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Franz Kafka Amerika Für die Bühne bearbeitet von ALEXANDER MÜLLER-ELMAU F 1521

Franz Kafka - Deutscher Theaterverlag · 2017. 12. 5. · Franz Kafka Amerika Für die Bühne bearbeitet von ALEXANDER MÜLLER-ELMAU F 1521. Bestimmungen über das Aufführungsrecht

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  • Franz Kafka

    Amerika Für die Bühne bearbeitet von ALEXANDER MÜLLER-ELMAU

    F 1521

  • Bestimmungen über das Aufführungsrecht des Stückes

    Amerika (F 1521)

    Dieses Bühnenwerk ist als Manuskript gedruckt und nur für den Vertrieb anNichtberufsbühnen für deren Aufführungszwecke bestimmt. Nichtberufsbühnenerwerben das Aufführungsrecht aufgrund eines schriftlichen Aufführungsvertrages mitdem Deutschen Theaterverlag, Grabengasse 5, 69469 Weinheim, und durch den Kaufder vom Verlag vorgeschriebenen Rollenbücher sowie die Zahlung einer Gebühr bzw.einer Tantieme.Diese Bestimmungen gelten auch für Wohltätigkeitsveranstaltungen und Aufführungenin geschlossenen Kreisen ohne Einnahmen.Unerlaubtes Aufführen, Abschreiben, Vervielfältigen, Fotokopieren oder Verleihen derRollen ist verboten. Eine Verletzung dieser Bestimmungen verstößt gegen dasUrheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich.Über die Aufführungsrechte für Berufsbühnen sowie über alle sonstigen Urheberrechteverfügt der S. Fischer Verlag, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt/Main

  • 3

    PERSONEN

    Karl Rossmann

    Heizer

    Oberkassierer (-in)

    Onkel

    Herr Pollunder

    Klara Pollunder

    Herr Green

    Diener

    Frauenzimmer

    Delamarche

    Robinson

    Oberköchin

    Kellner(in)

    Therese

    Liftboy

    Oberkellner

    Portier

    Polizeimann

    Brunelda

    Student(in)

    Mann

    Schreiber

    Führer

    Doppelbesetzungen, mindestens aber 3H und 1D

  • 4

    1

    Karl Mein Schirm?

    Wo ist denn mein Regenschirm?

    Karl sucht nach seinem Schirm. Er läuft umher, verirrt sich, kommt nicht mehr aus dem Raum. Er trifft auf den Heizer, der an dem Schloss eines kleinen Koffers hantiert, Karls Koffer, versteckt dahinter der Regenschirm. Karl schaut einem Moment verwundert, erkennt aber seinen Koffer und Regenschirm in dieser neuen Umgebung nicht wieder.

    Karl Ich habe mich verirrt. Ich habe es während der Fahrt gar nicht so bemerkt, aber es ist ein schrecklich großes Schiff.

    Heizer Ja, da haben Sie recht .Aber kommen Sie doch! Sie werden doch nicht dort stehn bleiben!

    Karl Störe ich nicht?

    Heizer Ach, wie werden Sie denn stören!

    Karl Sind Sie ein Deutscher?

    Heizer Bin ich, bin ich. Ich kann es nicht leiden, wenn man mir zuschaut, da läuft jeder vorbei und schaut her!

    Karl Aber es ist doch niemand da.

    Heizer Ja, jetzt.

    Karl Gotteswillen, ich habe ja ganz meinen Koffer vergessen!

    Heizer Wo ist er denn?

    Karl Oben.

    Heizer Haben Sie den Koffer sehr nötig?

    Karl Natürlich.

    Heizer Ja, warum haben Sie ihn dann stehen lassen.

    Karl Ich habe meinen Regenschirm vergessen, wollte aber den Koffer nicht mitschleppen. Dann habe ich mich auch hier noch verirrt.

    Heizer Sie sind allein? Ohne Begleitung?

    Karl Ja, allein.

    Heizer Und jetzt haben Sie auch noch den Koffer verloren. Vom Regenschirm rede ich gar nicht

    Karl Ich glaube aber, der Koffer ist noch nicht verloren.

    Heizer Glauben macht selig.

    Oben das Scharren der tausend Menschenfüße die das Schiff verlassen, wie von der Ferne, wie einen Hauch, das letzte Arbeiten der

  • 5

    schon eingestellten Maschinen, trübes, oben im Schiff längst abgebrauchtes Licht.

    Heizer Bleiben Sie nur.

    Karl Warum denn?

    Heizer Weil es keinen Sinn hat, in einem kleinen Weilchen gehe ich auch, dann gehen wir zusammen.

    Karl Kennen Sie sich hier aus?

    Heizer Ich bin doch der Schiffsheizer.

    Karl Sie sind Schiffsheizer! Ich wäre sicher später Ingenieur geworden, wenn ich nicht nach Amerika hätte fahren müssen.

    Heizer Warum haben Sie denn fahren müssen?

    Karl Ach was!

    Heizer Es wird schon einen Grund haben

    Karl Jetzt könnte ich auch Heizer werden, meinen Eltern ist es jetzt ganz gleichgültig, was ich werde.

    Heizer Meine Stelle wird frei.

    Karl Warum denn? Gefällt es Ihnen nicht?

    Heizer Ja, das sind die Verhältnisse, es entscheidet nicht immer, ob es einem gefällt oder nicht. Übrigens haben Sie recht, es gefällt mir auch nicht. Sie denken wahrscheinlich nicht ernstlich daran, Heizer zu werden, aber gerade dann kann man es am leichtesten werden. Ich also rate Ihnen entschieden ab. Wenn Sie in Europa studieren wollten, warum wollen Sie es denn hier nicht?

    Karl Aber ich habe ja fast kein Geld zum Studieren. Englisch kann ich fast gar nicht. Überhaupt ist man hier gegen Fremde so eingenommen, glaube ich.

    Heizer Haben Sie das auch schon erfahren? Na, dann ist's gut. Dann sind Sie mein Mann. Sehen Sie, wir sind doch auf einem deutschen Schiff, warum sind wir nicht lauter Deutsche hier? Warum ist der Obermaschinist ein Rumäne? Er heißt Schubal. Das ist doch nicht zu glauben. Und dieser Lumpenhund schindet uns Deutsche! Glauben Sie nicht, dass ich klage, um zu klagen. Aber es ist zu arg! Ich bin früher immer belobt worden, aber hier taug ich nichts, hier stehe ich dem Schubal immer im Wege, bin ein Faulpelz, verdiene hinausgeworfen zu werden und bekomme meinen Lohn aus Gnade. Verstehen Sie das? Ich nicht.

    Karl Das dürfen Sie sich nicht gefallen lassen. Haben Sie schon Ihr Recht gesucht?

  • 6

    Heizer Ach gehen Sie, gehen Sie lieber weg. Ich will Sie nicht hier haben. Sie hören nicht zu, was ich sage, und geben mir Ratschläge. Wie soll ich denn mein Recht suchen!

    Karl Einen besseren Rat kann ich ihnen nicht geben

    In weiter Ferne ertönen kleine kurze Schläge, wie von Kinderfüßen, sie kommen näher mit verstärktem Klang, es ist ein ruhiger Marsch von Männern, Klirren wie von Waffen.

    Heizer Das ist die Schiffskapelle. Jetzt ist alles fertig und wir können gehen. Kommen Sie! Jetzt gehe ich ins Büro und werde der Frau Oberkassiererin meine Meinung sagen.

    2

    Kassiererin Scheren Sie sich fort !

    Karl kramt seinen Reisepass hervor, den er statt weiterer Vorstellung geöffnet auf den Tisch legt. Die Oberkassiererin scheint diesen Pass für nebensächlich zu halten, denn sie schnappt ihn mit zwei Fingern beiseite, worauf Karl, als sei diese Formalität zur Zufriedenheit erledigt, den Pass wieder einsteckt.

    Karl Ich erlaube mir zu sagen, dass meiner Meinung nach dem Herrn Heizer Unrecht geschehen ist. Es ist hier ein gewisser Schubal, der ihm aufsitzt. Er selbst hat zur vollständigen Zufriedenheit gedient, ist fleißig, meint es mit seiner Arbeit gut, und es ist wirklich nicht einzusehen, warum er gerade hier, wo doch der Dienst nicht so übermäßig schwer ist schlecht entsprechen sollte. Es kann daher nur Verleumdung sein, die ihn in seinem Vorwärtskommen hindert und ihn um die Anerkennung bringt, die ihm sonst ganz bestimmt nicht fehlen würde. Ich habe nur das Allgemeine über diese Sache gesagt, seine besonderen Beschwerden wird er Ihnen selbst vorbringen

    Heizer Es ist alles Wort für Wort richtig

    Onkel Kommen Sie mal her!

    Kassiererin Der Mann ist ein bekannter Querulant, er ist mehr in der Kassa als im Maschinenraum. Wie oft hat man Sie schon aus den Auszahlungsräumen hinausgeworfen, wie Sie es mit Ihren unberechtigten Forderungen verdienen! Wie oft sind Sie von dort in die Hauptkassa gelaufen gekommen! Wie oft hat man Ihnen im Guten gesagt, dass Schubal Ihr unmittelbarer Vorgesetzter ist! Und jetzt kommen Sie gar noch hier her und entblöden sich nicht einmal, als eingelernten Stimmführer Ihrer abgeschmackten Beschuldigungen diesen Kleinen mitzubringen, den ich überhaupt zum ersten Mal sehe!

    Onkel Hören wir den Mann doch einmal an.

  • 7

    Heizer Herr Schubal ist ungerecht! - Herr Schubal ist gegen uns Deutsche! - Herr Schubal verwies mich aus dem Maschinenraum und ließ mich Klosette reinigen, was doch gewiss nicht...

    „Große Schiffe kreuzen gegenseitig ihre Wege und geben dem Wellengang nur so weit nach, als es ihre Schwere erlaubt. Wenn man die Augen klein macht, scheinen diese Schiffe vor lauter Schwere zu schwanken. Hinter alledem aber steht New York und sieht mit hunderttausend Fenstern seiner Wolkenkratzer herüber.“

    Karl Sie müssen das klarer erzählen, die Frau Oberkassiererin kann es nicht würdigen, so wie Sie es erzählen. Sagen Sie die wichtigste zuerst und absteigend die anderen. Mir haben Sie es doch immer so klar dargestellt!

    Onkel Wie heißen Sie denn eigentlich?

    Karl Karl Rossmann

    Onkel Karl Rossmann. Aber. - Aber dann bin ich ja dein Onkel Jakob. -

    Karl Wie heißen Sie?

    Kassiererin Begreifen Sie doch Ihr Glück.- Es ist der Senator Edward Jakob.- Es erwartet Sie nunmehr eine glänzende Laufbahn. - Versuchen Sie das einzusehen, so gut es im Augenblick geht, und fassen Sie sich! -

    Karl Ich habe allerdings einen Onkel Jakob in Amerika. -

    Onkel Mein lieber Neffe ist von seinen Eltern einfach beiseite geschafft worden. Ich will durchaus nicht beschönigen, was mein Neffe gemacht hat, aber sein Verschulden ist ein solches, dass sein einfaches Nennen schon genug Entschuldigung enthält. Er wurde nämlich von ihrem viel älteren Dienstmädchen verführt. Nun sie hat von meinem Neffen ein Kind bekommen. Da seine Eltern also zur Vermeidung der Alimentenzahlung und des Skandals ihren Sohn, meinen lieben Neffen, nach Amerika haben transportieren lassen, so wäre der Junge, ohne die gerade noch in Amerika lebendigen Zeichen und Wunder, auf sich allein angewiesen, wohl schon gleich verkommen, wenn nicht jenes Dienstmädchen in einem an mich gerichteten Brief, mir die ganze Geschichte mitgeteilt hätte. Und jetzt will ich von dir offen hören, ob ich dein Onkel bin oder nicht.

    Karl Du bist mein Onkel. Aber es hat sich in Wirklichkeit nicht alles so zugetragen wie du sagst, aber du kannst auch wirklich von hier aus die Dinge nicht so gut beurteilen.

    Onkel Habe ich nicht einen prächtigen Neffen?

    Kassiererin Ich bin glücklich Ihren Neffen, Herr Senator, kennen gelernt zu haben.

    Onkel Und so findet man seinen Neffen! -

    Karl Was wird jetzt mit dem Heizer geschehen?

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    Onkel Dem Heizer wird geschehen, was er verdient und was man für gut erachtet. Ich glaube, wir haben von dem Heizer genug und übergenug, wozu mir die Frau Oberkassiererin sicher zustimmen wird.

    Karl Darauf kommt es doch nicht an, bei einer Sache der Gerechtigkeit.

    Onkel Missverstehe die Sachlage nicht, es handelt sich vielleicht um eine Sache der Gerechtigkeit, aber gleichzeitig um eine Sache der Disziplin. Beides und ganz besonders das letztere unterliegt hier der Beurteilung der Frau Oberkassiererin.

    Heizer So ist es.

    Karl Warum lässt du dir alles gefallen? Dir ist ja unrecht geschehen, das weiß ich genau. Du musst dich aber zur Wehr setzen, ja und nein sagen, sonst haben doch die Leute keine Ahnung von der Wahrheit.

    Onkel Der Heizer scheint dich bezaubert zu haben. Du hast dich verlassen gefühlt, da hast du den Heizer gefunden und bist ihm jetzt dankbar, das ist ja ganz löblich. Treibe das aber, schon mir zuliebe, nicht zu weit und lerne deine Stellung begreifen.

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    Onkel Die ersten Tage eines Europäers in Amerika sind ja einer Geburt vergleichbar. Ich kenne Neuankömmlinge, die tagelang auf ihrem Balkon standen und wie verlorene Schafe auf die Straße hinuntersahen. Das verwirrt vollends. Morgens wie abends und in den Träumen der Nacht vollzieht sich auf der Straße ein immer drängender Verkehr, aus dem sich eine neue, wilde Mischung von Lärm, Staub und Gerüchen erhebt, und alles wird erfasst und durchdrungen von einem mächtigen Licht, das dem betörten Auge so körperlich erscheint, als werde über der Straße eine alles bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen.

    Karl Nur die Glücklichen scheinen hier ihr Glück zwischen den unbekümmerten Gesichtern ihrer Umgebung wahrhaft zu genießen.

    Onkel Mein Lieber, du musst dich nicht erst durch schlechte Erfahrungen belehren lassen, wie dies meist das erste Leben im Ausland verbittert.

    Karl Ich würde gerne dein Geschäft in den unterirdischen Stockwerken sehen.

    Onkel Mein Geschäft?

    „Im sprühenden elektrischen Licht sitzt ein Angestellter, gleichgültig gegen jedes Geräusch, den Kopf eingespannt in ein Stahlband, das ihm die Hörmuscheln an die Ohren drückt. In den Worten, die er in den Sprechtrichter sagt, ist er sehr sparsam. Keiner grüßt, das Grüßen ist abgeschafft, jeder schließt sich den Schritten des ihm Vorhergehenden

  • 9

    an und sieht auf den Boden, auf dem er möglichst rasch vorwärts kommen will, oder fängt mit den Blicken wohl nur einzelne Worte oder Zahlen von Papieren ab, die er in der Hand hält und die bei seinem Laufschritt flattern.

    Karl Du hast es wirklich weit gebracht.

    Onkel Und alles habe ich vor dreißig Jahren selbst eingerichtet, musst du wissen.

    Karl Das grenzt ja ans Wunderbare.

    Onkel Alle Entwicklungen gehen hier so schnell vor sich.

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    Onkel Ah, mein guter Freund. Herr Pollunder ist gekommen, um dich in sein Landhaus mitzunehmen. Er meint, so ein frischgebackener Amerikaner wie du hat sicher mal das Bedürfnis New York zu verlassen.

    Karl Ich bin aber nicht vorbereitet.

    Onkel Wenn du nicht vorbereitet bist, dann verschieben wir vielleicht den Besuch besser für nächstens.

    Pollunder Was für Vorbereitungen! Ein junger Mann ist immer vorbereitet.

    Onkel Es ist nicht seinetwegen, aber er müsste noch packen, und Sie wären aufgehalten.

    Pollunder Es ist auch dazu reichlich Zeit, ich habe auch eine Verzögerung vorbedacht und früher Geschäftsschluss gemacht.

    Onkel Du siehst, was für Unannehmlichkeiten dein Besuch schon jetzt veranlasst.

    Karl Es tut mir leid.

    Pollunder Sie machen mir nicht die geringsten Unannehmlichkeiten, dagegen macht mir Ihr Besuch eine reine Freude. Klara erwartet ihn auch und schon heute Abend.

    Onkel Das lässt sich hören. Zur Englischstunde bist du doch wohl morgen früh wieder hier?

    Pollunder Ja darf er denn nicht wenigstens den morgigen Tag bleiben? Ich brächte ihn dann übermorgen früh wieder zurück?

    Onkel Das geht auf keinen Fall. Später, wenn er in einem an und für sich geregelten Berufsleben sein wird, werde ich ihm sehr gern auch für längere Zeit erlauben, einer so freundlichen und ehrenden Einladung zu folgen.

    Pollunder Für einen Abend und eine Nacht steht es aber wirklich fast nicht dafür.

  • 10

    Onkel Das war auch meine Meinung.

    Pollunder Man muss nehmen, was man bekommt.

    „Straßen, wo das Publikum in großer, unverhüllter Furcht vor Verspätung in Fahrzeugen, die zu möglichster Eile gebracht sind, zu den Theatern drängt. Vorstädte, wo Polizeileute zu Pferd die Automobile immer wieder in Seitenstraßen weisen, da die großen Straßen von den demonstrierenden Metallarbeitern besetzt sind. Trottoirs angefüllt mit einer in winzigen Schritten sich bewegenden Masse, deren Gesang einheitlicher ist als der einer einzigen Menschenstimme.“

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    Klara Da ist ja endlich der Herr Jakob.

    Karl Ich heiße Rossmann.

    Pollunder Er ist ja nur Jakobs Neffe und heißt selbst Karl Rossmann.

    Klara Das ändert nichts an unserer Freude, ihn hier zu haben.

    Karl Sie sind das Fräulein Klara?

    Klara Ja, ich wollte mich aber hier in der Finsternis nicht vorstellen. Hat sich Ihr Onkel nicht darüber geärgert, dass Sie fahren wollten?

    Pollunder Aber nein! Das hat er nicht. Seine Erziehung liegt ihm eben am Herzen.

    Karl Hat er es Ihnen selbst gesagt, dass er es nicht so ernst gemeint hat?

    Pollunder O ja.

    Karl Es ist merkwürdig, wie ungern er mir die Erlaubnis gegeben hat, Sie zu besuchen, obwohl Sie doch sein Freund sind.

    Klara Wir haben übrigens noch einen Gast heute Abend.

    Pollunder Nicht möglich!

    Klara Herrn Green.

    Karl Wann ist er gekommen?

    Klara Vor einem Augenblick.

    Pollunder Wir werden unseren Wohnsitz unbedingt noch weiter verlegen müssen.

    Klara Aber Herr Green war doch schon sehr lange nicht hier.

    Pollunder Warum kommt er denn gerade heute Abend.

    Klara Allerdings!

    Karl Vielleicht wird er bald wieder weggehen.

    Klara O nein, er hat irgendein großes Geschäft für Papa, dessen Besprechung wahrscheinlich lange dauern wird.

  • 11

    Pollunder Also auch das noch. Dann bleibt er über Nacht! Ich hätte wahrhaftig Lust, Sie, Herr Rossmann, wieder zu Ihrem Onkel zurückzubringen.

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    Green Wo bleibt ihr denn?

    Pollunder Kommt.

    Green Und ihr Onkel hat Sie gehen lassen?

    Pollunder Ja, er liebt ihn sehr.

    Green Das ist ja wohl kaum noch die Liebe eines Onkels. Jetzt sehen Sie nur das Mädchen an, wie traurig es ist.

    Er greift Klara lange unters Kinn. Sie lässt es geschehen und schließt die Augen.

    Du Dingschen.

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    Karl Verzeihen Sie, dass ich störe. Aber ich hätte eine Bitte, die Sie nicht missverstehen dürfen.

    Pollunder Was soll denn das für eine Bitte sein? Sie ist natürlich schon erfüllt. Wie gefällt es Ihnen denn eigentlich bei uns? Scheint es Ihnen nicht auch, dass man hier draußen befreit wird?

    Karl Ich bitte, lassen Sie mich noch jetzt, in der Nacht, zu meinem Onkel. Ich werde gerne wiederkommen. Nur heute kann ich nicht hier bleiben. Sie wissen, der Onkel hat mir die Erlaubnis zu diesem Besuch nicht gerne gegeben. Er hat sicher dafür seine guten Gründe gehabt, wie für alles, was er tut, und ich habe es mir herausgenommen, gegen seine bessere Einsicht die Erlaubnis förmlich zu erzwingen. Ich habe seine Liebe zu mir einfach missbraucht. Was für Bedenken er gegen diesen Besuch hatte, ist ja jetzt gleichgültig. Lassen sie mich sofort nach Hause gehen.

    Pollunder Wollten Sie ihm nicht etwas sagen?

    Green Ich wüsste nicht, was ich ihm sagen sollte. Es ist recht lobenswert, dass er zu seinem Onkel zurückkehren will, und nach menschlicher Voraussicht sollte man glauben, dass er dem Onkel eine besondere Freude damit machen wird. Es müsste denn sein, dass er durch seine Unfolgsamkeit den Onkel schon allzu böse gemacht hat, was ja auch möglich ist. Dann allerdings wäre es besser, er bliebe hier. Es ist eben schwer, etwas Bestimmtes zu sagen.

    Karl Bitte, Herr Green, ich höre aus Ihren Worten heraus, dass Sie es auch für das beste halten, wenn ich gleich zurückkehre.

    Green Das habe ich durchaus nicht gesagt.

  • 12

    Pollunder Lieber Herr Rossmann, Sie werden doch nicht glauben, dass ich Sie gegen Ihren Willen hier zurückhalten will. Davon ist ja keine Rede.

    Karl Ich werde in Erinnerung an Ihre Freundlichkeit immer gerne herkommen, vorausgesetzt natürlich, dass Sie mich nach meinem heutigen Benehmen noch einladen wollen, und vielleicht werde ich es nächstens besser ausdrücken können, warum heute jede Minute, um die ich meinen Onkel früher sehe, für mich so wichtig ist. Jetzt muss ich nur noch meinen Hut suchen.

    Green Könnte ich Ihnen nicht mit einer Mütze aushelfen? Vielleicht passt sie Ihnen zufällig.

    Karl Ich werde Ihnen doch nicht Ihre Mütze wegnehmen. Ich kann ja ganz gut mit unbedecktem Kopf gehen.

    Green Es ist nicht meine Mütze. Nehmen Sie nur!

    Karl Dann danke ich. Sie passt so gut!

    Green Also, sie passt! Ehe Sie weggehen, müssen Sie von Fräulein Klara Abschied nehmen.

    Pollunder Das müssen Sie.

    Green Gehen Sie also vorerst zu Fräulein Klara. Das dürfte Ihnen sicher Vergnügen machen und passt auch sehr gut in meine Zeiteinteilung hinein. Ich habe Ihnen nämlich tatsächlich, ehe Sie von hier fortgehen, etwas Interessantes zu sagen, was wahrscheinlich auch für Ihre Rückkehr entscheidend sein kann. Nur bin ich leider durch höheren Befehl gebunden, Ihnen vor Mitternacht nichts zu verraten. Jetzt ist es viertel zwölf, Sie können also ein hübsches Weilchen mit Fräulein Klara verbringen. Punkt zwölf stellen Sie sich dann hier ein, wo Sie das Nötige erfahren werden.

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    Diener Sie müssen zu Fräulein Klara. Sie haben es ja selbst gehört. Erschweren Sie mir die Ausführung meines Auftrages nicht.

    Karl Sie scheinen es für eine Strafe zu halten, dass ich zu Fräulein Klara gehen muss.

    Diener Kommen Sie doch, junger Herr, wenn Sie nun schon einmal hier sind. Ich weiß, Sie wollten noch in der Nacht weggehen, es geht eben nicht alles nach Wunsch.

    Karl Ja, ich will weggehen und werde auch weggehen und will jetzt nur von Fräulein Klara Abschied nehmen.

    Diener So? Warum zögern Sie also, Abschied zu nehmen; kommen Sie doch.

  • 13

    Karl Warum zieht es denn hier eigentlich so?

    Diener Es ist hier eben noch viel zu bauen. Jetzt sind da ein paar große Durchbrüche gemacht worden, die niemand vermauert, und die Zugluft geht durch das ganze Haus. Wenn ich nicht die Ohren voll Watte hätte, könnte ich nicht bestehen.

    Karl Da muss ich wohl lauter reden?

    Diener Nein, Sie haben eine klare Stimme. Da sind wir schon.

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    Klara Sie kommen spät.

    Karl Sie warten auf mich?

    Klara Ich wollte schon schlafen gehen. Es ist ja schon halb zwölf vorüber.

    Karl Halb zwölf vorüber? Dann muss ich mich aber sofort verabschieden, denn Punkt zwölf muss ich schon unten sein.

    Klara Was Sie für eilige Geschäfte haben! Gefällt es Ihnen denn gar nicht bei uns? Wollen Sie sich hier nicht ein wenig heimisch fühlen? Kommen Sie. Was soll denn das. Also wollen Sie kommen oder nicht?

    Sie stößt ihn mit Absicht oder bloß in der Erregung derart in die Brust, dass er beinahe gestürzt wäre.

    Karl Jetzt wäre ich bald zu Tode gestürzt!

    Klara Schade, dass es nicht geschehen ist. Warum sind Sie so unartig! Ich stoße Sie noch einmal.

    Und wirklich umfasst sie ihn und trägt ihn, der, zuerst verblüfft, sich schwer zu machen vergisst, mit ihrem vom Sport gestählten Körper. Aber Karl besinnt sich, macht sich mit einer Wendung der Hüften los und umfasst sie.

    Klara Ach, Sie tun mir weh.

    Aber nun glaubt Karl, sie nicht mehr loslassen zu dürfen. Er lässt ihr zwar Freiheit, Schritte nach Belieben zu machen, folgt ihr aber und lässt sie nicht los. Es ist auch so leicht, sie in ihrem engen Kleid zu umfassen.

    Klara Lassen Sie mich.

    flüstert sie, das erhitzte Gesicht eng an seinem, er muss sich anstrengen, sie zu sehen, so nahe ist sie ihm.

    Lassen Sie mich, ich werde Ihnen etwas Schönes geben.

    Warum seufzt sie so, denkt Karl, es kann ihr nicht wehtun, ich drücke sie ja nicht, und er lässt sie noch nicht los. Aber plötzlich, nach einem Augenblick unachtsamen, schweigenden Dastehens, fühlt er wieder ihre wachsende Kraft an seinem Leib, und

  • 14

    sie entwindet sich ihm, fasst ihn mit gut ausgenütztem Obergriff, wehrt seine Beine mit Fußstellungen einer fremdartigen Kampftechnik ab und treibt ihn vor sich, mit großartiger Regelmäßigkeit Atem holend, gegen die Wand. Sie legt Karl auf den Boden.

    Jetzt rühr dich, wenn du kannst.

    Karl Du bist ja wahnsinnig, du tolle Katze!

    Klara Gib Acht auf deine Worte.

    Sie lässt die eine Hand zu seinem Halse gleiten, den sie so stark zu würgen anfängt, dass Karl ganz unfähig ist, etwas anderes zu tun als Luft zu schnappen, während sie mit der anderen Hand an seine Wange fährt, wie probeweise sie berührt, sie wieder, und zwar immer weiter, in die Luft zurückzieht und jeden Augenblick mit einer Ohrfeige niederfallen lassen kann.

    Klara Wie wäre es, wenn ich dich zur Strafe für dein Benehmen einer Dame gegenüber mit einer tüchtigen Ohrfeige nach Hause schicken wollte. Es verlockt mich geradezu riesig, dich zu ohrfeigen, so wie du jetzt daliegst. Ich werde es wahrscheinlich bedauern; wenn ich es aber tun sollte, so wisse schon jetzt, dass ich es fast gegen meinen Willen tun werde. Und ich werde mich dann natürlich nicht mit einer Ohrfeige begnügen, sondern rechts und links schlagen, bis dir die Backen anschwellen. Und vielleicht bist du ein Ehrenmann – ich möchte es fast glauben – und wirst mit den Ohrfeigen nicht weiterleben wollen und dich aus der Welt schaffen. Aber warum bist du auch so gegen mich gewesen? Gefalle ich dir vielleicht nicht. Ich gehe jetzt. Vielleicht bekommst du später Lust, zu mir zu kommen. Dem Vater sage ich vorläufig von unserer Rauferei kein Wort.

    Klara geht, dann Karl. Es ist ein langsames Vorwärtskommen, und der Weg scheint dadurch doppelt lang. Bei einer plötzlichen Wendung stößt Karl mit ganzer Wucht an die Mauer. Da der Weg kein Ende nehmen will, weder in der Höhe noch in der Tiefe sich etwas rührt, denkt Karl schon, er gehe immerfort im gleichen Kreisgang in der Runde, als er ein kleines, sich näherndes Licht bemerkt.

    „Großen Strecken der Wände gänzlich ohne Türen. Dann wieder Tür an Tür, alle versperrt und die Räume dahinter offenbar unbewohnt. So viele leere Zimmer, nur dazu da, um hohl zu klingen, wenn man an die Tür schlägt. Nirgends ein Fenster. Dann plötzlich dunkle Leere, ein Stück einer gewölbeartig geführten Decke. Wozu nur dieser große, tiefe Raum?“

    10

    Green Rossmann, warum kommen Sie denn nicht? Warum lassen Sie mich warten? Was haben Sie denn bei Fräulein Klara getrieben? Versprechen, um zwölf hinunterzukommen, und umschleichen

  • 15

    stattdessen Fräulein Klara. Ich dagegen habe Ihnen für Mitternacht etwas Interessantes versprochen und bin damit schon da.

    Und damit reicht er Karl einen Brief.

    Karl „An Karl Rossmann, um Mitternacht persönlich abzugeben, wo immer er angetroffen wird“

    Green Schließlich ist es, glaube ich, schon anerkennenswert, dass ich Ihretwegen hierher gefahren bin, so dass Sie mich durchaus nicht noch Ihnen nachlaufen lassen müssten.

    Karl Vom Onkel! Ich habe es erwartet.

    Green Ob Sie es erwartet haben oder nicht, ist mir kolossal gleichgültig. Lesen Sie nur schon.

    Karl liest.

    Green Sind Sie fertig?

    Karl Ja. Haben Sie mir den Koffer und den Regenschirm mitgebracht?

    Green Hier ist er.

    Karl Und den Regenschirm?

    Green Alles hier. Die Sachen hat ein gewisser Schubal gebracht, er hat behauptet, sie von einem Schiffsheizer zu haben.

    Karl Nun habe ich wenigstens meine alten Sachen wieder

    Green Hier gebe ich Ihnen noch eine Karte dritter Klasse nach San Franzisko. Ich habe diese Reise für Sie beschlossen, weil erstens die Erwerbsmöglichkeiten im Osten für Sie viel bessere sind und weil zweitens hier in allen Dingen, die für Sie in Betracht kommen könnten, Ihr Onkel seine Hände im Spiele hat und ein Zusammentreffen unbedingt vermieden werden muss. Fangen Sie nur ruhig ganz unten an und versuchen Sie, sich allmählich hinaufzuarbeiten.

    Karl Würden Sie so liebenswürdig sein, mir den Ausgang zu zeigen.

    Green Aber rasch. Sie machen mir nicht wenig Scherereien.

    Karl Warum haben Sie mich eigentlich zurückgehalten, als ich um viertel zwölf von hier fort wollte?

    Green Hätte ich Sie nicht zurückgehalten, hätte ich Ihnen den Brief um Mitternacht sonst wo übergeben müssen.

    Karl Auf dem Umschlag steht: ›Zu übergeben nach Mitternacht.‹ Wenn Sie zu müde waren, hätten Sie mir vielleicht gar nicht folgen können. Besagt nicht die Überschrift ganz deutlich, dass die Mitternacht für mich noch der letzte Termin sein soll? Und Sie sind es, der die Schuld trägt, dass ich ihn versäumt habe.

  • 16

    Green Kein Wort weiter.

    „Im Garten hört man das vielfache Bellen von Hunden, die losgelassen, ringsherum im Dunkel der Bäume laufen. Man hört in der sonstigen Stille ganz genau, wie sie nach ihren großen Sprüngen ins Gras schlagen.“

    11

    Frauenzimmer Seien Sie doch still. Hier entlang. Nun kommen sie doch schon. Leise doch!

    Robinson und Delamarche liegen in seltsamer Körperhaltung herum. Das Frauenzimmer verschwindet wieder.

    12

    Karl Ich heiße Karl Rossmann.

    Delamarche Der da heißt Robinson und ist Irländer, ich heiße Delamarche, bin Franzose.

    Karl Ich bin ein Deutscher.

    Delamarche Wir sind beides Maschinenschlosser und schon lange Zeit ohne Arbeit. Wir sind auf dem Weg nach Butterford. Du kannst gerne mit uns kommen.

    Robinson Und wenn es dort keine Arbeit gibt, gehen wir vielleicht nach Kalifornien in die Goldwäscherei, was mein liebster Plan wäre.

    Karl Warum sind Sie denn Schlosser geworden, wenn Sie jetzt in die Goldwäscherei wollen?

    Robinson Warum ich Schlosser geworden bin? In den Goldwäschereien ist ein feiner Verdienst.

    Delamarche War einmal.

    Robinson Ist noch immer.

    Delamarche Wir werden schon in Butterford Stellen erzwingen. Wollen sie nicht ihren Anzug ausziehen, der ist ihnen nur bei jeder Bewerbung hinderlich. Wir könnten ihn verkaufen?

    Karl Verkaufen?

    „Automobile schießen aus dem Nebel, die so kurz in ihrer Erscheinung sind, dass man nicht Zeit hat, auch nur das Vorhandensein von

  • 17

    Insassen zu bemerken. Kolonnen von Fuhrwerken, die in fünf die ganze Breite der Straße einnehmenden Reihen ununterbrochen dahinziehen. Über allem herrscht eine allgemeine Ruhe. Wäre nicht das Geschrei der sorglosen Schlachttiere.“

    Delamarche Geh du! Frag dort nach Speck und Brot.

    Robinson Und Bier.

    Delamarche Und Bier.

    Karl Wer zahlt?

    Delamarche Wer?

    Robinson Du. Wir haben nichts.

    Karl Speck und Brot

    Delamarche Und Bier

    13

    „Der Saal des Hotels ist von einer lauten Menge erfüllt, und an dem Büfett, das sich an einer Längswand und an den zwei Seitenwänden hinzieht, laufen unaufhörlich viele Kellner mit weißen Schürzen vor der Brust und können doch die ungeduldigen Gäste nicht zufriedenstellen, es gibt auch im Saale selbst keine Bedienung, die Gäste, die an winzigen, bereits zwischen drei Tischnachbarn verschwindenden Tischen sitzen, holen alles, was sie wünschen, beim Büfett. Die Uhr am anderen Ende des Saales, deren Zeiger man bei scharfem Hinsehen durch den Rauch gerade noch erkennen kann, zeigt schon neun vorüber.“

    Oberköchin Suchen Sie etwas?

    Karl Allerdings.

    Oberköchin Kommen Sie zu mir, Kleiner. Also, was wollen Sie denn?

    Karl Nur Speck, Brot und Bier.

    Oberköchin Nichts weiter?

    Karl Nein danke, aber für drei Personen.

    Oberköchin Aber das ist ja ein Essen für Sträflinge. Haben Sie noch einen weiten Marsch?

    Karl Bis nach Butterford.

    Oberköchin Das ist noch sehr weit.

    Karl Noch eine Tagereise.

    Oberköchin Nicht weiter?

    Karl O nein.

  • 18

    Oberköchin Wir haben hier Platz genug. Schlafen Sie doch bei uns im Hotel.

    Karl Aber meine Kameraden!

    Oberköchin Die dürfen natürlich auch hier übernachten. Kommen Sie nur! Lassen Sie sich nicht so bitten.

    Karl Ich kann meine Kameraden nicht mitbringen.

    Oberköchin Ich weiß nicht, warum das unmöglich sein soll, aber wenn Sie es so wollen, dann kommen Sie eben allein zu uns.

    Karl Das geht nicht, das geht nicht, es sind meine Kameraden und ich muss bei ihnen bleiben.

    Oberköchin Sie sind starrköpfig, man meint es gut mit Ihnen, möchte Ihnen gern behilflich sein, und Sie wehren sich mit allen Kräften.

    Karl Meinen besten Dank für Ihre Freundlichkeit.

    Oberköchin Kommen Sie morgen wieder.

    Karl Auf Wiedersehen.

    14

    Die Kameraden durchsuchen Karls Koffer und verstreuen den Inhalt.

    Karl Aber ist das vielleicht recht, meinen Koffer aufzubrechen und meine Sachen herauszuwerfen?

    Delamarche Sie dürfen eben nächstens nicht so lange fortbleiben. Wir haben Hunger, haben gedacht, dass Sie in Ihrem Koffer etwas zum Essen haben könnten. Im Übrigen ist ja gar nichts darin. Der scheint Launen zu haben.

    Karl Ich habe keine Launen. Ich weiß, man muss unter Kameraden manches dulden, und ich habe mich auch darauf vorbereitet, aber das ist zu viel. Ich werde im Hotel übernachten und gehe nicht nach Butterford.

    Delamarche Siehst du, Robinson, so spricht man, das ist die feine Redeweise. Er ist eben ein Deutscher. Wir haben ihm unser Vertrauen geschenkt und jetzt – weil ihn dort im Hotel irgendjemand gelockt hat – verabschiedet er sich, verabschiedet sich einfach. Aber weil er ein falscher Deutscher ist, tut er dies nicht offen, sondern sucht sich den Vorwand mit dem Koffer.

    Karl Sie missgönnen mir meinen kleinen Besitz und suchen mich deshalb zu demütigen, das kann ich nicht aushalten. Und nun, nachdem Sie meinen Koffer aufgebrochen haben, entschuldigen Sie sich mit keinem Wort, sondern beschimpfen mich noch und beschimpfen weiter mein

  • 19

    Volk – damit nehmen Sie mir aber auch jede Möglichkeit, bei Ihnen zu bleiben.

    Delamarche Da sehen wir ja, da sehen wir ja, wie Sie sich entpuppen. Jetzt, da Sie im Hotel irgendeinen Rückhalt spüren, fangen Sie große Reden zu halten an. Ich weiß noch gar nicht, ob wir das so ruhig hinnehmen werden. Also, nur immer Achtung aufs Maul!

    Karl Sie scheinen Lust zu haben, mich durchzuprügeln.

    Robinson Alle Geduld hat ein Ende.

    Karl Sie schweigen besser, Robinson, im Innern geben Sie mir ja doch recht, aber nach außen müssen Sie es mit Delamarche halten!

    Delamarche Wollen Sie ihn vielleicht bestechen?

    Karl Fällt mir nicht ein. Ich bin froh, dass ich fortgehe, und ich will mit keinem von Ihnen mehr etwas zu tun haben.

    Delamarche Bleib ruhig! zu Robinson, obwohl sich dieser nicht rührte.

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    Kellner Die Oberköchin wollte sie nochmals fragen, ob Sie es sich nicht überlegt haben und doch vielleicht im Hotel übernachten wollten. Auch die beiden anderen Herren wären willkommen, wenn Sie sie mitnehmen wollen

    Karl Da Sie so freundlich sind, werde ich ihre Einladung doch annehmen. Warten Sie, bitte, noch einen Augenblick. Ich kann die Photographie nicht finden.

    Delamarche Welche Photographie?

    Karl Die Photographie meiner Eltern.

    Delamarche Wir haben keine Photographie gesehen.

    Robinson Es war keine Photographie darin, Herr Rossmann.

    Karl Aber das ist doch unmöglich. Sie lag obenauf und jetzt ist sie weg.

    Delamarche In dem Koffer war keine Photographie.

    Karl Es war das einzige Bild, das ich von meinen Eltern besaß.

    Kellner Vielleicht könnten wir noch die Taschen der Herren untersuchen.

    Karl Ich dachte, sie wären Freunde, aber im geheimen wollten sie mir nur schaden. Sollte doch einer von Ihnen die Photographie noch haben und mir ins Hotel bringen wollen – er bekommt alles aus dem Koffer. – Ich bin immer noch da!

  • 20

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    Oberköchin Nun sind Sie also frei?

    Karl Ja, frei bin ich.

    Oberköchin Hören Sie, möchten Sie nicht hier im Hotel eine Stelle annehmen?

    Karl Sehr gern, ich habe aber entsetzlich wenig Kenntnisse. Ich kann zum Beispiel nicht einmal auf der Schreibmaschine schreiben.

    Oberköchin Das ist nicht das Wichtigste. Sie bekämen eben vorläufig nur eine ganz kleine Anstellung und müssten dann zusehen, durch Fleiß und Aufmerksamkeit sich hinaufzubringen.

    Karl Entschuldigen Sie, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt habe, ich heiße Karl Rossmann.

    Oberköchin Sie sind ein Deutscher, nicht wahr?

    Karl Ja. Ich bin noch nicht lange in Amerika.

    Oberköchin Sehen Sie einmal an, dann sind wir ja Landsleute. Jetzt dürfen Sie um keinen Preis von hier fort. Das dürfen Sie mir nicht antun. Hätten Sie zum Beispiel Lust, Liftjunge zu werden? Sie wissen, dass es nicht besonders leicht ist, solche Stellen zu bekommen, denn sie sind der beste Anfang, den man sich denken kann. Für alles Übrige lassen Sie mich sorgen.

    Karl Liftjunge möchte ich ganz gerne sein.

    Oberköchin Sie sind gewiss sehr müde, und wir können auch alles viel besser bei Tag besprechen. Die Freude, einen Landsmann getroffen zu haben, macht ganz gedankenlos. Kommen Sie.

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    Ein Liftjunge im stehen schlafend unter einer Lampe. Die Köchin schaltet sie ein und sie betrachten den Schlafenden.

    Oberköchin Eine Arbeitszeit von zehn bis zwölf Stunden ist eben ein wenig zuviel. Aber es ist eigentümlich in Amerika. Da ist zum Beispiel dieser. Jetzt sieht er aus, als könne er die Arbeit unmöglich aushalten, hat schon kein Fleisch im Gesicht, schläft im Dienst ein, obwohl er von Natur sehr bereitwillig ist, aber er muss nur noch ein halbes Jahr hier oder irgendwo anders in Amerika dienen und hält alles mit Leichtigkeit aus, und in fünf Jahren wird er ein starker Mann sein. Und nun schlafen Sie wohl, damit Sie sich für den Dienst kräftigen. Er wird morgen noch nicht zu anstrengend sein.

    Karl Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Freundlichkeit.

  • 21

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    Karl sieht sich den schlafenden Liftjungen von allen Seiten an, versucht seine Haltung anzunehmen.

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    Therese Entschuldigen Sie vielmals und verraten Sie mich, bitte, nicht der Oberköchin. Ich will Sie auch nicht lange stören, ich weiß, dass Sie todmüde sind.

    Karl Es ist nicht so arg.

    Therese Ich bleibe ja nur einen Augenblick. Werden Sie lange hier bleiben?

    Karl Es ist noch nicht ganz bestimmt, aber ich denke, ich werde bleiben.

    Therese Das wäre nämlich sehr gut. Ich bin hier nämlich so allein.

    Karl Das wundert mich. Die Frau Oberköchin ist doch sehr freundlich.

    Therese Ich heiße Therese.

    Karl Karl.

    Therese Sie dürfen nicht glauben, dass ich undankbar bin. Ohne die Frau Oberköchin stünde es ja mit mir viel schlechter. Ich war früher Küchenmädchen hier im Hotel und schon in großer Gefahr, entlassen zu werden, denn ich konnte die schwere Arbeit nicht leisten. Man stellt hier große Ansprüche. Und ich bin nicht sehr stark, ich habe früher viel zu leiden gehabt und bin dadurch in der Entwicklung ein wenig zurückgeblieben. Aber jetzt werde ich schon stärker.

    Karl Der Dienst hier muss wirklich sehr anstrengend sein.

    „Im Schlafsaal ist die größte Bewegung. Einige schlafen und ziehen die Decke über die Ohren, um nichts zu hören; wird doch einer geweckt, dann schreit er so wütend über das Geschrei der anderen, dass auch die übrigen noch so guten Schläfer nicht standhalten können. Auf dem Boden neben den Betten Ringkämpfer bei greller Beleuchtung mit blutigem Gesicht, auf allen Betten in der Runde aufrecht stehende Sachverständige in Hemd und Unterhosen.“

    Therese Aber da habe ich wirklich einmal Glück gehabt, die Frau Oberköchin hat einmal ein Mädchen gebraucht, um die Servietten für ein Bankett herzurichten, hat zu uns Küchenmädchen heruntergeschickt, es gibt hier an fünfzig solcher Mädchen, ich war gerade bei der Hand und habe sie sehr zufrieden gestellt, denn im Aufbauen der Servietten habe ich mich immer ausgekannt. Und so hat sie mich von da an in ihrer Nähe behalten und allmählich zu ihrer Sekretärin ausgebildet. Dabei habe ich sehr viel gelernt.

  • 22

    Karl Gibt es denn da so viel zu schreiben?

    Therese Ach, sehr viel, das können Sie sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Aber wollen Sie nicht wirklich schon schlafen?

    Karl Nein, nein, ich weiß ja noch gar nicht, warum Sie hereingekommen sind.

    Therese Weil ich mit niemandem reden kann. Ich bin nicht wehleidig, aber wenn wirklich niemand für einen da ist, so ist man schon glücklich, schließlich von jemandem angehört zu werden. Sie dürfen aber der Frau Oberköchin kein Wort davon sagen, sonst bin ich wirklich verloren. Wenn ich ihr außer den Umständen, die ich ihr durch meine Arbeit mache, auch noch Leid bereiten sollte, das wäre wirklich das Höchste.

    Karl Es ist selbstverständlich, dass ich ihr nichts sagen werde.

    Therese Dann ist es gut. Denken Sie, so schlecht bin ich und habe Angst, die Frau Oberköchin könnte Sie an meiner Stelle zum Sekretär machen und mich entlassen.

    Karl Die Sache ist schon geordnet, ich werde Liftjunge und Sie bleiben Sekretärin.

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    „Im Hotel gibt es mehr als dreißig Aufzüge, alle immer voll besetzt, vor ihnen solch ein Gedränge, dass die Gäste oben kaum entlassen sie wieder herunterrasen müssen, beschleunigt durch Ziehen an einem durch den Aufzugkasten hindurchgehendes Drahtseil, was allerdings durch die Aufzugsordnung verboten ist. Ein Lichtschacht, der von den großen Fenstern der Vorratskammern umgeben ist, hinter denen hängende Massen von Bananen im Dunkel gerade noch schimmern.“

    21

    Therese Meine Mutter war damals schon zwei Tage ohne Arbeit gewesen, nicht das kleinste Geldstück war mehr vorhanden, der Tag war ohne einen Bissen im Freien verbracht worden. Nun war der Mutter für den nächsten Morgen Arbeit bei einem Bau in Aussicht gestellt worden, aber sie fühlte sich todmüde, hatte schon am Morgen auf der Gasse viel Blut gehustet, und ihre einzige Sehnsucht war, irgendwo in die Wärme zu kommen und sich auszuruhen. Und gerade an diesem Abend war es unmöglich, ein Plätzchen zu bekommen. Einmal oder zweimal hockte die Mutter atemlos auf der Stufe einer stillen Treppe nieder, riss mich an sich und küsste mich mit schmerzhaftem Anpressen der Lippen. Wenn man nachher weiß, dass das die letzten Küsse waren, begreift man nicht, wie man so blind sein konnte.

  • 23

    Nachdem etwa Mitternacht vorüber war, hat sie wohl niemanden mehr angesprochen, obwohl sie mit kleinen Pausen bis zur Morgendämmerung nicht aufhörte weiterzueilen. Für mich war es natürlich ein unbegreifliches Leid, ohne ein kleines Wort des Trostes mitgeschleift zu werden, und das Ganze schien mir nur die Erklärung zu haben, dass meine Mutter von mir weglaufen wolle. Am Morgen, dem Beginn eines schönen Wintertages, lehnten wir beide an einer Hausmauer und hatten dort vielleicht ein wenig geschlafen, vielleicht nur mit offenen Augen herumgestarrt. Dann gingen wir weiter durch die sich belebenden Gassen, zu jenem Bau, zu dem die Mutter für jenen Morgen bestellt war. Sie sagte mir nicht, ob ich warten oder weggehen solle, und ich nahm dies als Befehl zum Warten. Ohne sich in der Bauhütte zu melden, wie dies üblich war, und ohne jemanden zu fragen, stieg die Mutter eine Leiter hinauf, als wisse sie schon selbst, welche Arbeit ihr zugeteilt war. Oben umging die Mutter geschickt die Maurer, die Ziegel auf Ziegel legten und sie unbegreiflicherweise nicht zur Rede stellten. Nun kam aber die Mutter auf ihrem Gang zu einem kleinen Ziegelhaufen, vor dem das Geländer und wahrscheinlich auch der Weg aufhörte, aber sie hielt sich nicht daran, ging auf den Ziegelhaufen los und fiel über ihn hinweg in die Tiefe. Viele Ziegel rollten ihr nach und schließlich, eine ganze Weile später, löste sich irgendwo ein schweres Brett los und krachte auf sie nieder.

    22

    Robinson Guten Abend, Herr Rossmann.

    Karl Sie haben sich aber verändert!

    Robinson Ja, es geht mir gut.

    Karl Sie trinken aber.

    Robinson Nein, nicht viel. Wollen Sie nicht einmal zu uns kommen. Wir wohnen jetzt mit Brunelda zusammen, einer herrlichen Sängerin.

    Robinson beginnt zu singen.

    Karl Schweigen Sie, aber augenblicklich; wissen Sie denn nicht, wo Sie sind! Laden Sie mich ein oder Delamarche?

    Robinson Ich und Delamarche.

    Karl Unser Abschied war, wenn das nicht schon an und für sich klar gewesen sein sollte, ein endgültiger. Sie beide haben mir mehr Leid getan als irgendjemand.

    Robinson Könnten Sie mir einiges Geld überlassen?

    Karl Sie haben wohl von Delamarche den Auftrag bekommen, Geld mitzubringen. Gut, ich gebe Ihnen Geld, aber nur unter der Bedingung,