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facultas wuv Franz Bydlinski Grundzüge der juristischen Methodenlehre

Franz Bydlinski Grundzüge der juristischen Methodenlehre · Grundzüge der juristischen Methodenlehre von Dr. Dr. h.c. mult. Franz Bydlinski † em. o. Universitätsprofessor in

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facultas wuv

Auch eine noch so genaue Kenntnis der Rechts lage allein reicht für die juristische Arbeit nicht aus. Die unvermeidliche Distanz zwischen konkretem Fall einerseits und gene-rell-abstrakten Normen andererseits macht eine Interpretation unumgänglich. Dabei bedarf es einer gelegentlich durchaus aufwän-digen methodischen Vorgangsweise. Darüber soll hier Auskunft gegeben werden, wobei die durchaus beabsichtigte Kürze sowohl zu manchen Vereinfachungen als auch zu Schwer-punktsetzungen zwingt. Die Schwerpunkte liegen bei der Auslegung von Rechtsnormen, bei der Arbeit mit (möglicherweise) lücken-haften oder überschießenden Regelungen (Stichworte: Analogie und Reduktion) sowie bei der Arbeit mit Präjudizien, also mit Vor-judikatur, die sich zur (neuerlich) aktuellen Rechtsfrage bereits geäußert hat (Stichwort Richterrecht).

Das Buch wendet sich an Studierende der Rechtswissenschaften wie auch an praktisch tätige Juristen.

Rechtswissenschaften

www.utb.de,!7ID8C5-cdgfjf!

ISBN 978-3-8252-3659-5

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Franz BydlinskiGrundzüge der juristischen Methodenlehre

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Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

Böhlau Verlag · Wien · Köln · WeimarVerlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hillsfacultas.wuv · WienWilhelm Fink · MünchenA. Francke Verlag · Tübingen und BaselHaupt Verlag · Bern · Stuttgart · WienJulius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad HeilbrunnMohr Siebeck · TübingenNomos Verlagsgesellschaft · Baden-BadenOrell Füssli Verlag · Zürich Ernst Reinhardt Verlag · München · BaselFerdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · ZürichEugen Ulmer Verlag · StuttgartUVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · MünchenVandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Oakvillevdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

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Grundzüge der juristischenMethodenlehre

von

Dr. Dr. h.c. mult. Franz Bydlinski †em. o. Universitätsprofessor in Wien

bearbeitet von

Dr. Peter Bydlinskio. Universitätsprofessor in Graz

2., überarbeitete Auflage

Wien 2012

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Bibliografische Information Der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

2., überarb. Auflage 2012© 2012 Facultas Verlags- und Buchhandels AGfacultas.wuv Universitätsverlag, 1050 WienAlle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Ver-breitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.Einbandgestaltung: Atelier Reichert, StuttgartSatz und Druck: Facultas AGPrinted in AustriaUTB-Band-Nr.: 3659ISBN 978-3-8252-3659-5

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Vorwort zur 2. Auflage

Die vorliegende kleine Schrift beruht auf den jahrzehntelangen Be-mühungen des (Erst-)Verfassers um ausgewogene und praktikablePositionen zum – möglichst rationalen, das heißt nachvollziehbar be-gründeten – Umgang mit Rechtsnormen. Sobald es heikel wird, dür-fen sich auch erfahrene Rechtsanwender nicht allein auf ihr Rechts-gefühl und ihre (subjektiven) Gerechtigkeitsvorstellungen verlassen.Vielmehr bedarf es dann einer gelegentlich durchaus aufwändigenmethodischen Vorgangsweise. Darüber soll hier Auskunft gegebenwerden, wobei die durchaus beabsichtigte Kürze – das Werk soll javon möglichst vielen gelesen werden, nicht schon durch seinen Um-fang abschrecken – sowohl zu manchen Vereinfachungen als auchzu Schwerpunktsetzungen zwingt. Die Schwerpunkte liegen dort,wo der praktisch tätige Jurist, an den sich das Werk neben den Stu-dierenden primär wendet, wohl immer wieder Hilfe benötigt: Bei derAuslegung von Rechtsnormen, bei der Arbeit mit (möglicherweise)lückenhaften oder überschießenden Regelungen (Stichworte: Ana-logie und Reduktion) sowie bei der Arbeit mit Präjudizien, also mitVorjudikatur, die sich zur nunmehr – neuerlich – aktuellen Rechts-frage bereits geäußert hat (Stichwort Richterrecht).

Eine solche Darstellung muss einerseits eine gewisse Abstrak-tionsstufe erreichen, kann aber zugleich nicht ohne erläuterndeBeispiele auskommen. Diese sind ganz überwiegend dem Privat-recht entnommen; und da wiederum vor allem dem österreichi-schen. Für die zweite Auflage, die gut sechs Jahre nach der erstenerscheint, wurden diese Beispiele ergänzt, wodurch sich nun ver-mehrt solche aus dem deutschen Recht – und ausnahmsweise auchaus der Schweiz – finden. Bei dieser Gelegenheit habe ich mich zu-gleich um manch sprachliche Vereinfachung bemüht und einigewenige kurze Abschnitte ergänzt, die heutzutage auch in einerknapp gehaltenen methodologischen Schrift nicht ganz fehlen soll-ten (insbesondere zur europarechtskonformen Auslegung, aberauch zur ökonomischen Analyse des Rechts und zur Auslegungvon Einheitsrecht).

Der Inhalt des Buchs ist – aufgrund der behandelten Materie –nach wie vor durchaus anspruchsvoll. Auch deshalb, nämlich um

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die Lektüre nicht weiter zu erschweren, habe ich nur punktuellweibliche Formen ergänzt. Selbstverständlich ist mit dem Juristenaber weiterhin auch die Juristin mitgemeint, mit dem Rechtswis-senschaftler die Wissenschaftlerin usw.

Dass ich die Neuauflage besorgen werde, habe ich noch mit mei-nem Vater abgesprochen. Leider konnte er ihre Ausarbeitung imSommer 2011, bei der mich dankenswerterweise Herr Mag. Chris-topher Engel unterstützte, nicht mehr mit seinem Rat begleiten. Sokann ich nur hoffen, dass mein Vater mit dem Ergebnis zufriedengewesen wäre.

Gratwein, im Oktober 2011 Peter Bydlinski

Vorwort zur 2. Auflage

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Vorwort zur 1. Auflage

Die vorliegende kleine Schrift enthält eine einführende Zusam -men fassung meiner methodologischen Positionen, wie sie in dreiBüchern und zahlreichen Abhandlungen entwickelt wurden. Zu-erst ist sie 2003 vom Forschungsinstitut für mittel- und osteuropäi-sches Wirtschaftsrecht der Wirtschaftsuniversität Wien in deren„Arbeitspapieren“ für einen engeren Kreis von mit diesem Institutverbundenen Interessenten veröffentlicht worden. Sie beruht aufden Vorlesungen, die ich 2003 auf Einladung der Fakultät, der „Ös-terreichischen Rechtschule“ und der „Tschechischen Gesellschaftfür das Studium des Rechtes der deutschsprachigen Länder“ an derUniversität in Brünn gehalten habe (dazu das Vorwort von PeterDoralt, Jarmila Pokorná und Ivana Bucková, den Organisatorendieser Vorlesungsreihe).

Da verschiedentlich der Wunsch nach einer allgemein zugäng-lichen Publikation geäußert wurde, regte Prof. Peter Doralt einesolche an. Er vermittelte auch den Verlagsvertrag. Für sein förder -liches Interesse an dieser Schrift habe ich ihm sehr zu danken; fürvielfaches Entgegenkommen dem Verlag. Vielleicht ist eine Einfüh-rung wie diese besser geeignet als dicke und daher selten ganz ge lesene Bücher, junge Juristen zumindest ein wenig gegenüber den extremsten der vielfältigen schiefen oder missverständlichen,manch mal freilich hochgelehrten Äußerungen über die Aufgaben,Möglichkeiten und Grenzen methodisch disziplinierter Rechtsfin-dung zu immunisieren.

Maria Enzersdorf, im Juli 2005 Franz Bydlinski

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage .............................................................. 5

Vorwort zur 1. Auflage .............................................................. 7

Abkürzungsverzeichnis ........................................................... 13

Ausgewählte Literaturhinweise ............................................ 15

A. Einleitung: Was ist und wozu betreibt man juristische Methodenlehre? ............................................ 17

I. Begriff und Aufgabe ............................................................ 17II. Die Notwendigkeit der Methodenlehre................................ 17III. Gegenmodelle ...................................................................... 19IV. Methodenlehre für die Rechtsanwendung überhaupt

oder für einzelne Rechtsgebiete? ......................................... 23

B. Die Auslegung (im engeren Sinn) .................................. 26I. Die wörtliche („grammatische“) Auslegung ........................ 26

1. Vorklärungen ................................................................... 262. Das Demonstrationsbeispiel ............................................. 263. Das Auslegungsmaterial .................................................. 274. Der einfache Fall und die schlichte Subsumtion ............. 27

II. Die systematisch-logische Auslegung .................................. 311. Das Auslegungsmaterial .................................................. 312. Beispiele ........................................................................... 32

III. Die historische (subjektive) Auslegung ............................... 341. Der Streit um das „subjektive“ oder „objektive“

Auslegungsziel ............................................................... 342. Das Auslegungsmaterial ................................................. 353. Beispiele ......................................................................... 374. Wer ist „der Gesetzgeber“? ............................................. 39

IV. Die objektiv-teleologische Auslegung .................................. 411. „Objektiver Zweck“? ....................................................... 412. Das Grundschema .......................................................... 423. Die teleologisch-systematische Auslegung ..................... 454. Die Auslegung entsprechend der „Natur der Sache“...... 48

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5. Auslegung mit Hilfe eines argumentum ad absurdum .................................................................. 50

6. Auslegung entsprechend vorrangigem Recht (vor allemVerfassungsrecht) und Normkollision ............................ 54

7. Die rechtsvergleichende Auslegung ............................... 578. Die Bedeutung ökonomischer Gesichtspunkte

bei der Auslegung .......................................................... 59V. Das junge Phänomen der europarechtskonformen

Auslegung ............................................................................ 611. Ausgangslage .................................................................. 612. Anwendungsprobleme an einem konkreten Beispiel .... 62

VI. Die Auslegung von Einheitsrecht ........................................ 64VII. Die Auslegung in besonders schwierigen Fällen .................. 64

1. Merkmale ....................................................................... 642. Komplexe Streitfragen und juristische Theorien ........... 663. Veranschaulichung an einem Beispiel (mit Ausfüh-

rungen zu Rechtsprinzipien und deren Kollision) ......... 69

C. Die ergänzende Rechtsfortbildung (vor allem Analogie und Reduktion) ............................................... 76

I. Grundlagen .......................................................................... 761. Das Verhältnis zur Auslegung im engeren Sinn ............. 762. Der „allgemeine negative Satz“ ...................................... 793. Die Gesetzeslücke .......................................................... 81

II. Analogie und Umkehrschluss .............................................. 851. Die angebliche „Schaukel“ ............................................. 852. Arten des Analogieschlusses .......................................... 883. Die Größenschlüsse als verstärkte Unterarten

der Analogie ................................................................... 90III. Die teleologische Reduktion (Restriktion) ........................... 90IV. Die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze .................. 93

1. Allgemeines ................................................................... 932. Ermittlung und Beschaffenheit von Prinzipien ............. 943. Die Prinziplücke ............................................................. 974. Beispiele ......................................................................... 99

D. Der Rang der Rechtsfindungsmethoden ....................103I. Die abstrakte Rangfrage ..................................................... 103

1. Das übliche pragmatische Vorgehen ............................. 103

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2. Die theoretische Rechtfertigung der Rangfrage ........... 1053. Abweichende Modelle ................................................. 106

II. Notwendige Modifikationen .............................................. 1081. Die Lex-lata-Grenze insbesondere ............................... 1082. Die Hinausschiebung der Lex-lata-Grenze durch

„Funktionswandel“ ....................................................... 1103. Konkretisierung von Generalklauseln ......................... 113

E. Die Bedeutung von „Richterrecht“ und seine Anwendung .................................................................... 116

I. Das Phänomen und seine faktische Bedeutung ................ 116II. Der Streit um die rechtliche Bedeutung des

Richterrechts ...................................................................... 119III. Unterschiedliche Ansätze zur beschränkten

Bindungskraft des Richterrechts ........................................ 127IV. Die Lehre von der subsidiären Bindungskraft ................... 129V. Praktische Konsequenzen .................................................. 136VI. Einige Einzelheiten ............................................................ 138VII. Rechtsprechungsänderung als isoliertes Problem? ............ 140

Stichwortverzeichnis ................................................................. 149

Inhaltsverzeichnis

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A. Einleitung: Was ist und wozu betreibt manjuristische Methodenlehre?

I. Begriff und Aufgabe

Die Methode ist das Handwerkzeug aller Wissenschaftler. Daherbraucht auch die Rechtswissenschaft ihre Methode; und im Übrigenebenso all jene, die Rechtsnormen „bloß“ anzuwenden haben wieinsbesondere die Richterinnen und Richter. Die hier gemeinte Lehrevon der Methode der „eigentlichen Jurisprudenz“ (Rechtsdogmatik)– nicht der Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie, Rechtsphilosophieoder Gesetzgebungslehre bzw Rechtspolitik – wird oft so beschrie-ben, dass es um das „Verstehen“ des geltenden Rechts oder um die„Beschäftigung“ mit dem geltenden Recht gehe. Das ist nicht falsch,aber ziemlich nichtssagend. Die Jurisprudenz hat praktische Bedürf-nisse zu erfüllen, nämlich der Rechtsgemeinschaft und ihren Mit-gliedern Orientierung über Rechtliches zu geben. Daher ist es deut-licher, wenn man einerseits auf den unmittelbaren Gegenstand derjuristischen Arbeit, nämlich das Recht, aber andererseits auch aufdie Aufgaben der wissenschaftlich betriebenen Jurisprudenz hin-weist. Diese bestehen darin, dass die tatsächlich aufgetretenen odermöglicherweise noch auftretenden Rechtsprobleme, an denen je-mand interessiert ist, so rational und daher nachprüfbar begründetwie möglich aus dem Recht gelöst werden. (Systematische und ra-tionale Arbeit de lege ferenda, also an der Änderung – und idealer-weise zugleich: Verbesserung – der Gesetzeslage, ist damit durchausverwandt, aber wegen der fehlenden Bindung an das geltende Ge-setz davon doch zu unterscheiden.) Über die dafür tauglichen Argu-mente geben die Kriterien der juristischen Methodenlehre Aus-kunft. „Recht“ muss dabei, wie sich alsbald im Einzelnen zeigenwird, weit verstanden werden: Es umfasst nicht bloß die publizier-ten Einzelvorschriften, sondern auch die ihnen zugrunde liegendenZweck- und Prinzipienschichten im Rechtssystem.

II. Die Notwendigkeit der Methodenlehre

Die Notwendigkeit geordneter und kontrollierter Arbeit am Rechtzeigt sich bei seiner Anwendung auf Fälle, also Einzelsachverhalte,

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bzw auf Falltypen, an denen Rechtsprobleme wahrnehmbar wer-den. Sie beruht vor allem auf der unvermeidlichen Distanz zwi-schen konkretem Fall (oder Falltyp) einerseits und generell-ab-strakten Normen andererseits, die durch vernünftige und sachlichkorrekte Argumentation möglichst überbrückt werden muss. Da -her ist der „Rohstoff“ der Jurisprudenz nicht bloß das Recht. Zuihm gehören vielmehr auch die rechtlich relevanten Sachverhalteeinschließlich der „generellen Tatsachen des Normbereiches“, zBdie Hilfsbedürftigkeit des Kleinkindes, die arbeitsteilige Organi -sation der Wirtschaft oder die Knappheit erschwinglichen Wohn-raums.

Nur eine sekundäre Quelle juristischer Probleme sind sachliche,systematische oder sprachliche Fehler des Gesetzgebers. Auch diesesind nur reduzierbar, nicht aber vermeidbar; insbesondere dannnicht, wenn die politisch-ideologischen Elemente oder der „Kuh-handel“ in der Gesetzgebung stark in den Vordergrund treten:Unterschiedliche Lobbies werden bei einer Gesetzesnovellierunggleichermaßen bedient, was zu Widersprüchen führt, oder werdendurch kompromisshafte – und daher schwammige – Formulierun-gen besänftigt, mit denen zunächst jede Seite leben kann (bis dieNorm erstmals in einem konkreten Fall anzuwenden ist).

Ziel der juristischen Arbeit ist die bestmöglich begründete Auf-findung einer Rechtsregel, die dem Problemsachverhalt näher istals die zunächst vorfindliche positive Ausgangsnorm und die dasgerade gestellte Fallproblem entscheidet. In Bezug auf dieses Pro-blem muss die gefundene Regel also konkreter sein als die Geset-zesschicht. Beispiele folgen sogleich; auch dafür, dass noch so ge-naue Gesetzeskenntnis für die juristische Arbeit nicht ausreicht.

Das Grundmodell der juristischen Arbeit ist jedenfalls die me-thodisch geordnete Zusammenfügung der für das Sachproblemmöglicherweise relevanten Teile des Rechts mit dem problemati-schen Teil des Sachverhaltes zum Zweck der Gewinnung (Ablei-tung) der problemlösenden Regel.

Der erste Schritt zu einer rational betriebenen Rechtsgewinnungist daher stets die bestmögliche Feststellung des zu beurteilenden Sachverhalts im Hinblick auf die möglicherweise anzuwendendenRechtsnormen und die analytische Herausarbeitung der rechtlich

Einleitung: Was ist und wozu betreibt man juristische Methodenlehre?

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relevanten, vor allem der problematischen Fallelemente. Auf diesesind sodann die – möglicherweise – relevanten Rechtsnormen inmethodisch geordneter Weise mit positivem oder negativem Ergeb-nis anzuwenden. Diese analytische Annäherung zwischen den Ele-menten des Problemsachverhaltes und den in Betracht kommen-den Rechtsnormen ist die rational unentbehrliche „Urmethode“,ohne die es bei einer global-gefühlsmäßigen, also bloß intuitivenWürdigung nur vage erfasster Gesamtsachverhalte bleiben müsste.Die Teilbeurteilungen der einzelnen Teilprobleme sind sodann syn-thetisch im Hinblick auf das letztlich gesuchte Gesamtergebnis zu-sammenzufügen. Auf elementarer Stufe sind bei all dem die in deneinzelnen Rechtsgebieten bewährten Falllösungstechniken nütz-lich; im Privatrecht etwa die Methode der „Anspruchsprüfung“.Davon kann hier nicht mehr weiter die Rede sein. (Die wichtigstenSchritte der Fallprüfung sollten in den anwendungsbezogenenÜbungen der einzelnen Fächer vermittelt werden.)

III. Gegenmodelle

In der Jurisprudenz ist im Wesentlichen alles streitig; häufig aberzu Unrecht. So wird zB den eben skizzierten Vorstellungen übereine rationale juristische Methodenlehre unter Berufung auf dieAnforderungen der Rechtssicherheit ein gesetzespositivistisches Mo-dell einer strikten Gesetzesbindung gegenübergestellt. Dieses kannfreilich überhaupt nur soweit funktionieren, wie der jeweils pro-blemrelevante Gesetzesinhalt in seiner Anwendbarkeit auf den zubeurteilenden Sachverhalt klar und nicht bezweifelbar ist. Darüberhinaus wird – anstelle der differenzierten und manchmal schwieri-gen juristischen Methoden – bloß das „Ermessen“ oder die „Eigen-wertung“ des zuständigen Richters oder eines sonstigen Beurtei-lungsorgans als Allzweckinstrument angeboten. Das weist denpersönlichen oder gruppenspezifischen Präferenzen des amtlich zu-ständigen Beurteilers sogleich die entscheidende Rolle zu. Es be-deutet also den weitgehenden und vorzeitigen Verzicht auf ratio-nale, auch für Dritte gültige oder wenigstens nachvollziehbareBegründung. Es ist unverständlich, wie man durch solches vorran-gige Abstellen auf die Subjektivität jedes amtlich zuständigen Beur-teilers die Rechtssicherheit glaubt fördern zu können, zu der dochjedenfalls die möglichst weit gehende Voraussehbarkeit der Einzelfall -

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entscheidungen gehört. Auch bleibt offen, wie die Zuständigkeitdes jeweiligen Beurteilers in nicht von vornherein eindeutigen Fäl-len festgestellt werden sollte – außer wieder durch seine eigene Er-messensentscheidung!

Da sich die Extreme berühren, führt radikale normative Er-kenntnisskepsis in Verbindung mit Neigung zum „Rechtsrealismus“in eine ähnliche, ja in eine noch aussichtslosere Sackgasse. Im Ex-tremfall wird sogar bezweifelt, dass Gesetze wegen ihrer Abstrakt-heit jemals einen für die Anwendung auf konkrete zwischen-menschliche Sachverhalte erkennbaren Inhalt haben. Anwendbarseien vielmehr nur die Zuschreibungen eines bestimmten Inhalteszu den Gesetzestexten durch die Rechtsprechung. Diese „Zuschrei-bungen“ müssen freilich ebenfalls durch Worte und Sätze erfolgen,die allgemeiner sein müssen als die Sachverhaltsbeschreibungen.Wieso solche sprachliche „Zuschreibungen“ – im Gegensatz zumGesetzestext selbst – sehr wohl einen erkennbaren Inhalt habensollen, bleibt ein ungelöstes Geheimnis.

Ganz verfehlt ist es auch, wenn von manchen „Wertlosigkeit“der juristischen Methodenlehre wegen angeblich freier, angeblichallein vom erwünschten Ergebnis bestimmter „Methodenwahl“(unter den später zu besprechenden einzelnen methodischen Kri-terien) behauptet wird: Man bediene sich unter den verschiedenenMethoden nur derjenigen, die zum vom Beurteiler gewünschtenErgebnis führen.

Zum dafür vorgetragenen Argument des Fehlens einer ein für al-lemal festen Rangordnung der Methoden wird später bei Erörterungdieser Frage näher Stellung genommen. Die zutreffende Beobach-tung, dass in der juristischen Arbeit am Einzelproblem keineswegsschulmäßig alle Methoden ausdrücklich „durchprobiert“ zu werdenpflegen, erklärt sich keineswegs aus deren allein vom Wunschergeb-nis bestimmtem Ansatz, sondern – neben den begrenzten Zeitres-sourcen – völlig zureichend daraus, dass in vielen Fällen die konkre-te Unergiebigkeit bestimmter Methoden von vornherein evident istoder dass bestimmte Methoden offenbar für die Lösung ausreichen.Oft wird überhaupt keines der Auslegungskriterien ausdrücklich dis-kutiert, sondern nur unter Berufung auf bereits vorliegende Lehreund Rechtsprechung argumentiert. In diese sind aber die methodi-schen Argumente bereits früher eingegangen.

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Empirisch ganz verfehlt ist auch die Vorstellung, dass jeder Be-urteiler von vornherein ein bestimmtes Ergebnis wünscht und un-verrückbar anstrebt. Die Erfahrung der Juristen lehrt, dass das Ergebnis in heiklen Fällen oft sogar nach schon ziemlich weitge-hender Abwägung der Pro- und Kontra-Argumente für die ver-schiedenen möglichen Lösungen auch subjektiv offen ist. Stellt sichtatsächlich vorweg eine Tendenz zu einer bestimmten Lösung ein,wie allerdings häufig, so beruht das beim erfahrenen Juristen aufzunächst unreflektierter Globalanwendung seiner Rechtskennt-nisse („Judiz“) und bedarf stets sorgfältiger kritischer Selbstprü-fung, die nicht selten zur Änderung der ursprünglichen Tendenzführt. Das alles ist längst klargestellt, freilich ohne dass dies leiden-schaftliche Globalkritiker beeinflusst hätte.

Neuerdings in Mode ist auch die Behauptung, dass man an dieStelle der Methodenlehre das positivierte Verfassungsrecht setzenmüsse. Die bekannten Verfassungen enthalten jedoch ausdrückli-che methodische Maximen überhaupt nicht, so dass sie dort bloßfreihändig „hineingelesen“ werden könnten. Auch bedarf die Ver-fassung wie jede andere von Menschen geschaffene und formulier-te Rechtsmaterie selbst der Auslegung und der Ergänzung. An -gesichts dieser Tatsachen bleibt unklar, was die Empfehlung, dieMethodenlehre durch die Verfassung zu ersetzen, eigentlich bedeu-ten soll. Überhaupt folgen die methodischen Kriterien nicht auspositiven Setzungen welcher formellen Rechtsstufen immer, son-dern aus den Fundamentalgrundsätzen der „Rechtsidee“ (Gerechtig-keit, Rechtssicherheit, Zweckmäßigkeit) in Anwendung auf die realenEigenschaften positiven Rechts (Sprachlichkeit, Kontextabhängig-keit, historische Entstehung, typische Ausrichtung an vernünftigenZwecken und anerkannten Wertungen) sowie aus der rechtswis-senschaftlichen Erfahrung von Jahrtausenden. Teilkodifikationenwie die §§ 6 und 7 ABGB, die knappe Anordnungen zum methodi-schen Vorgehen bei der Rechtsanwendung („Rechtsgewinnung“)enthalten, können durchaus verdeutlichend wirken. Sie sind aber,wie fast alle anderen Rechtsordnungen und ihre rechtswissen-schaftlichen Behandlung beweisen, die solche Normen nicht ent-halten, letztlich entbehrlich.

Einen wenn auch sehr beschränkten richtigen Kern haben die„Gegenmodelle“ allerdings in zweifacher Richtung: Einerseits ist es

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nach der Erfahrung richtig, dass manche Rechtsfragen auch mitaller methodischen Anstrengung aus dem Recht nicht mit zurei-chender Schlüssigkeit beantwortet werden können, etwa in zuge-spitzten Grenz- und Zweifelsfällen und besonders im Rahmen vonvagen gesetzlichen „Generalklauseln“. Die vielfach vertretene Be-hauptung, dass jedes rechtliche Problem nur eine richtige Lösunghabe, ist daher empirisch nicht verifizierbar und sinnlos, solangeman diese richtige Lösung nicht durch eine rechtlich mindestensrelativ bessere Begründung ermitteln kann. Schon theoretisch istdie Behauptung in ihrer generellen Form uneinlösbar, wenn mansich vergegenwärtigt, dass die rechtlichen Argumente unüber-brückbar in verschiedene Richtungen deuten können. Richtig undwichtig ist bloß, dass man zunächst so intensiv und sorgfältig wiemöglich nach der am besten begründeten Lösung zu suchen hat,statt sogleich in die Eigenwertung zu flüchten. Die bloße Existenzgegenläufiger Argumente an sich braucht dabei noch nicht zur Re-signation zu führen, weil es in der Regel möglich ist, für eine be-stimmte Lösung doch mindestens überwiegende, also stärkere Argu-mente aufzufinden als für die Gegenmeinungen, die durchausauch „etwas“, aber verhältnismäßig weniger Gewichtiges (Grund-legendes) für sich haben mögen.

Bleibt die Pattstellung der Argumente aber tatsächlich einmalunauflösbar, so könnte ein Rechtswissenschaftler resignieren (undje nach Temperament seinen Manuskriptentwurf in der Schreib-tischlade verschwinden lassen oder laut nach dem Gesetzgeberrufen). Diese Auswege bestehen dann nicht, wenn – wie insbeson-dere in einem Gerichtsverfahren – eine Entscheidung zwingend ge-troffen werden muss. Dann kann die endgültige Würdigung aller-dings nur noch durch „richterliche Eigenwertung“ erfolgen; jedochlegitimerweise bloß in dem Rahmen, der zunächst durch rationaleArgumente erarbeitet wurde, also in einem letzten Schritt. Die „Eigenwertung“ ist vom Standpunkt einer rationalen, wissen-schaftlichen Jurisprudenz aus ja nur durch ihre Unvermeidlichkeitlegi timierbar, wenn und soweit diese vorliegt. Die intellektuelleAnstrengung methodischer rechtlicher Argumentation darf mansich also nicht von vornherein ersparen wollen.

Damit wird keineswegs behauptet, dass dies faktisch nicht doch,aus welchen Gründen immer, manchmal geschieht. Damit ist aber

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insbesondere die Pflicht des Richters als des Prototyps des recht-lichen Beurteilers zur möglichst intensiven Begründung seinerEntscheidung verletzt, nicht aber ein nachahmenswertes Gegen-modell aufgezeigt. Der weise „Kadi“, der primär aus der Tiefe sei-ner eigenen Weisheit schöpft und deren Ergebnisse den Rechtssu-chenden auferlegt, wäre heute ein unglaubwürdiges Leitbild; sogut Lebensklugheit und menschliches Verständnis selbstverständ-lich auch dem heutigen Richter anstehen. Heute sind jedoch Rich-ter selbst bei musterhafter Begründung ihrer Entscheidungen häu-fig erstaunlich ignoranten oder aggressiven tagespolitischen odermedialen Anfeindungen von mindestens einer Seite ausgesetzt. Siesollten dem nicht durch vorzeitige „Eigenwertung“ Vorschub leis-ten, weil eine solche im „Verlierer“ in noch stärkerem Ausmaß denVerdacht der Verletzung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeiterwecken muss. Die juristische Erfahrung mit gehaltvoll begründe-ten juristischen Problemlösungen zeigt jedenfalls, in wie weitemUmfang bei methodisch bewusstem Vorgehen rationale Lösungenvon Rechtsfragen möglich sind. Sie finden wohl am ehesten breiteZustimmung unter neutralen Sachkundigen. Den Beifall auch des-sen, der einen Prozess verloren hat, wird man freilich auch beinoch so sorgfältiger und methodisch sauberer Begründung nie er-langen können.

IV. Methodenlehre für die Rechtsanwendung überhauptoder für einzelne Rechtsgebiete?

Die Rechtsanwendung stellt in allen Rechtsgebieten grundsätzlichgleichartige Probleme der Überbrückung zwischen generell-ab-strakter Norm und konkretem Sachverhalt. Man sollte daher nachwie vor von prinzipieller Einheitlichkeit der juristischen Methoden-lehre ausgehen, wie dies der herrschenden Auffassung entspricht.Das bestätigt sich auch dadurch, dass eine relativ weitgehende,rechtsvergleichend in dieser Form singuläre Teilkodifikation der ju-ristischen Methodenlehre zwar im (österreichischen) Privatrecht,nämlich in den §§ 6 ff ABGB enthalten ist, dass aber nach allgemei-ner Meinung die entsprechenden Regeln auch in den anderenRechtsgebieten maßgebend sind. Sie enthalten in der Tat keine po-sitivgesetzlichen Zufälligkeiten einer bestimmten Rechtsmaterie,sondern sind in der Sache und in der Rechtsidee begründet.

Methodenlehre für die Rechtsanwendung überhaupt?

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Das Privatrecht hat jedoch das umfassendste und differenzier -teste Methodeninstrumentarium aufzuweisen. Im Laufe der Rechts-entwicklung haben sich nämlich für manche Rechtsgebiete me -thodologisch doch gewisse Besonderheiten ergeben, die auchkritischer Reflexion standhalten. Sie bestehen aber im Wesent-lichen nur im Weglassen oder in der besonderen Akzentuierungeinzelner Methoden aus dem umfassenden Vorrat. Die durchwegsprivatrechtlichen Beispiele in der vorliegenden Darstellung erklä-ren sich aus dem unmittelbaren Erfahrungsbereich der Verfasser.

Die berühmteste Sonderbildung ist das im Strafrecht geltendeAnalogieverbot zulasten des Beschuldigten. Straftatbestände dürfen alsonicht erst durch Analogieschluss (oder sonstige ergänzende Rechts-fortbildung) statuiert werden (Rechtfertigungs- oder Schuldaus-schließungsgründe hingegen sehr wohl), weil der Grundsatz gilt„nullum crimen, nulla poena sine lege“ (kein Verbrechen undkeine Strafe ohne Gesetz). Gefordert ist also eine im Zeitpunkt derTatbegehung bereits geltende, strafandrohende Regel. Das ist frei-lich keine historische oder gar naturgesetzliche Selbstverständlich-keit, sondern erklärt sich in einem entwickelten Rechtssystem daraus, dass der Fundamentalgrundsatz der Rechtssicherheit be-sonders hoch bewertet wird, wo es um einen mit sozialer Missbilli-gung verbundenen staatlichen Eingriff in die Rechtsgüter des Indi-viduums geht.

Eine ähnliche Beschränkung muss konsequenterweise wohl imBereich der (staatlichen) „Eingriffsverwaltung“ gelten, weil auchhier jedenfalls der Gedanke der Sicherung der Rechtsgüter des ein-zelnen gegen Eingriffe der Zentralgewalt besondere Bedeutung hat.Für das Verfassungsrecht werden von manchen besonders forma-listisch-starre, von anderen besonders großzügig-unbegrenzte Aus-legungstendenzen vertreten. Anzuerkennen ist aber nur die Be-sonderheit, dass in staats- und parteipolitisch sehr umstrittenenRechtsgebieten zur Wahrung des Rechtsfriedens eher formale Kri-terien wie Wortlaut und historische Argumente Vorrang habensollten. Diese können ja immerhin weniger unter den ständigenManipulationsverdacht mit entsprechend emotional-aufreizendenWirkungen gestellt werden, der in politisch brisanten Fragen stetsvon der „unterlegenen“ Seite (und häufig präventiv auch von derspäter ohnehin erfolgreichen Seite) geäußert wird. Exemplarisch

Einleitung: Was ist und wozu betreibt man juristische Methodenlehre?

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dafür ist das ständige Geschrei um brisante Entscheidungen derVerfassungsgerichte. Diese müssen aber eben auch politisch heikleFragen entscheiden. (Umgekehrt kann ein in letzter Instanz zurEntscheidung berufener Gerichtshof – wie jedes andere Gericht –mit seiner Rechtsmeinung durchaus einmal daneben liegen. Damitist, da jedes Verfahren irgendwann einmal zu Ende sein muss,allerdings nur der konkrete Streitfall entschieden, was von den be-teiligten Parteien hinzunehmen ist. Nicht ausgeschlossen ist hinge-gen, das Gericht bei nächster Gelegenheit mit Hilfe [vermeintlich]überzeugender Argumente zum Abgehen von der [vermeintlich]unrichtigen Position zu bewegen.)

In manchen Rechtsgebieten, etwa im Kartell- und im Steuer-recht, wird unter dem Titel „wirtschaftliche Betrachtungsweise“ eineintensive teleologische Auslegung propagiert; insbesondere um diein raschestem Fluss befindliche Rechtsmaterie nicht zu sehr wört-lich auf die zunächst oft für die spezifischen Zwecke unzureichendeBegrifflichkeit der Gesetzesformulierungen zu fixieren. Wenn mandie „wirtschaftliche Betrachtungsweise“ (die als solche rechtlichüberhaupt nichts besagt) nicht als Deckmantel für Beliebigkeit ver-wendet, sondern die eigentlich maßgebenden Zwecküberlegungenherausarbeitet, kann dies methodisch durchaus legitim sein. Ein-seitigkeiten sind hingegen generell abzulehnen.

Methodenlehre für die Rechtsanwendung überhaupt?

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B. Die Auslegung (im engeren Sinn)

I. Die wörtliche („grammatische“) Auslegung

1. Vorklärungen

Üblicherweise werden mehrere – meist vier – Interpretationsmetho-den oder „Kanones“ der Auslegung unterschieden, wobei die Eintei-lungen und vor allem die Untergruppierungen vielfach voneinanderabweichen. Am zweckmäßigsten erscheint die jetzt folgende Unter-scheidung, weil sie auf einem greifbaren und praktisch bedeutsamenMerkmal aufbaut, nämlich auf dem „Auslegungsmaterial“, das anauszulegenden Normen herangetragen werden muss, um die gestell-ten Probleme mit Aussicht auf Erfolg angehen zu können. Aus derinterpretationsbedürftigen Gesetzeslage allein lässt sich ja selbstver-ständlich nicht mehr entnehmen, als darin enthalten ist; einschließ-lich der gestellten Auslegungsprobleme. Um diese zu lösen, bedarf eszusätzlicher Prämissen. Der reduktionistische Blick „bloß auf das Ge-setz“ hilft daher gar nichts, wie sich sogleich exemplarisch zeigenwird. In der Folge müssen die einzelnen Methoden der Jurisprudenzzunächst getrennt besprochen und exemplifiziert werden. Von denVorrangverhältnissen und der zusammenfassenden Heranziehung inschwierigen Fällen kann erst anschließend die Rede sein.

2. Das Demonstrationsbeispiel

Wegen seiner einfachen Darstellbarkeit und Variationsfähigkeit(nicht wegen besonderer Wichtigkeit) wird in der Folge möglichstweitgehend ein erbrechtlicher Sachverhalt als Beispiel verwendet,der die Anwendung und zuvor die Auslegung von § 578 ABGB er-fordert: Dort (ganz ähnlich etwa in § 476a tschechisches BGB) istfür die Gültigkeit eines privatschriftlichen (zeugenlosen) Testamentsvorausgesetzt, dass der Erblasser a) den Text eigenhändig geschrieben und b) mit seinem Namenc) eigenhändig unterfertigt hat.

Einige der Auslegungsfragen unterschiedlichen Schwierigkeitsgra-des, die diese an sich sehr einfache und klare Vorschrift in Bezug

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auf bestimmte Fallkonstellationen aufwirft, werden in der Folgenäher erörtert.

3. Das Auslegungsmaterial

Naheliegenderweise ist auf der wörtlichen Stufe der Auslegung dieallgemeine Spracherfahrung, die der Beurteilende an die anzuwen-dende Norm und den verbal beschriebenen Problemsachverhaltheranzutragen hat, das hier heranzuziehende Auslegungsmaterial.Manchmal hat der Gesetzgeber durch „Legaldefinitionen“ die Be-griffe der anzuwendenden Norm präzisiert, was freilich wieder eigene Auslegungsfragen aufwerfen kann und schon deshalb nurbeschränkt hilfreich ist. Gewöhnlich ist man aber bezüglich der ge-setzlichen Worte und Sätze auf den allgemeinen Sprachgebrauchverwiesen, der häufig nur ein überwiegender Sprachgebrauch ist.Bei Normen, die sich praktisch vor allem an bestimmte Bevölke-rungsgruppen, zB an die Jäger oder an die Kaufleute, richten, hatderen speziellerer Sprachgebrauch Vorrang. Daher spricht auch beiden Gesetzen der „klassischen“ Rechtsbereiche, wie Zivil-, Straf-oder Prozessrecht, die weitestgehend auf die Vermittlung durch Ju-risten angewiesen sind, die Vermutung für die Maßgeblichkeiteines etwa vorhandenen speziell rechtstechnischen Sprachgebrau-ches. („Vertreter“ ist dann nicht derjenige, der unterwegs ist, umetwas an die Frau oder den Mann zu bringen, sondern der als Stell-vertreter [= Bevollmächtigter] Handelnde, sofern der Kontext, indem das Wort „Vertreter“ verwendet wird, keine deutlichen gegen-teiligen Hinweise enthält.)

4. Der einfache Fall und die schlichte Subsumtion

Auch bei einfach gelagerten Fällen oder Fallelementen, die es inder Jurisprudenz glücklicherweise in großer Zahl gibt – was abervon hochtheoretischen Standpunkten aus häufig vergessen wird –,kann man insoweit von „Auslegung“ sprechen: Auch das Ergebnis,der vorliegende Sachverhalt sei der anwendbaren Regel in ihremTatbestand (also in ihren Voraussetzungen) ohne alle Schwierigkei-ten zuzuordnen (zu subsumieren), so dass die Rechtsfolge der Vor-schrift ohne weiteres gilt, entsteht ja nicht von selbst. Es bedarf

Die wörtliche („grammatische“) Auslegung

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