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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG MONTAG, 8. DEZEMBER 2014 · NR. 285 · SEITE 7 Politik AMUDA, im Dezember K ein Bild erklärt den Geist des Kantons Cizire besser als das un- gleiche Paar an seiner Spitze. Einmal in der Woche treffen sich die beiden Kopräsidenten des Kantons zu einer Besprechung mit ihren wichtigsten Beratern – etwa jenem für Verfassungsfra- gen oder jenem für Auswärtige Beziehun- gen. Die Berater sitzen dann in den Plüsch- sesseln zur Linken und zur Rechten, am Kopfende des schmucklosen Raums präsi- dieren die Kopräsidenten: der arabische Scheich Humaidi Dahham al Hadi Dschar- ba, der mit seiner Körperfülle Präsenz aus- strahlt, und die schmächtige Kurdin Ha- diya Yusuf, deren scharfem Blick nichts entgeht. Der traditionell gekleidete Scheich steht für die konservativen Stam- mestraditionen; die modern gekleidete Yu- suf ist die Führerin der kurdischen Frauen- bewegung. Beide stehen an der Spitze des Kantons Cizire, des größten der drei sich selbst verwaltenden Kantone in Westkur- distan (genannt Rojava) auf dem Territori- um des sich auflösenden Staats Syrien. Der Scheich ist einer der mächtigsten Stammesführer der arabischen Welt, das Oberhaupt des Stammes der Schammar, zu dem sich mehrere Millionen Araber in Syrien, im Irak und in Saudi-Arabien be- kennen. Zu seinen Verwandten zählt der frühere Vorsitzende der syrischen Exilop- position, Ahmad Dscharba; auch die Mut- ter des saudischen Königs Abdullah war eine Schammar. Der Scheich hat gegen die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ Stellung bezogen und seine Miliz, die „Armee der Ehre“, mit ihren 3000 Kämpfern gegen den IS kämpfen lassen. Den Kurden war es wichtig, ihn für das Projekt der Selbst- verwaltung zu gewinnen. Denn das hat vie- le Skeptiker unter den Arabern zumindest vorläufig überzeugt – selbst wenn sich der mit allen Wassern gewaschene Scheich alle Optionen offenhält. Al Hadi Dscharba ist mit vier Frauen verheiratet, und doch nimmt die kurdi- sche Frauenrechtlerin Hadiya Yusuf, die vor der Revolution zweieinhalb Jahre in den Kerkern des syrischen Regimes ver- bracht hatte, ungeniert neben ihm Platz. Sie verkörpert den Aufstieg der Frauen in der Gesellschaft des Kantons Cizire, für den Hadiya Yusuf zwei Gründe anführt: Viele Frauen haben an der Front ge- kämpft, haben bei der Befreiung Rojavas von der syrischen Diktatur und bei der Ver- teidigung der kurdischen Enklave gegen den IS eine aktive Rolle gespielt; zudem sind die kurdischen Frauen, anders als die arabischen, in der Selbstverwaltung des Kantons überall präsent. „Bei den Ara- bern ist es etwas schwieriger, wir arbeiten aber daran“, sagt Yusuf. Der Scheich nickt. „Ja, das ist eine neue Erfahrung für die Gesellschaft“, sagt er. Er bekundet gro- ßen Respekt vor den kurdischen Frauen und preist sie als Modell. Auch will er den säkularen Charakter des Kantons bewah- ren. Unter den Arabern überwiege aber die Ablehnung einer stärkeren Rolle der Frau, und in der Verwaltung seien erst we- nige arabische Frauen tätig. In Amuda, der kleinen Hauptstadt des Kantons Cizire, entsteht ein politisches Modell, das sich von den Nationalstaaten in der Nachbarschaft abhebt. Denn die sy- rischen Kurden sind dabei, mit den ande- ren Bewohnern des Kantons einen neuen Gesellschaftsvertrag auszuarbeiten. Er unterscheidet sich vom Selbstverständnis der Arabischen Republik Syrien, die sich auf den arabischen Nationalismus und die Herrschaft der Baath-Partei bezieht, ebenso wie vom Selbstbild der demokrati- schen Republik Türkei, die sich schwer da- mit tut anzuerkennen, dass nicht alle Bür- ger der Republik nach eigenem Befinden Türken sind. Im Gegensatz dazu sagt der Vorsitzen- de des Kantonparlaments in Amuda, He- kem Xelo: „Die Revolution von 2011 hat die Grundlage für einen neuen Gesell- schaftsvertrag geschaffen, der alle Eth- nien anerkennt, der Pluralismus in der Po- litik und in der Gesellschaft garantiert.“ Das sei das wichtigste Projekt der neuen Selbstverwaltung der syrischen Kurden in Rojava. Sie ist die Antwort auf die Herr- schaftspraktiken des Baath-Regimes, das von oben dekretiert hatte. Nun wurden in den Städten und Stadtteilen Westkurdis- tans Räte geschaffen, die ihre Beschlüsse von unten nach oben weitergeben. Die Mitglieder des konstituierenden Parla- ments wurden im Konsens berufen, den alle ethnischen und religiösen Gruppen des Kantons getragen haben. Anfang 2015 soll es erstmals Wahlen geben. Ein Regierungssitz sieht anders aus. Das bescheidene Gebäude, in dem die Le- gislative und die Exekutive des Kantons ih- ren Sitz haben, liegt abseits in einer Seiten- gasse. Ein Schlagbaum und aufgeschichte- te graue Backsteine sollen die Bedeutung des Gebäudes anzeigen. Einige olivgrün Uniformierte mit Dreitagebart halten mit umgehängter Kalaschnikow Wache. Es könnte auch ein dreistöckiges Mietshaus sein, hinge da nicht ein großes Schild über dem Hauseingang, das in den drei offiziel- len Sprachen des Kantons – Kurdisch, Ara- bisch und Suroyo, der Sprache der syrisch- orthodoxen Christen – den Sitz des Parla- ments und des Exekutivkomitees anzeigt. Aus Sicherheitsgründen haben die syri- schen Kurden ihre Hauptstadt in der stau- bigen Kleinstadt Amuda eingerichtet. Denn Hassakeh, die Hauptstadt der über- wiegend von Kurden bewohnten syri- schen Provinz, ist weiter umkämpft, und in Qamischli, der zweitgrößten Stadt, kon- trolliert das Damaszener Regime weiter ei- nen Stadtteil und den Flughafen. Amuda liegt wie Qamischli direkt am Grenzzaun zur Türkei, der hier vermint ist, um illega- le Grenzübertritte zu verhindern. Ekrem Hisso ist Vorsitzender des „Exe- kutivkomitees“ und damit Regierungs- chef; nebenher führt der Unternehmer sei- nen Betrieb für Nahrungsmittelverarbei- tung weiter. Ohne orientalische Floskeln kommt er gleich zur Sache. Die größte zi- vile Herausforderung seiner Regierung sei die Aufhebung des Wirtschaftsboy- kotts, sagt er. Denn im Norden hält die Türkei die Grenze geschlossen, und von Süden greift der „Islamische Staat“ an. So- lange die Lastwagen arabische und nicht kurdische Abnehmer angeben, dürfen sie gegen eine Transitgebühr die Straßensper- ren der Terroristen passieren. Im Osten hat immerhin die Regierung von Irakisch- Kurdistan im September nach dem An- griff des IS auf das Sindschar-Gebirge den Grenzposten Semalka geöffnet. Auf dem Territorium des Kantons ste- hen die meisten der 1200 Bohrtürme still. Denn Cizire kann kein Erdöl ausführen. Das geförderte und danach primitiv verar- beitete Rohöl wird lediglich lokal ver- braucht. Das Budget ist bescheiden. Einzi- ge Einnahmequellen sind die Zölle von Se- malka und eine Art Umsatzsteuer. Der Re- gierung gelingt es dennoch, jedem Be- diensteten ein Monatsgehalt auszuzahlen und die Familien der Gefallenen, sie hei- ßen hier „Märtyrer“, zu unterstützen. Sie subventioniert zudem die Landwirte, die für Kraftstoff nur einen symbolischen Preis zahlen und denen sie Abnahmega- rantien gibt. Denn der Boden im oberen Mesopotamien ist eine Kornkammer. Um zu investieren, fehlten der Regierung aber die Mittel, sagt Hisso. Er hofft daher auf Investitionen von Auslandskurden, um die hohe Arbeitslosigkeit zu senken. Hisso steht einem Kabinett mit 22 Minis- tern vor. Das Bildungsministerium baut ein neues Schulwesen auf; seit diesem Herbst werden als Unterrichtssprache der ersten Klasse erstmals wahlweise Kur- disch, Arabisch und Suroyo angeboten. „Je- der hat das Recht auf seine Mutterspra- che“, sagt Hisso. An der Spitze des Religi- onsministeriums steht ein Muslim, seine Stellvertreter sind ein Christ und ein Yezi- de. Ungewöhnlich ist auch, dass gesetzlich ausdrücklich festgelegt ist, dass der Vorsit- zende kein Muslim sein muss. Muhammad al Qadiri, der Leiter der Religionsbehörde, trägt den grünen Turban des mystischen Sufi-Ordens der Qadiri. Nahezu alle Kur- den in Rojava folgen einem der mystischen Orden, die vom IS verfolgt werden. Qadiri wirbt für religiöse Toleranz: „Der Sufi-Is- lam kämpft nicht mit dem Schwert, er kämpft mit dem Herzen.“ Jeder habe das Recht, an das zu glauben, was er wolle. Seit zwei Jahrzehnten sickerten jedoch die into- leranten Gedanken der wahhabitischen Muslime ein, vor allem über das Internet. Qadiri und seine 21 Kabinettskollegen wurden im vergangenen Januar von 52 Par- teien und Nichtregierungsorganisationen des Kantons per Konsens eingesetzt. Sie sind nur für Cizire zuständig, stimmen sich aber jeden Tag über Skype und E-Mails mit der Verwaltung in den ande- ren beiden Kantonen Rojavas ab, in Koba- ne und Efrin. Wahlen wurden wegen des Kriegszustands immer wieder aufgescho- ben. Noch in diesem Jahr sollen erstmals Kommunalwahlen stattfinden, auf die Par- lamentswahlen folgen. Noch steht Hekem Xelo nicht einem ge- wählten Parlament vor. Bis vor kurzem war er noch selbständiger Architekt, seit Januar ist der 1959 geborene Kurde Präsi- dent des Übergangsparlaments. „In vielen Monaten Konsultationen, die parallel zur Regierungsbildung geführt wurden, haben sich die 52 Parteien und gesellschaftlichen Gruppen auf einen Schlüssel für das erste Parlament geeinigt“, sagt er: auf 61 Kur- den, 25 Christen und 15 Araber. Die meis- ten von ihnen hatten sich als Fachleute ei- nen Namen gemacht. „Leider beteiligte sich die Baath-Partei nicht“, bedauert Xelo. Wichtig ist für ihn ein zweiter Schlüs- sel. Damit das Parlament über ein neues Gesetz abstimmen kann, müssen mindes- tens jeweils zehn kurdische, christliche und arabische Abgeordnete anwesend sein. Als eine der wichtigsten Leistungen des neuen Parlaments preist Xelo, die Stel- lung der Frau verbessert zu haben. Neue Gesetze führten die Pflicht zur zivilen Trauung ein und das Verbot der Vielehe; erstmals können beide Geschlechter eine Scheidung beantragen, und beim Erben haben sie die gleichen Rechte. Im Mittel- punkt steht für Xelo, ein Gemeinwesen zu schaffen, das sich „selbst verwaltet“. „Was immer eine Gemeinde allein tun kann, soll sie allein tun; sie muss sich nur im Rahmen der Gesetze bewegen.“ Damit folgt der Kanton den jüngeren Ideen des PKK-Chefs Öcalan. Xelo will sich aber nicht darauf reduziert sehen: „Öcalan, Bar- zani, Talabani – sie sind alle Symbole der kurdischen Bewegung.“ In einem weite- ren Punkt ist der Einfluss Öcalans, der sich unter den bestehenden Bedingungen gegen einen kurdischen Staat ausgespro- chen hat, sichtbar: Die provisorische Ver- fassung besagt, Rojava sei ein Teil Syriens. NÄCHSTES ZIEL FACHKRÄFTE SICHERN Deutschland braucht Fachkräfte. Nur mit ihnen kann unser Land auch in Zukunft vorankom- men. Der Wettbewerb um kluge Köpfe aus Deutschland und der ganzen Welt wird sich deutlich verstärken. Ist Ihr Unternehmen zukunftssicher aufgestellt? Wie Sie neue Fachkräfte gewinnen und die bereits beschäftigten im Unternehmen halten können, erfahren Sie unter www.fachkräfte-offensive.de Ein neuer Gesellschaftsvertrag für den Norden Syriens Verschlafene Hauptstadt: Die Klein- stadt Amuda ist Sitz der Regierung und des per Konsens eingesetzten Parlaments des Kantons Cizire. Die größeren Städte Hassakeh und Qamischli galten als zu unsicher. Fotos Helmut Fricke Ungleiches Paar: Die Kopräsidenten Scheich al Hadi Dscharba und Hadiya Yusuf r Rimailan Sindschar 1463 m Dohuk SYRIEN SYRIEN IRAK IRAK Mossul Mossul Mardin Mardin Amuda Amuda TÜRKEI TÜRKEI Hassakeh Hassakeh 1 00 km 00 km 100 km CIZIRE Semalka Semalka SYRIEN IRAK Mossul Mardin Amuda TÜRKEI Hassakeh Semalka T i g r i s S S S S I I N N N N D D D D D D S S S S C C C C C C H H H H A A A A A A A R R R R - B B B B E E E E E E R R R R R R R R R R R R R G G G G E E E E E E E E SINDSC H A R-BERGE Mossul- Mossul- Stausee Stausee Mossul- Stausee Kurdengebiete in Syrien (Rojava) Kurdengebiet im Irak Qamischli Qamischli Qamischli SYRIEN SYRIEN IRAK IRAK Bagdad Bagdad Arbil Arbil Adana Adana Kobane Kobane TÜRKEI TÜRKEI LIB LIBANON ANON Damaskus Damaskus Homs Homs Aleppo Aleppo LIBANON LIBANON 250 km 250 km F.A.Z .A.Z.- Karte heu./lev. Karte heu./lev. SYRIEN IRAK Bagdad Arbil Adana Kobane TÜRKEI Damaskus Homs Aleppo LIBANON 250 km 250 km 250 km F.A.Z.- Karte heu./lev. E u p h r a t Mittel- meer T i g ris Ö S T L I C H E R T A U R U S K KOBANI K K KOBAN E E RE RE ZIR I IZ CIZ E E R R Z ZI I I R R C EFRIN EF EFRIN E E E RIN KOBANE CIZIRE EFRIN In Rojava an der Grenze zur Türkei bauen Kurden, Christen und Araber gemeinsam ein System der Selbstverwaltung auf. Das Gemeinwesen wird per Konsens regiert, erhebt Steuern, erlässt Gesetze – und sichert Frauen Gleichberechtigung im Erbrecht. Von Rainer Hermann

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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG MONTAG, 8. DEZEMBER 2014 · NR. 285 · SEITE 7Politik

AMUDA, im Dezember

Kein Bild erklärt den Geist desKantons Cizire besser als das un-gleiche Paar an seiner Spitze.Einmal in der Woche treffen sich

die beiden Kopräsidenten des Kantons zueiner Besprechung mit ihren wichtigstenBeratern – etwa jenem für Verfassungsfra-gen oder jenem für Auswärtige Beziehun-gen. Die Berater sitzen dann in den Plüsch-sesseln zur Linken und zur Rechten, amKopfende des schmucklosen Raums präsi-dieren die Kopräsidenten: der arabischeScheich Humaidi Dahham al Hadi Dschar-ba, der mit seiner Körperfülle Präsenz aus-strahlt, und die schmächtige Kurdin Ha-diya Yusuf, deren scharfem Blick nichtsentgeht. Der traditionell gekleideteScheich steht für die konservativen Stam-mestraditionen; die modern gekleidete Yu-suf ist die Führerin der kurdischen Frauen-bewegung. Beide stehen an der Spitze desKantons Cizire, des größten der drei sichselbst verwaltenden Kantone in Westkur-distan (genannt Rojava) auf dem Territori-um des sich auflösenden Staats Syrien.

Der Scheich ist einer der mächtigstenStammesführer der arabischen Welt, dasOberhaupt des Stammes der Schammar,zu dem sich mehrere Millionen Araber inSyrien, im Irak und in Saudi-Arabien be-kennen. Zu seinen Verwandten zählt derfrühere Vorsitzende der syrischen Exilop-position, Ahmad Dscharba; auch die Mut-ter des saudischen Königs Abdullah wareine Schammar. Der Scheich hat gegen dieTerrorgruppe „Islamischer Staat“ Stellungbezogen und seine Miliz, die „Armee derEhre“, mit ihren 3000 Kämpfern gegenden IS kämpfen lassen. Den Kurden wares wichtig, ihn für das Projekt der Selbst-verwaltung zu gewinnen. Denn das hat vie-le Skeptiker unter den Arabern zumindestvorläufig überzeugt – selbst wenn sich dermit allen Wassern gewaschene Scheichalle Optionen offenhält.

Al Hadi Dscharba ist mit vier Frauenverheiratet, und doch nimmt die kurdi-sche Frauenrechtlerin Hadiya Yusuf, dievor der Revolution zweieinhalb Jahre inden Kerkern des syrischen Regimes ver-bracht hatte, ungeniert neben ihm Platz.Sie verkörpert den Aufstieg der Frauen inder Gesellschaft des Kantons Cizire, fürden Hadiya Yusuf zwei Gründe anführt:Viele Frauen haben an der Front ge-kämpft, haben bei der Befreiung Rojavasvon der syrischen Diktatur und bei der Ver-teidigung der kurdischen Enklave gegenden IS eine aktive Rolle gespielt; zudemsind die kurdischen Frauen, anders als diearabischen, in der Selbstverwaltung desKantons überall präsent. „Bei den Ara-bern ist es etwas schwieriger, wir arbeitenaber daran“, sagt Yusuf. Der Scheichnickt. „Ja, das ist eine neue Erfahrung fürdie Gesellschaft“, sagt er. Er bekundet gro-ßen Respekt vor den kurdischen Frauenund preist sie als Modell. Auch will er densäkularen Charakter des Kantons bewah-ren. Unter den Arabern überwiege aberdie Ablehnung einer stärkeren Rolle derFrau, und in der Verwaltung seien erst we-nige arabische Frauen tätig.

In Amuda, der kleinen Hauptstadt desKantons Cizire, entsteht ein politischesModell, das sich von den Nationalstaatenin der Nachbarschaft abhebt. Denn die sy-rischen Kurden sind dabei, mit den ande-ren Bewohnern des Kantons einen neuenGesellschaftsvertrag auszuarbeiten. Erunterscheidet sich vom Selbstverständnisder Arabischen Republik Syrien, die sichauf den arabischen Nationalismus unddie Herrschaft der Baath-Partei bezieht,ebenso wie vom Selbstbild der demokrati-schen Republik Türkei, die sich schwer da-mit tut anzuerkennen, dass nicht alle Bür-ger der Republik nach eigenem BefindenTürken sind.

Im Gegensatz dazu sagt der Vorsitzen-de des Kantonparlaments in Amuda, He-kem Xelo: „Die Revolution von 2011 hatdie Grundlage für einen neuen Gesell-schaftsvertrag geschaffen, der alle Eth-nien anerkennt, der Pluralismus in der Po-litik und in der Gesellschaft garantiert.“Das sei das wichtigste Projekt der neuenSelbstverwaltung der syrischen Kurden inRojava. Sie ist die Antwort auf die Herr-schaftspraktiken des Baath-Regimes, dasvon oben dekretiert hatte. Nun wurden inden Städten und Stadtteilen Westkurdis-tans Räte geschaffen, die ihre Beschlüssevon unten nach oben weitergeben. DieMitglieder des konstituierenden Parla-ments wurden im Konsens berufen, denalle ethnischen und religiösen Gruppendes Kantons getragen haben. Anfang 2015soll es erstmals Wahlen geben.

Ein Regierungssitz sieht anders aus.Das bescheidene Gebäude, in dem die Le-gislative und die Exekutive des Kantons ih-ren Sitz haben, liegt abseits in einer Seiten-gasse. Ein Schlagbaum und aufgeschichte-te graue Backsteine sollen die Bedeutung

des Gebäudes anzeigen. Einige olivgrünUniformierte mit Dreitagebart halten mitumgehängter Kalaschnikow Wache. Eskönnte auch ein dreistöckiges Mietshaussein, hinge da nicht ein großes Schild überdem Hauseingang, das in den drei offiziel-len Sprachen des Kantons – Kurdisch, Ara-bisch und Suroyo, der Sprache der syrisch-orthodoxen Christen – den Sitz des Parla-ments und des Exekutivkomitees anzeigt.

Aus Sicherheitsgründen haben die syri-schen Kurden ihre Hauptstadt in der stau-bigen Kleinstadt Amuda eingerichtet.Denn Hassakeh, die Hauptstadt der über-wiegend von Kurden bewohnten syri-schen Provinz, ist weiter umkämpft, undin Qamischli, der zweitgrößten Stadt, kon-trolliert das Damaszener Regime weiter ei-nen Stadtteil und den Flughafen. Amudaliegt wie Qamischli direkt am Grenzzaunzur Türkei, der hier vermint ist, um illega-le Grenzübertritte zu verhindern.

Ekrem Hisso ist Vorsitzender des „Exe-kutivkomitees“ und damit Regierungs-chef; nebenher führt der Unternehmer sei-nen Betrieb für Nahrungsmittelverarbei-tung weiter. Ohne orientalische Floskelnkommt er gleich zur Sache. Die größte zi-vile Herausforderung seiner Regierungsei die Aufhebung des Wirtschaftsboy-

kotts, sagt er. Denn im Norden hält dieTürkei die Grenze geschlossen, und vonSüden greift der „Islamische Staat“ an. So-lange die Lastwagen arabische und nichtkurdische Abnehmer angeben, dürfen siegegen eine Transitgebühr die Straßensper-ren der Terroristen passieren. Im Ostenhat immerhin die Regierung von Irakisch-Kurdistan im September nach dem An-griff des IS auf das Sindschar-Gebirge denGrenzposten Semalka geöffnet.

Auf dem Territorium des Kantons ste-hen die meisten der 1200 Bohrtürme still.Denn Cizire kann kein Erdöl ausführen.Das geförderte und danach primitiv verar-beitete Rohöl wird lediglich lokal ver-braucht. Das Budget ist bescheiden. Einzi-ge Einnahmequellen sind die Zölle von Se-malka und eine Art Umsatzsteuer. Der Re-gierung gelingt es dennoch, jedem Be-diensteten ein Monatsgehalt auszuzahlenund die Familien der Gefallenen, sie hei-ßen hier „Märtyrer“, zu unterstützen. Siesubventioniert zudem die Landwirte, diefür Kraftstoff nur einen symbolischenPreis zahlen und denen sie Abnahmega-rantien gibt. Denn der Boden im oberenMesopotamien ist eine Kornkammer. Umzu investieren, fehlten der Regierung aberdie Mittel, sagt Hisso. Er hofft daher aufInvestitionen von Auslandskurden, um diehohe Arbeitslosigkeit zu senken.

Hisso steht einem Kabinett mit 22 Minis-tern vor. Das Bildungsministerium bautein neues Schulwesen auf; seit diesemHerbst werden als Unterrichtssprache derersten Klasse erstmals wahlweise Kur-disch, Arabisch und Suroyo angeboten. „Je-der hat das Recht auf seine Mutterspra-che“, sagt Hisso. An der Spitze des Religi-onsministeriums steht ein Muslim, seineStellvertreter sind ein Christ und ein Yezi-de. Ungewöhnlich ist auch, dass gesetzlichausdrücklich festgelegt ist, dass der Vorsit-zende kein Muslim sein muss. Muhammadal Qadiri, der Leiter der Religionsbehörde,trägt den grünen Turban des mystischenSufi-Ordens der Qadiri. Nahezu alle Kur-den in Rojava folgen einem der mystischenOrden, die vom IS verfolgt werden. Qadiriwirbt für religiöse Toleranz: „Der Sufi-Is-lam kämpft nicht mit dem Schwert, erkämpft mit dem Herzen.“ Jeder habe dasRecht, an das zu glauben, was er wolle. Seitzwei Jahrzehnten sickerten jedoch die into-leranten Gedanken der wahhabitischenMuslime ein, vor allem über das Internet.

Qadiri und seine 21 Kabinettskollegenwurden im vergangenen Januar von 52 Par-teien und Nichtregierungsorganisationendes Kantons per Konsens eingesetzt. Siesind nur für Cizire zuständig, stimmensich aber jeden Tag über Skype undE-Mails mit der Verwaltung in den ande-ren beiden Kantonen Rojavas ab, in Koba-ne und Efrin. Wahlen wurden wegen desKriegszustands immer wieder aufgescho-ben. Noch in diesem Jahr sollen erstmalsKommunalwahlen stattfinden, auf die Par-lamentswahlen folgen.

Noch steht Hekem Xelo nicht einem ge-wählten Parlament vor. Bis vor kurzemwar er noch selbständiger Architekt, seitJanuar ist der 1959 geborene Kurde Präsi-dent des Übergangsparlaments. „In vielenMonaten Konsultationen, die parallel zurRegierungsbildung geführt wurden, habensich die 52 Parteien und gesellschaftlichenGruppen auf einen Schlüssel für das ersteParlament geeinigt“, sagt er: auf 61 Kur-den, 25 Christen und 15 Araber. Die meis-ten von ihnen hatten sich als Fachleute ei-

nen Namen gemacht. „Leider beteiligtesich die Baath-Partei nicht“, bedauertXelo. Wichtig ist für ihn ein zweiter Schlüs-sel. Damit das Parlament über ein neuesGesetz abstimmen kann, müssen mindes-tens jeweils zehn kurdische, christlicheund arabische Abgeordnete anwesendsein. Als eine der wichtigsten Leistungendes neuen Parlaments preist Xelo, die Stel-lung der Frau verbessert zu haben. Neue

Gesetze führten die Pflicht zur zivilenTrauung ein und das Verbot der Vielehe;erstmals können beide Geschlechter eineScheidung beantragen, und beim Erbenhaben sie die gleichen Rechte. Im Mittel-punkt steht für Xelo, ein Gemeinwesen zuschaffen, das sich „selbst verwaltet“. „Wasimmer eine Gemeinde allein tun kann,soll sie allein tun; sie muss sich nur imRahmen der Gesetze bewegen.“ Damit

folgt der Kanton den jüngeren Ideen desPKK-Chefs Öcalan. Xelo will sich abernicht darauf reduziert sehen: „Öcalan, Bar-zani, Talabani – sie sind alle Symbole derkurdischen Bewegung.“ In einem weite-ren Punkt ist der Einfluss Öcalans, dersich unter den bestehenden Bedingungengegen einen kurdischen Staat ausgespro-chen hat, sichtbar: Die provisorische Ver-fassung besagt, Rojava sei ein Teil Syriens.

NÄCHSTES ZIEL

FACHKRÄFTESICHERN

Deutschland braucht Fachkräfte. Nur mit ihnen kann unser Land auch in Zukunft vorankom-men. Der Wettbewerb um kluge Köpfe aus Deutschland und der ganzen Welt wird sich deutlich verstärken. Ist Ihr Unternehmen zukunftssicher aufgestellt? Wie Sie neue Fachkräfte gewinnen und die bereits beschäftigten im Unternehmen halten können, erfahren Sie unter

www.fachkräfte-offensive.de

Ein neuer Gesellschaftsvertrag für denNorden Syriens

Verschlafene Hauptstadt: Die Klein-stadt Amuda ist Sitz der Regierungund des per Konsens eingesetztenParlaments des Kantons Cizire. Diegrößeren Städte Hassakeh undQamischli galten als zu unsicher. Fotos Helmut Fricke

Ungleiches Paar: Die Kopräsidenten Scheich al Hadi Dscharba und Hadiya Yusuf

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EFRIN

In Rojava an der Grenze zur Türkei bauen Kurden, Christen und Araber gemeinsam ein System der Selbstverwaltung auf. Das Gemeinwesenwird per Konsens regiert, erhebt Steuern, erlässt Gesetze – und sichert Frauen Gleichberechtigung im Erbrecht. Von Rainer Hermann