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dtv Bibliothek der Erstausgaben Franz Kafka Der Prozess

Franz Kafka Der Prozess - dtv.de · Erstes Kapitel verhaftung gespräch mit frau grubach dann fräulein bürstner JemandmußteJosefK.verleumdethaben,dennohnedaß er etwas Böses getan

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dtvBibliothek der Erstausgaben

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Franz KafkaDer Prozess

BB 1 02644

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Franz Kafka

Der Prozess

Roman

Berlin 1925

Herausgegeben vonJoseph Kiermeier-Debre

Ausführliche Informationen überunsere Autoren und Bücher

www.dtv.de

Originalausgabe 19988. Auflage 2017

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München© 1997 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagbild: Ausschnitt des Gemäldes

„Approaching a city“ (1946) von Edward HopperGesetzt aus der Bembo Berthold

Gesamtherstellung: Druckerei C.H.Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany · isbn 978-3-423-02644-4

Der Nachdruck des Textes folgt originalgetreuder Erstausgabe von 1925.

Die Originalpaginierung wird im fortlaufenden Text vermerkt.Der Anhang gibt Auskunft zu Autor und Werk.

Erstes Kapitel

verhaftung • gespräch mit frau grubach •dann fräulein bürstner

Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daßer etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgensverhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmer-vermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh dasFrühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war nochniemals geschehen. K. wartete noch ein Weilchen, sah vonseinem Kopfkissen aus die alte Frau, die ihm gegenüberwohnte und die ihn mit einer an ihr ganz ungewöhnli-chen Neugierde beobachtete, dann aber, gleichzeitigbefremdet und hungrig, läutete er. Sofort klopfte es undein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals ge-sehen hatte, trat ein. Er war schlank und doch fest gebaut,er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das ähnlich denRei|2|seanzügen mit verschiedenen Falten, Taschen,Schnallen, Knöpfen und einem Gürtel versehen war undinfolgedessen, ohne daß man sich darüber klar wurde,wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien. „Wersind Sie?“ fragte K. und saß gleich halb aufrecht im Bett.Der Mann aber ging über die Frage hinweg, als müsseman seine Erscheinung hinnehmen, und sagte bloßseinerseits: „Sie haben geläutet?“ „Anna soll mir dasFrühstück bringen,“ sagte K. und versuchte zunächst still-

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schweigend durch Aufmerksamkeit und Überlegungfestzustellen, wer der Mann eigentlich war. Aber diesersetzte sich nicht allzu lange seinen Blicken aus, sondernwandte sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um jeman-dem, der offenbar knapp hinter der Tür stand, zu sagen:„Er will, daß Anna ihm das Frühstück bringt.“ Ein kleinesGelächter im Nebenzimmer folgte, es war nach demKlang nicht sicher, ob nicht mehrere Personen daranbeteiligt waren. Trotzdem der fremde Mann dadurchnichts erfahren haben konnte, was er nicht schon frühergewußt hätte, sagte er nun doch zu K. im Tone einerMeldung: „Es ist unmöglich.“ „Das wäre neu,“ sagte K.,sprang aus |3| dem Bett und zog rasch seine Hosen an. „Ichwill doch sehn, was für Leute im Nebenzimmer sind undwie Frau Grubach diese Störung mir gegenüber verant-worten wird.“ Es fiel ihm zwar gleich ein, daß er das nichthätte laut sagen müssen und daß er dadurch gewisser-maßen ein Beaufsichtigungsrecht des Fremden anerkann-te, aber es schien ihm jetzt nicht wichtig. Immerhin faßtees der Fremde so auf, denn er sagte: „Wollen Sie nichtlieber hierbleiben?“ „Ich will weder hierbleiben noch vonIhnen angesprochen werden, solange Sie sich mir nichtvorstellen.“ „Es war gut gemeint,“ sagte der Fremde undöffnete nun freiwillig die Tür. Im Nebenzimmer, in dasK. langsamer eintrat als er wollte, sah es auf den erstenBlick fast genau so aus, wie am Abend vorher. Es war dasWohnzimmer der Frau Grubach, vielleicht war in diesemmit Möbeln, Decken, Porzellan und Photographienüberfüllten Zimmer heute ein wenig mehr Raum alssonst, man erkannte das nicht gleich, um so weniger, alsdie Hauptveränderung in der Anwesenheit eines Mannes

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bestand, der beim offenen Fenster mit einem Buch saß,von dem er jetzt aufblickte. „Sie hätten in |4| IhremZimmer bleiben sollen! Hat es Ihnen denn Franz nichtgesagt?“ „Ja, was wollen Sie denn?“ sagte K. und sah vonder neuen Bekanntschaft zu dem mit Franz Benannten,der in der Tür stehengeblieben war, und dann wiederzurück. Durch das offene Fenster erblickte man wiederdie alte Frau, die mit wahrhaft greisenhafter Neugierdezu dem jetzt gegenüberliegenden Fenster getreten war,um auch weiterhin alles zu sehn. „Ich will doch FrauGrubach –“ sagte K., machte eine Bewegung, als reiße ersich von den zwei Männern los, die aber weit von ihmentfernt standen, und wollte weitergehn. „Nein,“ sagte derMann beim Fenster, warf das Buch auf ein Tischchen undstand auf. „Sie dürfen nicht weggehn, Sie sind ja gefan-gen.“ „Es sieht so aus,“ sagte K. „Und warum denn?“ fragteer dann. „Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das zu sagen.Gehn Sie in Ihr Zimmer und warten Sie. Das Verfahrenist nun einmal eingeleitet und Sie werden alles zur richti-gen Zeit erfahren. Ich gehe über meinen Auftrag hinaus,wenn ich Ihnen so freundschaftlich zurede. Aber ich hoffe,es hört es niemand sonst als Franz und der ist selbst gegenalle Vorschrift freundlich zu Ihnen. Wenn Sie auch |5|weiterhin so viel Glück haben wie bei der BestimmungIhrer Wächter, dann können Sie zuversichtlich sein.“ K.wollte sich setzen, aber nun sah er, daß im ganzen Zimmerkeine Sitzgelegenheit war, außer dem Sessel beim Fenster.„Sie werden noch einsehn, wie wahr das alles ist,“ sagteFranz und ging gleichzeitig mit dem andern Mann auf ihnzu. Besonders der letztere überragte K. bedeutend undklopfte ihm öfters auf die Schulter. Beide prüften K.s

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Nachthemd und sagten, daß er jetzt ein viel schlechteresHemd werde anziehn müssen, daß sie aber dieses Hemdwie auch seine übrige Wäsche aufbewahren und, wennseine Sache günstig ausfallen sollte, ihm wieder zurück-geben würden. „Es ist besser, Sie geben die Sachen uns alsins Depot,“ sagten sie, „denn im Depot kommen öftersUnterschleife vor und außerdem verkauft man dort alleSachen nach einer gewissen Zeit ohne Rücksicht, ob dasbetreffende Verfahren zu Ende ist oder nicht. Und wielange dauern doch derartige Prozesse besonders in letzterZeit. Sie bekämen dann schließlich allerdings vom Depotden Erlös, aber dieser Erlös ist erstens an sich schon gering,denn beim Verkauf entscheidet nicht die |6| Höhe desAngebotes, sondern die Höhe der Bestechung und weiterverringern sich solche Erlöse erfahrungsgemäß, wenn sievon Hand zu Hand und von Jahr zu Jahr weitergegebenwerden.“ K. achtete auf diese Reden kaum, das Verfü-gungsrecht über seine Sachen, das er vielleicht noch besaß,schätzte er nicht hoch ein, viel wichtiger war es ihm,Klarheit über seine Lage zu bekommen; in Gegenwartdieser Leute konnte er aber nicht einmal nachdenken,immer wieder stieß der Bauch des zweiten Wächters – eskonnten ja nur Wächter sein – förmlich freundschaftlichan ihn, sah er aber auf, dann erblickte er ein zu diesemdicken Körper gar nicht passendes trockenes, knochigesGesicht, mit starker, seitlich gedrehter Nase, das sich überihn hinweg mit dem andern Wächter verständigte. Waswaren denn das für Menschen? Wovon sprachen sie?Welcher Behörde gehörten sie an? K. lebte doch in einemRechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestan-den aufrecht, wer wagte ihn in seiner Wohnung zu über-

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fallen? Er neigte stets dazu, alles möglichst leicht zunehmen, das Schlimmste erst beim Eintritt des Schlimm-sten zu glauben, keine |7| Vorsorge für die Zukunft zutreffen, selbst wenn alles drohte. Hier schien ihm das abernicht richtig, man konnte zwar das Ganze als Spaß ansehn,als einen groben Spaß, den ihm aus unbekannten Grün-den, vielleicht weil heute sein dreißigster Geburtstag war,die Kollegen in der Bank veranstaltet hatten, es war natür-lich möglich, vielleicht brauchte er nur auf irgendeineWeise den Wächtern ins Gesicht zu lachen und sie würdenmitlachen, vielleicht waren es Dienstmänner von derStraßenecke, sie sahen ihnen nicht unähnlich – trotzdemwar er diesmal förmlich schon seit dem ersten Anblick desWächters Franz entschlossen, nicht den geringsten Vorteil,den er vielleicht gegenüber diesen Leuten besaß, aus derHand zu geben. Darin, daß man später sagen würde, erhabe keinen Spaß verstanden, sah K. eine ganz geringeGefahr, wohl aber erinnerte er sich – ohne daß es sonstseine Gewohnheit gewesen wäre, aus Erfahrungen zulernen – an einige an sich unbedeutende Fälle, in denen erzum Unterschied von seinen Freunden mit Bewußtsein,ohne das geringste Gefühl für die möglichen Folgen sichunvorsichtig benommen hatte und dafür durch das |8|Ergebnis gestraft worden war. Es sollte nicht wiedergeschehen, zumindest nicht diesmal; war es eine Komödie,so wollte er mitspielen.

Noch war er frei. „Erlauben Sie,“ sagte er und ging eiligzwischen den Wächtern durch in sein Zimmer. „Erscheint vernünftig zu sein,“ hörte er hinter sich sagen. Inseinem Zimmer riß er gleich die Schubladen des Schreib-tischs auf, es lag dort alles in großer Ordnung, aber gerade

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die Legitimationspapiere, die er suchte, konnte er in derAufregung nicht gleich finden. Schließlich fand er seineRadfahrlegitimation und wollte schon mit ihr zu denWächtern gehn, dann aber schien ihm das Papier zugeringfügig und er suchte weiter, bis er den Geburtsscheinfand. Als er wieder in das Nebenzimmer zurückkam,öffnete sich gerade die gegenüberliegende Tür und FrauGrubach wollte dort eintreten. Man sah sie nur einenAugenblick, denn kaum hatte sie K. erkannt, als sie offen-bar verlegen wurde, um Verzeihung bat, verschwand undäußerst vorsichtig die Tür schloß. „Kommen Sie dochherein,“ hatte K. gerade noch sagen können. Nun aberstand er mit seinen Papieren in der Mitte des Zimmers,sah noch auf die Tür hin, die |9| sich nicht wieder öffne-te, und wurde erst durch einen Anruf der Wächter aufge-schreckt, die bei dem Tischchen am offenen Fenster saßenund, wie K. jetzt erkannte, sein Frühstück verzehrten.„Warum ist sie nicht eingetreten?“ fragte er. „Sie darfnicht,“ sagte der große Wächter. „Sie sind doch verhaftet.“„Wie kann ich denn verhaftet sein? Und gar auf dieseWeise?“ „Nun fangen Sie also wieder an,“ sagte derWächter und tauchte ein Butterbrot ins Honigfäßchen.„Solche Fragen beantworten wir nicht.“ „Sie werden siebeantworten müssen,“ sagte K. „Hier sind meine Legiti-mationspapiere, zeigen Sie mir jetzt die Ihrigen und vorallem den Verhaftbefehl.“ „Du lieber Himmel!“ sagte derWächter, „daß Sie sich in Ihre Lage nicht fügen könnenund daß Sie es darauf angelegt zu haben scheinen, uns, diewir Ihnen jetzt wahrscheinlich von allen Ihren Mitmen-schen am nächsten stehn, nutzlos zu reizen.“ „Es ist so,glauben Sie es doch,“ sagte Franz, führte die Kaffeetasse,

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die er in der Hand hielt, nicht zum Mund, sondern sah K.mit einem langen, wahrscheinlich bedeutungsvollen, aberunverständlichen Blick an. K. ließ sich, ohne es zu wollen,in ein Zwiege|10|spräch der Blicke mit Franz ein, schlugdann aber doch auf seine Papiere und sagte: „Hier sindmeine Legitimationspapiere.“ „Was kümmern uns denndie?“ rief nun schon der große Wächter. „Sie führen sichärger auf als ein Kind. Was wollen Sie denn? Wollen SieIhren großen verfluchten Prozeß dadurch zu einemraschen Ende bringen, daß Sie mit uns, den Wächtern,über Legitimation und Verhaftbefehl diskutieren. Wirsind niedrige Angestellte, die sich in einem Legitimati-onspapier kaum auskennen und die mit Ihrer Sache nichtsanderes zu tun haben, als daß sie zehn Stunden täglich beiIhnen Wache halten und dafür bezahlt werden. Das istalles, was wir sind, trotzdem aber sind wir fähig, einzu-sehn, daß die hohen Behörden, in deren Dienst wir stehn,ehe sie eine solche Verhaftung verfügen, sich sehr genauüber die Gründe der Verhaftung und die Person desVerhafteten unterrichten. Es gibt darin keinen Irrtum.Unsere Behörde, soweit ich sie kenne, und ich kenne nurdie niedrigsten Grade, sucht doch nicht etwa die Schuldin der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz heißt,von der Schuld angezogen und muß uns Wächterausschicken. Das ist Gesetz. Wo |11| gäbe es da einenIrrtum?“ „Dieses Gesetz kenne ich nicht,“ sagte K. „Destoschlimmer für Sie,“ sagte der Wächter. „Es besteht wohlauch nur in Ihren Köpfen,“ sagte K., er wollte sich irgend-wie in die Gedanken der Wächter einschleichen, sie zuseinen Gunsten wenden oder sich dort einbürgern. Aberder Wächter sagte nur abweisend: „Sie werden es zu

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fühlen bekommen.“ Franz mischte sich ein und sagte:„Sieh, Willem, er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht undbehauptet gleichzeitig, schuldlos zu sein.“ „Du hast ganzrecht, aber ihm kann man nichts begreiflich machen,“sagte der andere. K. antwortete nicht mehr; muß ich,dachte er, durch das Geschwätz dieser niedrigsten Organe– sie geben selbst zu, es zu sein – mich noch mehr verwir-ren lassen? Sie reden doch jedenfalls von Dingen, die siegar nicht verstehn. Ihre Sicherheit ist nur durch ihreDummheit möglich. Ein paar Worte, die ich mit einemmir ebenbürtigen Menschen sprechen werde, werden allesunvergleichlich klarer machen als die längsten Reden mitdiesen. Er ging einige Male in dem freien Raum desZimmers auf und ab, drüben sah er die alte Frau, die einennoch viel ältern Greis zum Fenster gezerrt hatte, den sie|12| umschlungen hielt. K. mußte dieser Schaustellung einEnde machen: „Führen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten,“sagte er. „Bis er es wünscht; nicht früher,“ sagte derWächter, der Willem genannt worden war. „Und nun rateich Ihnen,“ fügte er hinzu, „in Ihr Zimmer zu gehn, sichruhig zu verhalten und darauf zu warten, was über Sieverfügt werden wird. Wir raten Ihnen, zerstreuen Sie sichnicht durch nutzlose Gedanken, sondern sammeln Siesich, es werden große Anforderungen an Sie gestelltwerden. Sie haben uns nicht so behandelt, wie es unserEntgegenkommen verdient hätte, Sie haben vergessen,daß wir, mögen wir auch sein was immer, zumindest jetztIhnen gegenüber freie Männer sind, das ist kein kleinesÜbergewicht. Trotzdem sind wir bereit, falls Sie Geldhaben, Ihnen ein kleines Frühstück aus dem Kaffeehausdrüben zu bringen.“

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Ohne auf dieses Angebot zu antworten, stand K. einWeilchen lang still. Vielleicht würden ihn die beiden,wenn er die Tür des folgenden Zimmers oder gar die Türdes Vorzimmers öffnen würde, gar nicht zu hindernwagen, vielleicht wäre es die einfachste Lösung des Gan-zen, daß er es auf die |13| Spitze trieb. Aber vielleichtwürden sie ihn doch packen, und war er einmal nieder-geworfen, so war auch alle Überlegenheit verloren, die erjetzt ihnen gegenüber in gewisser Hinsicht doch wahrte.Deshalb zog er die Sicherheit der Lösung vor, wie sie dernatürliche Verlauf bringen mußte, und ging in seinZimmer zurück, ohne daß von seiner Seite oder von Seiteder Wächter ein weiteres Wort gefallen wäre.

Er warf sich auf sein Bett und nahm vom Waschtischeinen schönen Apfel, den er sich gestern abend für dasFrühstück vorbereitet hatte. Jetzt war er sein einzigesFrühstück und jedenfalls, wie er sich beim ersten großenBissen versicherte, viel besser, als das Frühstück aus demschmutzigen Nachtcafé gewesen wäre, das er durch dieGnade der Wächter hätte bekommen können. Er fühltesich wohl und zuversichtlich, in der Bank versäumte erzwar heute vormittag seinen Dienst, aber das war bei derverhältnismäßig hohen Stellung, die er dort einnahm,leicht entschuldigt. Sollte er die wirkliche Entschuldigunganführen? Er gedachte es zu tun. Würde man ihm nichtglauben, was in diesem Fall begreiflich war, so |14| konnteer Frau Grubach als Zeugin führen oder auch die beidenAlten von drüben, die wohl jetzt auf dem Marsch zumgegenüberliegenden Fenster waren. Es wunderte K.,wenigstens aus dem Gedankengang der Wächter wunder-te es ihn, daß sie ihn in das Zimmer getrieben und ihn hier

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allein gelassen hatten, wo er doch mehrfache Möglichkeithatte, sich umzubringen. Gleichzeitig allerdings fragte ersich, aus seinem Gedankengang, was für einen Grund erhaben könnte, es zu tun. Etwa, weil die zwei nebenansaßen und sein Frühstück abgefangen hatten. Es wäre sosinnlos gewesen sich umzubringen, daß er, selbst wenn eres hätte tun wollen, infolge der Sinnlosigkeit dazu nichtimstande gewesen wäre. Wäre die geistige Beschränktheitder Wächter nicht so auffallend gewesen, so hätte manannehmen können, daß auch sie infolge der gleichenÜberzeugung keine Gefahr darin gesehen hätten, ihnallein zu lassen. Sie mochten jetzt, wenn sie wollten,zusehn, wie er zu einem Wandschränkchen ging, in demer einen guten Schnaps aufbewahrte, wie er ein Gläschenzuerst zum Ersatz des Frühstücks leerte und wie er einzweites Gläschen dazu bestimmte, |15| ihm Mut zumachen, das letztere nur aus Vorsicht für den unwahr-scheinlichen Fall, daß es nötig sein sollte.

Da erschreckte ihn ein Zuruf aus dem Nebenzimmerderartig, daß er mit den Zähnen ans Glas schlug. „DerAufseher ruft Sie,“ hieß es. Es war nur das Schreien, dasihn erschreckte, dieses kurze abgehackte militärischeSchreien, das er dem Wächter Franz gar nicht zugetrauthätte. Der Befehl selbst war ihm sehr willkommen,„endlich“, rief er zurück, versperrte den Wandschrankund eilte sofort ins Nebenzimmer. Dort standen die zweiWächter und jagten ihn, als wäre das selbstverständlich,wieder in sein Zimmer zurück. „Was fällt Euch ein?“riefen sie, „im Hemd wollt Ihr vor den Aufseher? Er läßtEuch durchprügeln und uns mit.“ „Laßt mich, zumTeufel,“ rief K., der schon bis zu seinem Kleiderkasten

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zurückgedrängt war, „wenn man mich im Bett überfällt,kann man nicht erwarten, mich im Festanzug zu finden.“„Es hilft nichts,“ sagten die Wächter, die immer, wenn K.schrie, ganz ruhig, ja fast traurig wurden und ihn dadurchverwirrten oder gewissermaßen zur Besinnung brachten.„Lächerliche Zeremonien!“ |16| brummte er noch, hobaber schon einen Rock vom Stuhl und hielt ihn einWeilchen mit beiden Händen, als unterbreite er ihn demUrteil der Wächter. Sie schüttelten die Köpfe. „Es mußein schwarzer Rock sein,“ sagten sie. K. warf daraufhinden Rock zu Boden und sagte – er wußte selbst nicht, inwelchem Sinn er es sagte –: „Es ist doch noch nicht dieHauptverhandlung.“ Die Wächter lächelten, blieben aberbei ihrem: „Es muß ein schwarzer Rock sein.“ „Wenn ichdadurch die Sache beschleunige, soll es mir recht sein,“sagte K., öffnete selbst den Kleiderkasten, suchte langeunter den vielen Kleidern, wählte sein bestes schwarzesKleid, ein Jackettkleid, das durch seine Taille unter denBekannten fast Aufsehen gemacht hatte, zog nun auch einanderes Hemd hervor und begann sich sorgfältig an-zuziehn. Im Geheimen glaubte er eine Beschleunigungdes Ganzen damit erreicht zu haben, daß die Wächtervergessen hatten, ihn zum Bad zu zwingen. Er beobach-tete sie, ob sie sich vielleicht daran doch erinnern würden,aber das fiel ihnen natürlich gar nicht ein, dagegen vergaßWillem nicht, Franz mit der Meldung, daß sich K. anzie-he, zum Aufseher zu schicken.

|17| Als er vollständig angezogen war, mußte er knappvor Willem durch das leere Nebenzimmer in das folgen-de Zimmer gehn, dessen Tür mit beiden Flügeln bereitsgeöffnet war. Dieses Zimmer wurde, wie K. genau wußte,

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seit kurzer Zeit von einem Fräulein Bürstner, einerSchreibmaschinistin, bewohnt, die sehr früh in die Arbeitzu gehen pflegte, spät nach Hause kam und mit der K.nicht viel mehr als die Grußworte gewechselt hatte. Jetztwar das Nachttischchen von ihrem Bett als Verhandlungs-tisch in die Mitte des Zimmers gerückt und der Aufsehersaß hinter ihm. Er hatte die Beine übereinandergeschla-gen und einen Arm auf die Rückenlehne des Stuhlesgelegt.

In einer Ecke des Zimmers standen drei junge Leuteund sahen die Photographien des Fräulein Bürstner an,die in einer an der Wand aufgehängten Matte steckten.An der Klinke des offenen Fensters hing eine weiße Bluse.Im gegenüberliegenden Fenster lagen wieder die zweiAlten, doch hatte sich ihre Gesellschaft vergrößert, dennhinter ihnen, sie weit überragend, stand ein Mann miteinem auf der Brust offenen Hemd, der seinen rötlichenSpitzbart mit den Fingern drückte und drehte. |18| „JosefK?“ fragte der Aufseher, vielleicht nur um K.s zerstreuteBlicke auf sich zu lenken. K. nickte. „Sie sind durch dieVorgänge des heutigen Morgens wohl sehr überrascht,“fragte der Aufseher und verschob dabei mit beidenHänden die paar Gegenstände, die auf dem Nachttisch-chen lagen, die Kerze mit Zündhölzchen, ein Buch undein Nadelkissen, als seien es Gegenstände, die er zurVerhandlung benötige. „Gewiß,“ sagte K. und das Wohl-gefühl, endlich einem vernünftigen Menschen gegen-überzustehen und über seine Angelegenheit mit ihmsprechen zu können, ergriff ihn, „gewiß, ich bin über-rascht, aber ich bin keineswegs sehr überrascht.“ „Nichtsehr überrascht?“ fragte der Aufseher und stellte nun die

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Kerze in die Mitte des Tischchens, während er die andernSachen um sie gruppierte. „Sie mißverstehen michvielleicht,“ beeilte sich K. zu bemerken. „Ich meine“ –Hier unterbrach sich K. und sah sich nach einem Sesselum. „Ich kann mich doch setzen?“ fragte er. „Es ist nichtüblich,“ antwortete der Aufseher. „Ich meine,“ sagte nunK. ohne weitere Pause, „ich bin allerdings sehr überrascht,aber man ist, wenn man 30 Jahre auf der Welt ist und sichallein hat durch|19|schlagen müssen, wie es mir beschie-den war, gegen Überraschungen abgehärtet und nimmtsie nicht zu schwer. Besonders die heutige nicht.“ „Warumbesonders die heutige nicht?“ „Ich will nicht sagen, daßich das Ganze für einen Spaß ansehe, dafür scheinen mirdie Veranstaltungen, die gemacht wurden, doch zuumfangreich. Es müßten alle Mitglieder der Pension daranbeteiligt sein und auch Sie alle, das ginge über die Grenzeneines Spaßes. Ich will also nicht sagen, daß es ein Spaß ist.“„Ganz richtig,“ sagte der Aufseher und sah nach, wievielZündhölzchen in der Zündhölzchenschachtel waren.„Andererseits aber,“ fuhr K. fort und wandte sich hierbeian alle und hätte gern sogar die drei bei den Photogra-phien sich zugewendet, „andererseits aber kann die Sacheauch nicht viel Wichtigkeit haben. Ich folgere das daraus,daß ich angeklagt bin, aber nicht die geringste Schuldauffinden kann, wegen deren man mich anklagen könnte.Aber auch das ist nebensächlich, die Hauptfrage ist, vonwem bin ich angeklagt? Welche Behörde führt das Verfah-ren? Sind Sie Beamte? Keiner hat eine Uniform, wennman nicht Ihr Kleid – hier wandte er sich an Franz – |20|eine Uniform nennen will, aber es ist doch eher ein Reise-anzug. In diesen Fragen verlange ich Klarheit und ich bin

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überzeugt, daß wir nach dieser Klarstellung voneinanderden herzlichsten Abschied werden nehmen können.“ DerAufseher schlug die Zündhölzchenschachtel auf den Tischnieder. „Sie befinden sich in einem großen Irrtum,“ sagteer. „Diese Herren hier und ich sind für Ihre Angelegen-heit vollständig nebensächlich, ja wir wissen sogar von ihrfast nichts. Wir könnten die regelrechtesten Uniformentragen und Ihre Sache würde um nichts schlechter stehn.Ich kann Ihnen auch durchaus nicht sagen, daß Sieangeklagt sind, oder vielmehr ich weiß nicht, ob Sie essind. Sie sind verhaftet, das ist richtig, mehr weiß ich nicht.Vielleicht haben die Wächter etwas anderes geschwätzt,dann ist es eben nur Geschwätz gewesen. Wenn ich nunaber auch Ihre Fragen nicht beantworte, so kann ich Ihnendoch raten, denken Sie weniger an uns und an das, wasmit Ihnen geschehen wird, denken Sie lieber mehr ansich. Und machen Sie keinen solchen Lärm mit demGefühl Ihrer Unschuld, es stört den nicht gerade schlech-ten Eindruck, den Sie im übrigen ma|21|chen. Auch solltenSie überhaupt im Reden zurückhaltender sein, fast alles,was Sie vorhin gesagt haben, hätte man auch, wenn Sienur ein paar Worte gesagt hätten, Ihrem Verhalten ent-nehmen können, außerdem war es nichts für Sie über-mäßig Günstiges.“

K. starrte den Aufseher an. Schulmäßige Lehren be-kam er hier von einem vielleicht jüngeren Menschen? Fürseine Offenheit wurde er mit einer Rüge bestraft? Undüber den Grund seiner Verhaftung und über deren Auf-traggeber erfuhr er nichts?

Er geriet in eine gewisse Aufregung, ging auf und ab,woran ihn niemand hinderte, schob seine Manschetten

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