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Frank W. Putnam Handbuch Dissoziative Identitätsstörung Diagnose und psychotherapeutische Behandlung Mit einem Vorwort von Luise Reddemann Aus dem Amerikanischen von Theo Kierdorf & Hildegard Höhr G. P. PROBST VERLAG Lichtenau / Westfalen

Frank W. Putnam Handbuch Dissoziative Identitätsstörung · 2013. 6. 19. · Frank W. Putnam Handbuch Dissoziative Identitätsstörung Diagnose und psychotherapeutische Behandlung

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  • Frank W. Putnam

    HandbuchDissoziative IdentitätsstörungDiagnose und psychotherapeutische Behandlung

    Mit einem Vorwort vonLuise Reddemann

    Aus dem Amerikanischen vonTheo Kierdorf & Hildegard Höhr

    G. P. PRoBsT VeRLAG Lichtenau / Westfalen

  • Leseprobe aus Frank W. Putnam: Handbuch Dissoziative Identitätsstörung.© der deutschen ausgabe: G.P. Probst Verlag GmbH, Lichtenau/Westf. 2013

    Vorwort

    Auf die Idee, dieses Buch zu schreiben, kam ich aufgrund täglicher Anrufe von Kol-legen, die mich baten, ihnen Ratschläge für die Behandlung von Patienten mit Dis-soziativer Identitätsstörung (DIS) zu geben. Gewöhnlich drei- bis viermal pro Woche und oft drei bis viermal täglich hörte ich immer wieder die gleichen Fragen. Allmäh-lich ging ich dazu über, die telefonischen Konsultationen durch Zusenden von Lite-raturlisten und Kopien ausgewählter Artikel über häufig auftauchende Fragen und Probleme zu ergänzen. Weil ich das Kopieren und die Versendung der Briefe selbst erledige, war diese Art der Hilfe für mich äußerst zeitraubend. Deshalb entstand in mir allmählich der Wunsch nach einem Einführungswerk für Therapeuten, die mit dieser Störung und ihrer Behandlung noch nicht vertraut waren. Irgendwann wurde mir dann klar, daß ich ein solches Buch selbst würde schreiben müssen. Das Handbuch Dissoziative Identitätsstörung ist für Therapeuten gedacht, die mit dissoziativen Störungen noch nicht vertraut sind. Es beschreibt Ideen, Techniken und Behandlungsphilosophien, die in diesem Bereich erfahrene Therapeuten im Laufe der Behandlung vieler Patienten entwickelt haben. Das mit zahlreichen Lite-raturangaben versehene Buch ist so aufgebaut, daß es sich sowohl als Einführung als auch als Nachschlagewerk eignet. Mein Hauptziel bei seiner Niederschrift war eine möglichst pragmatische Darstellung. Ich habe mich um eine ausgewogene Beschreibung bemüht und bin all jenen zu Dank verpflichtet, die zu unserem Wissen über das Thema Wichtiges beigetragen ha-ben. Häufig läßt sich schwer feststellen, auf wen bestimmte Ideen oder Interventionen tatsächlich zurückgehen, da sich ihre Ursprünge in der mündlichen und klinischen Überlieferung verlieren, der Basis all unseren Wissens. Allen Zeugen der heutigen explosionsartigen Zunahme des Interesses an der DIS fällt auf, wie oft verschiedene Therapeuten die gleichen Beobachtungen machen und die Nützlichkeit bestimmter Interventionen und Techniken parallel entdecken. Insofern ist es kaum verwunder-lich, daß viele gleichzeitig die Entdeckung bekannter Ideen und Techniken für sich beanspruchen. Eines meiner Ziele ist, die DIS zu entmystifizieren und dieser Störung die ihr im historischen Kontext zukommende zentrale Stellung einzuräumen, die entscheidend zur Entwicklung einer dynamischen Psychiatrie und der psychologischen Wissen-schaft beigetragen hat. Meiner Meinung nach wird die DIS in und für die Zukunft

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    Leseprobe aus Frank W. Putnam: Handbuch Dissoziative Identitätsstörung.© der deutschen ausgabe: G.P. Probst Verlag GmbH, Lichtenau/Westf. 2013

    eine wichtige Rolle spielen und ihre vormalige Funktion als Dreh- und Angelpunkt für Modelle des menschlichen Bewußtseins wiedererlangen. Die DIS ist ein Expe-riment der Natur, das uns Erkenntnisse über das Spektrum menschlicher Möglich-keiten erschließt, und ein Fenster zu den psychobiologischen Beziehungen zwischen psychischen und körperlichen Zuständen. Die Behandlung der DIS ist eine natürli-che Erweiterung der psychotherapeutischen Kunst und gibt uns viel Aufschluß dar-über, wie die »Redetherapien« heilen. Wir sollten das, was die DIS uns lehren kann, nutzen, statt uns in sinnlosen Debatten darüber, ob sie »real« ist, zu erschöpfen. Ich möchte Julie Guroff für ihre Hilfe und Unterstützung während der Entwick-lung dieses Buches und Evan DeRenzo für ihre Arbeit als Lektorin danken. Den Kol-legen Richard Loewenstein, Robert Post, David Rubinow und Richard Wyatt danke ich für die Ratschläge und Ermutigungen, durch die sie mich über Jahre unterstützt haben. Ganz besonderen Dank schulde ich meinen unter DIS leidenden Patienten und Freunden, die mir ihre Gedanken, Gefühle und Lebensgeschichten mitgeteilt und mir so geholfen haben, mit der Dissoziativen Identitätsstörung vertraut zu werden.

    Frank W. Putnam

  • Leseprobe aus Frank W. Putnam: Handbuch Dissoziative Identitätsstörung.© der deutschen ausgabe: G.P. Probst Verlag GmbH, Lichtenau/Westf. 2013

    4 Die Diagnose der Dissoziativen Identitätsstörung

    Kliniker, die vermuten, daß eine ihrer Klientinnen unter DIS leidet, können ver-schiedene Strategien anwenden, um diese Diagnose zu erhärten oder auszuschließen. Eine Diagnose auf DIS ist nur dann zutreffend, wenn bei der untersuchten Patientin separate und unterscheidbare Alter-Persönlichkeiten existieren, welche die in Kapi-tel 2 beschriebenen Kriterien des DSM-III/DSM-III-R bzw. DSM-IV erfüllen. Vermu-tete Alter-Persönlichkeiten zu identifizieren und hervorzulocken kann sowohl für Therapeuten als auch für Patienten sehr schwierig sein und Angstgefühle auslösen. In diesem Kapitel werden verschiedene Strategien beschrieben, mit deren Hilfe sich feststellen läßt, ob Patienten unter DIS leiden. Die DIS ist eine chronische dissoziative Störung, im Gegensatz zu vorüberge-henden und im allgemeinen begrenzten dissoziativen Zuständen wie dissoziativen Amnesien und dissoziativen Fugue-Zuständen. Folglich ist zu erwarten, daß in der alltäglichen Lebenserfahrung betroffener Patienten und in den Interaktionen zwi-schen ihnen und ihren Therapeuten Hinweise auf einen dissoziativen Prozeß zu finden sind. Der erste Schritt bei der Diagnose besteht darin, festzustellen, ob die Patientin dissoziative Erlebnisse gehabt hat. Anfangs ist diesem Ziel eine sorgfälti-ge Anamnese am dienlichsten. Allerdings ist die Vorgeschichte oft unklar oder läßt bestenfalls Vermutungen zu. Deshalb sind weitere diagnostische Maßnahmen erfor-derlich, um zu klären, was tatsächlich mit der Patientin vor sich geht. Dieses Kapitel beginnt mit einer Beschreibung des Anamneseprozesses und der Gesprächsinterak-tionen in Fällen, in denen eine dissoziative Pathologie festgestellt oder ausgeschlos-sen werden muß. Im Anschluß daran werden einige diagnostische Interventionen untersucht, die zusätzliche Informationen liefern können. Eine Darstellung von zwei spezifischen diagnostischen Techniken, die Untersuchung auf Hypnotisierbarkeit und Interviews unter dem Einfluß chemischer Stoffe, werden in Kapitel 9 behandelt, in dem es um hypnotische Interventionen und um therapeutische Abreaktion geht.

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    Leseprobe aus Frank W. Putnam: Handbuch Dissoziative Identitätsstörung.© der deutschen ausgabe: G.P. Probst Verlag GmbH, Lichtenau/Westf. 2013

    Anamnese

    Schwierigkeiten

    Bei Eingangsgesprächen mit Patienten, bei denen später DIS diagnostiziert wurde, habe ich immer wieder ein bestimmtes Muster vorgefunden: Es erwies sich gene-rell als schwierig, von ihnen kohärente Informationen über ihre Vorgeschichte zu erhalten. Wenn ich die Bemühungen um die Rekonstruktion der Vorgeschichte be-ende und die Informationen, die ich erhalten habe aufschreibe, wird mir klar, daß ein großer Teil derselben inkonsistent oder sogar widersprüchlich und es schwierig ist, aus ihnen eine klare chronologische Ereignisfolge abzuleiten. Darin spiegelt sich die Tatsache, daß es DIS-Patienten sehr schwerfällt, in klarer chronologischer Ordnung über ihre Lebensgeschichte zu berichten, weil ihre Erinnerungen auf verschiedene Alter-Persönlichkeiten verteilt sind. In den meisten Fällen stammt die lebensgeschichtliche Information, die Thera-peuten am Anfang der Therapie erhalten, hauptsächlich von der Gastgeber-Persön-lichkeit, die allerdings häufig den schlechtesten Zugang zu Informationen über frühe Lebensabschnitte hat und deren Erinnerung an ihr bisheriges Leben oft lückenhaft ist. Die Gastgeber-Persönlichkeit, mit der sich Kapitel 5 eingehender beschäftigt, ist die Identität, die sich gewöhnlich dem Therapeuten vorstellt und um eine Behandlung ersucht (Putnam et al. 1986). Sie leidet unter den Folgen des Verhaltens anderer Iden-titäten, weiß aber nur wenig über die Faktoren, die zur Entstehung der für sie pro-blematischen Situationen geführt haben. Beispielsweise kommt es vor, daß sich eine Gastgeber-Persönlichkeit plötzlich in der Notaufnahme eines Krankenhauses wie-derfindet, wo man sie wegen einer Medikamentenüberdosis einer Magenspülung un-terzieht. Da eine andere Teilpersönlichkeit die Überdosis eingenommen hat, hat die Gastgeber-Persönlichkeit oft keinerlei Erinnerung an die Einnahme der Pillen. Wird die Patientin bzw. die Gastgeber-Persönlichkeit zu einem späteren Zeitpunkt über diese Episode befragt, kann sie sich meist nur vage an den Vorfall erinnern und ihn nicht detailliert beschreiben. DIS-Patienten sagen häufig Dinge wie: »Ich muß wohl depressiv gewesen sein; sie sagen, ich hätte eine ganze Flasche Pillen eingenommen.« In vielen Fällen vermögen solche Patienten nicht festzustellen, ob eine bestimmte Episode zeitlich vor oder nach einem anderen Ereignis liegt. Zwei wichtige Merkmale des beherrschenden Symptoms und der Vorgeschichte von DIS-Patienten sind häufige Inkonsistenzen und das Fehlen einer klaren Chrono-logie. Die Inkonsistenzen treten am deutlichsten zutage, wenn der Kliniker zu einem späteren Zeitpunkt erneut auf ein spezifisches Ereignis zu sprechen kommt, um mehr Informationen darüber zu sammeln. Ich habe von Patienten manchmal drei oder vier unterschiedliche und sogar einander widersprechende Berichte über bestimmte Epi-soden erhalten. In solchen Fällen fragen sich Kliniker zuweilen, ob das Problem bei

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    Leseprobe aus Frank W. Putnam: Handbuch Dissoziative Identitätsstörung.© der deutschen ausgabe: G.P. Probst Verlag GmbH, Lichtenau/Westf. 2013

    ihnen oder bei der Patientin liegt. Unerfahrene Therapeuten vermuten häufig, sie müßten den Bericht der Patientin mißverstanden haben, oder ihre eigene Erinne-rung daran sei fehlerhaft. Ich weise angehende Therapeuten immer wieder darauf hin, daß sie, wenn bei ihnen die Frage auftaucht, ob sie selbst oder ihre Patientin unter einem Gedächtnisproblem leiden, darüber nachdenken sollten, ob sie vielleicht einen DIS-Fall vor sich haben. Die Informationen, die DIS-Patienten in dieser frühen Phase der Evaluation geben, sind meist vage, und es fehlen ihnen wesentliche Details. Sie sagen immer wieder: »Ich kann mich nicht erinnern« oder geben auf andere Weise zu verstehen, daß sie ein »schreckliches« Gedächtnis haben. DIS-Patienten bezeichnen ihre Probleme mit der Erinnerung gewöhnlich nicht als Amnesien, und meist liefern sie auch keine an-deren Hinweise darauf, daß bei ihnen Amnesien vorkommen. Vielmehr begründen sie das Fehlen von Informationen mit ihrem schlechten Gedächtnis. Haben sie in der Vergangenheit eine Elektrokrampftherapie (ECT) erhalten, schreiben sie ihre Ge-dächtnisprobleme gewöhnlich dieser Behandlung zu. Leider nehmen viele Kliniker solche Erklärungen für bare Münze und versäumen es, den Gedächtnisproblemen nachzugehen. Wenn ein Therapeut eine Patientin vor sich hat, der es offensichtlich sehr schwer fällt, sich an Details ihrer Lebensgeschichte zu erinnern, sollte er sich bemühen, die Ursache dieser Schwierigkeiten herauszu-finden. Wenn DIS-Patienten Informationen zurückhalten, gibt es dafür gewöhnlich eine Reihe von unterschiedlichen Gründen: Die befragte Identität kann eine Amnesie bezüglich eines bestimmten Ereignisses haben, oder sie kennt zwar weitere Details, weigert sich jedoch aufgrund inneren Drucks des Gesamtsystems der Identitäten, sich daran zu erinnern. Gelegentlich erfinden Patienten Informationen auch, um eine in-akzeptable Erinnerungslücke damit zu füllen oder um ihre Gesprächspartner zu be-schwichtigen (Kluft 1985c, 1986 a). Oft zögern sie, zu erkennen zu geben, was sie über ihren Zustand wissen, weil sie Angst haben, dann als »verrückt« angesehen zu werden. Viele Multiple haben kompensatorische Verhaltensweisen entwickelt, um zu über-spielen, daß ihnen Informationen fehlen, und um mit ihren Erinnerungslücken fertig zu werden. Diese Mechanismen aktivieren sie, um sich schwierigen Fragen zu entzie-hen oder um Gesprächspartner abzulenken. Außerdem kann es sein, daß das Persön-lichkeitssystem einer Diagnose aktiv auszuweichen versucht, indem es im Hinblick auf bestimmte Sachverhalte lügt oder, was häufiger der Fall ist, indem es wichtige Details ausläßt und Informationen liefert, die nahelegen, bei der Untersuchung einen bestimmten Weg einzuschlagen und damit einem anderen keine Aufmerksamkeit zu schenken – d. h. einer falschen Fährte zu folgen. Meine Erfahrung ist, daß Multip-le, wenn sie Therapeuten irrezuführen versuchen, gewöhnlich eher zum Vermeiden als zum ausgesprochenen Lügen tendieren, obwohl auch letzteres vorkommt. Man muß sich ganz genau anhören, was diese Patienten sagen. Manchmal sind sie wahre

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    Leseprobe aus Frank W. Putnam: Handbuch Dissoziative Identitätsstörung.© der deutschen ausgabe: G.P. Probst Verlag GmbH, Lichtenau/Westf. 2013

    Meister darin, den Eindruck zu erwecken, sie würden etwas Bestimmtes sagen, wäh-rend sie tatsächlich etwas völlig anderes gesagt haben. Wenn ich mir etwas, das eine Multiple zu mir gesagt hat, später erneut vergegenwärtige, beschäftige ich mich nicht abstrakt damit, sondern ich übersetze das Gesagte grundsätzlich in eine möglichst konkrete Aussage. Durch die konkrete Interpretation tritt dann oft ein wichtiger Doppelsinn zutage. Ein anderer von Multiplen häufig angewandter »Trick« ist, so zu tun, als wüßten sie mehr, als sie tatsächlich wissen. Ist ihnen beispielsweise völlig unklar, wieso etwas Bestimmtes geschehen ist, oder wenn sie keine Erinnerung an ein früheres Gespräch mit dem Interviewer haben, verhalten sie sich zuweilen so, als wüßten sie ganz genau, wovon die Rede ist, und sie versuchen durch die Art, wie sie die Fragen beantworten, zu verhindern, daß der Interviewer ihre Unwissenheit entdeckt. Bei der Arbeit mit Multiplen sollte man sich vor Vermutungen und Annahmen hüten. Diese Arbeit ist nicht leicht, und oft gewinnen Therapeuten während des Evaluationsprozesses einen ersten Eindruck von den Schwierigkeiten, die auf sie zukommen.

    Nützliche Fragen

    Wenn ein Kliniker vermutet, daß eine bestimmte Patientin unter einer chronischen dissoziativen Störung wie DIS leidet, sollte er bei der Befragung über die Vorge-schichte und bei der Untersuchung des Geisteszustandes bestimmte Bereiche erkun-den. Aus methodischen Gründen ordne ich diese Fragen vier Kategorien zu: Amne-sien oder »Zeitverlust«, Depersonalisation/Derealisation; Lebenserfahrungen und Schneidersche Symptome ersten Ranges. In der Praxis streue ich diese Fragen in die Anamnese ein, wobei ich die verschiedenen Kategorien so miteinander vermische, wie es die konkrete Situation erfordert.

    Fragen über Amnesien oder »Zeitverlust«

    Bei der Befragung von Patienten im Hinblick auf DIS ist es oft ratsam, mit indirekten Fragen zu beginnen. Gewöhnlich frage ich während dieses Teils der Anamnese nach Erfahrungen des »Zeitverlustes«. Dabei gehe ich auf den Begriff »Zeitverlust« zu-nächst nicht näher ein, und wenn sie bestätigen, daß sie Erlebnisse dieser Art gehabt haben, bitte ich sie, Beispiele dafür zu nennen. Falls sie bestreiten, solche Erfahrun-gen gemacht zu haben, definiere ich den Begriff anhand eines Beispiels, etwa: »Ein Beispiel für das, was ich mit ›Zeitverlust‹ meine, ist, daß Sie auf eine Uhr schauen und sehen, daß es zum Beispiel 9.00 Uhr morgens ist, und das nächste, woran Sie sich erinnern, ist, daß es plötzlich 3.00 Uhr nachmittags war, und Sie können sich absolut nicht erklären, was in der Zwischenzeit passiert ist. Haben Sie so etwas schon einmal erlebt?« Falls die Patientin dies bejaht, bitte ich sie, Beispiele dafür zu nennen. Man

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    Leseprobe aus Frank W. Putnam: Handbuch Dissoziative Identitätsstörung.© der deutschen ausgabe: G.P. Probst Verlag GmbH, Lichtenau/Westf. 2013

    sollte sich in jedem Fall einige konkrete Beispiele schildern lassen, bevor man darüber urteilt, ob ein Patient tatsächlich ein Zeitverlusterlebnis gehabt hat oder nicht. Viele normale Menschen erleben gelegentlich mikrodissoziative Episoden, was entweder in einer monotonen Situation (z. B. einer Fahrt auf einer leeren Autobahn) oder in einer Periode intensiver Konzentration oder starken Beschäftigtseins (z. B. während einer wichtigen Prüfung oder beim Lesen eines spannenden Romans) vorkommen kann. Bei DIS-Patienten und Menschen, die zu chronischer Dissoziation neigen, oh-ne unter DIS zu leiden, kommen Zeitverluste häufig und in vielen unterschiedlichen Situationen vor, und sie lassen sich nicht ausschließlich auf Monotonie oder intensi-ve Konzentration zurückführen. Darüber hinaus gibt es bei Zeitverlusterfahrungen gewöhnlich keinen offensichtlichen Sekundärgewinn. Obwohl bei allen Multiplen eine oder mehrere Identitäten Zeitverluste erleben (gewöhnlich einschließlich der Gastgeber-Persönlichkeit oder der Identität, die sich zur Behandlung vorgestellt hat), gestehen nicht alle dies schon zu Beginn einer Therapie ein. Falls an den Beispielen, die Patienten anführen, zu erkennen ist, daß sie über be-stimmte Perioden nichts zu sagen wissen, sollte der Kliniker jeglichen Zusammen-hang zwischen solchen Episoden und Drogen- oder Alkoholeinfluß ausschließen. Am besten benutzt er zu diesem Zweck Beispiele, die die Patienten selbst angeführt haben. Daß Rauschmittel bei Zeitverlusterfahrungen eine Rolle gespielt haben, schließt ei-ne dissoziative Störung nicht unbedingt aus, verkompliziert die Differentialdiagnose aber erheblich. Falls eine Patientin Zeitverlusterfahrungen generell abstreitet, stelle ich ihr trotz-dem einige der im folgenden aufgeführten Fragen. Hat sie hingegen über Erfahrun-gen berichtet, die Zeitverlust vermuten lassen, frage ich sie nach Erlebnissen, in de-nen sie Beweise dafür sieht, daß sie etwas getan hat, das getan zu haben sie sich nicht erinnern kann. Die meisten Patienten, die zugeben, daß es in ihrem Leben Perioden gibt, an die sie sich nicht erinnern können, vermögen Beispiele für die Ausführung komplexer Aufgaben zu nennen, an deren Verlauf sie keinerlei Erinnerung haben. Ein Patient, ein staatlich anerkannter Wirtschaftsprüfer, berichtete, ihm fehle oft jeg-liche Erinnerung an Zeitspannen von drei oder vier Stunden; allerdings finde er dann zu seiner Verblüffung am Ende des Arbeitstages fertiggestellte Kalkulationstabellen auf seinem Schreibtisch. Seinem Chef und seinen Kollegen war nie aufgefallen, daß er sich merkwürdig verhalten hatte, und sie hatten nie diesbezügliche Bemerkungen gemacht. Doch ihn selbst belastete sehr, daß er schon mehrmals in einem leeren Büro wieder »zu sich gekommen« war und sich gefragt hatte, wie seine Kollegen hatten gehen können, ohne daß ihm dies aufgefallen war. Die Beispiele für Zeitverluster-fahrungen, über die dissoziierende Patienten berichten, betreffen gewöhnlich viele prosaische Situationen wie die soeben beschriebene, bei denen kein offensichtlicher Sekundärgewinn zu erkennen ist.

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    Leseprobe aus Frank W. Putnam: Handbuch Dissoziative Identitätsstörung.© der deutschen ausgabe: G.P. Probst Verlag GmbH, Lichtenau/Westf. 2013

    Ich frage die Patienten auch, ob ihnen schon einmal plötzlich aufgefallen ist, daß sie Kleidungsstücke trugen, ohne sich daran erinnern zu können, sie angezogen zu haben. Manchmal fordere ich sie sogar auf, die Augen zu schließen und mir zu sagen, welche Kleidung sie im Moment tragen. Die meisten Menschen können beschrei-ben, wie sie gekleidet sind, weil sie irgendwann eine bewußte Entscheidung getrof-fen haben, genau diese Kleidungsstücke anzuziehen. Bei Multiplen jedoch haben verschiedene Alter-Persönlichkeiten manchmal sehr unterschiedliche Geschmäcke bezüglich Kleidung, Frisur und Make-up. So kann es passieren, daß die Gastgeber-Persönlichkeit plötzlich Kleidungsstücke an ihrem Körper bemerkt, für die sie sich nie entschieden hat und die sie auch nie auswählen würde. Patientinnen frage ich oft, ob sie manchmal Kleidungsstücke in ihrem Schrank finden, die sie niemals tragen würden. Viele bestätigen dies und fügen Kommentare hinzu wie: »Das ist mir so-wieso zwei Nummern zu klein« oder: »Etwas so ›Offenherziges‹ würde ich niemals anziehen.« Ähnliche Erfahrungen machen weibliche Multiple gewöhnlich auch mit Make-up und Frisuren. Das Auffinden von mysteriösen Perücken, falschen Wimpern, Schmuckstücken, Parfums und Schuhen sind ebenfalls Erlebnisse, die viele weibliche Multiple verwirren. Männer erleben ähnliches, doch sind die Gegenstände, deren Herkunft sie sich nicht erklären können, eher Waffen, Werkzeuge oder Fahrzeuge. Weitere Fragen, die in diese Richtung zielen, betreffen unter anderem das Auffin-den von Gegenständen, an deren Kauf sich die Patienten nicht erinnern können. Als spezifische Beispiele hierfür nennen sie oft die Entdeckung von Dingen im Einkaufs-wagen in einem Supermarkt oder auf ihrem Teller in einer Cafeteria, die ausgewählt zu haben sie sich nicht entsinnen können. Außerdem sollte man nach dem Auffinden von Notizen, Briefen, Fotos, Zeichnungen und anderen persönlichen Dingen, deren Herkunft einer Patientin schleierhaft ist, fragen. Ähnliche Erfahrungen machen die Patienten im Kontakt mit anderen Men-schen und in Beziehungen. Ich untersuche diesen Bereich mit Hilfe von Fragen wie: »Kommt es vor, daß sich Menschen an Sie wenden und darauf beharren, Sie zu ken-nen, obwohl Sie selbst sich weder an die Betreffenden noch an die Situationen, die diese beschreiben, erinnern können?« Wir alle erleben solche Dinge gelegentlich, doch bei Multiplen geschehen sie immer wieder. Sie berichten manchmal, daß Men-schen sie mit unterschiedlichen Namen ansprechen oder darauf bestehen, sie von irgendwoher zu kennen, ohne daß sie selbst sich daran erinnern können – weshalb sie es abstreiten. Kliniker sollten herauszufinden versuchen, mit welchen Namen die Patienten in solchen Situationen angesprochen werden, weil diese Information auf die Existenz unterschiedlicher Identitäten hindeuten kann, mit denen die betreffen-den »Fremden« tatsächlich zusammengekommen sind. DIS-Patienten erleben oft, daß andere Menschen behaupten, sie hätten etwas ge-sagt, woran sie selbst sich nicht erinnern können, wobei die betreffende Äußerung

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    Leseprobe aus Frank W. Putnam: Handbuch Dissoziative Identitätsstörung.© der deutschen ausgabe: G.P. Probst Verlag GmbH, Lichtenau/Westf. 2013

    auf jene anderen – Mitglieder ihrer Familie, Freunde oder Arbeitskollegen – einen starken Eindruck gemacht habt. Bei solchen Interaktionen sind oft Wut oder andere starke Emotionen im Spiel, die die Gastgeber-Persönlichkeit nicht dulden kann. Bei-spielsweise war eine Patientin mehrmals zu ihrer Arbeitsstelle gekommen und muß-te dort feststellen, daß sie am Vortag nach einer turbulenten Szene gekündigt hatte. Auch Beziehungen werden manchmal ähnlich abrupt beendet, was für die nichtsah-nende Gastgeber-Persönlichkeit sehr verwirrend und schmerzlich sein kann. Etwas anderes, das bei vielen Multiplen echte Bestürzung hervorruft, ist, daß sie sich an viele wichtige Ereignisse in ihrem Leben nicht erinnern können. Sie wissen zwar oft, daß sie an einem bestimmten Tag das Abschlußexamen an der High-school oder am College abgelegt, geheiratet, ein Kind bekommen, einen Preis erhalten oder an einem anderen wichtigen Ereignis teilgenommen haben, doch wirklich erinnern können sie sich an die betreffende Situation nicht. Bennett Braun hat festgestellt, daß es in solchen Fällen sehr wichtig ist, zwischen dem Wissen darum, daß ein Ereig-nis stattgefunden hat, und der Erinnerung an die tatsächliche Erfahrung zu unter-scheiden. Ein Mensch kann wissen, daß ein bestimmtes Ereignis stattgefunden hat, weil andere ihn darüber informiert haben, ohne daß er sich tatsächlich an das Erlebnis erinnert. Für unsere Zwecke können wir die Erinnerung an ein Ereignis definieren als das Reaktivieren visueller Bilder und anderweitiger Eindrücke von dem Erlebten, die es ermöglichen, sich die betreffende Situation zu vergegenwärtigen. Im Hinblick auf diese Art von Erlebnis stelle ich häufig eine Frage wie die folgende: »Gibt es wich-tige Ereignisse oder Erlebnisse in Ihrem Leben, beispielsweise Hochzeiten oder Ab-schlußexamen, von denen Ihnen andere erzählt haben, an die Sie selbst sich jedoch absolut nicht erinnern können?« Eine meiner DIS-Patientinnen antwortete auf diese Frage, sie könne sich an keinen ihrer Geburtstage und an kein Weihnachtsfest seit ihrer Kindheit und bis in die Gegenwart erinnern. Wie bei allen Nachforschungen dieser Art ist es auch hier wichtig, auf der Nennung spezifischer Beispiele zu behar-ren und diese genau zu untersuchen, um festzustellen, ob die Patientin den Sinn der Frage verstanden hat und ob Faktoren wie Drogen- oder Alkoholkonsum im Spiel sind, die das Problem verkomplizieren. Fugue-ähnliche Erfahrungen kommen bei DIS häufig vor (Putnam et al. 1986). Dabei kann es sich um »Mini-Fugues« handeln, Episoden, in denen Patienten nur kurze Zeitspannen »verlieren« und in denen sie nur kurze Strecken reisen, aber auch um ausgedehnte Fugues, wobei die Patienten möglicherweise in einem anderen Staat oder Land »aufwachen«. In den meisten Fällen ist es die Gastgeber-Persönlichkeit, die »zu sich kommt« und sich die Situation, in der sie sich befindet, nicht erklären kann. Nach Erfahrungen dieser Art forsche ich, indem ich die Patienten frage, ob sie sich jemals plötzlich an einem anderen Ort wiedergefunden und nicht gewußt haben,

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    Leseprobe aus Frank W. Putnam: Handbuch Dissoziative Identitätsstörung.© der deutschen ausgabe: G.P. Probst Verlag GmbH, Lichtenau/Westf. 2013

    wie sie dorthin gekommen waren. Normale Menschen mögen zuweilen »wegtreten«, wenn sie sich intensiv mit etwas beschäftigen; es kommt dann beispielsweise vor, daß sie sich plötzlich in einem anderen Raum des Hauses wiederfinden und nicht wissen, wie sie dorthin gekommen sind. Multiple hingegen finden sich in solchen Fällen eher in einem völlig anderen Teil der Stadt wieder, oder sie fahren in einem Auto, ohne zu wissen, wie sie in dieses hineingekommen sind oder wohin sie eigentlich fahren. Eine Patientin hat dies einmal wie folgt zusammengefaßt: »Ich bin es leid, mich ständig an Straßenecken stehen zu finden, wo ich die ›Gehen‹- und ›Warten‹-Signale beobachte, ohne daß ich weiß, wie ich dort hingekommen bin.« Wenn eine Patientin über mehr als eine längere Fugue-Episode berichtet, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß es sich um einen DIS-Fall handelt.

    Fragen über Depersonalisation und Derealisation

    Depersonalisations- und Derealisationserlebnisse sind ein wichtiges Symptom disso-ziativer Störungen im allgemeinen und der DIS im besonderen (Putnam et al. 1986; Bliss 1984b). Sie werden jedoch auch bei anderen psychiatrischen oder neurologi-schen Befunden beobachtet, beispielsweise bei Schizophrenie, psychotischer De-pression und Schläfenlappenepilepsie. Vorübergehende Depersonalisationsempfin-dungen treten außerdem auch bei normalen Jugendlichen auf. Weiterhin kann Depersonalisation Bestandteil einer Nahtoderfahrung von Normalen sein, die ein schweres Trauma erlebt haben (Putnam 1985 a). Deshalb ist es wichtig, beim Forschen nach Symptomen für Depersonalisation bzw. Derealisation eine bestimmte Differen-tialdiagnose vor Augen zu haben. Gewöhnlich beginne ich meine Exploration in diesem Bereich, indem ich die Pa-tienten frage, ob sie schon einmal festgestellt haben, daß sie sich beobachteten, als ob sie eine andere Person anschauen oder sich selbst in einem Film sehen würden. Auf diese Weise forsche ich nach Erlebnissen des Heraustretens aus dem eigenen Körper, was mindestens der Hälfte aller Multiplen schon einmal erlebt hat. Oft beobachtet die Gastgeber-Persönlichkeit eine andere Identität beim Ausführen einer bestimm-ten Aktivität. Die Patienten beschreiben dies vielfach als »sich selbst aus der Ferne be-obachten«, wobei sie das Gefühl haben, ihr eigenes Tun nicht beeinflussen zu können. Manchmal fühlen sie sich, als sähen sie sich von der Seite, als würden sie von oben auf sich hinabschauen oder als würden sie sich von einer Position tief in ihrem eige-nen Inneren aus beobachten. Solche Erlebnisse sind für DIS-Patienten meist sehr be-ängstigend, wohingegen Nicht-DIS-Patienten, die in Zusammenhang mit Nahtoder-fahrungen über ähnliches berichten, häufig äußern, sie hätten dabei ein Gefühl der Losgelöstheit (detachment) oder tiefer Ruhe gehabt. In meiner Praxis haben Multiple zwar oft zugegeben, daß sie sich außerhalb ihres eigenen Körpers erlebt hätten, doch fiel ihnen gewöhnlich schwer, konkrete Beispiele dafür anzuführen. Diese Schwie-

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    Leseprobe aus Frank W. Putnam: Handbuch Dissoziative Identitätsstörung.© der deutschen ausgabe: G.P. Probst Verlag GmbH, Lichtenau/Westf. 2013

    rigkeit scheint teilweise damit zusammenzuhängen, daß es für die Betreffenden sehr belastend ist, sich an solche Erfahrung zu erinnern. Daß DIS-Patienten das Heraus-treten aus ihrem eigenen Körper erleben, kommt sehr häufig vor, und auch Normale erleben dies gelegentlich, wenn bei ihnen infolge lebensbedrohlicher Traumata vor-übergehende dissoziative Reaktionen auftreten. Relativ selten hingegen kommen sol-che Erfahrungen bei Schizophrenie und anderen psychiatrischen Erkrankungen vor, mit gelegentlichen Ausnahmen im Falle von Epilepsie. Ich frage weiterhin nach anderen Formen von Depersonalisation und Derealisati-on, beispielsweise nach Gefühlen, nicht real zu sein, eine Maschine zu sein oder tot zu sein, nach dem Gefühl, daß alle anderen und alles andere in der Welt irreal sind, und dergleichen mehr. Erlebnisse dieser Art sind jedoch auch bei Schizophrenie, psy-chotischer Depression, Phobien oder Angststörungen und sogar bei Zwangsstörun-gen nicht selten; deshalb müssen positive Antworten auf Fragen zu diesem Bereich im Kontext der umfassenderen Differentialdiagnose beurteilt werden.

    Fragen über Erfahrungen im Alltagsleben

    Wenn ein Mensch an DIS leidet, macht er in seinem Alltagsleben bestimmte Erfah-rungen, die andere Menschen nur selten machen. Nachdem ich mehr als hundert Patienten über ihr Leben mit DIS habe berichten hören, habe ich eine Liste von Erfah-rungen zusammengestellt, die Multiple häufig im Alltag machen und die bei allen, die nicht unter dieser Störung leiden, so gut wie nie vorkommen. Ein Vergleich meiner eigenen Erkenntnisse mit denjenigen erfahrener DIS-Therapeuten bestätigt, daß die im folgenden genannten Lebenserfahrungen bei DIS-Patienten häufig vorkommen. Multiple werden oft als Lügner bezeichnet. Offensichtliches pathologisches Lügen oder Abstreiten von Verhaltensweisen, die von Zeugen beobachtet wurden, ist einer der wichtigsten Prädiktoren für DIS bei Kindern und Jugendlichen (Putnam 1985c). Erwachsene DIS-Patienten erinnern sich oft daran, daß sie in ihrer Kindheit häufig als Lügner bezeichnet wurden. Ich frage die Patienten deshalb, ob sie in ihrem Leben oft des Lügens bezichtigt wurden, obwohl sie selbst in den betreffenden Fällen fest davon überzeugt waren, die Wahrheit zu sagen. Zwar passiert uns allen dies gelegent-lich, doch DIS-Patienten machen diese Erfahrung in ihrer Kindheit und auch noch im Erwachsenenalter ziemlich oft. Die Folge ist, daß einige von ihnen als Erwachsene eine Obsession für »die Wahrheit« entwickeln – was teilweise erklären könnte, wes-halb diese Patienten so außerordentlich sensibel für jedes Abweichen des Therapeu-ten von der Wahrheit sind. Multiple werden von anderen Menschen als Lügner angesehen, wenn sie leugnen, Dinge getan zu haben, bei deren Ausführung sie beobachtet wurden. In den meisten Fällen liegt dem zugrunde, daß die Persönlichkeit, die das Verhalten abstreitet, gegen-über den Aktivitäten einer anderen Persönlichkeit, die die betreffende Handlung aus-

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    Leseprobe aus Frank W. Putnam: Handbuch Dissoziative Identitätsstörung.© der deutschen ausgabe: G.P. Probst Verlag GmbH, Lichtenau/Westf. 2013

    geführt hat, eine Amnesie hat. Aus den oben genannten Gründen sollte der Kliniker in solchen Fällen versuchen, einige spezifische Beispiele zu sammeln, auch weil diese zu einem späteren Zeitpunkt der Therapie dazu beitragen können, der Gastgeber-Persönlichkeit Phänomene zu erklären, die diese sich bislang nicht erklären konnte. Bei der Evaluation eines Patienten auf das mögliche Vorliegen von DIS ist es beson-ders nützlich, die Kindheitsgeschichte systematisch zu untersuchen. Dadurch können mindestens zwei wichtige Arten von Informationen zutage gefördert werden. Die er-ste sind Beweise für große amnestische Lücken in der Erinnerung der Patienten an ihre Kindheit, etwas, das bei DIS-Opfern sehr häufig vorkommt. Die zweite bezieht sich darauf, ob die Betreffenden in ihrer Kindheit und Jugend bestimmte Dinge erlebt haben, die bei Multiplen sehr häufig vorkommen. Ich habe festgestellt, daß es bei den meisten Menschen am leichtesten ist, anhand der Geschichte des Schulbesuchs den Lebenslauf zu rekapitulieren und signifikante Erinnerungslücken zu entdecken. Generell sollte man Patienten zunächst fragen, wie weit sie sich zurückerinnern können und von welchem Alter ab ihre Kindheitserinnerungen mehr oder weniger kontinuierlich werden. Viele Menschen haben bruchstückhafte Erinnerungen etwa vom Alter von zwei Jahren ab, und ihre Erinnerungen werden gewöhnlich erst vom Alter von sechs Jahren an oder noch später kontinuierlicher. Etwa vom dritten oder vierten Schuljahr ab (dem Alter von acht oder neun Jahren) können normale Men-schen meist Jahr für Jahr beschreiben, wo sie gelebt haben, wo sie in der Schule waren, welche wichtigen Freunde sie hatten und was bei ihnen zu Hause passiert ist. Meist gehe ich mit den Patienten die Kindheit Schulklasse für Schulklasse durch und frage sie jeweils, wo sie gelebt haben, wo sie in der Schule waren, wer ihre Lehrer waren, ich lasse sie die Namen einiger besonders guter Freunde nennen, und sie berichten über die Situation zu Hause in ihrer Familie. Außerdem frage ich sie nach ungewöhn-lichen Erlebnissen oder Ereignissen in jedem Jahr. Im Rahmen der klassenstufenweisen Befragung kann man auch danach forschen, ob die Patienten als Lügner bezeichnet wurden, ob ihre schulischen Leistungen sehr unterschiedlich waren (z. B. völliges Versagen in einem Halbjahr und Bestleistungen im nächsten). Ich frage auch, ob sie jemals Tests und Hausarbeiten zurückbekom-men haben, ohne daß sie sich erinnern konnten, diese geschrieben zu haben, oder ob sie nachträglich entdeckt haben, daß sie an Kursen teilgenommen hatten, an die sie nicht die geringste Erinnerung hatten. Eine weitere Erfahrung, die DIS-Patienten in ihrer Kindheit häufig machen, besteht darin, daß sie das Gefühl haben, allen in ihrer Klasse außer ihnen sei etwas Bestimmtes gesagt worden (Kluft 1985 a). Bei vielen DIS-Patienten weisen die Kindheitserinnerungen starke Lücken auf, und Aussagen wie: »Ich kann mich vom siebten bis zum neunten Schuljahr an nichts erinnern« oder: »Ich kann mich an nichts mehr erinnern, was passiert ist, bevor ich sechzehn war«, sind nicht ungewöhnlich.