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Franz Kafka Der Verschollene Roman Anaconda

Franz Kafka Der Verschollene

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Page 1: Franz Kafka Der Verschollene

Franz Kafka

DerVerschollene

Roman

Anaconda

Kafka Der Verschollene 15.12.2014 13:50 Seite 3

Page 2: Franz Kafka Der Verschollene

Der Verschollene erschien erstmals 1927 unter dem Titel Amerika im KurtWolff Verlag, Berlin, hrsg. von Max Brod. Textgrundlage dieser Ausga-be ist die sog. Dritte Ausgabe in Franz Kafka: Gesammelte Werke, hrsg.von Max Brod. Amerika, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 1953. Erst inspäteren Auflagen erhielt der Roman den von Kafka in Tagebuchein-trägen und Briefen genannten Titel Der Verschollene. Orthografie undInterpunktion wurden unter Wahrung von Lautstand und grammati-schen Eigenheiten für diese Ausgabe auf neue deutsche Rechtschrei-bung umgestellt.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.Umschlagmotiv: Bill Jacklin (b. 1943), »Walking Down Broadway«(1998), Private Collection / Bridgeman ImagesUmschlaggestaltung: www.katjaholst.deSatz und Layout: paquémedia, EbergötzenPrinted in Czech Republic 2015ISBN [email protected]

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Inhalt

7 Der Heizer

42 Der Onkel

59 Ein Landhaus bei New York

101 Weg nach Ramses

134 Hotel Occidental

165 Der Fall Robinson

213 Ein Asyl

277 Das Naturtheater von Oklahoma

302 Anhang: Fragmente

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Der Heizer

Als der sechzehnjährige Karl Rossmann, der von seinenarmen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weilihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihmbekommen hatte, in dem schon langsam gewordenenSchiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte erdie schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttinwie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht.Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor,und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.

›So hoch!‹, sagte er sich und wurde, wie er so gar nichtan das Weggehen dachte, von der immer mehr anschwel-lenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüberzo-gen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben.

Ein junger Mann, mit dem er während der Fahrt flüch-tig bekannt geworden war, sagte im Vorübergehen: »Ja,haben Sie denn noch keine Lust, auszusteigen?« »Ich bindoch fertig«, sagte Karl, ihn anlachend, und hob ausÜbermut, und weil er ein starker Junge war, seinen Kof-fer auf die Achsel. Aber wie er über seinen Bekanntenhinsah, der ein wenig seinen Stock schwenkend sichschon mit den anderen entfernte, merkte er bestürzt,dass er seinen eigenen Regenschirm unten im Schiff ver-gessen hatte. Er bat schnell den Bekannten, der nichtsehr beglückt schien, um die Freundlichkeit, bei seinemKoffer einen Augenblick zu warten, überblickte noch dieSituation, um sich bei der Rückkehr zurechtzufinden,und eilte davon. Unten fand er zu seinem Bedauern einenGang, der seinen Weg sehr verkürzt hätte, zum ersten 7

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Mal versperrt, was wahrscheinlich mit der Ausschiffungsämtlicher Passagiere zusammenhing, und musste Trep-pen, die einander immer wieder folgten, durch fortwäh-rend abbiegende Korridore, durch ein leeres Zimmer miteinem verlassenen Schreibtisch mühselig suchen, bis ersich tatsächlich, da er diesen Weg nur ein- oder zweimalund immer in größerer Gesellschaft gegangen war, ganzund gar verirrt hatte. In seiner Ratlosigkeit und da er kei-nen Menschen traf und nur immerfort über sich dasScharren der tausend Menschenfüße hörte und von derFerne, wie einen Hauch, das letzte Arbeiten der schoneingestellten Maschinen merkte, fing er, ohne zu überle-gen, an eine beliebige kleine Tür zu schlagen an, bei derer in seinem Herumirren stockte.

»Es ist ja offen«, rief es von innen, und Karl öffnetemit ehrlichem Aufatmen die Tür. »Warum schlagen Sieso verrückt auf die Tür?«, fragte ein riesiger Mann, kaumdass er nach Karl hinsah. Durch irgendeine Oberlichtlu-ke fiel ein trübes, oben im Schiff längst abgebrauchtesLicht in die klägliche Kabine, in welcher ein Bett, einSchrank, ein Sessel und der Mann knapp nebeneinander,wie eingelagert, standen. »Ich habe mich verirrt«, sagteKarl, »ich habe es während der Fahrt gar nicht so be-merkt, aber es ist ein schrecklich großes Schiff.« »Ja, dahaben Sie recht«, sagte der Mann mit einigem Stolz undhörte nicht auf, an dem Schloss eines kleinen Koffers zuhantieren, den er mit beiden Händen immer wieder zu-drückte, um das Einschnappen des Riegels zu behorchen.»Aber kommen Sie doch herein!«, sagte der Mann weiter,»Sie werden doch nicht draußen stehen!« »Störe ichnicht?«, fragte Karl. »Ach, wie werden Sie denn stören!«»Sind Sie ein Deutscher?«, suchte sich Karl noch zu ver-sichern, da er viel von den Gefahren gehört hatte, welchebesonders von Irländern den Neuankömmlingen in Ame-rika drohen. »Bin ich, bin ich«, sagte der Mann. Karl zö-8

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gerte noch. Da fasste unversehens der Mann die Türklin-ke und schob mit der Tür, die er rasch schloss, Karl zusich herein. »Ich kann es nicht leiden, wenn man mirvom Gang hereinschaut«, sagte der Mann, der wieder anseinem Koffer arbeitete, »da läuft jeder vorbei und schautherein, das soll der Zehnte aushalten!« »Aber der Gangist doch ganz leer«, sagte Karl, der unbehaglich an denBettpfosten gequetscht dastand. »Ja, jetzt«, sagte derMann. ›Es handelt sich doch um jetzt.‹, dachte Karl, ›mitdem Mann ist schwer zu reden.‹ »Legen Sie sich dochaufs Bett, da haben Sie mehr Platz«, sagte der Mann. Karlkroch, so gut es ging, hinein und lachte dabei laut überden ersten vergeblichen Versuch, sich hinüberzuschwin-gen. Kaum war er aber im Bett, rief er: »Gotteswillen, ichhabe ja ganz meinen Koffer vergessen!« »Wo ist er denn?«»Oben auf dem Deck, ein Bekannter gibt acht auf ihn.Wie heißt er nur?« Und er zog aus seiner Geheimtasche,die ihm seine Mutter für die Reise im Rockfutter ange-legt hatte, eine Visitenkarte. »Butterbaum, Franz Butter-baum.« »Haben Sie den Koffer sehr nötig?« »Natürlich.«»Ja, warum haben Sie ihn dann einem fremden Men-schen gegeben?« »Ich habe meinen Regenschirm untenvergessen und bin gelaufen, um ihn zu holen, wollte aberden Koffer nicht mitschleppen. Dann habe ich michauch hier noch verirrt.« »Sie sind allein? Ohne Beglei-tung?« »Ja, allein.« ›Ich sollte mich vielleicht an diesenMann halten‹, ging es Karl durch den Kopf, ›wo finde ichgleich einen besseren Freund.‹ »Und jetzt haben Sie auchnoch den Koffer verloren. Vom Regenschirm rede ich garnicht.« Und der Mann setzte sich auf den Sessel, als ha-be Karls Sache jetzt einiges Interesse für ihn gewonnen.»Ich glaube aber, der Koffer ist noch nicht verloren.«»Glauben macht selig«, sagte der Mann und kratzte sichkräftig in seinem dunklen, kurzen, dichten Haar, »aufdem Schiff wechseln mit den Hafenplätzen auch die Sit- 9

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ten. In Hamburg hätte Ihr Butterbaum den Koffer viel-leicht bewacht, hier ist höchstwahrscheinlich von beidenkeine Spur mehr.« »Da muss ich aber doch gleich hi-naufschauen«, sagte Karl und sah sich um, wie er hi-nauskommen könnte. »Bleiben Sie nur«, sagte der Mannund stieß ihn mit einer Hand gegen die Brust, geradezurau, ins Bett zurück. »Warum denn?«, fragte Karl ärger-lich. »Weil es keinen Sinn hat«, sagte der Mann, »in ei-nem kleinen Weilchen gehe ich auch, dann gehen wir zu-sammen. Entweder ist der Koffer gestohlen, dann istkeine Hilfe, oder der Mann hat ihn stehen gelassen, dannwerden wir ihn, bis das Schiff ganz entleert ist, desto bes-ser finden. Ebenso auch Ihren Regenschirm.« »KennenSie sich auf dem Schiff aus?«, fragte Karl misstrauisch,und es schien ihm, als hätte der sonst überzeugende Ge-danke, dass auf dem leeren Schiff seine Sachen am bes-ten zu finden sein würden, einen verborgenen Haken.»Ich bin doch Schiffsheizer«, sagte der Mann. »Sie sindSchiffsheizer!«, rief Karl freudig, als überstiege das alleErwartungen, und sah, den Ellbogen aufgestützt, denMann näher an. »Gerade vor der Kammer, wo ich mitdem Slowaken geschlafen habe, war eine Luke ange-bracht, durch die man in den Maschinenraum sehenkonnte.« »Ja, dort habe ich gearbeitet«, sagte der Heizer.»Ich habe mich immer so für Technik interessiert«, sagteKarl, der in einem bestimmten Gedankengang blieb,»und ich wäre sicher später Ingenieur geworden, wennich nicht nach Amerika hätte fahren müssen.« »Warumhaben Sie denn fahren müssen?« »Ach was!«, sagte Karlund warf die ganze Geschichte mit der Hand weg. Dabeisah er lächelnd den Heizer an, als bitte er ihn selbst fürdas Nichteingestandene um seine Nachsicht. »Es wirdschon einen Grund haben«, sagte der Heizer, und manwusste nicht recht, ob er damit die Erzählung diesesGrundes fordern oder abwehren wollte. »Jetzt könnte ich10

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