heute werden die »Goethe war hier«-Sprü-che von offizieller Seite organisiert.

Ein Schlenker über Delitz am Berge bringt mich zur Au-tobahn zurück, und ich fahre die letzten Meter der Ausbau-strecke. Die folgenden 22 Kilometer der A38 sollen erst inzwei Monaten eröffnet werden. Bis dahin muss man auf dieA143 ausweichen. Wie die A38 ist auch sie Teil des 13. derVerkehrsprojekte Deutsche Einheit und natürlich auch nochnicht fertiggestellt. Man gelangt aber bis auf die Höhe vonHalle, das rechterhand schon den Horizont zu füllen beginnt,und das ist eine gute Gelegenheit, um über die B80 kurz nachHalle-Neustadt hineinzufahren.

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HALLE-NEUSTADT5:02 Uhr | 196 km

Peter Richter ist als Redakteur der »Frankfurter AllgemeinenSonntagszeitung« unter anderem zuständig für die enthusi-astische Vermittlung von Themen jenseits bürgerlicherKunsterwartung. In dieses Spektrum passt auch seine Dis-sertation, die er vor zwei Jahren an der Uni Hamburg abge-liefert hat. Es geht darin um den DDR-Plattenbau, diesen»Exzess der Moderne«, der einmal ganz kunstgeschichtlichbetrachtet wird, und nur die Fußnotensetzung durchbrichtden dezent verschwärmten Schreibduktus. Richter ist vorallem in Leinefelde gewesen, wo sich 90 Prozent der Woh-nungen in Plattenbauten befinden, und was für ein Zufall,die A38 führt genau daran vorbei. Allerdings erst heuteAbend.

Das Thema beginnt aber schon hier in Halle-Neustadt.Diese Satellitensiedlung für 100.000 DDR-Bürger wirkt beiNacht wie von Italo Calvino ausgedacht. Jeder der von ihmbeschriebenen ›unsichtbaren Städte‹ liegt eine verquere Ge-sellschaftsutopie zugrunde, und das trifft ja auch auf den in-dustriellen Wohnungsbau zu. Calvinos Buch ist erschienennoch bevor 1973 das Wohnungsbauprogramm der DDR be-schlossen wurde, viele Kapitel daraus lesen sich aber wie derzugehörige Abschlussbericht.

Um diese Uhrzeit wirkt jede Stadt unbewohnt, aber inHalle-Neustadt ist die Diskrepanz zwischen sichtbaremWohnraum und unsichtbarer Bevölkerung besonders groß.Die schrumpfende Stadt wirkt schon wie eine verlasseneStadt, als ob die Bewohner weitergezogen sind wie in Eutro-pia, von der Calvino seinen Städteinspekteur Marco Polo be-

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richten lässt. Die Eutropianer haben ein Ensemble völlig glei-cher Städte erbaut, bewohnen aber immer nur eine davon,bis der Überdruss siegt und sich jeder in der nächsten Stadteinen anderen Beruf und eine andere Familie sucht.

Zu diesem Bedeutungsumfeld gehört auf jeden Fall auchder russische Film »Ironie des Schicksals« von 1975, eine na-tionalepische Verwechslungskomödie in Plattenbau-Set-tings. Ein paar Moskauer Freunde treffen sich am31. Dezember traditionell zu Sauna und Wodka, die meistenvon ihnen trinken sich zielgerichtet in die Unzurechnungs-fähigkeit. Einer der Komasäufer muss aber noch nach Le-ningrad, und die beiden nüchtern Gebliebenen setzen ausVersehen den Falschen ins Flugzeug. Dieser schleppt sichnach der Ankunft zu einem Taxi und bringt gerade noch soStraße und Hausnummer heraus. Er merkt gar nicht, dass erinzwischen in Leningrad ist. Seine Moskauer Straße mitgenau denselben Plattenbauten gibt es aber auch in der an-deren Stadt, und dann passt sogar noch sein Schlüssel in derfremden Haustür. Er lässt sich zum Ausnüchtern irgendwohinfallen. Und dann kommt die Hausherrin, und es gibteinen Disput über die absurde Situation, der aber nach eini-gen Filmstunden inklusive Gesangseinlagen in plötzlichesLiebesglück umschlägt.

Auch wer sich in Halle-Neustadt verläuft oder verfährt,ist niemals selbst schuld. Jetzt nachts die Magistrale zu ver-lassen, ist jedenfalls keine gute Idee. Direkt am Straßenrandhalte ich an einem baufälligen Eingangsgebäude des Tunnel-bahnhofs. Auf einem Ankündigungsschild ist zu lesen, dasshier in ein paar Wochen alles abgetragen und umgebaut wer-den soll. Aber noch ist der Bahnhof nicht abgesperrt, bei fla-ckerndem Deckenlicht spaziere ich durch die unterirdische

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Graffitilandschaft, gehe kurz über die Gleise und sehe in denS-Bahn-Tunnel, der all die schlechten Action- und Horror-filme zitiert, die in dieser Atmosphäre beginnen oder enden.

Zwei Minuten später habe ich wieder die B80 erreicht undfahre weiter nach Westen, am Süßen See vorbei, und sehe ir-gendwann vor Eisleben Flakscheinwerfer am Himmel, hof-fentlich nur eine Lichtinstallation.

EISLEBEN 6:14 Uhr | 228 km

Luther ist mehr oder weniger zufällig in Eisleben geborenund gestorben. Seine Eltern waren 1483 nur für ein paar Mo-nate in der Stadt und zogen bald nach seiner Geburt nachMansfeld. Und anlässlich seines bevorstehenden Lebensen-des hat sich Luther 1546 noch einmal kurz nach Eislebenrufen lassen, um einen Streit der Grafen von Mansfeld zuschlichten. Luthers Geburt und Tod haben sich natürlichauch noch in zwei verschiedenen Häusern ereignet, was gutist für Eisleben, denn obwohl die ursprünglichen Gebäudenicht mehr stehen, ist das ja ein verdoppelter Tourismus-grund.

Auch sonst hat Luther den Immobilienbestand der Innen-stadt ganz gut in Stellung gebracht: Es gibt noch die Petri-kirche, in der er getauft wurde, die Annenkirche, in der ersich als Vikar mehrmals aufhielt, und die Andreaskirche, inder er seine letzte Predigt absolvierte.

Nietzsche zufolge müsste Eisleben zudem auch ein katho-lischer Wallfahrtsort sein: »Luther, dies Verhängniss vonMönch, hat die Kirche, und, was tausend Mal schlimmer ist,

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das Christenthum wiederhergestellt, im Augenblick, wo esunterlag ... Die Katholiken hätten Gründe, Lutherfeste zu fei-ern, Lutherspiele zu dichten ...«

Wie bei Scharnhorst in Großgörschen kann man mit demAuto direkt an das Lutherdenkmal auf dem Marktplatz he-ranfahren und braucht nicht einmal auszusteigen. Ringsumleuchten einige Straßenlaternen, aber Luther selber wirdnicht angestrahlt. Und die Nietzsche-Taschenlampe ist zuschwach, um ihn auf diese Entfernung aus dem Dunkel zuholen.

Ich irre noch ein wenig mit dem Auto durch die Stadt, bisich die B180 finde, die mich zur A38 bringt, deren Ausbau-strecke bei Rothenschirmbach wieder beginnt. An dernächsten Abfahrt liegt Allstedt, der erste der Thomas-Münt-zer-Orte. Heute Mittag folgen noch Bad Frankenhausen undStolberg, und wenn eine Autobahn so unzufällig all dieseMüntzer-Stätten erschließt, hätte sie in DDR-Zeiten sicher»Thomas-Müntzer-Trasse« geheißen.

ALLSTEDT 6:45 Uhr | 257 km

Müntzer war nur ein Jahr und vier Monate in Allstedt. Aberhier hatte er die Eingebungen seines Lebens, mit Mußeschrieb und predigte er sich immer näher ans Schafott. Dieihm zugeteilte Johanniskirche steht nicht mehr, also fahreich direkt hoch zum Schloss. Ich laufe am wild bellendenWachhund vorbei durch das Burgtor in den Hof bis zu demSchild mit dem Hinweis auf Müntzer, auf den 13. Juli 1524,auf die Fürstenpredigt, die hier stattgefunden hat, wahr-

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scheinlich in der damaligen Schlosskapelle. Die zukünftigenKurfürsten, Johann von Sachsen und sein Sohn JohannFriedrich, müssen nicht schlecht gekuckt haben, als ihnender Radikalinski Müntzer mit dem apokalyptischen TraumNebukadnezars aus dem Buch Daniel kurz mal erklärte, wel-che Umsortierungen im Ständeschema er zu Ehren Gottesvorsieht.

Auf dem Rückweg über den Hof sehe ich rechts so eineArt Galgen an mir vorbeiziehen, von der Größe her ein Hun-degalgen. Das Bellen hat nie ganz aufgehört, und unvermit-telt nimmt auch der Burghahn am Konzert der AllstedterSchlossmusikanten teil und kräht sich die Zunge aus demHals.

An der Autobahnauffahrt sehe ich vor der Dämmerku-lisse die erste Spitzkegelhalde. Sie war noch unsichtbar, alsich vorhin an ihr vorbeigefahren bin. Jetzt hebt sie sich fastpyramidal in den Himmel, und schon ein paar Sekundenweiter, bei Niederröblingen, folgt die nächste. Landschafts-architektonisch geben diese Kunstberge auf jeden Fallbrauchbare Leitbilder für Ingo Niermanns »Great Pyramid«ab.

SANGERHAUSEN, AUTOHOF, MCDONALD’S7:04 Uhr | 269 km

Entlang der A38 gibt es im Moment noch keine Autobahn-raststätte mit Restaurant und Tankstelle. Dafür befindet sichbei Sangerhausen ein Autohof mit einem McDonald’s. Ichhalte dort an und gebe mich kurz einer akut auftretendenMüdigkeit hin, und während um 7:14 Uhr offiziell die Sonne

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aufgeht, träume ich von Autobahnasphalt und Bitumenmi-schungen.

Um 7:19 Uhr weckt mich ein Rasseln, ein Lachen, einfröhliches Geschrei. Ich stehe genau vor dem Eingang derFiliale, den jetzt eine Art zehnköpfige Familie durchschreitet.Ein Gemisch aus Onkeln, Tanten, Neffen, Nichten. Sie wol-len am Feiertag morgens um sieben vielleicht einfach malschön Fastfood essen gehen. Ich ja auch.

Ich sitze in Hörweite der Familienleute und versuche he-rauszufinden, wer sie sind und was sie hier wirklich vorha-ben, aber kein einziger geäußerter Satz hat etwas mit demvorhergehenden zu tun. Cortázar in seiner euphorischen Pa-ranoia würde bei dieser Sachlage natürlich erst recht davonausgehen, dass hier eine Spionageabteilung der Autobahn-polizei am Werk ist.

Ich schaue mir die nächsten Ziele in Sangerhausen an:Rosarium, Café Kolditz, Einar Schleef.

SANGERHAUSEN, ROSARIUM8:16 Uhr | 273 km

Das Rosarium hat wirklich auch heute am Feiertag ab 8 Uhrgeöffnet. Vor mir liegt eine weite Landschaft, in die man bisganz weit nach hinten sehen kann, wie auf einem Patinir-Gemälde, mindestens. Die rechterhand ins Bild rückendenPlattenbauten wirken darin wie ein besonders schönes Detail, ebenso die plump in den Sichtweg gesetzte giganti-sche Abraumhalde, die es bis zum offiziellen WahrzeichenSangerhausens gebracht hat.

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Ich schreite zuerst die Beete ab, die mit der ADR, der»Allgemeinen Deutschen Rosenneuheitsprüfung« zu tunhaben, und lese alles ganz genau durch. Nur wer alle Einzel-tests besteht, darf sich »Anerkannte Deutsche Rose« nennen.Einen Großteil ihres Renommees bezieht die ADR eventuellaus der Verwechslungsgefahr mit der ARD.

Es gibt hier über 8.300 Rosenarten, die alle irgendwie hei-ßen, zum Beispiel »Goldmarie«, »Heinzelmännchen«, »La-vaglut«, »Grande Amore« oder »Greensleeves«. Irgend womuss eine Sammlung noch nicht besetzter schöner Wörterexistieren, die bei neu gezüchteten Rosen zum Einsatz kom-men kann. Diese noch nicht ans Ende gekommene Namens -idylle ist vielleicht die letzte Bastion deutscher Vulgär- romantik.

Die wechselnden Schriftarten und die anarchischenWorttrennungen auf den Informationstafeln irritieren michzunehmend. Aus der Masse der einzelnen Rosenkomplexeragt die Hermenbüste der Kaiserin hervor, Auguste Viktoria,die mal Protektorin deutscher Rosenfreunde gewesen ist. DieStatue war nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst vergrabenworden. Es war aber kein Problem, sie schon 1983 wiederauszubuddeln und neu aufzustellen, da die Gemahlin Wil-helms II. aussieht wie eine harmlose Blumenverkäuferin.

Ich bin etwas ziellos, die Zahl 8.300 ist keine Orientie-rung, also suche ich auf dem Plan nach, warum nicht, einerextra vermerkten Attraktion, der »schwarzen Rose«, der »Ni-grette«. Und statt weiter durch die breite Anlage zu wanken,bin ich jetzt ein guter Tourist, finde zielgerichtet diese Wun-derblume, sehe kurz ganz genau hin, stelle fest, dass siehöchstens dunkelrot ist, und gehe dann zum Ausgang.

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SANGERHAUSEN, CAFé KOLDITZ 9:28 Uhr | 276 km

Das Café Kolditz gegenüber dem Bahnhof ist der Sehn-suchtsort der deutschen Popliteratur. Es ist ganz gut, dass esheute geschlossen hat. Die öffnungszeiten sind generell ge-schrumpft. Ich hätte mich als Reisegruppe für eine persön-liche Bewirtung anmelden können, aber ich habe lieber aufeine Bratwurst am Kyffhäuser hin geplant.

Christian Kracht und Eckhart Nickel haben in ihremWeltreiseführer »Ferien für immer« dazu geraten, die ge-samte Ex-DDR unbedingt zu meiden, »außer dem CaféhausKolditz in Sangerhausen und den Musikalienort Markneu-kirchen«. Nachdem das Buch 1998 erschienen war, fuhrenHeerscharen von Orientierung suchenden Studenten nachSangerhausen und aßen die legendären Windbeutel der an-geschlossenen Konditorei. Inzwischen gibt es im Lokal einePopliteraturecke, die aber nur illuminiert wird, wenn sichdie Stifter angesagt haben.

Wie ich so vor der Auslage herumstehe, kommt aus demgegenüberliegenden Haus ein engagierter Sangerhäuser he-rausgestolpert. Ein sehr interessantes Gespräch folgt, beidem all meine Detailfragen zum Café abgewiesen und um-gelenkt werden auf Informationen zum Spengler-Museum,das sich »gleich da drüben« befinde. Es dauert eine Weile,bis ich seine Agenda erkenne, aber da ist er auch schon fertigmit seinem Vortrag, er grüßt und geht zurück ins Haus.

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SANGERHAUSEN, FRIEDHOF 9:41 Uhr | 277 km

Ich fahre die Ernst-Thälmann-Straße weiter bis zum Fried-hof und verlasse das Auto diesmal nicht im Laufschritt. Ichpasse mich dem Tempo der Gießkannenfrauen an und frageeine von ihnen nach dem Grab von Einar Schleef. Sie kenntihn natürlich, wie jeder hier in Sangerhausen, auch wenn sieihn dauernd »Elmar Schleef« nennt und nichts über ihnweiß, nur, dass man ihn kennt. Nach etwa fünf Minuten habeich das Gefühl, dass sie das Finden des Grabes künstlich hinauszögert.

Es ist meine eigene Schuld, denn eigentlich brauche ichihre Hilfe nicht. Ich bin Ende 2002 schon einmal hier gewe-sen, nachdem ich in der »Frankfurter Rundschau« einen Ar-tikel von Frank Keil gelesen hatte, der die schöne Überschrifttrug: »Unternehmen Heimatsohn«. Er handelte von all denSachen, die Sangerhausen seinem verlorenen Sohn übel-nimmt, denn dieser hat sich in seinem Romanungetüm»Gertrud« sehr an seiner Heimatstadt abgearbeitet, was nichtimmer so gut ankam, wie Keil von einem Mitglied des loka-len Einar-Schleef-Arbeitskreises erfuhr: »Allein die Schilde-rung, wie der Lateinlehrer hinter einem Busch seineNotdurft verrichtet – dabei gilt dieser im Kollegium als derklügste und angesehenste Kopf.«

Schleef ist 1944 in Sangerhausen geboren, 2001 in Berlingestorben, und jetzt auf eigenen Wunsch wieder in seinemGeburtsort angelangt. Als Erklärung ist auf dem Grabsteindas Zitat aus dem »Heinrich von Ofterdingen« angebracht,das auch den beiden »Gertrud«-Bänden vorangestellt ist:»... und er sah nach Thüringen, welches er jetzt hinter sich

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ließ, mit der seltsamsten Ahnung hinüber, als werde er nachlangen Wanderungen von der Weltgegend her, nach welchersie jetzt reisten, in sein Vaterland zurückkommen, und alsreise er daher diesem eigentlich zu.«

Als wir den Grabstein endlich finden, hat mich die hilfs-bereite Frau über alle Schikanen der Friedhofsverwaltungumfassend informiert. »Ach ja, der Schleef«, sagt sie noch.

Vom Stadtring aus erreiche ich über die Erfurter Straßeum genau 10:00 Uhr wieder die A38. Hier fahre ich eineWeile mit 60 Stundenkilometern, denn dieses Teilstück istberüchtigt für seine Autobahnfußgänger. Irgendwelche jun-gen Leute kürzen hier gern den Weg von der Stadt zumMcDonald’s ab, weil es ihnen bis zur nächsten Autobahnbrü-cke zu weit ist.

Es ist inzwischen ein klarer schöner Tag geworden, Kai-serwetter, und nach ein paar Kilometern sehe ich passenddazu die Kaiserkrone, die das Kyffhäuserdenkmal vom Him-mel abgrenzt.

Die Abfahrt Roßla führt über Kelbra zur B85. Am Orts-ausgang beginnt heutzutage Thüringen, und für die nächsten4,5  Kilometer bergauf werden per Warnschild gleich36 Haarnadelkurven angezeigt.

KYFFHÄUSERDENKMAL 10:37 Uhr | 308 km

Vor fünf Jahren war ich zum letzten Mal hier, und unterhalbdes Denkmals tobt noch immer der Bratwurstkrieg. Direktam Parkplatz gibt es echte chemiefreie Thüringer für1,50 Euro. 50 Meter weiter sind es echte chemiebelastete

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Thüringer, die dafür nur 1 Euro kosten. Die Agitation gehtvom teureren Stand aus. Ich gehe aber erst mal auf dieseblaue Plastikplane zu, die eines der am schönsten gelegenendeutschen Denkmäler verdeckt, eine fünf Meter hohe Hin-denburgstatue. Der Koloss war nach dem Krieg gestürzt und,nachdem es nicht gelungen war, ihn zu sprengen, vergrabenworden, wie eben im Rosarium die Auguste Viktoria.

2004 wurde das Monument wiederentdeckt, und diePlane dient nun als Sichtschutz, denn es ist natürlich um-stritten, es darf offenbar nicht einfach so angesehen oder he-rausgehoben werden. Eingeweiht wurde das Denkmal imMai 1939. Im Katalog des Deutschen Rundfunkarchivs wirddie Rede eines unbekannten Einweiheredners zusammenge-fasst:

»Hitler hat befohlen, kein Denkmal zu errichten,das er vorher nicht gesehen hat /Dieses Denkmal hat er für gut befunden«

Vor dem Sichtschutz steht ein hölzerner, etwas kleinererZweithindenburg, um aufmerksam zu machen. Kurz vor derAufstiegsschneise wird ein Touristenbus entladen, und dieInsassen ziehen vorbei und halten den Holzmann ziemlichoft und ziemlich belustigt für Stalin, und es stimmt, Hinden-burg und Stalin hatten den genau gleichen Schnurrbart undBürstenhaarschnitt. Man hätte das Denkmal also, statt es miteinem T-34 umzupflügen, mit einem Stalin-Namensschildversehen und bis mindestens 1953 noch dort belassen kön-nen.

Seltsamerweise steht hier noch eine andere, nicht ganzfertige Holzfigur, und es ist tatsächlich Angela Merkel, die jaweder mit der Schlacht bei Tannenberg noch mit dem Kyff-

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häuser irgendetwas zu tun hat. Vom 1-Euro-Bratwurst-Standher nähert sich ein Verantwortlicher, der mir erklärt, warumdie Kanzlerin jetzt da aufgebaut wurde, aber ich vergesse denGrund sofort wieder. Er schiebt die giftblaue Plane beiseite.Direkt dahinter beginnt die offene Grube, in der Reichsprä-sident Hindenburg etwas schräg herumliegt. Die Porphyr-statue von Hermann Hosaeus sieht aus wie eine gestürzteIkone der Neuen Sachlichkeit und als habe von Anfang anjemand wie Baselitz oder Kiefer geplant, dass sie genau soliegend präsentiert wird.

Wegen dieser herrlichen Zusatzattraktion, die unbedingtgenau so erhalten werden muss, vergesse ich fast die eigent-liche Sehenswürdigkeit, das drittgrößte Denkmal Deutsch-lands. Ich rase kurz hin, schaue nach oben, sehe ungefährdie Kaiserkrone, darunter Wilhelm I., der mit seinem Rossaus dem Umriss hervorsprengt. Als Denkmalsfuß dient derin Fels gehauene Bart namens Barbarossa, der aber ohne Ein-trittskarte nicht sichtbar ist.

Während ich so nach oben schaue, unterhalten sichknapp vor mir zwei dieser ›Männer über fünfzig mit Digi-talkameras‹, wie sie Arezu Weitholz einmal genannt hat. Dereine belehrt gerade den anderen, wer da oben jetzt genau zusehen ist. »Der Wilhelm hat ja damals ...«, sagt er dann auchnoch, aber ich beende sofort dieses unfreiwillige Zuhören,indem ich weiter zur Unterburg rase, wo ich aus touristi-schen Gründen einige Sekunden stehen bleibe, und dannwieder zurück zum Ausgangspunkt.

Am 1-Euro-Stand sehe ich den Hindenburg-Verantwort-lichen stehen und kaufe ihm zum Dank eine Bratwurst ab.Ich habe sie gerade fertig verschlungen, als ich am 1,50er-Stand vorbeikomme, in dessen Nähe das Auto steht. Die

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Bratwurstfrau hat genau gesehen, dass ich eine feindlicheWurst verspeist habe und verwickelt mich umso dringlicherin ein Gespräch. Ich höre ihr gern zu, sie nennt wirklich 50gute Gründe und fragt mich suggestiv, ob mir die Fremd-wurst wirklich geschmeckt hat. Sie seziert eine der echtenEchten und fragt mich, ob ich die Fleischstruktur gut genugerkennen kann. Am Ende lädt sie mich dazu ein, doch malzu kosten, ihre Sicht der Dinge ist ihr also immerhin1,50 Euro wert.

Die andere Bergseite führt nach Bad Frankenhausen hi-nunter. In der Stadt verlasse ich die Bundesstraße RichtungPanorama-Museum, das mir vom Schlachtberg aus schonentgegenblinkt.

BAD FRANKENHAUSEN, PANORAMA-MUSEUM12:25 Uhr | 323 km

Die exakte Rundheit des Gebäudes erinnert sofort daran,dass es nur für eine einzige Leinwand gebaut wurde, WernerTübkes »Frühbürgerliche Revolution in Deutschland«, dasBauernkriegspanorama. Das ölgemälde ist 14 Meter hochund 123 Meter lang, eine Farben- und Figurenflut ohne An-fang und Ende, eine Erfüllung für jeden Maler: Bei kleinerenFormaten hat sich Tübke angeblich immer wieder darübergeärgert, dass er mit dem Pinsel zu schnell an den Rand ge-langte.

Irgendwo in der Umgebung des heutigen Museums hatteThomas Müntzer die Bauern zum letzten Mal mit seinemmesserscharfen Frühneuhochdeutsch berauscht, unmittelbarvor der Schlacht des 15. Mai 1525. Nachdem die vereinigten

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Fürstenheere die Aufständischen fast vollständig niederge-macht hatten, war Müntzer gefangen genommen, gefoltertund ein paar Tage später vor den Mauern Mühlhausens ent-hauptet worden. Über vier Jahrhunderte später wurde erdann im Zuge der Müntzer-Verehrung der DDR außer aufdem Fünfmarkschein auch zweimal offiziell mit auf TübkesGemälde abgebildet. Er steht vor dem ruinösen Turm vonBabel, wo er seiner Gemeinde predigt, und dann noch ein-mal deutlich herausgehoben im Mittelpunkt des Schlachten-getümmels unter dem Regenbogen. Aber auch eine Gestalthinter dem schwebenden blauen Fisch spielt auf Müntzer an,auf den dreihundert Jahre alten und immer noch sehr schönanzusehenden Müntzer-Stich von Romeyn de Hooghe. Al-lerdings fehlt der Figur schon der Kopf, der vielleicht nurvom Rumpf des Fisches verdeckt wird, vielleicht aber auchschon ab ist.

Im Museum selber herrscht oft eine Stimmung wie aufeiner Verkaufsveranstaltung, mikrofonbewehrte Museums-führer spulen ihre eingefahrenen Texte ab. Das kann ich mirheute schenken. Das riesige Wimmelbild ist ansonsten prin-zipiell gut für einen Familienausflug geeignet. Die Kleinstenspielen dann oft stundenlang »Ich sehe was, was du nichtsiehst, und das ist« – zum Beispiel ›braun‹. Die Suchzeit ver-längert sich signifikant, wenn man damit die Farbe derSchnürsenkel von einer der über 3.000 dargestellten Figurenim Sinn hat.

Eine Horst-Janssen-Ausstellung im Durchgang zumRundgemälde wurde gerade abmontiert, da ist auch nichtszu holen. Ich gehe also zielgerichtet ins Museumscafé, das»Café P.«, und durchsuche die Speisekarte. Vor Jahren hatte

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ich darin die Verse eines unbekannten Dichters entdeckt, diedamals auch auf der Website des Cafés prangten:

Seien Sie herzlich willkommen im »Café P.« des Panorama Museums.

Vor oder nach dem Besuch des Panorama Museums sindSie gern bei uns gesehen.

Kaffee, Kuchen oder Eis – gibt es schnell auf Ihr Geheiß.Wollen Sie »gut« essen – ist das nicht »Vermessen«.Ein gutes Essen braucht natürlich »seine Zeit«.Deshalb ein gut gemeinter Rat – haben Sie für »Ihr« Essen

einfach etwas Zeit.Sollte es »sehr schnell« gehen – dann wählen Sie für

»schnell« – bedächtig aus,dann wird auch »da was« draus.Die regionale Thüringer Küche – das ist unser Metier.Ihr kleines Team vom »Café P.«

Diese Gelegenheitslyrik ist das beste schlechte Gedicht allerZeiten. Neben dem absolut mysteriösen Gebrauch der An-führungszeichen irritiert besonders der abenteuerliche Vers-maßecocktail. Auch sonst wurde wirklich alles falschgemacht, was in zehn Zeilen falsch gemacht werden kann.Das Gedicht ist so systematisch misslungen, dass es schonwieder den Charme ernst gemeinter naiver Kunst verströmt,wie zum Beispiel auch die Bilder von Henri Rousseau, der janicht ohne Grund von Picasso & Friends gnadenlos verkultetwurde.

Vor einigen Jahren habe ich eine vollständige Interpreta-tion des Gedichtes veröffentlicht. Kurze Zeit später ist esdann leider von der Website verschwunden und mittlerweileoffenbar auch aus der Speisekarte. Eine Schande.

Über die Landstraße nach Westen sind es 20 Kilometerbis nach Sondershausen. Unterwegs gibt es in Rottleben

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einen Hinweis auf die Barbarossahöhle, die ›größte touris-tisch erschlossene Anhydrit-Gips-Höhle Europas‹, aber andiesem schön formulierten Superlativ kann ich heute nurvorbeifahren. Links und rechts frühherbstliche Felder, darü-ber ein paar Wolkenzitate aus verwitterten Schlachtengemäl-den.

SONDERSHAUSEN13:14 Uhr | 347 km

Die Alexander-Puschkin-Promenade führt hinein in die In-nenstadt, und eine thüringische Kleinstadt, die einer promi-nenten Straße so einen Namen gegeben hat, kann keinschlechter Ort sein. Sondershausen hat aber auch einen ei-genen Großautor. Ich parke vor der Trinitatiskirche undrenne Richtung Wezelstraße.

Auf dem Schild ist der Straßenname in stilisierter Frakturgeschrieben, sicher ein Versuch der zuständigen städtischenBehörde, authentischer, mittelalterlicher, touristischer zuwirken. Hier stand Wezels Sterbehaus, jetzt repräsentiertdurch eine metallene Stele mit Bild und Text.

Außer der Wezelstraße und der Wezelstele gibt es in derUmgebung noch ein Wezelcafé, eine Wezelpassage, eine We-zelbibliothek, einen Wezelgedenkstein und einen Wezelwan-derweg.

Johann Karl Wezel ist in Sondershausen geboren und ge-storben. 1747 und 1817. Verdoppelungen und Verdreifa-chungen gibt es auch in seinen Romanen, zum Beispiel inseinem besten, »Belphegor oder Die wahrscheinlichste Ge-schichte unter der Sonne« aus dem Jahr 1776. Darin schießt

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Wezel noch einmal eine volle Breitseite gegen die Theodizee,das Pech der Figuren multipliziert sich immer weiter, dage-gen ist Hiob noch gut weggekommen.

Arno Schmidt hat für das 18. Jahrhundert mal drei Bü-cher »des ehrwürdigsten Gott-, Welt- und Menschenhasses«aufgezählt: Swifts »Gulliver«, Voltaires »Candide« und eben:Wezels »Belphegor«. In dem zugehörigen Radioessay, »Belp-hegor oder Wie ich euch hasse«, feiert und zitiert er zum Bei-spiel die fiktive Ansprache Alexanders des Großen, dieFromal im 4. Buch des 1. Teils stellvertretend für den Make-donier hält. Also: Er, Alexander, könne seinen Ruhm schonauch irgendwie durch Wohltaten festigen, aber das werdeimmer so schnell wieder vergessen. Deshalb wolle er seinenRuf lieber durch »quäle würge morde verheere« festigen.»Alles das kann ich mir und andern Leuten aber nicht so ge-radezu sagen: wir müssen also das Ding ein wenig übertün-chen.« Seine Mitstreiter haben übrigens natürlich auch garnichts davon, wenn sie für ihn ihr Leben riskieren, höchstensnoch »die Ehre, tausende von euern Nebenmenschen um-gebracht zu haben«. Aber er werde schon oft genug von Hel-denmut sprechen, damit klar ist, »daß ihr Eure Köpfe nichtzu lieb haben sollt« und so weiter. Und bitte den Kindernweitersagen.

Dieser fröhliche Pazifismus klingt heute etwas sehr di-daktisch, ist aber trotzdem gut ausgedacht und hätte ineinem Handbuch leider nicht gehaltener historischer Redeneinen zentralen Platz verdient. Andererseits ist der Romanvor allem ein Vehikel der Spätaufklärung, der Dutzende Sze-nen mit genau derselben Aussagerichtung enthält.

Ich laufe noch ein bisschen zwischen den dreistöckigenPlattenbauten der Wezelstraße herum, betrachte noch für

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einige Sekunden die Kirchturmuhr und fahre dann über Kel-bra und Roßla wieder zurück nach Sachsen-Anhalt und zurletzten Autobahnausfahrt.

RASTPLATZ »GOLDENE AUE«14:00 Uhr | 373 km

Nach ein paar Metern verlasse ich die Strecke gleich wieder,um kurz auf der idyllischsten Autobahnraststätte der Weltanzuhalten. Bei der Ausrichtung SSO hat man über Waldund Wiesen hinweg einen freien Blick auf den Kyffhäuser.Dort 15 Minuten zu rasten ist wie eine Woche Wandern inder Lüneburger Heide.

An der für Stolberg zuständigen Autobahnabfahrt wirdman erst noch mal auf die andere Seite geworfen. In Bergageht es dann rechts ab in die richtige Richtung. Über mirschwebt die Thyratalbrücke, mit über einem Kilometer dielängste der A38. Auf der Landstraße Richtung Nordendurchquere ich zwei Dörfer, bis kurz vor Stolberg der Harzbeginnt.

Der Harz ist der Weltöffentlichkeit ja vor allem als Dro-genanbaugebiet bekannt. In Tarantinos »Pulp Fiction« ver-kauft der Dealer und Bademantelträger Lance nämlich seinbestes und teuerstes Heroin mit den Worten: »That is Chocofrom the Harz Mountains of Germany. ... When you shootit, you will know where that extra money went. ... This one’sa fucking madman!«

Soweit der Mythos. Links und rechts der Fahrbahn echterWald und echte Berge.

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STOLBERG14:44 Uhr | 392 km

Der Fachwerkwahnsinn von Stolberg. Die Häuser ähnelnsich in ihrer gelangweilten Idylle, komischerweise drängtsich ein Vergleich zum Plattengebirge von Halle-Neustadtauf.

Wo ist das Wohnhaus von Johann Gottfried Schnabel? Ichdachte, ich müsste nur in Stolberg einfahren und die Ge-denktafel würde mich sofort anblinken. Erst mal sehe ichlinks das Thomas-Müntzer-Geburtshaus, das zwar nichtmehr selber dort steht. Auf einer rustikalen hölzernen Ge-denktafel, die Gemütlichkeit ausstrahlt, wird aber an den»rev. Bauernführer« erinnert. Die Idee, »revolutionär« mit»rev.« so radikal abzukürzen, ist hervorragend und ein schö-nes Beispiel für die Bürokratisierung von Revolutionen.

Am Markt steht dann ein richtiges Denkmal für den Sohnder Stadt, ein Ensemble mit zwei hintereinander stehendenFiguren und vier rahmenden Stelen. Der fast schwebendeFrontmann mit Topfhaarschnitt wird Thomas Müntzer sein.Sein Rücken ist entblößt: Mit so einer gigantischen Achilles-ferse, soweit die Aussage des Kunstwerks, ist man zum Op-fersein verdammt. Hinter Müntzer steht dann auch keinbäuerlicher Mitstreiter, sondern ein vermummtes Etwas, dassehr unsympathisch wirkt und Müntzer wahrscheinlich ir-gendwann an den wehrlosen Rücken will. Ich laufe zweimalum das Ensemble herum, finde aber keine Informationstafel.Wie gut, dass schräg dahinter die Touristeninformation ge-öffnet hat.

»Ja, Infoschild gibt es nicht, der Künstler wollte dasnicht«, sagt eine Stadtführerin und verrät mir trotzdem sei-

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nen Namen, den ich aber sicher nicht direkt weitergebendarf. Es ist erstaunlicherweise derselbe Künstler, der zehnJahre später auch die drei Nietzsche-Figuren in Röcken auf-stellen durfte.

Eingeweiht wurde das Denkmal zu Ehren des »rev. Bau-ernführers« zum 500. Müntzer-Geburtstag noch im Wende-jahr 1989, und abreißen wollte es danach offenbar auchkeiner mehr.

Im Flur der Auskunftsstelle entdecke ich noch einenTisch mit aussortierten Büchern. Ich blättere in einem zer-lesenen Theodor-Storm-Band, der auch den »Pole Poppen-späler« enthält. Ich nehme ihn als eine Art Reiseführer fürHeiligenstadt mit. Im Buch ganz vorn klebt der typischeSchreibmaschinen-Waschzettel einer DDR-Bibliothek. Ganzhinten ist ein weiteres Blatt angebracht, das die Stempel derAusleihhistorie enthält. Das Buch wurde zuletzt im Juni 1984entliehen.

Das Schnabel-Haus ist übrigens gleich um die Ecke, wiealles in Stolberg. Ich biege vor dem Gasthaus Kupfer links indie Schlossbergstraße ein. Die Auffahrt ist so schmal wie dieTodesstraße nach Coroico im bolivianischen Dschungel. Ei-nige Touristen versperren mir kopfschüttelnd den Weg undversuchen mir offenbar Verbesserungsvorschläge zum auto-freien Verhalten an Feiertagen zu geben, die ich aber wegendes krachenden Motors nicht genau verstehe.

Als ich vor dem Schnabel-Haus halte, Am Schlossberg 5,umringen neue Leute vorwurfsvoll das Auto. Ihr Uneinver-standensein wandelt sich aber schnell, als ich mich dezidiertzu der Gedenktafel durchdränge. Plötzlich interessieren sichalle Umstehenden auch für den angebrachten Hinweistext:

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»In diesem Haus des gräflichen Hofbuchdruckers Erhardtwohnte der bedeutende Schriftsteller der FrühaufklärungJOHANN GOTTFRIED SCHNABEL während seines Wir-kens in den Jahren 1724–1744 in Stolberg/Harz. Sein weite-rer Verbleib ist unbekannt.«

Hier (oder woanders) hat Schnabel die von Tieck späterso genannte »Insel Felsenburg« geschrieben, die »Wunder-liche Fata einiger See-Fahrer«, die zwischen 1731 und 1743in vier Bänden erschienen ist. Sie ist nicht nur eine der zahl-losen »Robinson Crusoe«-Reprisen, sondern eine immernoch sehr lustig zu lesende Sozialparodie mit vielen biogra-fischen Miniaturen, die stark an eine andere Großrobinso-nade erinnern, an die TV-Superserie »Lost« mit ihrenepisodenweisen Flashbacks. Schnabel gehört wie Wezel zumGegenkanon von Arno Schmidt, auch über ihn gibt es einendieser schnell weggesprochenen Radioessays. Die A38könnte mit einigem Recht also auch »Arno Schmidts Gegen-kanon-Autobahn« heißen.

Neben mir steht ein Anwohner samt Hund und fragt, obich mich für das Haus interessiere. Seine Frau sei darin auf-gewachsen. »Wir wussten das ja damals alles nicht. Das mitdem Johann Wolfgang Schnabel. Das haben sie uns erst nachder Wende erzählt.«

Ich erlebe zum ersten Mal, dass die Rechtfertigungsspra-che der NS- und DDR-Aufarbeitung auch für Dinge aus dem18.  Jahrhundert benutzt wird. Am Ende hat er natürlichRecht: Weil keiner keinem was erzählt zu haben scheint, hatauch keiner weitergetragen, was aus Schnabel geworden ist.Man weiß lediglich, dass er vor 1760 gestorben sein muss.Weitere Informationen über den Verbleib des Genannten

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werden händeringend gesucht, bitte bei der Schnabel-Ge-sellschaft melden, Neustadt 12 in 06547 Stolberg.

Wie eben in Sangerhausen verweist mich der Anwohnergleich weiter an die nächste Sehenswürdigkeit: »Haben Sieschon unsere Juliana gesehen?« Links neben dem Haus führteine Treppe zum Schloss hinauf. Vor den letzten Stufen stehtin Denkmalsform ein junges Mädchen, Juliana zu Stolberg,die 1506 auf dem Schloss geboren und dann mit 17 Kindernund mindestens 500 Enkeln und Urenkeln zur Stammmutterdes halben europäischen Adels wurde.

Ich umrunde die Statue einmal, das dauert dreieinhalbSekunden, zu mehr reicht die Zeit nicht, ich kehre zur A38zurück, und nach der Auffahrtsschleife über Berga fahre ichüber die Thyratalbrücke wieder nach Thüringen hinein.

NORDHAUSEN15:30 Uhr | 427 km

Über die B4 erreiche ich die Dom- und Schnapsstadt, fahredort dann den Taschenberg hinauf und biege noch ein paarMal ab, bis ich die Eduard-Baltzer-Straße erreiche.

Baltzers Wohnhaus steht nicht mehr, stattdessen ist dergesamte Straßenzug mit knallbunten dreistöckigen Platten-bauten bestückt. Neben dem Eingang, der dem nicht mehrexistierenden Haus am nächsten steht, ist eine Erinnerungs-tafel angebracht. Wie bei den verschwundenen Geburtshäu-sern von Seume in Poserna und Müntzer in Stolberg musshier eine Gedenktafel den Genius loci behaupten. Zusätzlichzum Straßennamen hat Baltzer immerhin auch noch einen

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nach ihm benannten Brunnen abbekommen, der ein paarMeter von hier entfernt steht.

Eduard Baltzer ist in Nordhausen weder geboren nochgestorben, hat hier aber einige Jahrzehnte lang gelebt, zwi-schen 1847 und 1881. Er war der erste gewohnheitsmäßigeAlternative, ein Jahrhundert vor der Zeit. Wirkungsge-schichtlich ist er zwar ziemlich breit aufgestellt, hat sich abereher für touristisch nicht so leicht verschlagwortbare Sacheninteressiert. Deswegen braucht die Gedenktafel auch ein paarZeilen, um seine Verdienste aufzuzählen.

Als Theologe und Prediger hat er einer der ersten freire-ligiösen Gemeinden vorgestanden, in diesem Zusammen-hang hat er auch, als Gegenentwurf zur Konfirmation, dieJugendweihe miterfunden. Vielleicht ist er in der DDR des-halb immer noch mal mit erwähnt worden. 1848 war er alsAbgeordneter im Frankfurter Vorparlament und in derPreußischen Nationalversammlung für einen Moment soetwas wie ein Politiker, wurde aber nach einer politischenRede in Ellrich auch Opfer eines spontanen Übergriffs. Seinletzter antibürgerlicher Impuls war ab 1866 die Propagierungdes Vegetarianismus. Er verfasste ein vegetarisches Koch-buch, das sich 70 Jahre lang mit über 20 Auflagen auf demMarkt hielt.

Zwischen den grell gefärbten Uniformneubauten derBaltzer-Straße fällt ein Teil der alten Stadtmauer ins Auge,eine Pforte, die auch noch Nachtigallenpforte heißt und di-rekt in eine idyllische Parkanlage führt. Auf der Außenseiteder Mauer ist ein Schild mit einem Luther-Zitat angebracht,mit dem sich Nordhausen selbst zu seiner frühen Lutherbe-geisterung beglückwünscht. Der genaue Wortlaut ist nichtso leicht lesbar, denn das Schild scheint auch als Tor Ver-

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wendung zu finden und ist übersät mit Abdrücken einesschmutzigen Fußballs.

Beim Verlassen des Baltzer-Viertels sehe ich noch einHinweisschild mit der Aufschrift »Altstadt« und gleich da-hinter die Zipfel der Blasii-Kirche und des Doms, ich fahreaber weiter die B4 hinauf Richtung Mittelbau-Dora.

MITTELBAU-DORA16:06 Uhr | 434 km

Nachdem Peenemünde auf Usedom im August 1943 bom-bardiert worden war, sollte die Entwicklung und Produktionder V2-Rakete an einen geschützteren Ort verlegt werden.Hier im Kohnstein gab es schon eine geeignete Stollenanlage,die dann umgebaut und vergrößert wurde. Die dabei einge-setzten Zwangsarbeiter mussten anfangs monatelang unterTage hausen, das Lager Dora außerhalb der Stollen wurdeerst im Frühjahr 1944 dazugebaut. Von etwa 60.000 Häftlin-gen, die das KZ bis Kriegsende durchliefen, starben 20.000.Die Baracken stehen nicht mehr, das Gelände erinnert an dievielen Waldbilder, die Claude Lanzmann um 1980 von denmittlerweile überwachsenen Vernichtungslagern in Polenaufgenommen hat.

Am Rand des für DDR-Zwecke umgestalteten Appellplat-zes befindet sich ein ehemaliger SS-Unterstand, der vor derWende als Isolationszelle für Häftlinge ausgegeben wurde.Die entsprechende Gedenktafel ist noch da, allerdings er-gänzt um eine Richtigstellung, die nun daran erinnert, dasshier an etwas nicht Authentisches erinnert wurde.

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Rechts neben dem Weg zum Zugangsstollen haben fran-zösische Überlebende vor eineinhalb Jahren eine »Barbara-Rose« gepflanzt, als Anspielung auf die Chanteuse Barbara,die mit ihrem unaushaltbar pathetischen Chanson »Göttin-gen« die deutsch-französische Freundschaft der Neuzeit be-gründen wollte. Hier ist jetzt allerdings nicht der Ort, denChanson für unaushaltbar pathetisch zu erklären, aber viel-leicht nachher in Göttingen selber.

Ein anderer französischer Text hatte neulich auch etwasmit Mittelbau-Dora zu tun, Jonathan Littells 2006 erschie-nener Roman »Die Wohlgesinnten«, erzählt aus der Sicht desdeutsch-französischen, promovierten und schwulen Juristen,Bildungsmenschen und SS-Offiziers Max Aue. »Dr. Aue warüberall, wo was los war«, schrieb Iris Radisch in ihrem Ge-neralverriss des Buches, und so muss er ab Seite 1032 aucheine Besichtigungstour in den Mittelbau-Stollen absolvieren,im Dezember 1943, gemeinsam mit Albert Speer.

Im Rahmen einer Führung kann man sich heutzutage üb-rigens die Querstollen 44 bis 46 ansehen. Man sollte sichdabei allerdings immer auf ein paar technikbegeisterte Idioten gefasst machen, die an den Umständen vorbei vonder V2 schwärmen und sehr kühne Spekulationen über geheime Vorgänge im heute unzugänglichen Rest der Anlageanstellen.

Direkt am Lager vorbei führt der historische Kaiserwegvon Bad Harzburg nach Tilleda. Die HRR-Kaiser haben ihnzur Flucht benutzt oder zum Truppentransport über denHarz. Der Weg ist leider auch nach über tausend Jahren nochnicht gepflastert, also fahre ich die bekannte Strecke zurückzur Autobahn. Dabei fallen mir noch Thomas Pynchons»Enden der Parabel« ein, die auch ein bisschen in Mittelbau-

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Dora spielen, aber ich kann mich kaum mehr an dieses Ju-gendbuch erinnern.

Bei Bleicherode wird man dann wieder von der A38 he-runtergeführt, die fehlenden 13 Kilometer sollen erst Ende2009 fertig sein. Die im Moment noch obligatorische Ab-fahrt kündigt unter anderem das Ziel Mühlhausen an, dieletzte Station Thomas Müntzers, aber die berühmte Hinrich-tungsstadt liegt mehr als 30 Kilometer von der Autobahnentfernt, für heute zu weit weg.

BLEICHERODE17:04 Uhr | 466 km

In Bleicherode wurde 1822 der Geograf August Petermanngeboren, den ich vor allem kenne, weil er in einigen Jules-Verne-Romanen vorkommt. In »5 Wochen im Ballon«(1863) und in der »Reise zum Mittelpunkt der Erde« (1864)ist er der behauptete gute Brieffreund der Abenteurer.

Petermann saß von 1847 bis 1854 in London, danach inder Geografiesuperstadt Gotha, wo er die Zeitschrift »Peter-manns Geographische Mitteilungen« gründete, die noch bis2004 erschienen ist. Hier wurden die Entdeckungen des 19.und 20. Jahrhunderts protokolliert und die Weltkarte nachund nach vervollständigt. Karl May hat die Hefte gern als In-spirationsquelle für seine Romane benutzt. Petermann setztesich vor allem für Expeditionen in die Polargebiete ein, aufdass die Theorie vom eisfreien Nordpolarmeer bewiesenwerde. Nach ihm sind ein Fjord, ein Fjell, ein paar Gebirgs-züge, ein Gipfel, zwei Kaps, eine Insel und zu guter Letztnoch ein Mondkrater benannt.

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In Bleicherode tragen natürlich auch ein paar Dinge Pe-termanns Namen, und in einer kleinen Parkanlage an derBarbarastraße hat man für ihn einen Mini-Obelisken mit Re-liefbild aufgestellt. Er wurde gerade saniert und glänzt jetztin der Abendsonne. Irgendwo in Bleicherode steht auchnoch Petermanns Geburtshaus, aber dafür reicht die Zeitnicht. Stattdessen fahre ich kurz an eine Tankstelle und dannsofort weiter nach Obergebra und auf die B80, vorbei an einpaar Schrebergärten, dann über Sollstedt und Wülfingerrodeund über ein paar Bahnschienen nach Bernterode-Schachtund dort durch eine zukünftige A38-Brücke und vor Brei-tenworbis wieder auf die Autobahn. Nach der Abfahrt Lei-nefelde nehme ich die B247, biege dann aber gleich RichtungSüdstadt ab.

LEINEFELDE17:32 Uhr | 494 km

Im Rahmen des Eichsfeldplans vom Ende der Fünfzigerjahrewurde in Leinefelde Industrie angesiedelt, um das Grenzge-biet der DDR wirtschaftlich zu beleben. Die zuziehende Be-völkerung wurde in schnell hochgezogenen Plattenbautenuntergebracht, die Einwohnerzahl stieg rasch von 2.500 auf16.500, die Stadt wuchs in zeitlichen Staffelungen immerweiter nach Süden. Mit ein paar Rechtsschwenks entlang derBirkunger Straße kann man die Geschichte des DDR-Plat-tenbaus nun schön chronologisch abfahren. Denn obwohldas Stadtviertel inzwischen größtenteils saniert und umge-staltet wurde, schimmern die Ursprungsbauten noch durch.

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Es beginnt in der Geschwister-Scholl-Straße, mit ein paardreistöckigen Häusern vom Typ Q6, die 1963 errichtet wur-den und reaktionärerweise noch Satteldächer haben durften.In der Konrad-Martin-Straße folgen ein paar Reihen vomTyp L4 aus den Jahren 1964 bis 1966. Weiter südlich, in derKäthe-Kollwitz- und der Lilo-Hermann-Straße, stehen Ge-bäude vom Typ 5 Mp aus dem Jahr 1969.

Dann folgt schon das Physikerviertel, das zwischen 1970und 1974 mit Häusern der klassischen WBS  70 bestücktwurde. Andere Exemplare davon bzw.  darauf basierendeWeiterentwicklungen wie die WBR 82 gibt es im zwischen1978 und 1982 entstandenen Musikerviertel und dem west-lich daran anschließenden Dichterviertel, an dem noch bis1989 gebaut wurde.

All das wird auch in der schon vorhin in Halle-Neustadterwähnten Dissertation von Peter Richter beschrieben. Inseiner Fallstudie untersucht er dann die Umgestaltung vonLeinefelde-Süd, die so gelungen ist, dass der Kritiker KayeGeipel überschwänglich ausrief: »Architekten, kommt nachLeinefelde und seht euch diese Sanierung an.«

1996 war ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben wor-den, der nach Lösungsvorschlägen für das Physikerquartierund das Dichterviertel verlangte. Am Ende wurden zwei Ar-chitekten ausgewählt: Muck Petzet fielen die Physiker zu,Stefan Forster die Dichter. Und während Petzet bei der Um-setzung versucht hat, das sozialistische Erbe mitzudenkenund einige Gemeinschaftseffekte zu verbauen, hat Forstersein Viertel auf eine Privatisierung des Geländes hin saniert.Aus einem 180 Meter langen Plattenbauriegel hat er zumBeispiel acht Stadtvillen herausgeschält, die mit ihren Gar-tentoranlagen wie eine Gated Community wirken.

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Im nicht preisgekrönten Musikerviertel gibt es übrigenseinen sonderbaren Block in der Beethovenstraße. Er wurde1996 von einem Gummersbacher Zwischenerwerber saniert,der offenbar ganz nebenbei einem bestimmten Bildungsauf-trag nachkommen wollte, auch wenn ihm den niemand er-teilt hatte. Die Eingänge ließ er mit billigen Betonsäulen undneoklassizistischen Giebelvorbauten rahmen, in denen co-micartige Porträtreliefs von Liszt, Bach, Mozart und Händelprangen. An eine fensterlose Seitenwand des Gebäudeswurde ein riesiges Beethovengesicht gemalt. »Das ist ein kul-tureller Entwicklungsbeitrag«, hat der Sanierer damals dem»Spiegel« gesagt. »Die Leute hier wissen doch gar nicht, wiediese Komponisten eigentlich aussehen und wann sie gebo-ren und gestorben sind.« Diese brachialdidaktische Staffie-rung muss man gesehen haben.

Ich fahre noch schnell zum Bonifatiusplatz, um mir kurzdie schon 1988 begonnene und 1993 geweihte katholischeKirche anzusehen. In deren Rückwand ist ein oktogonalesRosenfenster eingewirkt, das schon nach außen hin einenvöllig unerwarteten Akzent setzt. Im Inneren der Kircheherrscht dann auf den ersten Blick eine majestätische Leereund Übersichtlichkeit, aber allein die kunsthistorische Ana-lyse aller Fensterdarstellungen würde Tage dauern. Ich be-schränke mich auf eine Heiligenstatue, einen gleichmütigblickenden Bonifatius, der in der rechten Hand eine dergroßartigsten Insignien der Märtyrerwelt hält, das feindlicheSchwert, auf das ein Evangelienbuch gespießt ist.

Über die B247 fahre ich außen um Leinefelde-Süd herumund wechsle auf das gegenüberliegende Ufer der A38. Dortliegt Worbis, wo es einen Alternativen Bärenpark gibt, indem die Gehege so weitläufig sind, dass man Stunden ver-

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bringen kann, ohne ein echtes Tatzentier zu sehen. Aber oftsind ja auch die Gattungsnamen auf den Plastikschildernschon interessant genug.

Ich fahre die Bundesstraße weiter bis nach Teistungenund halte nach dem Ortsausgang am ehemaligen Zollver-waltungsgebäude, das heute ein Museum ist.

TEISTUNGEN, GRENZLANDMUSEUM EICHSFELD18:05 Uhr | 512 km

Das Museum selber ist bereits geschlossen, zum Komplexgehört aber auch die ehemalige Grenzanlage, und bis zumDDR-Grenzstein ist es nicht weit. Oder doch, ein paar Kilo-meter, und ich laufe auf dem Kolonnenweg einem fehlerlo-sen Abendrot entgegen. Literaturgeschichtlich war dieserEffekt ja lange wegen des Kitschvorwurfs tabuisiert, aberdann hat Rainald Goetz vor einigen Jahren in »Dekonspira-tione« das Sprichwort »Abendrot – Schönwetterbot« reakti-viert und damit dem Effekt wieder zur Äußerbarkeitverholfen.

Nichtsdestotrotz wird mein Spurt zum Abspann einesschwülstigen Wendefilms. Die Grenze ist museal abgesi-chert, überall stehen Informationsschilder, die auf vergan-gene Funktionalitäten hinweisen. Oben laufe ich kurz amGrenzstein vorbei, hallo Niedersachsen, bis gleich, und wäh-rend um 18:44 Uhr offiziell die Sonne untergeht, haste ichbergab zurück zum Auto und fahre dann wieder zur A38und weiter bis zur Abfahrt Heiligenstadt.

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HEILIGENSTADT19:16 Uhr | 545 km

Ich halte irgendwo in der Nähe der Marienkirche. Bis zurWilhelmstraße 73 ist es dann nicht weit. Dort, wo heute Un-terhaltungselektronik verkauft wird, wohnte Theodor Stormdie längste Zeit während seiner mitteldeutschen Jahre.

Der Ort ist ein Höhepunkt biografischer Werkauffassung.Im Januar 1864, kurz vor seiner Abreise aus Heiligenstadt,beobachtete Storm am gegenüberliegenden Stadtge-fängnis eine Szene, die er später in den »Pole Poppenspäler«eingebaut hat: Eine junge Frau mit zwei Kindern will sichmit ihrem zu Unrecht des Diebstahls verdächtigten Mannzusammensperren lassen, wird aber abgewiesen und irrt nunin der Eiseskälte umher. Wie die Meisterin des Gesellen PaulPaulsen holen die Storms das arme Ding zu sich herein undhändigen ihr ein leckeres Heißgetränk aus. Es interessiertmich jetzt kurz, was das genau war, wie gut, dass ich vorhinin Stolberg den Erzählungsband mitgenommen habe. Eshandelt sich um »eine dampfende Tasse Kaffee«, und dieseruft sofort Erinnerungen an den Anti-Nietzsche-Espressowach, den ich vor 17 Stunden zwischen Lützen und Röckenzu mir genommen habe.

Wegen Storms signifikant langem Aufenthalt in der Stadtwurde 1988 ein Fachwerkhaus am Ende des Boulevards zueinem Storm-Museum umfunktioniert. Der Genius loci hates hier besonders schwer, denn Storm hatte mit dem Hauswahrscheinlich nicht sehr viel zu tun. Genauso wenig wieHeinrich Heine, dem im Erdgeschoss ein Zimmer abgetretenwurde, das sehr klein ist, weil es nicht viel mehr als die Fak-similes der Taufdokumente auszustellen gibt. Storm hat acht

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Jahre in Heiligenstadt gelebt, Heine hat sich 1825 in einemHeiligenstädter Pfarrhaus nur einen Tag lang taufen lassen,die Zuständigkeiten des Museums sind also klar verteilt. Undzum Beweis steht vor dem Eingang noch ein bisschen Kunst-gewerbe in Form einer Storm-Bronzestatue. Der sympathi-sche kleine Mann hat die rechte Hand leger in derHosentasche, trägt in der linken standesgemäß ein Buch undüberwacht ansonsten mit juristischem Prüfblick die Wil-helmstraße.

Inzwischen ist es richtig düster geworden, aber schon dernahe Heidkopftunnel bringt neues Licht.

HEIDKOPFTUNNEL19:40 Uhr | 560 km

Jede gute Autobahn hat mindestens einen schönen Tunnel,die A38 hat ihn seit Dezember 2006. Überall scheinen Si-cherheitshinweise auf, die Beleuchtung ist angenehm warm,und auf 1,7 Kilometern gibt es eine ganze Armada von Not-haltebuchten, SOS-Telefonen und anderen ausgewiesenenRettungsmöglichkeiten. Wer sich einmal richtig sicher füh-len will, sollte hier durchfahren.

Nach dem Tunnel beginnt Niedersachsen, die A38 istdann fast zu Ende. Die Schleife bei meiner letzten AbfahrtFriedland führt mich auf der B27 für ein paar Sekundennach Hessen, das Ortseingangsschild von Neu-Eichenberg-Marzhausen blinkt kurz auf.

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FRIEDLAND19:51 Uhr | 568 km

Das geschichtsträchtige Durchgangslager liegt im Ur-Fried-land, dem Ortsteil, der schon vor dem 1973 erfolgten Zu-sammenschluss der umliegenden Gemeinden so hieß.Friedland war 1945 von den Briten ausgewählt worden, weiles günstig im Eck dreier Besatzungszonen lag. Das Lagerwurde bis heute in vier verschiedenen Geschichtszusam-menhängen besiedelt: mit Vertriebenen aus den Ostgebieten,mit Kriegsheimkehrern, mit DDR-Aussiedlern, mit Spätaus-siedlern.

Friedland ist also traditionell ein Symptom deutscher Ge-schichte des 20. Jahrhunderts. Dort kamen zehn Jahre nachdem Krieg die letzten Zehntausend aus russischer Gefangen-schaft an. Speziell die Kriegsheimkehrer hat man übrigensimmer mit dem »Choral von Friedland« begrüßt, dem »Nundanket alle Gott!« von Martin Rinckart. Dieses Lied musseinfach verdammt gut sein, denn 200 Jahre davor wurdenmit ihm als »Choral von Leuthen« schon die Siege Fried-richs II. gefeiert.

Gesungen wird heute nicht mehr, aber für die Kriegsteil-nehmer und prinzipiell auch gleich für alle anderen hat man1967/68 auf dem Hagenberg ein weithin sichtbares Mahnmalerrichtet. Der Weg nach oben ist etwas zu dunkel und einwenig unheimlich, die Nietzsche-Taschenlampe ist ver-schwunden. Aber um genau 20:03 Uhr springt die Beleuch-tung an. Die zerklüfteten vier Betonarme des Denkmalsragen jeder in seine Himmelsrichtung, und ich versuche, einpaar verblasste Graffitis zu entziffern.

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DREIECK DRAMMETAL20:33 Uhr | 577 km

Die letzten Meter auf der A38. Ich fahre am Drammetal abund weiter Richtung Hannover. Nach so viel heimeliger Au-tobahnwelt ist das dreispurige Gedränge auf der A7 sofortein gutes Kontrastmittel. Nach sieben Kilometern kommtaber schon die Abfahrt Göttingen.

Cortázar und Dunlop hatten ihre Rastplatzexpeditionentlang der Autoroute du Soleil unter anderem deshalb ge-startet, weil sie die Existenz von Marseille eindeutig nach-weisen wollten. Das geht auch mit Göttingen. Seit Heines»Harzreise« ist die Stadt mit ihren Würsten und ihrer Uni-versität ja vor allem Zitat, man muss ihre Existenz also auchmal wieder anders belegen. Nach der Autobahnabfahrt fahreich auf der B3 noch einmal von der Stadt weg und biegedann nach sieben Kilometern links in die Landstraße nachBördel ab, wo der Sage nach mehr Pferde als Menschen woh-nen.

BöRDEL, SESEBÜHL20:53 Uhr | 596 km

Oberhalb von Bördel liegt der Sesebühl, der schon bei denGauß’schen Landvermessungen eine Rolle gespielt hat. Inder deutschsprachigen Nachkriegsliteratur ist es sogar »derweitaus schönste, aber auch unbesuchteste Ort um Göttin-gen mit großartiger Fernsicht (der Brocken genau über demJakobi-Kirchturm!)«.

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Das hat Hans Jürgen von der Wense nach seiner Abwan-derung des Messtischblatts Jühnde geschrieben, irgendwannnach 1950. Und Wense hat Recht. Noch während der Motordie Waldruhe stört, glittert Göttingen in der Ferne klar unddeutlich vor sich hin. Ich lasse das Auto stehen und gehenoch ein Stück weiter in die Einsamkeit, all meine Caspar-David-Friedrich-Assoziationen werden aber ganz plötzlichzerhauen durch das Eingangsschild eines FKK-Zelt-platzes, dem Sport- und Freizeitpark Bördel. Das Geländegab es bei Wense noch nicht, es wurde erst nach seinem Tod1966 angelegt. Und mit einem Dorf nackter Menschen imRücken schaue ich nun auf die gleißende Stadt, nach Osten,also doch: ex oriente lux.

Ich kenne Wenses Bericht aus einer alten Ausgabe der in-zwischen eingestellten Matthes-&-Seitz-Zeitschrift »DerPfahl«. Erst vor ein paar Jahren wurde Wenses gigantischerNachlass, 30.000 beidseitig beschriebene Blätter, dazu 40 Ta-gebücher und tausende Briefe, teilweise veröffentlicht. Hierbei Göttingen endet mein heutiges Interessengebiet. Wenseshat hier begonnen. Wegen der Bibliothek war er 1940 vonKassel nach Göttingen umgezogen. Von dort aus hat er dannüber Jahrzehnte seine Wanderungen in das Gebiet bisEschwege und Paderborn fortgesetzt und sich über das Rei-severhalten seiner massentouristischen Zeitgenossen belus-tigt: »ich kenne Leute, die zum Nationalfeiertag der Franzo -sen nach Paris fahren, aber noch nie in Goslar waren, vonwo aus einst halb Europa beherrscht wurde bis Sizilien hin!«

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GöTTINGEN21:20 Uhr | 612 km

Vom Uni-Parkplatz gehe ich auf das nicht mehr existierende,aber immer noch so heißende Weender Tor zu. Hier hatHeine beim Verlassen der Stadt im September 1824 einenGöttinger Jungen zu seinem Freund sagen hören: »Mit demTheodor will ich gar nicht mehr umgehen, er ist ein Lum-penkerl, denn gestern wusste er nicht mal wie der Genitivvon Mensa heißt.« Heine will den Satz am liebsten gleich alsStadtmotto auf das Tor setzen lassen.

So triftig wie Heine Göttingen verlässt, so muss manheute eventuell erst mal vor Heine fliehen. In sehr jungenJahren habe ich mir in einer Stadtbibliothek »Deutschland,ein Wintermärchen« ausgeliehen. In dem zerlederten Hefthatte irgendjemand alle, wirklich alle Stellen angestrichen,an denen auch nur ansatzweise irgendwelche teutschen Un-arten gegeißelt wurden. Kaum eine Zeile war ausgelassen,und ich war bestürzt: Das also war Heine, ein kleingeistigerAnprangerer mit Stellenanstreichern als Zielgruppe? Ichbrauchte Jahre, bis ich die Übermacht beamtischer Heine-Gutfinder ignorieren konnte.

Ich laufe an der Jacobikirche vorbei und denke an denBarbara-Chanson. In Göttingen gebe es zwar keine Seineund leider auch keinen Bois de Vincennes, aber es gebe dochso superschöne Rosen wie nirgends sonst auf der Welt. So-weit der Liedtext. Vergessen wurde dabei aber mindestensnoch die Konditorei »Cron & Lanz«. Die Torten, das Am-biente, die Kundschaft hätten Stoff für hundert Thomas-Mann-Romane abgegeben. Walter Kempowski war hier in

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den Fünfzigerjahren öfters zu Gast und hat das auch pflicht-bewusst in seinem Romanzyklus erwähnt.

Am Nebenhaus fällt mir eine Gedenktafel ins Auge, diedaran erinnert, dass im Wintersemester 1789 Alexander vonHumboldt hier untergebracht war, bei einem Metzgermeis-ter. Wie bei Göttinger Häusern üblich prangen an derselbenFassade aber gleich noch drei weitere Tafeln mit Namen be-kannter Mieter aus dem 18. und 19. Jahrhundert, wie Klin-gelschilder ohne Klingel.

An der Bar im »Esprit« in der Langen Geismarstraße be-stelle ich einige Tassen Kaffee und mache mich dann gegen22:15 Uhr auf den Rückweg, diesmal ohne Nebenwege, dasLicht aus Leuna als Leitstern.

4. Oktober 2008LEIPZIG, »TELEGRAPH«

01:01 Uhr | 864 km

Die Südlich-vom-Harz-Reise endet wieder im »Telegraph«.Die Freunde sitzen dort genau wie vor 24 Stunden, und ichgehe hinüber, lege den GPS-Empfänger auf den Tisch undbestelle eine Runde Serons de Salvanette.

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DAVID WOODARDAUTOBAHN 38, RUTA XI, ROUTE 66

Heute, am 22. Dezember 2009, hat die BundesrepublikDeutschland den Bau der Autobahn 38 abgeschlossen. DieEröffnung des letzten fehlenden Teilstücks hier am Höllberg-tunnel weckt Erinnerungen an den März dieses Jahres, als dieRepublik Paraguay die Asphaltierung der Ruta XI beendethat, die das Dschungeldorf Nueva Germania nun endlich bes-ser mit der Provinzhauptstadt und dem restlichen Umlandverbindet. In fahrbahnloser Vorzeit waren Verkehrsteilneh-mer an regnerischen Tagen auf beiden Strecken bedeutendhöherer Gefahr ausgesetzt, revolverschwingenden Straßen-räubern zu begegnen.

Ich hatte die Ehre, zwei der initialen Nachtkapitel der»Südharzreise«, die auf den vorangegangenen Seiten beschrie-ben wurde, unter den Auspizien des Autors Frank Fischernoch einmal bei Tageslicht zu befahren. Dies geschah im No-vember 2008, kurz nachdem ich von einem sechsmonatigenAufenthalt im mystischen Asien nach Deutschland zurück-gekehrt war. Lassen Sie uns doch zusammen einige meinerAutobahn-38-Assoziationen wachrufen.

Leipzig kam ins Spiel, weil ich die Stätten besuchen wollte,an denen Bach omaskantor und Wagner geboren wordenwar. Als ich im geweißelten Heim meines Übersetzers JonasObleser im nüchternen Max-Planck-Revier eintreffe, zeigtmir Mr. Fischer den Crossover-Kurzfilm »Autobahn 38«, derein paar Tage nach der Originalreise entstanden ist.

Etwas später finden wir uns mit Milchkaffees-to-go in derHand vor der bewegenden omaskirche, wo auf Bachs guterhaltener Orgel Messiaen gegeben wird, und passieren

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sodann ein riesiges Wagner-Poster. Es ist an der Außenwandeines Einkaufszentrums angebracht, die in den Luraum ragt,der einst das Geburtshaus Wagners umgab. Dessen jugend-lich-arrogantes Antlitz kräuselt sich im Wind und überschautso halb himmelwärts eine größere Leipziger Kreuzung.

Dann rauschen wir die A38 hinunter nach Röcken und be-suchen in dem kleinen Dorf die Gräber von Friedrich Nietz-sche, seiner Schwester Elisabeth und seiner Mutter Franziska.Nicht zu vergessen Friedrichs Vater, Carl Ludwig, den lang-jährigen Pfarrer einer in ihrer Bescheidenheit beeindrucken-den lutherischen Kirche, an deren Seite sich die Gräber derNietzsches erhalten haben.

Das Grab des Vaters findet man dort in Einheit mit demvon Friedrichs jüngerem Bruder Joseph, der bereits zwei Jahrenach seiner Geburt starb. Beider Grabstein ist ungepflegt undteilweise von Unkraut verschleiert, von Dreck und dem einoder anderen verirrten Regenwurm. Nietzsches Vater ver-schied dank seiner sich selbst marinierenden Gehirnrinde, alsNietzsche im Kindergartenalter war. Sowohl auf Wagner alsauch auf Nietzsche musste es wie eine nukleopatriphobischeGegebenheit wirken, dass ihnen von ihrem biologischen Vaternur spärliche Überreste blieben.

»Und alle, die es hörten, nahmen’s zu Herzen und sprachen:Was, meinst du, will aus diesem Kindlein werden? Denn dieHand des Herrn war mit ihm.« – Carl Ludwig Nietzsche ausLukas 1,66 zitierend, bei der Taufe des neun Tage alten Fried-rich Nietzsche, 24. Oktober 1844

Die Sonne geht unter, wir eilen fünf Kilometer weiter nachLützen, eine Kleinstadt, die ihrer Bewohner und Autos ver-lustig gegangen ist, aber mit gemähten Rasen und beschauli-cher Ruhe strahlt. Wir parken und spazieren zu jener Stelle,

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an der im November 1632 das Leben des messia nischenSchwedenkönigs Gustav II. Adolf ins Reich der himmlischenGnade abgegeben wurde, durch 20.000 katholische Soldaten,von denen einer die vergebenden Hände des einstigen Herr-schers durchlöcherte.

Während wir uns über Pilgerfahrten zu Elisabeth Nietz-sches Nueva Germania unterhalten, die bis vor Kurzem nochüber Paraguays eben jene halsbrecherisch unbefestigte RutaXI führten, nehmen wir die A38 zurück nach Leipzig. Dieletzten Meter der »Südharzreise« finden auf dem Armaturen-brett des schiefergrauen oder immergrünen (abhängig vonden Launen der Sonne) Geländewagens noch einmal statt.

Nach der Lektüre der 38 Kapitel erinnert die Autobahn so-fort an die legendäre Route 66, die schon etwas länger fürihren Reichtum an Marksteinen geliebt wird, an denen weg-weisende Ereignisse ihren Ausdruck fanden: Jesse James hatsich hier versteckt, das erste McDonald’s tauchte hier auf, undJohn Steinbeck gab dem Highway liebevoll seinen ewigenSpitznamen, »e Mother Road«, in seinem Roman über dieGroße Depression, »Früchte des Zorns«.

An einer staubigen Kreuzung in Gallup, New Mexico, ent-sprang der historischen Route 66 die Route 666, eine alssechster Abzweig entlang der Mother Road korrekt benannteStrecke. An dieser Kreuzung aß ich an einem Dezembertag1996 mit John Aes-Nihil in einer riesigen Furr’s Cafeteria zuMittag. Wir kamen aus dem örtlichen Blockhüttenmotel um11:55 Uhr an, doch die Äsungsstätte in Gallup öffnete erst um12 Uhr. Innerhalb dieser fünf Minuten versammelten sich eif-rig einige andere Mitspeisewillige in der mit Auslegeware ver-sehenen Wartezone zwischen den beiden Glastüren,anscheinend gewohnheitsmäßig.

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Das Essen schmeckte uns, es gab Hühnchen, in Soße er-tränktes Kartoffelpüree, Mais, geschmorten Spinat, halbierteBirnen in einer süßen Soße eingelegt, mit Butter bestrichenesMaisbrot, Kaffee und Rhabarberkuchen nach Art des Hauses,und doch konnte ich nicht anders, als mich traumatisiert zufühlen durch die schnaufende Menschenmenge.

Sieben Jahre danach, im Dezember 2003, der Dauer eineskompletten Zellregenerationszyklus, erhielt der Gouverneurvon New Mexico, Bill Richardson, von der zuständigen Stelledie Erlaubnis, den Namen der Route 666 in Route 491 abzu-ändern. Der Namenswechsel wurde nicht nur in New Mexicovollzogen, sondern auch in den anderen beiden Bundesstaa-ten, die durch die verfemte, Grimassen ziehende Straße er-schlossen werden, Colorado und Utah.

In New Mexico durchquert die Straße auch die Navajo Na-tion, ein indianisches Schutzgebiet. Die kulturelle Traditionder Navajos findet an der Zahl 666 nichts Anstößiges, derenFührer arbeiteten aber mit Gouverneur Richardson zusam-men, weil sie glaubten, dass die Bemühungen um einenAbbau der Armut im Navajogebiet, sei es durch Tourismusoder auswärtige Investoren, wegen der christlichen Auslegungder Zahl behindert würden.

Im vergangenen Juni hatten ein paar Tourismusindus-trielle die Idee, auch die A38 umzubenennen. Denn in Göt-tingen und Halle gibt es Händel-Festspiele, und deshalb sollsie fortan »Händel-Autobahn« heißen. Schönstes tourismus-industrielles Behauptungsvokabular, das aber wahrscheinlichnicht offiziell werden wird, genauso wenig wie die vielen an-deren mesmerisierenden Namensvorschläge, die der Autordes vorliegenden Buches während seiner Südharzreise gesam-melt hat.

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Leipzig, »Telegraph«Pigafetta des 21. Jahrhunderts

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ANDREAS VOGELREPRISE, 2. AUGUST 2009

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Leipzig, VölkerschlachtdenkmalSchweiß der Pförtner

Rastplatz »Pösgraben«Hommage an die internationale Rastplatzforschung

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Pyramide von BelantisEdler, kunstvoller, berühmter

Scharnhorst-Denkmal in GroßgörschenUnsympathischer Riesenadler

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Gustav-Adolf-Findling in LützenRachesturm der Schweden

Nietzsche-Tankstelle in LützenCafé verdüstert

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Nietzsche-Denkmal in RöckenEin Hut als Lendenschurz

Historischer Gasthof in RippachBis in Goethes »Faust« geschafft

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Seume-Ersatzhaus in PosernaProtestantische Correctness

Novalishaus in WeißenfelsJapanische Touristen mit Sommerhüten

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Kreisgrabenanlage in GoseckHistorische Kuhweide

Abfahrt MerseburgEiris sazun idisi

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Goethe-eater in Bad LauchstädtEin paar Sommer lang

Magistrale in Halle-NeustadtPlötzliches Liebesglück

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Luther-Denkmal in EislebenDies Verhängniss von Mönch

Burg und Schloss AllstedtUmsortierungen im Ständeschema

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McDonald’s in SangerhausenSpionageabteilung der Autobahnpolizei

Rosarium in SangerhausenEin guter Tourist

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Vergrabener Hindenburg am KyäuserSchnurrbart und Bürstenhaarschnitt

KyäuserdenkmalMänner über fünfzig mit Digitalkameras

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Panorama-Museum in Bad FrankenhausenIch sehe was, was du nicht siehst

Wezel-Straße in SondershausenDie wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne

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Müntzer-Denkmal in StolbergDer Künstler wollte das nicht

Eduard Baltzer in NordhausenNicht so leicht verschlagwortbar

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August Petermann in BleicherodeEin paar Gebirgszüge, eine Insel, ein Mondkrater

Beethoven-Wandmalerei in LeinefeldeKultureller Entwicklungsbeitrag

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eodor Storm in HeiligenstadtEine dampfende Tasse Kaffee

HeidkopunnelSich mal richtig sicher fühlen

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Mahnmal in FriedlandNun danket alle Gott

Sport- und Freizeitpark BördelEin Dorf nackter Menschen im Rücken

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Alexander der Große...............................44Auguste Viktoria (Kaiserin)...........34, 38Bach, Johann Sebastian.........................56Baltzer, Eduard..............................49, 51Barbara............................................52, 63Barbarossa (Friedrich I.)................39, 43Baselitz, Georg......................................39Beethoven, Ludwig van.......................56Bonaparte, Napoleon.................9, 13, 19Bonifatius..............................................56Braun, Wernher von............................21Calvino, Italo.........................................28Cortázar, Julio.....................11, 24, 33, 61Courths-Mahler, Hedwig...................22Dannenberg, Konrad.........................21Dunlop, Carol.........................11, 24, 61Eilts, Hermann......................................21Förster, Bernhard..................................17Forster, Stefan........................................55Förster-Nietzsche, Elisabeth.................17Frankel, Max..........................................21Friedrich II. (der Große).....................60Friedrich, Caspar David.......................62Gauß, Carl Friedrich............................61Geipel, Kaye...........................................55Gernhardt, Robert...........................25, 26Godard, Jean-Luc...................................8Goethe, Johann Wolfgang von...18, 26, 27Goetz, Rainald.......................................57

Gustav II. Adolf...........................14, 15, 22Händel, Georg Friedrich........................56Hardenberg, Friedrich von (Novalis)...........................................................22, 26, 36Heine, Heinrich.....................58, 59, 61, 63Hermann, Lilo.......................................55Hindenburg, Paul von......................38, 39Hitler, Adolf............................................38Hooghe, Romeyn de................................41Horst P. Horst.........................................20Hosaeus, Hermann................................39Humboldt, Alexander von...................64Janssen, Horst.........................................41Johann der Beständige...........................32Johann Friedrich der Großmütige........32Juliana zu Stolberg.................................49Kaa, Franz.............................................20Keil, Frank...............................................36Kempowski, Walter................................63Kiefer, Anselm........................................39Kollwitz, Käthe.......................................55Kracht, Christian...................................35Lanzmann, Claude................................51Le Corbusier..........................................20Lean, David............................................21Liszt, Franz.............................................56Littell, Jonathan.......................................52Luther, Martin.........................8, 30, 31, 50Mann, Anthony......................................21

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Mann, Golo.............................................14Mann, omas......................................63Mansfeld, Grafen von............................30Marinetti, Filippo Tommaso................25Martin, Konrad.......................................55May, Karl..................................................53Merkel, Angela........................................38Messerschmidt, Klaus Friedrich (!)...16, 47Mozart, Wolfgang Amadeus.................56Müntzer, omas...31, 32, 41, 46, 47, 49, 53Ney, Michel.............................................14Nickel, Eckhart........................................35Niermann, Ingo..................................12, 32Nietzsche, Carl Ludwig..........................17Nietzsche, Franziska................................17Nietzsche, Friedrich..................................................9, 15, 16, 17, 23, 30, 31, 47, 58, 60Nietzsche, Joseph...................................17Pappenheim, Gottfried Heinrich Graf zu...............................................................14Patinir, Joachim.....................................33Petermann, August...........................53, 54Petzet, Muck..............................................55Picasso, Pablo...........................................42Pigafetta, Antonio.....................................8Polo, Marco..............................................28Puschkin, Alexander...............................43Pynchon, omas...................................52Radisch, Iris.............................................52

Ray, Nicholas............................................21Richter, Peter.......................................28, 55Rinckart, Martin......................................60Rousseau, Henri.......................................42Scharnhorst, Gerhard von...............13, 31Schink, Hans-Christian.........................24Schinkel, Karl Friedrich..........................15Schleef, Einar.....................................33, 36Schlegel, Friedrich.................................22Schmidt, Arno...................................44, 48Schnabel, Johann Gottfried.......46, 47, 48Scholl, Geschwister.................................55Seume, Johann Gottfried.................19, 49Speer, Albert...........................................52Stalin, Josef............................................38Storm, eodor...........................47, 58, 59Swi, Jonathan..........................................44Tarantino, Quentin..................................45älmann, Ernst......................................36Tichy, Gérard............................................21Tieck, Ludwig........................................48Tübke, Werner.........................................40Verne, Jules............................................53Voltaire..............................................44Wallenstein..........................................14Weitholz, Arezu.......................................39Wense, Hans Jürgen von der..................62Wezel, Johann Karl.....................43, 44, 48Wilhelm I.............................................8, 39

Verzeichnis der benutzten Autobahnenund Bundesstraßen(in der Reihenfolge ihres Auretens)

B2, B6, A14, A38, B87, B176, A143, B80,B180, B85, B4, B247, B27, A7, B3

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AUTOREN

Frank Fischer, geb. 1977 in Weißenfels, lebt in Leipzig. Er istHerausgeber des Avant-Feuilletons »Der Umblätterer«. ImSuKuLTuR Verlag erschien 2005 seine Erzählung »Die Zer-störung der Leipziger Stadtbibliothek im Jahr 2003«.

David Woodard, geb. 1964 in Santa Barbara (Kalifornien),lebt in München. Demnächst erscheint im Wehrhahn Verlagsein Briefwechsel mit Christian Kracht in zwei Bänden,»many fine things will come of it: 2004–2009«.

Andreas Vogel, geb. 1976 in Halle, lebt als freier Grafiker undFotograf in Hamburg.

Südharzreise online: www.zerstoerung.org

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INHALT

Frank FischerDie Südharzreise.........................................................................4

David WoodardAutobahn 38, Ruta XI, Route 66............................................67

Andreas VogelReprise, 2. August 2009............................................................73

Personenregister........................................................................90

Autoren......................................................................................93

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