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Als Vorlage diente:Franz Kafka
Ein HungerkünstlerVier Geschichten
Verlag Die Schmiede, Berlin, 1924.
Cover nach einem Bild des Hungerkünstlers Ventego 1926.
ngiyaw eBooks unterliegen dem Copyright, außer für die Teile, die public domain sind.
Dieses ebook (pdf) darf für kommerzielle oder teil-kommerzielle Zwecke weder neu veröffentlicht, kopiert, gespeichert, angepriesen, übermittelt,gedruckt, öffentlich zur Schau gestellt, verteilt, noch irgendwie andersverwendet werden ohne unsere ausdrückliche, vorherige schriftliche
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© 2008 Peter M. Sporer für ngiyaw eBooks.Földvári u. 18, H – 5093 Vezseny ([email protected]).
Gesetzt in der Baskerville Book.
n
ERSTES LEID
Ein Tra pezkünst ler — bekannt lich ist diese hoch
in den Kup peln der gro ßen Varie té büh nen aus -
ge übte Kunst eine der schwie rig sten unter allen,
Men schen erreich ba ren — hatte, zuerst nur aus
dem Stre ben nach Ver voll komm nung, spä ter
auch aus tyran nisch gewor de ner Gewohn heit
sein Leben der art ein ge rich tet, daß er, so lange
er im glei chen Unter neh men arbei tete, Tag und
Nacht auf dem Tra peze blieb. Allen sei nen, übri -
gens sehr ge rin gen Bedürf nis sen wurde durch
ein an der ablö sende Die ner ent spro chen, wel che
unten wach ten und alles, was oben benö tigt
wurde, in eigens kon stru ier ten Gefä ßen hin auf-
und hin ab ge zo gen. Beson dere Schwie rig kei ten
für die Umwelt er ga ben sich aus die ser Lebens -
weise nicht; nur wäh rend der son sti gen Pro -
gramm num mern war es ein wenig stö rend, daß
er, wie sich nicht ver ber gen ließ, oben geblie ben
war und daß, trotz dem er sich in sol chen Zei ten
meist ruhig ver hielt, hie und da ein Blick aus
dem Publi kum zu ihm abirrte. Doch ver zie hen
ihm dies die Direk tio nen, weil er ein außer or den -
di cher, uner setz li cher Künst ler war. Auch sah
man natür lich ein, daß er nicht aus Mut wil len so
lebte, und eigent lich nur so sich in dau ern der
Übung erhal ten, nur so seine Kunst in ihrer Voll -
kom men heit bewah ren konnte.
Doch war es oben auch sonst gesund, und
wenn in der wär me ren Jah res zeit in der gan zen
Runde der Wöl bung die Sei ten fen ster auf ge -
klappt wur den und mit der fri schen Luft die
Sonne mäch tig in den däm mern den Raum ein -
drang, dann war es dort sogar schön. Frei lich,
sein mensch li cher Ver kehr war ein ge schränkt,
nur manch mal klet terte auf der Strick leiter ein
Tur ner kol lege zu ihm hin auf, dann saßen sie
beide auf dem Tra pez, lehn ten rechts und links
an den Halte stric ken und plau der ten, oder es
ver bes ser ten Bau ar bei ter das Dach und wech sel -
ten einige Worte mit ihm durch ein offe nes Fen -
ster, oder es über prüfte der Feu er wehr mann die
Not be leuch tung auf der ober sten Gale rie und
rief ihm etwas Respekt vol les, aber wenig Ver -
ständ li ches zu. Sonst blieb es um ihn still; nach -
denk lich sah nur manch mal irgend ein Ange stell -
ter, der sich etwa am Nach mit tag in das leere
Thea ter ver irrte, in die dem Blick sich fast ent zie -
hende Höhe empor, wo der Tra pezkünst ler,
ohne wis sen zu kön nen, daß jemand ihn beob -
ach tete, seine Kün ste trieb oder ruhte.
So hätte der Tra pezkünst ler unge stört leben
kön nen, wären nicht die unver meid li chen Rei -
sen von Ort zu Ort gewe sen, die ihm äußerst
lästig waren. Zwar sorgte der Impre sa rio dafür,
daß der Tra pezkünst ler von jeder unnö ti gen Ver -
län ge rung sei ner Lei den ver schont blieb: für die
Fahr ten in den Städ ten benützte man Renn au to -
mo bile, mit denen man, womög lich in der Nacht
oder in den frü he sten Mor gen stun den, durch
die men schen lee ren Stra ßen mit letz ter Ge -
schwin dig keit jagte, aber frei lich zu lang sam für
des Tra pezkünst lers Sehn sucht; im Eisen bahn -
zug war ein gan zes Kupee bestellt, in wel chem
der Tra pezkünst ler, zwar in kläg li chem, aber
doch irgend ei nem Ersatz sei ner son sti gen
Lebens weise die Fahrt oben im Gepäck netz
zubrachte; im näch sten Gast spie lort war im
Thea ter lange vor der Ankunft des Tra pezkünst -
lers das Tra pez schon an sei ner Stelle, auch
waren alle zum Thea ter raum füh ren den Türen
weit geöff net, alle Gänge frei ge hal ten — aber es
waren doch immer die schön sten Augen blic ke
im Leben des Impre sa rio, wenn der Tra -
pezkünst ler dann den Fuß auf die Strick leiter
setzte und im Nu, end lich, wie der oben an sei -
nem Tra peze hing.
So viele Rei sen nun auch schon dem Impre sa -
rio geglückt waren, jede neue war ihm doch wie -
der pein lich, denn die Rei sen waren, von allem
ande ren abge se hen, für die Ner ven des Tra -
pezkünst lers jeden falls zer stö rend.
So fuh ren sie wie der ein mal mit ein an der, der
Tra pezkünst ler lag im Gepäck netz und träumte,
der Impre sa rio lehnte in der Fenster ec ke gegen -
über und las ein Buch, da redete ihn der Tra -
pezkünst ler leise an. Der Impre sa rio war gleich
zu sei nen Dien sten. Der Tra pezkünst ler sagte,
die Lip pen bei ßend, er müsse jetzt für sein Tur -
nen, statt des bis he ri gen einen, immer zwei Tra -
peze haben, zwei Tra peze ein an der gegen über.
Der Impre sa rio war damit sofort ein ver stan den.
Der Tra pezkünst ler aber, so als wolle er es zei -
gen, daß hier die Zustim mung des Impre sa rio
ebenso be deu tungs los sei, wie es etwa sein
Wider spruch wäre, sagte, daß er nun nie mals
mehr und unter kei nen Umstän den nur auf
einem Tra pez tur nen werde. Unter der Vor stel -
lung, daß er viel leicht doch ein mal gesche hen
könnte, schien er zu schau dern. Der Impre sa rio
erklärte, zögernd und beob ach tend, noch mals
sein vol les Ein ver ständ nis, zwei Tra peze seien
bes ser als eines, auch sonst sei diese neue Ein -
rich tung vor teil haft, sie mache die Pro duk tion
abwechs lungs rei cher. Da fing der Tra pezkünst -
ler plötz lich zu wei nen an. Tief er schroc ken
sprang der Impre sa rio auf und fragte, was denn
gesche hen sei, und da er keine Ant wort bekam,
stieg er auf die Bank, strei chelte ihn und drück te
sein Gesicht an das eigene, so daß er auch von
des Tra pezkünst lers Trä nen über flos sen wur de.
Aber erst nach vie len Fra gen und Schmei chel -
wor ten sagte der Tra pezkünst ler schluch zend:
»Nur diese eine Stange in den Hän den — wie
kann ich denn leben!« Nun war es dem Impre sa -
rio schon leich ter, den Tra pezkünst ler zu trö -
sten; er ver sprach, gleich aus der näch sten Sta -
tion an den näch sten Gast spie lort wegen des
zwei ten Tra pe zes zu tele gra phie ren; machte sich
Vor würfe, daß er den Tra pezkünst ler so lange
Zeit nur auf einem Tra pez hatte arbei ten las sen,
und dankte ihm und lobte ihn sehr, daß er end -
lich auf den Feh ler auf merk sam gemacht hatte.
So gelang es dem Impre sa rio, den Tra pezkünst -
ler lang sam zu beru hi gen, und er konnte wie der
zurück in seine Ecke gehen. Er selbst aber war
nicht beru higt, mit schwe rer Sorge betrach tete
er heim lich über das Buch hin weg den Tra -
pezkünst ler. Wenn ihn ein mal sol che Gedan ken
zu quä len began nen, konn ten sie je gänz lich auf -
hö ren? Muß ten sie sich nicht immer fort stei -
gern? Waren sie nicht exi stenz be dro hend? Und
wirk lich glaubte der Impre sa rio zu sehn, wie
jetzt im schein bar ruhi gen Schlaf, in wel chen das
Wei nen geen det hatte, die ersten Fal ten auf des
Tra pezkünst lers glat ter Kin der stirn sich ein zu -
zeich nen began nen.
EINE KLEINE FRAU
Es ist eine kleine Frau; von Natur aus recht
schlank, ist sie doch stark geschnürt; ich sehe sie
immer im glei chen Kleid, es ist aus gelb -
lich-grauem, gewis ser ma ßen holz far bi gem Stoff
und ist ein wenig mit Trod deln oder knopf ar ti -
gen Be hän gen von glei cher Farbe ver se hen; sie
ist immer ohne Hut, ihr stumpf-blon des Haar ist
glatt und nicht unor dent lich, aber sehr locker
gehal ten. Trotz dem sie geschnürt ist, ist sie doch
leicht be weg lich, sie über treibt frei lich diese
Beweg lich keit, gern hält sie die Hände in den
Hüf ten und wen det den Ober kör per mit einem
Wurf über ra schend schnell seit lich. Den Ein -
druck, den ihre Hand auf mich macht, kann ich
nur wie der ge ben, wenn ich sage, daß ich noch
keine Hand gese hen habe, bei der die ein zel nen
Fin ger der art scharf von ein an der abge grenzt
wären, wie bei der ihren; doch hat ihre Hand kei -
nes wegs irgend eine ana to mi sche Merk wür dig -
keit, es ist eine völ lig nor male Hand.
Diese kleine Frau nun ist mit mir sehr unzu frie -
den, immer hat sie etwas an mir aus zu set zen,
immer geschieht ihr Unrecht von mir, ich ärgere
sie auf Schritt und Tritt; wenn man das Leben in
aller klein ste Teile tei len und jedes Teil chen ge -
son dert beur tei len könnte, wäre gewiß jedes Teil -
chen mei nes Lebens für sie ein Ärger nis. Ich
habe oft dar über nach ge dacht, warum ich sie
denn so ärgere; mag sein, daß alles an mir ihrem
Schön heits sinn, ihrem Gerech tig keits ge fühl,
ihren Ge wohn hei ten, ihren Über lie fe run gen,
ihren Hoff nun gen wider spricht, es gibt der ar -
tige ein an der wider spre chende Natu ren, aber
warum lei det sie so sehr dar un ter? Es besteht ja
gar keine Bezie hung zwi schen uns, die sie zwin -
gen würde, durch mich zu lei den. Sie müßte sich
nur ent schlie ßen, mich als völ lig Frem den anzu -
sehn, der ich ja auch bin und der ich gegen einen
sol chen Ent schluß mich nicht weh ren, son dern
ihn sehr begrü ßen würde, sie müßte sich nur ent -
schlie ßen, meine Exi stenz zu ver ges sen, die ich
ihr ja nie mals auf ge drängt habe oder auf drän -
gen würde — und alles Leid wäre offen bar vor -
über. Ich sehe hie bei ganz von mir ab und
davon, daß ihr Ver hal ten natür lich auch mir
pein lich ist, ich sehe davon ab, weil ich ja wohl
erkenne, daß alle diese Pein lich keit nichts ist im
Ver gleich mit ihrem Leid. Wobei ich mir aller -
dings durch aus des sen bewußt bin, daß es kein
lie ben des Leid ist; es liegt ihr gar nichts daran,
mich wirk lich zu bes sern, zumal ja auch alles,
was sie an mir aus setzt, nicht von einer der ar ti -
gen Be schaf fen heit ist, daß mein Fort kom men
dadurch gestört würde. Aber mein Fort kom -
men küm mert sie eben auch nicht, sie küm mert
nichts ande res als ihr per sön li ches Inter esse,
näm lich die Qual zu rächen, die ich ihr bereite,
und die Qual, die ihr in Zukunft von mir droht,
zu ver hin dern. Ich habe schon ein mal ver sucht,
sie dar auf hin zu wei sen, wie die sem fort wäh ren -
den Ärger am besten ein Ende gemacht wer den
könnte, doch habe ich sie gerade dadurch in
eine der ar tige Auf wal lung gebracht, daß ich den
Ver such nicht mehr wie der ho len werde.
Auch liegt ja, wenn man will, eine gewisse Ver -
ant wor tung auf mir, denn so fremd mir die
kleine Frau auch ist, und so sehr die ein zige
Bezie hung, die zwi schen uns besteht, der Ärger
ist, den ich ihr bereite, oder viel mehr der Ärger,
den sie sich von mir berei ten läßt, dürfte es mir
doch nicht gleich gül tig sein, wie sie sicht bar
unter die sem Ärger auch kör per lich lei det. Es
kom men hie und da, sich meh rend in letz ter
Zeit, Nach rich ten zu mir, daß sie wie der ein mal
am Mor gen bleich, über näch tig, von Kopf -
schmer zen gequält und fast arbeits un fä hig gewe -
sen sei; sie macht damit ihren Ange hö ri gen Sor -
gen, man rät hin und her nach den Ursa chen
ihres Zustan des und hat sie bis her noch nicht
gefun den. Ich allein kenne sie, es ist der alte und
immer neue Ärger. Nun teile ich frei lich die Sor -
gen ihrer Ange hö ri gen nicht; sie ist stark und
zäh; wer sich so zu ärgern ver mag, ver mag wahr -
schein lich auch die Fol gen des Ärgers zu über -
win den; ich habe sogar den Ver dacht, daß sie
sich — wenig stens zum Teil — nur lei dend stellt,
um auf diese Weise den Ver dacht der Welt auf
mich hin zu len ken. Offen zu sagen, wie ich sie
durch mein Dasein quäle, ist sie zu stolz; an
andere mei net we gen zu appel lie ren, würde sie
als eine Her ab wür di gung ihrer selbst emp fin -
den; nur aus Wider wil len, aus einem nicht auf -
hö ren den, ewig sie antrei ben den Wider wil len
beschäf tigt sie sich mit mir; diese unreine Sache
auch noch vor der Öffent lich keit zu bespre chen,
das wäre für ihre Scham zu viel. Aber es ist doch
auch zu viel, von der Sache ganz zu schwei gen,
unter deren unauf hör li chem Druck sie steht.
Und so ver sucht sie in ihrer Frau en schlau heit
einen Mit tel weg; schwei gend, nur durch die
äußern Zei chen eines ge hei men Lei des will sie
die Ange le gen heit vor das Gericht der Öffent -
lich keit brin gen. Viel leicht hofft sie sogar, daß,
wenn die Öffent lich keit ein mal ihren vol len
Blick auf mich rich tet, ein all ge mei ner öffent li -
cher Ärger gegen mich ent ste hen und mit sei nen
gro ßen Macht mit teln mich bis zur voll stän di gen
End gül tig keit viel kräf ti ger und schnel ler rich -
ten wird, als es ihr ver hält nis mä ßig doch schwa -
cher pri va ter Ärger imstande ist; dann aber wird
sie sich zurück ziehen, auf at men und mir den
Rücken keh ren. Nun, soll ten dies wirk lich ihre
Hoff nun gen sein, so täuscht sie sich. Die Öffent -
lich keit wird nicht ihre Rolle über neh men; die
Öffent lich keit wird nie mals so unend lich viel an
mir aus zu set zen haben, auch wenn sie mich
unter ihre stärk ste Lupe nimmt. Ich bin kein so
un nüt zer Mensch, wie sie glaubt; ich will mich
nicht rüh men und beson ders nicht in die sem Zu -
sam men hang; wenn ich aber auch nicht durch
beson dere Brauch bar keit aus ge zeich net sein
sollte, werde ich doch auch gewiß nicht gegen tei -
lig auf fal len; nur für sie, für ihre fast wei ß strah -
len den Augen bin ich so, nie man den andern
wird sie davon über zeu gen kön nen. Also
könnte ich in die ser Hin sicht völ lig beru higt
sein? Nein, doch nicht; denn wenn es wirk lich
bekannt wird, daß ich sie gera dezu krank mache
durch mein Be neh men, und einige Auf pas ser,
eben die flei ßig sten Nach rich ten-Über brin ger,
sind schon nahe daran, es zu durch schauen oder
sie stel len sich wenig stens so, als durch schau ten
sie es, und es kommt die Welt und wird mir die
Frage stel len, warum ich denn die arme kleine
Frau durch meine Unver bes ser lich keit quäle
und ob ich sie etwa bis in den Tod zu trei ben
beab sich tige und wann ich end lich die Ver nunft
und das ein fa che mensch li che Mit ge fühl haben
werde, damit auf zu hö ren — wenn mich die Welt
so fra gen wird, es wird schwer sein, ihr zu ant -
wor ten. Soll ich dann ein ge stehn, daß ich an
jene Krank heits zei chen nicht sehr glaube und
soll ich damit den unan ge neh men Ein druck her -
vor ru fen, daß ich, um von einer Schuld los zu -
kom men, andere beschul dige und gar in so
unfei ner Weise? Und könnte ich etwa gar offen
sagen, daß ich, selbst wenn ich an ein wirk li ches
Krank sein glaubte, nicht das gering ste Mit ge -
fühl hätte, da mir ja die Frau völ lig fremd ist und
die Bezie hung, die zwi schen uns besteht, nur
von ihr her ge stellt ist und nur von ihrer Seite
aus besteht. Ich will nicht sagen, daß man mir
nicht glau ben würde; man würde mir viel mehr
weder glau ben noch nicht glau ben; man käme
gar nicht so weit, daß davon die Rede sein
könnte; man würde ledig lich die Ant wort regi -
strie ren, die ich hin sicht lich einer schwa chen,
kran ken Frau gege ben habe, und das wäre
wenig gün stig für mich. Hier wie bei jeder
andern Ant wort wird mir eben hart näc kig in die
Quere kom men die Unfä hig keit der Welt, in
einem Fall wie die sem den Ver dacht einer Lie -
bes be zie hung nicht auf kom men zu las sen, trotz -
dem es bis zur äußer sten Deut lich keit zutage
liegt, daß eine sol che Bezie hung nicht besteht
und daß, wenn sie beste hen würde, sie eher
noch von mir aus ginge, der ich tat säch lich die
kleine Frau in der Schlag kraft ihres Urteils und
der Uner müd lich keit ihrer Fol ge run gen immer -
hin zu bewun dern fähig wäre, wenn ich nicht
eben durch ihre Vor züge immer fort gestraft
würde. Bei ihr aber ist jeden falls keine Spur
einer freund li chen Bezie hung zu mir vor han -
den; darin ist sie auf rich tig und wahr; dar auf
ruht meine letzte Hoff nung; nicht ein mal, wenn
es in ihren Kriegs plan pas sen würde, an eine sol -
che Bezie hung zu mir glau ben zu machen,
würde sie sich soweit ver ges sen, etwas der ar ti -
ges zu tun. Aber die in die ser Rich tung völ lig
stumpfe Öffent lich keit wird bei ihrer Mei nung
blei ben und immer gegen mich ent schei den.
So bliebe mir eigent lich doch nur übrig, recht -
zei tig, ehe die Welt ein greift, mich soweit zu
ändern, daß ich den Ärger der klei nen Frau
nicht etwa besei tige, was undenk bar ist, aber
doch ein wenig mil dere. Und ich habe mich tat -
säch lich öfters gefragt, ob mich denn mein
gegen wär ti ger Zustand so befrie dige, daß ich
ihn gar nicht ändern wolle, und ob es denn nicht
mög lich wäre, gewisse Ände run gen an mir vor -
zu neh men, auch wenn ich es nicht täte, weil ich
von ihrer Not wen dig keit über zeugt wäre, son -
dern nur, um die Frau zu be sänf ti gen. Und ich
habe es ehr lich ver sucht, nicht ohne Mühe und
Sorg falt, es ent sprach mir sogar, es belu stigte
mich fast; ein zelne Ände run gen er ga ben sich,
waren weit hin sicht bar, ich mußte die Frau nicht
auf sie auf merk sam machen, sie merkt alles der -
ar tige frü her als ich, sie merkt schon den Aus -
druck der Absicht in mei nem Wesen; aber ein
Erfolg war mir nicht beschie den. Wie wäre es
auch mög lich? Ihre Unzu frie den heit mit mir ist
ja, wie ich jetzt schon ein sehe, eine grund sätz li -
che; nichts kann sie besei ti gen, nicht ein mal die
Besei ti gung mei ner selbst; ihre Wut an fälle etwa
bei der Nach richt mei nes Selb s tmo rdes wären
gren zen los. Nun kann ich mir nicht vor stel len,
daß sie, diese scharf sin nige Frau, dies nicht
ebenso ein sieht wie ich, und zwar sowohl die
Aus sichts lo sig keit ihrer Bemü hun gen als auch
meine Unschuld, meine Un fä hig keit, selbst bei
bestem Wil len ihren For de run gen zu ent spre -
chen. Gewiß sieht sie es ein, aber als Kämp fer na -
tur ver gißt sie es in der Lei den schaft des Kamp -
fes, und meine unglück liche Art, die ich aber
nicht anders wäh len kann, denn sie ist mir nun
ein mal so gege ben, besteht darin, daß ich jeman -
dem, der außer Rand und Band gera ten ist, eine
leise Mah nung zuflü stern will. Auf diese Weise
wer den wir uns natür lich nie ver stän di gen.
Immer wie der werde ich etwa im Glück der
ersten Mor gen stun den aus dem Hause tre ten
und die ses um mei net wil len ver grämte Gesicht
sehn, die ver drieß lich auf ge stülp ten Lip pen, den
prü fen den und schon vor der Prü fung das
Ergeb nis ken nen den Blick, der über mich hin -
fährt und dem selbst bei grö ß ter Flüch tig keit
nichts ent ge hen kann, das bit tere in die mäd -
chen hafte Wange sich ein boh rende Lächeln, das
kla gende Auf schauen zum Him mel, das Ein le -
gen der Hände in die Hüf ten, um sich zu festi -
gen, und dann in der Empö rung das Bleich wer -
den und Erzit tern.
Letzt hin machte ich, über haupt zum ersten -
mal, wie ich mir bei die ser Gele gen heit erstaunt
ein ge stand, einem guten Freund einige Andeu -
tun gen von die ser Sache, nur neben bei, leicht,
mit ein paar Wor ten, ich drück te die Bedeu tung
des Gan zen, so klein sie für mich nach außen
hin im Grunde ist, noch ein wenig unter die
Wahr heit hinab. Son der bar, daß der Freund den -
noch nicht dar über hin weg hörte, ja sogar aus
eige nem der Sache an Bedeu tung hin zugab, sich
nicht ablen ken ließ und dabei ver harrte. Noch
son der ba rer aller dings, daß er trotz dem in
einem ent schei den den Punkt die Sache unter -
schätzte, denn er riet mir ernst lich, ein wenig zu
ver rei sen. Kein Rat könnte unver stän di ger sein;
die Dinge lie gen zwar ein fach, jeder kann sie,
wenn er näher hin zu tritt, durch schauen, aber so
ein fach sind sie doch auch nicht, daß durch
mein Weg fah ren alles oder auch nur das Wich -
tig ste in Ord nung käme. Im Gegen teil, vor dem
Weg fah ren muß ich mich viel mehr hüten; wenn
ich über haupt irgend ei nen Plan befol gen soll,
dann jeden falls den, die Sache in ihren bis he ri -
gen, engen, die Außen welt noch nicht ein be zie -
hen den Gren zen zu hal ten, also ruhig zu blei -
ben, wo ich bin, und keine gro ßen, durch diese
Sache ver an la ß ten, auf fal len den Ver än de run gen
zuzu las sen, wozu auch gehört, mit nie man dem
davon zu spre chen, aber dies alles nicht des halb,
weil es irgend ein gefähr li ches Geheim nis wäre,
son dern des halb, weil es eine kleine, rein per sön -
li che und als sol che immer hin leicht zu tra gende
Ange le gen heit ist und weil sie die ses auch blei -
ben soll. Darin waren die Be mer kun gen des
Freun des doch nicht ohne Nut zen, sie haben
mich nichts Neues gelehrt, aber mich in mei ner
Grund an sicht bestärkt.
Wie es sich ja über haupt bei genaue rem Nach -
den ken zeigt, daß die Ver än de run gen, wel che
die Sach lage im Laufe der Zeit erfah ren zu
haben scheint, keine Ver än de run gen der Sache
selbst sind, son dern nur die Entwick lung mei ner
An schau ung von ihr, inso fern, als diese
Anschau ung teils ruhi ger, männ li cher wird, dem
Kern näher kommt, teils aller dings auch unter
dem nicht zu ver win den den Ein fluß der fort wäh -
ren den Er schüt te run gen, seien diese auch noch
so leicht, eine gewisse Ner vo si tät annimmt.
Ruhi ger werde ich der Sache gegen über,
indem ich zu erken nen glaube, daß eine Ent -
schei dung, so nahe sie manch mal bevor zu ste -
hen scheint, doch wohl noch nicht kom men
wird; man ist leicht ge neigt, beson ders in jun gen
Jah ren, das Tempo, in dem Ent schei dun gen
kom men, sehr zu über schät zen; wenn ein mal
meine kleine Rich te rin, schwach gewor den
durch mei nen Anblick, seit lich in den Ses sel
sank, mit der einen Hand sich an der
Rückenlehne fest hielt, mit der ande ren an ihrem
Schnür leib nestelte, und Trä nen des Zor nes und
der Ver zweif lung ihr die Wan gen hin ab roll ten,
dachte ich immer, nun sei die Ent schei dung da
und gleich würde ich vor ge ru fen wer den, mich
zu ver ant wor ten. Aber nichts von Ent schei -
dung, nichts von Ver ant wor tung, Frauen wird
leicht übel, die Welt hat nicht Zeit, auf alle Fälle
auf zu pas sen. Und was ist denn eigent lich in all
den Jah ren geschehn? Nichts wei ter, als daß sich
sol che Fälle wie der hol ten, ein mal stär ker, ein -
mal schwä cher, und daß nun also ihre Gesamt -
zahl grö ßer ist. Und daß Leute sich in der Nähe
her um trei ben und gern ein grei fen wür den,
wenn sie eine Mög lich keit dazu fin den wür den;
aber sie fin den keine, bis her ver las sen sie sich
nur auf ihre Wit te rung, und Wit te rung allein
genügt zwar, um ihren Be sit zer reich lich zu
beschäf ti gen, aber zu ande rem taugt sie nicht. So
aber war es im Grunde immer, immer gab es
diese unnüt zen Eckensteher und Luft ein at mer,
wel che ihre Nähe immer auf irgend eine über -
schlaue Weise, am lieb sten durch Ver wandt -
schaft, ent schul dig ten, immer haben sie auf ge -
paßt, immer haben sie die Nase voll Wit te rung
gehabt, aber das Ergeb nis alles des sen ist nur,
daß sie noch immer dastehn. Der ganze Unter -
schied besteht darin, daß ich sie all mäh lich
erkannt habe, ihre Gesich ter unter scheide; frü -
her habe ich ge glaubt, sie kämen all mäh lich von
über all her zu sam men, die Aus maße der Ange le -
gen heit ver grö ßer ten sich und wür den von
selbst die Ent schei dung erzwin gen; heute glaube
ich zu wis sen, daß das alles von alters her da war
und mit dem Her an kom men der Ent schei dung
sehr wenig oder nichts zu tun hat. Und die Ent -
schei dung selbst, warum benenne ich sie mit
einem so gro ßen Wort? Wenn es ein mal — und
gewiß nicht mor gen und über mor gen und wahr -
schein lich nie mals — dazu kom men sollte, daß
sich die Öffent lich keit doch mit die ser Sache, für
die sie, wie ich immer wie der ho len werde, nicht
zustän dig ist, beschäf tigt, werde ich zwar nicht
unbe schä digt aus dem Ver fah ren her vor ge hen,
aber es wird doch wohl in Betracht gezo gen wer -
den, daß ich der Öffent lich keit nicht unbe kannt
bin, in ihrem vol len Licht seit jeher lebe, ver trau -
ens voll und Ver trauen ver die nend, und daß des -
halb diese nach träg lich her vor ge kom mene lei -
dende kleine Frau, die neben bei be merkt ein
ande rer als ich viel leicht längst als Klette
erkannt und für die Öffent lich keit völ lig
geräusch los unter sei nem Stie fel zer tre ten hätte,
daß diese Frau doch schlimm sten falls nur einen
klei nen häß li chen Schnör kel dem Diplom hin zu -
fü gen könnte, in wel chem mich die Öffent lich -
keit längst als ihr ach tungs wer tes Mit glied
erklärt. Das ist der heu tige Stand der Dinge, der
also wenig geeig net ist, mich zu beun ru hi gen.
Daß ich mit den Jah ren doch ein wenig un ru -
hig gewor den bin, hat mit der eigent li chen Be -
deu tung der Sache gar nichts zu tun; man hält es
ein fach nicht aus, jeman den immer fort zu
ärgern, selbst wenn man die Grund lo sig keit des
Ärgers wohl erkennt; man wird unru hig, man
fängt an, gewis ser ma ßen nur kör per lich, auf Ent -
schei dun gen zu lau ern, auch wenn man an ihr
Kom men ver nünf ti ger weise nicht sehr glaubt.
Zum Teil aber han delt es sich auch nur um eine
Alters er schei nung; die Jugend klei det alles gut;
unschöne Ein zel hei ten ver lie ren sich in der
unauf hör li chen Kraft quelle der Jugend; mag
einer als Junge einen etwas lau ern den Blick
gehabt haben, er ist ihm nicht übel ge nom men,
er ist gar nicht be merkt wor den, nicht ein mal
von ihm selbst, aber, was im Alter übrig bleibt,
sind Reste, jeder ist nötig, kei ner wird erneut,
jeder steht unter Beob ach tung, und der lau -
ernde Blick eines altern den Man nes ist eben ein
ganz deut lich lau ern der Blick, und es ist nicht
schwie rig, ihn fest zu stel len. Nur ist es aber auch
hier keine wirk li che sach li che Ver schlim me -
rung.
Von wo aus also ich es auch ansehe, immer
wie der zeigt sich und dabei bleibe ich, daß,
wenn ich mit der Hand auch nur ganz leicht
diese kleine Sache ver deckt halte, ich noch sehr
lange, unge stört von der Welt, mein bis he ri ges
Leben ruhig werde fort set zen dür fen, trotz allen
Tobens der Frau.
EIN HUNGERKÜNSTLER
In den letz ten Jahr zehn ten ist das Inter esse an
Hun ger künst lern sehr zurück gegangen. Wäh -
rend es sich frü her gut lohnte, große der ar tige
Vor füh run gen in eige ner Regie zu ver an stal ten,
ist dies heute völ lig unmög lich. Es waren andere
Zei ten. Damals beschäf tigte sich die ganze Stadt
mit dem Hun ger künst ler; von Hun ger tag zu
Hun ger tag stieg die Teil nahme; jeder wollte den
Hun ger künst ler zumin dest ein mal täg lich sehn;
an den spä tern Tagen gab es Abon nen ten, wel -
che tage lang vor dem klei nen Git ter kä fig saßen;
auch in der Nacht fan den Besich ti gun gen statt,
zur Erhö hung der Wir kung bei Fackelschein;
an schö nen Tagen wurde der Käfig ins Freie
getra gen, und nun waren es beson ders die Kin -
der, denen der Hun ger künst ler gezeigt wurde;
wäh rend er für die Erwach se nen oft nur ein
Spaß war, an dem sie der Mode hal ber teil nah -
men, sahen die Kin der stau nend, mit offe nem
Mund, der Sicher heit hal ber ein an der bei der
Hand hal tend, zu, wie er bleich, im schwar zen
Tri kot, mit mäch tig vor tre ten den Rip pen, sogar
einen Ses sel ver schmä hend, auf hin ge streu tem
Stroh saß, ein mal höf lich nickend, ange strengt
lächelnd Fra gen beant wor tete, auch durch das
Git ter den Arm streck te, um seine Mager keit
befüh len zu las sen, dann aber wie der ganz in
sich selbst ver sank, um nie man den sich küm -
merte, nicht ein mal um den für ihn so wich ti gen
Schlag der Uhr, die das ein zige Möbel stück des
Käfigs war, son dern nur vor sich hin sah mit fast
geschlos se nen Augen und hie und da aus einem
win zi gen Gläs chen Was ser nippte, um sich die
Lip pen zu feuch ten.
Außer den wech seln den Zuschau ern waren
auch stän dige, vom Publi kum gewählte Wäch -
ter da, merk wür di ger weise gewöhn lich Fleisch -
hauer, wel che, immer drei gleich zei tig, die Auf -
gabe hat ten, Tag und Nacht den Hun ger künst -
ler zu beob ach ten, damit er nicht etwa auf
irgend eine heim li che Weise doch Nah rung zu
sich nehme. Es war das aber ledig lich eine For -
ma li tät, ein ge führt zur Be ru hi gung der Mas sen,
denn die Ein ge weih ten wuß ten wohl, daß der
Hun ger künst ler wäh rend der Hun ger zeit nie -
mals, unter kei nen Umstän den, selbst unter
Zwang nicht, auch das Gering ste nur geges sen
hätte; die Ehre sei ner Kunst ver bot dies. Frei -
lich, nicht jeder Wäch ter konnte das begrei fen,
es fan den sich manch mal nächt li che Wach grup -
pen, wel che die Bewa chung sehr lax durch führ -
ten, ab sicht lich in eine ferne Ecke sich zusam -
men setz ten und dort sich ins Kar ten spiel ver tief -
ten, in der offen ba ren Absicht, dem Hun ger -
künst ler eine kleine Erfri schung zu gön nen, die
er ihrer Mei nung nach aus irgend wel chen gehei -
men Vor rä ten her vor ho len konnte. Nichts war
dem Hun ger künst ler quä len der als sol che
Wäch ter; sie mach ten ihn trüb se lig; sie mach ten
ihm das Hun gern ent setz lich schwer; manch mal
über wand er seine Schwä che und sang wäh rend
die ser Wach zeit, so lange er es nur aus hielt, um
den Leu ten zu zei gen, wie unge recht sie ihn ver -
däch tig ten. Doch half das wenig; sie wun der ten
sich dann nur über seine Ge schick lichkeit, selbst
wäh rend des Sin gens zu essen. Viel lie ber waren
ihm die Wäch ter, wel che sich eng zum Git ter
setz ten, mit der trü ben Nacht be leuch tung des
Saa les sich nicht begnüg ten, son dern ihn mit
den elek tri schen Taschen lam pen be strahl ten,
die ihnen der Impre sa rio zur Ver fü gung stellte.
Das grelle Licht störte ihn gar nicht, schla fen
konnte er ja über haupt nicht, und ein wenig hin -
däm mern konnte er immer, bei jeder Beleuch -
tung und zu jeder Stunde, auch im über vol len,
lär men den Saal. Er war sehr gerne bereit, mit
sol chen Wäch tern die Nacht gänz lich ohne
Schlaf zu ver brin gen; er war bereit, mit ihnen zu
scher zen, ihnen Geschich ten aus sei nem Wan -
der le ben zu er zäh len, dann wie der ihre Erzäh -
lun gen anzu hö ren, alles nur um sie wach zu hal -
ten, um ihnen immer wie der zei gen zu kön nen,
daß er nichts Eßba res im Käfig hatte und daß er
hun gerte, wie kei ner von ihnen es könnte. Am
glück lichsten aber war er, wenn dann der Mor -
gen kam, und ihnen auf seine Rech nung ein
über rei ches Früh stück gebracht wurde, auf das
sie sich war fen mit dem Appe tit gesun der Män -
ner nach einer mühe voll durch wach ten Nacht.
Es gab zwar sogar Leute, die in die sem Früh -
stück eine unge bühr li che Beein flus sung der
Wäch ter sehen woll ten, aber das ging doch zu
weit, und wenn man sie fragte, ob etwa sie nur
um der Sache wil len ohne Früh stück die Nacht -
wa che über neh men woll ten, ver zo gen sie sich,
aber bei ihren Ver däch ti gun gen blie ben sie den -
noch.
Die ses aller dings gehörte schon zu den vom
Hun gern über haupt nicht zu tren nen den Ver -
däch ti gun gen. Nie mand war ja imstande, alle
die Tage und Nächte beim Hun ger künst ler
unun ter bro chen als Wäch ter zu ver brin gen, nie -
mand also konnte aus eige ner Anschau ung wis -
sen, ob wirk lich un un ter bro chen, feh ler los
gehun gert wor den war; nur der Hun ger künst ler
selbst konnte das wis sen, nur er also gleich zei tig
der von sei nem Hun gern voll kom men befrie -
digte Zuschauer sein. Er aber war wie der aus
einem andern Grunde nie mals be frie digt; viel -
leicht war er gar nicht vom Hun gern so sehr
abge ma gert, daß man che zu ihrem Be dau ern
den Vor füh run gen fern blei ben muß ten, weil sie
sei nen Anblick nicht ertru gen, son dern er war
nur so abge ma gert aus Unzu frie den heit mit sich
selbst. Er allein näm lich wußte, auch kein Ein ge -
weih ter sonst wußte das, wie leicht das Hun gern
war. Es war die leich te ste Sache von der Welt. Er
ver schwieg es auch nicht, aber man glaubte ihm
nicht, hielt ihn gün stig sten falls für beschei den,
meist aber für rekla me süch tig oder gar für einen
Schwind ler, dem das Hun gern aller dings leicht
war, weil er es sich leicht zu machen ver stand,
und der auch noch die Stirn hatte, es halb zu
gestehn. Das alles mußte er hin neh men, hatte
sich auch im Laufe der Jahre daran gewöhnt,
aber inner lich nagte diese Unbe frie digt heit
immer an ihm, und noch nie mals, nach kei ner
Hun ger pe ri ode — die ses Zeug nis mußte man
ihm aus stel len — hatte er frei wil lig den Käfig ver -
las sen. Als Höchst zeit für das Hun gern hatte der
Impre sa rio vier zig Tage fest ge setzt, dar über hin -
aus ließ er nie mals hun gern, auch in den Welt -
städ ten nicht, und zwar aus gutem Grund. Vier -
zig Tage etwa konnte man erfah rungs ge mäß
durch all mäh lich sich stei gernde Reklame das
Inter esse einer Stadt immer mehr auf sta cheln,
dann aber ver sagte das Publi kum, eine wesent li -
che Abnahme des Zuspruchs war fest zu stel len;
es bestan den natür lich in die ser Hin sicht kleine
Unter schiede zwi schen den Städ ten und Län -
dern, als Regel aber galt, daß vier zig Tage die
Höchst zeit war. Dann also am vier zig sten Tage
wurde die Tür des mit Blu men umkränz ten
Käfigs geöff net, eine begei sterte Zuschau er -
schaft erfüllte das Amphi thea ter, eine Mili tär ka -
pelle spielte, zwei Ärzte betra ten den Käfig, um
die nöti gen Mes sun gen am Hun ger künst ler vor -
zu neh men, durch ein Mega phon wur den die
Resul tate dem Saale ver kün det, und schließ lich
kamen zwei junge Damen, glück lich dar über,
daß gerade sie aus ge lost wor den waren, und
woll ten den Hun ger künst ler aus dem Käfig ein
paar Stu fen hin ab füh ren, wo auf einem klei nen
Tisch chen eine sorg fäl tig aus ge wählte Kran ken -
mahl zeit ser viert war. Und in die sem Augen -
blick wehrte sich der Hun ger künst ler immer.
Zwar legte er noch frei wil lig seine Kno chen -
arme in die hilfs be reit aus ge streck ten Hände der
zu ihm hin ab ge beug ten Damen, aber auf ste hen
wollte er nicht. Warum ge rade jetzt nach vier zig
Tagen auf hö ren? Er hätte es noch lange, unbe -
schränkt lange aus ge hal ten; warum gerade jetzt
auf hö ren, wo er im besten, ja noch nicht ein mal
im besten Hun gern war? Warum wollte man
ihn des Ruh mes berau ben, wei ter zu hun gern,
nicht nur der grö ßte Hun ger künst ler aller Zei -
ten zu wer den, der er ja wahr schein lich schon
war, aber auch noch sich selbst zu über tref fen
bis ins Unbe greif li che, denn für seine Fähig keit
zu hun gern fühlte er keine Gren zen. Warum
hatte diese Menge, die ihn so sehr zu bewun -
dern vor gab, so wenig Geduld mit ihm; wenn er
es aus hielt, noch wei ter zu hun gern, warum
wollte sie es nicht aus hal ten? Auch war er müde,
saß gut im Stroh und sollte sich nun hoch und
lang auf rich ten und zu dem Essen gehn, das ihm
schon allein in der Vor stel lung Übel kei ten ver ur -
sachte, deren Äuße rung er nur mit Rück sicht
auf die Damen müh se lig unter drück te. Und er
blick te empor in die Augen der schein bar so
freund li chen, in Wirk lich keit so grau sa men
Damen und schüt telte den auf dem schwa chen
Halse über schwe ren Kopf. Aber dann geschah,
was immer geschah. Der Impre sa rio kam, hob
stumm — die Musik machte das Reden un mög -
lich — die Arme über dem Hun ger künst ler, so,
als lade er den Him mel ein, sich sein Werk hier
auf dem Stroh ein mal anzu sehn, die sen bedau -
erns wer ten Mär ty rer, wel cher der Hun ger künst -
ler aller dings war, nur in ganz ande rem Sinn;
faßte den Hun ger künst ler um die dünne Taille,
wobei er durch über trie bene Vor sicht glaub haft
machen wollte, mit einem wie gebrech li chen
Ding er es hier zu tun habe; und über gab ihn —
nicht ohne ihn im gehei men ein wenig zu schüt -
teln, so daß der Hun ger künst ler mit den Bei nen
und dem Ober kör per unbe herrscht hin und her
schwankte — den inzwi schen toten bleich gewor -
de nen Damen. Nun dul dete der Hun ger künst -
ler alles; der Kopf lag auf der Brust, es war, als
sei er hin ge rollt und halte sich dort uner klär lich;
der Leib war aus ge höhlt; die Beine drück ten
sich im Selbst er hal tungs trieb fest in den Knien
anein an der, scharr ten aber doch den Boden, so,
als sei es nicht der wirk li che, den wirk li chen
such ten sie erst; und die ganze, aller dings sehr
kleine Last des Kör pers lag auf einer der
Damen, wel che hil fe su chend, mit flie gen dem
Atem — so hatte sie sich die ses Ehren amt nicht
vor ge stellt — zuerst den Hals mög lichst streck te,
um wenig stens das Gesicht vor der Berüh rung
mit dem Hun ger künst ler zu bewah ren, dann
aber, da ihr dies nicht gelang und ihre glück -
lichere Ge fähr tin ihr nicht zu Hilfe kam, son -
dern sich damit begnügte, zit ternd die Hand des
Hun ger künst lers, die ses kleine Kno chen bün del,
vor sich her zu tra gen, unter dem entzück ten
Geläch ter des Saa les in Wei nen aus brach und
von einem längst bereit ge stell ten Die ner abge -
löst wer den mußte. Dann kam das Essen, von
dem der Impre sa rio dem Hun ger künst ler wäh -
rend eines ohn macht ähn li chen Halb schla fes ein
wenig ein flö ßte, unter lusti gem Plau dern, das
die Auf merk sam keit vom Zustand des Hun ger -
künst lers ablen ken sollte; dann wurde noch ein
Trink spruch auf das Publi kum aus ge bracht, wel -
cher dem Impre sa rio angeb lich vom Hun ger -
künst ler zuge flü stert wor den war; das Or che ster
bekräf tigte alles durch einen gro ßen Tusch, man
ging aus ein an der, und nie mand hatte das Recht,
mit dem Gese he nen unzu frie den zu sein, nie -
mand, nur der Hun ger künst ler, immer nur er.
So lebte er mit regel mä ßi gen klei nen Ruhe pau -
sen viele Jahre, in schein ba rem Glanz, von der
Welt geehrt, bei alle dem aber meist in trü ber
Laune, die immer noch trü ber wurde dadurch,
daß nie mand sie ernst zu neh men ver stand.
Womit sollte man ihn auch trö sten? Was blieb
ihm zu wün schen übrig? Und wenn sich ein mal
ein Gut mü ti ger fand, der ihn bedau erte und ihm
erklä ren wollte, daß seine Trau rig keit wahr -
schein lich von dem Hun gern käme, konnte es,
beson ders bei vor ge schrit te ner Hun ger zeit,
geschehn, daß der Hun ger künst ler mit einem
Wut aus bruch ant wor tete und zum Schrec ken
aller wie ein Tier an dem Git ter zu rüt teln
begann. Doch hatte für sol che Zustände der
Impre sa rio ein Straf mit tel, das er gern
anwandte. Er ent schul digte den Hun ger künst -
ler vor ver sam mel tem Publi kum, gab zu, daß
nur die durch das Hun gern her vor ge ru fene, für
satte Men schen nicht ohne wei te res begreif li che
Reiz bar keit das Beneh men des Hun ger künst lers
ver zeih lich machen könne; kam dann im Zusam -
men hang damit auch auf die ebenso zu erklä -
rende Behaup tung des Hun ger künst lers zu spre -
chen, er könnte noch viel län ger hun gern, als er
hun gere; lobte das hohe Stre ben, den guten Wil -
len, die große Selbst ver leug nung, die gewiß
auch in die ser Behaup tung ent hal ten seien;
suchte dann aber die Behaup tung ein fach genug
durch Vor zei gen von Pho to gra phien, die gleich -
zei tig ver kauft wur den, zu wider le gen, denn auf
den Bil dern sah man den Hun ger künst ler an
einem vier zig sten Hun ger tag, im Bett, fast ver -
löscht vor Ent kräf tung. Diese dem Hun ger -
künst ler zwar wohl be kannte, immer aber von
neuem ihn ent ner vende Ver dre hung der Wahr -
heit war ihm zu viel. Was die Folge der vor zei ti -
gen Been di gung des Hun gerns war, stellte man
hier als die Ursa che dar! Gegen die sen Un ver -
stand, gegen diese Welt des Unver stan des zu
kämp fen, war unmög lich. Noch hatte er immer
wie der in gutem Glau ben begie rig am Git ter
dem Impre sa rio zuge hört, beim Erschei nen der
Pho to gra phien aber ließ er das Git ter jedes mal
los, sank mit Seuf zen ins Stroh zurück, und das
beru higte Publi kum konnte wie der her an kom -
men und ihn besich ti gen.
Wenn die Zeu gen sol cher Sze nen ein paar
Jahre spä ter daran zurück dachten, wur den sie
sich oft selbst unver ständ lich. Denn inzwi schen
war jener erwähnte Umschwung ein ge tre ten;
fast plötz lich war das gesche hen; es mochte tie -
fere Gründe ha ben, aber wem lag daran, sie auf -
zu fin den; jeden falls sah sich eines Tages der ver -
wöhnte Hun ger künst ler von der ver gnü gungs -
süch ti gen Menge ver las sen, die lie ber zu ande -
ren Schau stel lun gen strömte. Noch ein mal jagte
der Impre sa rio mit ihm durch halb Europa, um
zu sehn, ob sich nicht noch hie und da das alte
Inter esse wie der fände; alles ver geb lich; wie in
einem gehei men Ein ver ständ nis hatte sich über -
all gera dezu eine Abnei gung gegen das Schau -
hun gern aus ge bil det. Natür lich hatte das in
Wirk lich keit nicht plötz lich so kom men kön -
nen, und man erin nerte sich jetzt nach träg lich
an man che zu ihrer Zeit im Rausch der Erfolge
nicht ge nü gend beach tete, nicht genü gend unter -
drück te Vor bo ten, aber jetzt etwas dage gen zu
unter neh men, war zu spät. Zwar war es sicher,
daß ein mal auch für das Hun gern wie der die
Zeit kom men werde, aber für die Leben den war
das kein Trost. Was sollte nun der Hun ger künst -
ler tun? Der, wel chen Tau sende umju belt hat -
ten, konnte sich nicht in Schau bu den auf klei -
nen Jahr märk ten zei gen, und um einen andern
Beruf zu ergrei fen, war der Hun ger künst ler
nicht nur zu alt, son dern vor allem dem Hun -
gern allzu fana tisch erge ben. So ver ab schie dete
er denn den Impre sa rio, den Ge nos sen einer
Lauf bahn ohne glei chen, und ließ sich von
einem gro ßen Zir kus enga gie ren; um seine Emp -
find lich keit zu scho nen, sah er die Ver trags be din -
gun gen gar nicht an.
Ein gro ßer Zir kus mit sei ner Unzahl von ein -
an der immer wie der aus glei chen den und ergän -
zen den Men schen und Tie ren und Appa ra ten
kann jeden und zu jeder Zeit gebrau chen, auch
einen Hun ger künst ler, bei ent spre chend beschei -
de nen Ansprü chen natür lich, und außer dem
war es ja in die sem beson de ren Fall nicht nur
der Hun ger künst ler selbst, der enga giert wurde,
son dern auch sein alter berühm ter Name, ja
man konnte bei der Eigen art die ser im zuneh -
men den Alter nicht ab neh men den Kunst nicht
ein mal sagen, daß ein aus ge dien ter, nicht mehr
auf der Höhe sei nes Kön nens ste hen der Künst -
ler sich in einen ruhi gen Zir kus po sten flüch ten
wolle, im Gegen teil, der Hun ger künst ler ver si -
cherte, daß er, was durch aus glaub wür dig war,
eben so gut hun gere wie frü her, ja er behaup tete
sogar, er werde, wenn man ihm sei nen Wil len
lasse, und dies ver sprach man ihm ohne wei te -
res, eigent lich erst jetzt die Welt in berech tig tes
Erstau nen set zen, eine Behaup tung aller dings,
die mit Rück sicht auf die Zeit stim mung, wel che
der Hun ger künst ler im Eifer leicht ver gaß, bei
den Fach leu ten nur ein Lächeln her vor rief.
Im Grunde aber ver lor auch der Hun ger künst -
ler den Blick für die wirk li chen Ver hält nisse
nicht und nahm es als selbst ver ständ lich hin,
daß man ihn mit sei nem Käfig nicht etwa als
Glanz num mer mit ten in die Manege stellte, son -
dern drau ßen an einem im übri gen recht gut
zugäng li chen Ort in der Nähe der Stal lun gen
unter brachte. Große, bunt gemalte Auf schrif ten
umrahm ten den Käfig und ver kün de ten, was
dort zu sehen war. Wenn das Publi kum in den
Pau sen der Vor stel lung zu den Stäl len drängte,
um die Tiere zu besich ti gen, war es fast unver -
meid lich, daß es beim Hun ger künst ler vor über -
kam und ein wenig dort halt machte, man wäre
viel leicht län ger bei ihm ge blie ben, wenn nicht
in dem schma len Gang die Nach drän gen den,
wel che die sen Auf ent halt auf dem Weg zu den
ersehn ten Stäl len nicht ver stan den, eine län gere
ruhige Betrach tung unmög lich gemacht hät ten.
Die ses war auch der Grund, war um der Hun ger -
künst ler vor die sen Besuchs zei ten, die er als sei -
nen Lebens zweck natür lich her bei wünschte,
doch auch wie der zit terte. In der ersten Zeit
hatte er die Vor stel lungs pau sen kaum erwar ten
kön nen; ent zückt hatte er der sich her an wäl zen -
den Menge ent ge gen ge sehn, bis er sich nur zu
bald — auch die hart näc kigste, fast bewu ßte
Selbst täu schung hielt den Erfah run gen nicht
stand — davon über zeugte, daß es zumeist der
Absicht nach, immer wie der, aus nahms los, lau -
ter Stall be su cher waren. Und die ser Anblick
von der Ferne blieb noch immer der schön ste.
Denn wenn sie bis zu ihm her an ge kom men
waren, umtobte ihn sofort Geschrei und Schimp -
fen der unun ter bro chen neu sich bil den den Par -
teien, jener, wel che — sie wurde dem Hun ger -
künst ler bald die pein li chere — ihn be quem anse -
hen wollte, nicht etwa aus Ver ständ nis, son dern
aus Laune und Trotz, und jener zwei ten, die
zunächst nur nach den Stäl len ver langte. War
der große Haufe vor über, dann kamen die Nach -
züg ler, und diese aller dings, denen es nicht mehr
ver wehrt war, ste hen zu blei ben, solange sie nur
Lust hat ten, eil ten mit lan gen Schrit ten, fast
ohne Sei ten blick, vor über, um recht zei tig zu den
Tie ren zu kom men. Und es war kein allzu häu fi -
ger Glücks fall, daß ein Fami lien va ter mit sei nen
Kin dern kam, mit dem Fin ger auf den Hun ger -
künst ler zeigte, aus führ lich erklärte, um was es
sich hier han delte, von frü he ren Jah ren erzählte,
wo er bei ähn li chen, aber unver gleich lich gro ß ar -
ti ge ren Vor füh run gen gewe sen war, und dann
die Kin der, wegen ihrer unge nü gen den Vor be rei -
tung von Schule und Leben her, zwar immer
noch ver ständ nis los blie ben — was war ihnen
Hun gern? — aber doch in dem Glanz ihrer for -
schen den Augen etwas von neuen, kom men -
den, gnä di ge ren Zei ten ver rie ten. Viel leicht, so
sagte sich der Hun ger künst ler dann manch mal,
würde alles doch ein wenig bes ser wer den,
wenn sein Stand ort nicht gar so nahe bei den
Stäl len wäre. Den Leu ten wurde dadurch die
Wahl zu leicht gemacht, nicht zu reden davon,
daß ihn die Aus dün stun gen der Ställe, die
Unruhe der Tiere in der Nacht, das Vor über tra -
gen der rohen Fleisch stüc ke für die Raub tiere,
die Schreie bei der Füt te rung sehr ver letz ten
und dau ernd be drück ten. Aber bei der Direk -
tion vor stel lig zu wer den, wagte er nicht; immer -
hin ver dankte er ja den Tie ren die Menge der
Besu cher, unter denen sich hie und da auch ein
für ihn Bestimm ter fin den konnte, und wer
wußte, wohin man ihn verstec ken würde, wenn
er an seine Exi stenz erin nern wollte und damit
auch daran, daß er, genau genom men, nur ein
Hin der nis auf dem Weg zu den Stäl len war. Ein
klei nes Hin der nis aller dings, ein immer klei ner
wer den des Hin der nis. Man gewöhnte sich an
die Son der bar keit, in den heu ti gen Zei ten Auf -
merk sam keit für einen Hun ger künst ler bean -
spru chen zu wol len, und mit die ser Gewöh nung
war das Urteil über ihn gespro chen. Er mochte
so gut hun gern, als er nur konnte, und er tat es,
aber nichts konnte ihn mehr ret ten, man ging an
ihm vor über. Ver su che, jeman dem die Hun ger -
kunst zu erklä ren! Wer es nicht fühlt, dem kann
man es nicht begreif lich machen. Die schö nen
Auf schrif ten wur den schmut zig und unle ser lich,
man riß sie her un ter, nie man dem fiel es ein, sie
zu erset zen; das Täfel chen mit der Zif fer der
abge lei ste ten Hun ger tage, das in der ersten Zeit
sorg fäl tig täg lich erneut wor den war, blieb schon
längst immer das glei che, denn nach den ersten
Wochen war das Per so nal selbst die ser klei nen
Arbeit über drüs sig gewor den; und so hun gerte
zwar der Hun ger künst ler wei ter, wie er es frü her
ein mal erträumt hatte, und es gelang ihm ohne
Mühe ganz so, wie er es damals vor aus ge sagt
hatte, aber nie mand zählte die Tage, nie mand,
nicht ein mal der Hun ger künst ler selbst wußte,
wie groß die Lei stung schon war, und sein Herz
wurde schwer. Und wenn ein mal in der Zeit ein
Müßig gän ger ste hen blieb, sich über die alte Zif -
fer lustig machte und von Schwin del sprach, so
war das in die sem Sinn die dümm ste Lüge, wel -
che Gleich gül tig keit und ein ge bo rene Bös ar tig -
keit erfin den konnte, denn nicht der Hun ger -
künst ler betrog, er arbei tete ehr lich, aber die
Welt betrog ihn um sei nen Lohn.
Doch ver gin gen wie der viele Tage, und auch
das nahm ein Ende. Ein mal fiel einem Auf se her
der Käfig auf, und er fragte die Die ner, warum
man hier die sen gut brauch ba ren Käfig mit dem
ver faul ten Stroh drin nen unbe nutzt ste hen
lasse; nie mand wußte es, bis sich einer mit Hilfe
der Zif fer ta fel an den Hun ger künst ler erin nerte.
Man rührte mit Stan gen das Stroh auf und fand
den Hun ger künst ler darin. »Du hun gerst noch
immer ?« fragte der Auf se her, »wann wirst du
denn end lich auf hö ren?« »Ver zeiht mir alle«, flü -
sterte der Hun ger künst ler; nur der Auf se her,
der das Ohr ans Git ter hielt, ver stand ihn.
»Gewiß,« sagte der Auf se her und legte den Fin -
ger an die Stirn, um damit den Zustand des Hun -
ger künst lers dem Per so nal anzu deu ten, »wir ver -
zei hen dir.« »Immer fort wollte ich, daß ihr mein
Hun gern bewun dert«, sagte der Hun ger künst -
ler. »Wir bewun dern es auch«, sagte der Auf se -
her ent ge gen kom mend. »Ihr sollte es aber nicht
bewun dern«, sagte der Hun ger künst ler. »Nun,
dann bewun dern wir es also nicht,« sagte der
Auf se her, »warum sol len wir es denn nicht
bewun dern?« »Weil ich hun gern muß, ich kann
nicht anders«, sagte der Hun ger künst ler. »Da
sieh mal einer,« sagte der Auf se her, »warum
kannst du denn nicht anders?« »Weil ich,« sagte
der Hun ger künst ler, hob das Köpf chen ein
wenig und sprach mit wie zum Kuß gespitz ten
Lip pen gerade in das Ohr des Auf se hers hin ein,
damit nichts ver lo ren ginge, »weil ich nicht die
Speise fin den konnte, die mir schmeckt. Hätte
ich sie gefun den, glaube mir, ich hätte kein Auf -
se hen gemacht und mich voll ge ges sen wie du
und alle.« Das waren die letz ten Worte, aber
noch in sei nen gebro che nen Augen war die
feste, wenn auch nicht mehr stolze Über zeu -
gung, daß er wei ter hungre.
»Nun macht aber Ord nung!« sagte der Auf se -
her, und man begrub den Hun ger künst ler samt
dem Stroh. In den Käfig aber gab man einen jun -
gen Pan ther. Es war eine selbst dem stumpf sten
Sinn fühl bare Erho lung, in dem so lange öden
Käfig die ses wilde Tier sich her um wer fen zu
sehn. Ihm fehlte nichts. Die Nah rung, die ihm
schmeck te, brach ten ihm ohne lan ges Nach den -
ken die Wäch ter; nicht ein mal die Frei heit
schien er zu ver mis sen; die ser edle, mit allem
Nöti gen bis knapp zum Zer rei ßen aus ge stat tete
Kör per schien auch die Frei heit mit sich her um -
zu tra gen; irgend wo im Gebiß schien sie zu stek -
ken; und die Freude am Leben kam mit der art
star ker Glut aus sei nem Rachen, daß es für die
Zuschauer nicht leicht war, ihr stand zu hal ten.
Aber sie über wan den sich, um dräng ten den
Käfig und woll ten sich gar nicht fort rüh ren.
JOSEFINE, DIE SÄNGERIN
ODER
DAS VOLK DER MÄUSE
Unsere Sän ge rin heißt Jose fine. Wer sie nicht
gehört hat, kennt nicht die Macht des Gesan ges.
Es gibt nie man den, den ihr Gesang nicht fort -
reißt, was umso höher zu bewer ten ist, als unser
Ge schlecht im gan zen Musik nicht liebt. Stil ler
Frie den ist uns die lieb ste Musik; unser Leben
ist schwer, wir kön nen uns, auch wenn wir ein -
mal alle Tages sor gen abzu schüt teln ver sucht
haben, nicht mehr zu sol chen, unse rem son sti -
gen Leben so fer nen Din gen erhe ben, wie es die
Musik ist. Doch be kla gen wir es nicht sehr;
nicht ein mal so weit kom men wir; eine gewisse
prak ti sche Schlau heit, die wir frei lich auch
äußerst drin gend brau chen, hal ten wir für
unsern grö ß ten Vor zug, und mit dem Lächeln
die ser Schlau heit pfle gen wir uns über alles hin -
weg zu trö sten, auch wenn wir ein mal — was aber
nicht geschieht — das Ver lan gen nach dem
Glück haben soll ten, das von der Musik viel -
leicht aus geht. Nur Jose fine macht eine Aus -
nahme; sie liebt die Musik und weiß sie auch zu
ver mit teln; sie ist die ein zige; mit ihrem Hin gang
wird die Musik — wer weiß wie lange — aus unse -
rem Leben ver schwin den.
Ich habe oft dar über nach ge dacht, wie es sich
mit die ser Musik eigent lich ver hält. Wir sind
doch ganz unmu si ka lisch; wie kommt es, daß
wir Jose fi nens Gesang ver stehn oder, da Jose fine
unser Ver ständ nis leug net, wenig stens zu ver ste -
hen glau ben. Die ein fach ste Ant wort wäre, daß
die Schön heit die ses Gesan ges so groß ist, daß
auch der stumpf ste Sinn ihr nicht wider ste hen
kann, aber diese Ant wort ist nicht befrie di gend.
Wenn es wirk lich so wäre, müßte man vor die -
sem Gesang zunächst und immer das Gefühl
des Außer or dent li chen haben, das Gefühl, aus
die ser Kehle er klinge etwas, was wir nie vor her
gehört haben und das zu hören wir auch gar
nicht die Fähig keit haben, etwas, was zu hören
uns nur diese eine Jose fine und nie mand sonst
befä higt. Gerade das trifft aber mei ner Mei nung
nach nicht zu, ich fühle es nicht und habe auch
bei andern nichts der glei chen bemerkt. Im ver -
trau ten Kreise geste hen wir ein an der offen, daß
Jose fi nens Gesang als Ge sang nichts Außer or -
dent li ches dar stellt.
Ist es denn über haupt Gesang? Trotz unse rer
Unmu si ka li tät haben wir Gesangs über lie fe run -
gen; in den alten Zei ten unse res Vol kes gab es
Gesang; Sagen erzäh len davon und sogar Lie -
der sind er hal ten, die frei lich nie mand mehr sin -
gen kann. Eine Ahnung des sen, was Gesang ist,
haben wir also und die ser Ahnung nun ent -
spricht Jose fi nens Kunst eigent lich nicht. Ist es
denn über haupt Ge sang? Ist es nicht viel leicht
doch nur ein Pfei fen? Und Pfei fen aller dings
ken nen wir alle, es ist die eigent li che Kunst fer tig -
keit unse res Vol kes, oder viel mehr gar keine Fer -
tig keit, son dern eine cha rak ter isti sche Lebens äu -
ße rung. Alle pfei fen wir, aber frei lich denkt nie -
mand daran, das als Kunst aus zu ge ben, wir pfei -
fen, ohne dar auf zu ach ten, ja, ohne es zu mer -
ken und es gibt sogar viele unter uns, die gar
nicht wis sen, daß das Pfei fen zu unsern Eigen -
tüm lich kei ten gehört. Wenn es also wahr wäre,
daß Jose fine nicht singt, son dern nur pfeift und
viel leicht gar, wie es mir wenig stens scheint,
über die Gren zen des übli chen Pfei fens kaum
hin aus kommt — ja viel leicht reicht ihre Kraft für
die ses übli che Pfei fen nicht ein mal ganz hin,
wäh rend es ein gewöhn li cher Erd ar bei ter ohne
Mühe den gan zen Tag über neben sei ner Arbeit
zustan de b ringt — wenn das alles wahr wäre,
dann wäre zwar Jose fi nens angeb li che Künst ler -
schaft wider legt, aber es wäre dann erst recht
das Rät sel ihrer gro ßen Wir kung zu lösen.
Es ist aber eben doch nicht nur Pfei fen, was sie
pro du ziert. Stellt man sich recht weit von ihr hin
und horcht, oder noch bes ser, läßt man sich in
die ser Hin sicht prü fen, singt also Jose fine etwa
unter andern Stim men und setzt man sich die
Auf gabe, ihre Stimme zu erken nen, dann wird
man un wei ger lich nichts ande res her aus hö ren,
als ein ge wöhn li ches, höch stens durch Zart heit
oder Schwä che ein wenig auf fal len des Pfei fen.
Aber steht man vor ihr, ist es doch nicht nur ein
Pfei fen; es ist zum Ver ständ nis ihrer Kunst not -
wen dig, sie nicht nur zu hören son dern auch zu
sehn. Selbst wenn es nur unser tag täg li ches Pfei -
fen wäre, so besteht hier doch schon zunächst
die Son der bar keit, daß je mand sich fei er lich hin -
stellt, um nichts ande res als das Übli che zu tun.
Eine Nuß aufknac ken ist wahr haf tig keine
Kunst, des halb wird es auch nie mand wagen,
ein Publi kum zusam men zu ru fen und vor ihm,
um es zu unter hal ten, Nüsse knac ken. Tut er es
den noch und gelingt seine Absicht, dann kann
es sich eben doch nicht nur um blo ßes Nüsse -
knac ken han deln. Oder es han delt sich um
Nüsse knac ken, aber es stellt sich her aus, daß
wir über diese Kunst hin weg ge se hen haben,
weil wir sie glatt beherrsch ten und daß uns die -
ser neue Nuß knac ker erst ihr eigent li ches
Wesen zeigt, wobei es dann für die Wir kung
sogar nütz lich sein könnte, wenn er etwas weni -
ger tüch tig im Nüsse knac ken ist als die Mehr -
zahl von uns.
Viel leicht ver hält es sich ähn lich mit Jose fi -
nens Gesang; wir bewun dern an ihr das, was
wir an uns gar nicht bewun dern; übri gens
stimmt sie in letz te rer Hin sicht mit uns völ lig
über ein. Ich war ein mal zuge gen, als sie jemand,
wie dies natür lich öfters geschieht, auf das all ge -
meine Volks pfei fen auf merk sam machte und
zwar nur ganz beschei den, aber für Jose fine war
es schon zu viel. Ein so fre ches, hoch mü ti ges
Lächeln, wie sie es damals auf setzte, habe ich
noch nicht gesehn; sie, die äußer lich eigen dich
voll en dete Zart heit ist, auf fal lend zart selbst in
unse rem an sol chen Frau en ge stal ten rei chen
Volk, erschien damals gera dezu gemein; sie
mochte es übri gens in ihrer gro ßen Emp find lich -
keit auch gleich selbst füh len und faßte sich.
Jeden falls leug net sie also jeden Zu sam men hang
zwi schen ihrer Kunst und dem Pfei fen. Für die,
wel che gegen tei li ger Mei nung sind, hat sie nur
Ver ach tung und wahr schein lich unein ge stan de -
nen Haß. Das ist nicht gewöhn li che Eitel keit,
denn diese Oppo si tion, zu der auch ich halb
gehöre, bewun dert sie gewiß nicht weni ger als
es die Menge tut, aber Jose fine will nicht nur
bewun dert, son dern genau in der von ihr
bestimm ten Art bewun dert sein, an Bewun de -
rung allein liegt ihr nichts. Und wenn man vor
ihr sitzt, ver steht man sie; Oppo si tion treibt man
nur in der Ferne; wenn man vor ihr sitzt, weiß
man: was sie hier pfeift, ist kein Pfei fen.
Da Pfei fen zu unse ren gedan ken lo sen
Gewohn hei ten gehört, könnte man mei nen, daß
auch in Jose fi nens Audi to rium gepfif fen wird; es
wird uns wohl bei ihrer Kunst und wenn uns
wohl ist, pfei fen wir; aber ihr Audi to rium pfeift
nicht, es ist mäu schen still, so als wären wir des
ersehn ten Frie dens teil haf tig gewor den, von
dem uns zumin dest unser eige nes Pfei fen abhält,
schwei gen wir. Ist es ihr Gesang, der uns ent -
zückt oder nicht viel mehr die fei er li che Stille,
von der das schwa che Stimm chen umge ben ist?
Ein mal geschah es, daß irgend ein törich tes klei -
nes Ding wäh rend Jose fi nens Ge sang in aller
Unschuld auch zu pfei fen anfing. Nun, es war
ganz das selbe, was wir auch von Jose fine hör -
ten; dort vorne das trotz aller Rou tine immer
noch schüch terne Pfei fen und hier im Publi kum
das selbst ver ges sene kind li che Gepfeife; den
Unter schied zu bezeich nen, wäre unmög lich
gewe sen; aber doch zisch ten und pfif fen wir
gleich die Stö re rin nie der, trotz dem es gar nicht
nötig gewe sen wäre, denn sie hätte sich gewiß
auch sonst in Angst und Scham ver kro chen,
wäh rend Jose fine ihr Tri umphpfei fen anstimmte
und ganz außer sich war mit ihren aus ge spreiz -
ten Armen und dem gar nicht mehr höher dehn -
ba ren Hals.
So ist sie übri gens immer, jede Klei nig keit,
jeden Zufall, jede Wider spen stig keit, ein Knak -
ken im Par kett, ein Zäh ne knir schen, eine
Beleuch tungs stö rung hält sie für geeig net, die
Wir kung ihres Gesan ges zu erhö hen; sie singt ja
ihrer Mei nung nach vor tau ben Ohren; an
Begei ste rung und Bei fall fehlt es nicht, aber auf
wirk li ches Ver ständ nis, wie sie es meint, hat sie
längst ver zich ten gelernt. Da kom men ihr denn
alle Stö run gen sehr gele gen; alles, was sich von
außen her der Rein heit ihres Gesan ges ent ge gen -
stellt, in leich tem Kampf, ja ohne Kampf, bloß
durch die Gegen über stel lung besiegt wird, kann
dazu bei tra gen, die Menge zu erwec ken, sie
zwar nicht Ver ständ nis, aber ahnungs vol len
Respekt zu leh ren.
Wenn ihr aber nun das Kleine so dient, wie
erst das Große. Unser Leben ist sehr unru hig,
jeder Tag bringt Über ra schun gen, Beäng sti gun -
gen, Hoff nun gen und Schrec ken, daß der Ein -
zelne un mög lich dies alles ertra gen könnte,
hätte er nicht jeder zeit bei Tag und Nacht den
Rück halt der Ge nos sen; aber selbst so wird es
oft recht schwer; manch mal zit tern selbst tau -
send Schul tern unter der Last, die eigent lich nur
für einen bestimmt war. Dann hält Jose fine ihre
Zeit für gekom men. Schon steht sie da, das zarte
Wesen, beson ders unter halb der Brust beäng sti -
gend vibrie rend, es ist, als hätte sie alle ihre
Kraft im Gesang ver sam melt, als sei allem an
ihr, was nicht dem Gesänge unmit tel bar diene,
jede Kraft, fast jede Lebens mög lich keit ent zo -
gen, als sei sie ent blößt, preis ge ge ben, nur dem
Schutze guter Gei ster über ant wor tet, als könne
sie, wäh rend sie so, sich völ lig ent zo gen, im
Gesänge wohnt, ein kal ter Hauch im Vor über -
wehn töten. Aber gerade bei sol chem Anblick
pfle gen wir an geb li chen Geg ner uns zu sagen:
»Sie kann nicht ein mal pfei fen; so ent setz lich
muß sie sich an stren gen, um nicht Gesang —
reden wir nicht von Gesang — aber um das lan -
des üb li che Pfei fen eini ger ma ßen sich abzu zwin -
gen.« So scheint es uns, doch ist dies, wie
erwähnt, ein zwar unver meid li cher, aber flüch ti -
ger, schnell vor über ge hen der Ein druck. Schon
tau chen auch wir in das Gefühl der Menge, die
warm, Leib an Leib, scheu atmend horcht.
Und um diese Menge unse res fast immer in
Be we gung befind li chen, wegen oft nicht sehr kla -
rer Zwec ke hin- und her schie ßen den Vol kes um
sich zu ver sam meln, muß Jose fine meist nichts
ande res tun, als mit zurück gelegtem Köpf chen,
halb of fe nem Mund, der Höhe zuge wand ten
Augen jene Stel lung ein zu neh men, die dar auf
hin deu tet, daß sie zu sin gen beab sich tigt. Sie
kann dies tun, wo sie will, es muß kein weit hin
sicht ba rer Platz sein, irgend ein ver bor ge ner, in
zufäl li ger Augen blicks laune gewähl ter Win kel
ist eben so gut brauch bar. Die Nach richt, daß sie
sin gen will, ver brei tet sich gleich, und bald zieht
es in Pro zes sio nen hin. Nun, manch mal tre ten
doch Hin der nisse ein, Jose fine singt mit Vor liebe
gerade in auf ge reg ten Zei ten, viel fa che Sor gen
und Nöte zwin gen uns dann zu vie ler lei Wegen,
man kann sich beim besten Wil len nicht so
schnell ver sam meln, wie es Jose fine wünscht,
und sie steht dort dies mal in ihrer gro ßen Hal -
tung viel leicht eine Zeit lang ohne genü gende
Hörer zahl — dann frei lich wird sie wütend, dann
stampft sie mit den Füßen, flucht ganz unmäd -
chen haft, ja sie beißt sogar. Aber selbst ein sol -
ches Ver hal ten scha det ihrem Rufe nicht; statt
ihre über gro ßen Ansprü che ein wenig ein zu -
däm men, strengt man sich an, ihnen zu ent spre -
chen; es wer den Boten aus ge schickt, um Hörer
her bei zu ho len; es wird vor ihr geheim gehal ten,
daß das geschieht; man sieht dann auf den
Wegen im Umkreis Posten auf ge stellt, die den
Her an kom men den zuwin ken, sie möch ten sich
beei len; dies alles so lange, bis dann schließ lich
doch eine leid li che Anzahl bei sam men ist.
Was treibt das Volk dazu, sich für Jose fine so
zu bemü hen? Eine Frage, nicht leich ter zu beant -
wor ten als die nach Jose fi nens Gesang, mit der
sie ja auch zusam men hängt. Man könnte sie
strei chen und gänz lich mit der zwei ten Frage ver -
ei ni gen, wenn sich etwa behaup ten ließe, daß
das Volk wegen des Gesan ges Jose fine bedin -
gungs los er ge ben ist. Dies ist aber eben nicht der
Fall; be din gungs lose Erge ben heit kennt unser
Volk kaum; die ses Volk, das über alles die frei -
lich harm lose Schlau heit liebt, das kind li che Wis -
pern, den frei lich unschul di gen, bloß die Lip pen
bewe gen den Tratsch, ein sol ches Volk kann
immer hin nicht bedin gungs los sich hin ge ben,
das fühlt wohl auch Jose fine, das ist es, was sie
bekämpft mit aller An stren gung ihrer schwa -
chen Kehle.
Nur darf man frei lich bei sol chen all ge mei nen
Urtei len nicht zu weit gehn, das Volk ist Jose fine
doch erge ben, nur nicht bedin gungs los. Es wäre
z. B. nicht fähig, über Jose fine zu lachen. Man
kann es sich ein ge stehn: an Jose fine for dert man -
ches zum Lachen auf; und an und für sich ist
uns das Lachen immer nah; trotz allem Jam mer
unse res Lebens ist ein lei ses Lachen bei uns
gewis ser ma ßen immer zu Hause; aber über Jose -
fine lachen wir nicht. Manch mal habe ich den
Ein druck, das Volk fasse sein Ver hält nis zu Jose -
fine der art auf, daß sie, die ses zer brech li che,
scho nungs be dürf tige, irgend wie aus ge zeich -
nete, ihrer Mei nung nach durch Gesang aus ge -
zeich nete Wesen ihm anver traut sei und es
müsse für sie sor gen; der Grund des sen ist nie -
man dem klar, nur die Tat sa che scheint fest zu -
stehn. Über das aber, was einem anver traut ist,
lacht man nicht; dar über zu lachen, wäre Pflicht -
ver let zung; es ist das Äußer ste an Bos haf tig keit,
was die Bos haf te sten unter uns Jose fine zu fü gen,
wenn sie manch mal sagen: »Das Lachen ver -
geht uns, wenn wir Jose fine sehn.«
So sorgt also das Volk für Jose fine in der Art
eines Vaters, der sich eines Kin des annimmt, das
sein Händ chen - man weiß nicht recht, ob bit -
tend oder for dernd - nach ihm aus streckt. Man
sollte mei nen, unser Volk tauge nicht zur Erfül -
lung sol cher väter li cher Pflich ten, aber in Wirk -
lich keit ver sieht es sie, wenig stens in die sem
Falle, muster haft; kein Ein zel ner könnte es, was
in die ser Hin sicht das Volk als Gan zes zu tun
imstande ist. Frei lich, der Kraft un ter schied zwi -
schen dem Volk und dem Ein zel nen ist so unge -
heuer, es genügt, daß es den Schütz ling in die
Wärme sei ner Nähe zieht, und er ist beschützt
genug. Zu Jose fine wagt man aller dings von sol -
chen Din gen nicht zu reden. »Ich pfeife auf eue -
ren Schutz«, sagt sie dann. »Ja, ja, du pfeifst«,
den ken wir. Und außer dem ist es wahr haf tig
keine Wider le gung, wenn sie rebel liert, viel -
mehr ist das durch aus Kin des art und Kin des -
dank bar keit, und Art des Vaters ist es, sich nicht
daran zu keh ren.
Nun spricht aber doch noch ande res mit her -
ein, das schwe rer aus die sem Ver hält nis zwi -
schen Volk und Jose fine zu erklä ren ist. Jose fine
ist näm lich der gegen tei li gen Mei nung, sie
glaubt, sie sei es, die das Volk beschütze. Aus
schlim mer poli ti scher oder wirt schaft li cher Lage
ret tet uns angeb lich ihr Gesang, nichts weni ger
als das bringt er zuwege, und wenn er das
Unglück nicht ver treibt, so gibt er uns wenig -
stens die Kraft, es zu ertra gen. Sie spricht es
nicht so aus und auch nicht anders, sie spricht
über haupt wenig, sie ist schweig sam unter den
Plap per mäu lern, aber aus ihren Augen blitzt es,
von ihrem geschlos se nen Mund — bei uns kön -
nen nur wenige den Mund geschlos sen hal ten,
sie kann es — ist es abzu le sen. Bei jeder schlech -
ten Nach richt — und an man chen Tagen über -
ren nen sie ein an der, fal sche und halb rich tige dar -
un ter — erhebt sie sich sofort, wäh rend es sie
sonst müde zu Boden zieht, erhebt sich und
streckt den Hals und sucht den Über blick über
ihre Herde wie der Hirt vor dem Gewit ter.
Gewiß, auch Kin der stel len ähn li che For de run -
gen in ihrer wil den, unbe herrsch ten Art, aber
bei Jose fine sind sie doch nicht so unbe grün det
wie bei jenen. Frei lich, sie ret tet uns nicht und
gibt uns keine Kräfte, es ist leicht, sich als Ret ter
die ses Vol kes auf zu spie len, das lei dens ge wohnt,
sich nicht scho nend, schnell in Ent schlüs sen,
den Tod wohl ken nend, nur dem An scheine
nach ängst lich in der Atmo sphäre von Toll kühn -
heit, in der es stän dig lebt, und über dies ebenso
frucht bar wie wage mu tig — es ist leicht, sage ich,
sich nach träg lich als Ret ter die ses Vol kes auf zu -
spie len, das sich noch immer irgend wie selbst
geret tet hat, sei es auch unter Opfern, über die
der Geschichts for scher — im all ge mei nen ver -
nach läs si gen wir Geschichts for schung gänz lich
— vor Schrec ken erstarrt. Und doch ist es wahr,
daß wir gerade in Not la gen noch bes ser als sonst
auf Jose fi nens Stimme hor chen. Die Dro hun -
gen, die über uns ste hen, machen uns stil ler,
beschei de ner, für Jose fi nens Befehls ha be rei gefü -
gi ger; gern kom men wir zusam men, gern drän -
gen wir uns an ein an der, beson ders weil es bei
einem Anlaß ge schieht, der ganz abseits Hegt
von der quä len den Haupt sa che; es ist, als trän -
ken wir noch schnell — ja, Eile ist nötig, das ver -
gißt Jose fine all zu oft — gemein sam einen Becher
des Frie dens vor dem Kampf. Es ist nicht so sehr
eine Gesangs vor füh rung als viel mehr eine
Volks ver samm lung, und zwar eine Ver samm -
lung, bei der es bis auf das kleine Pfei fen vorne
völ lig still ist; viel zu ernst ist die Stunde, als daß
man sie ver schwät zen wollte. Ein sol ches Ver -
hält nis könnte nun frei lich Jose fine gar nicht
befrie di gen. Trotz all ihres ner vö sen Miß be ha -
gens, wel ches Jose fine wegen ihrer nie mals ganz
geklär ten Stel lung erfüllt, sieht sie doch, ver blen -
det von ihrem Selbst be wußt sein, man ches nicht
und kann ohne große Anstren gung dazu
gebracht wer den, noch viel mehr zu über se hen,
ein Schwarm von Schmeich lern ist in die sem
Sinne, also eigen dich in einem all ge mein nütz li -
chen Sinne, immer fort tätig, — aber nur neben -
bei, unbe ach tet, im Win kel einer Volks ver samm -
lung zu sin gen, da für würde sie, trotz dem es an
sich gar nicht wenig wäre, ihren Gesang gewiß
nicht opfern.
Aber sie muß es auch nicht, denn ihre Kunst
bleibt nicht unbe ach tet. Trotz dem wir im
Grunde mit ganz ande ren Din gen beschäf tigt
sind und die Stille durch aus nicht nur dem
Gesänge zuliebe herrscht und man cher gar nicht
auf schaut, son dern das Gesicht in den Pelz des
Nach bars drückt und Jose fine also dort oben
sich ver geb lich abzu mü hen scheint, dringt doch
— das ist nicht zu leug nen — etwas von ihrem
Pfei fen unwei ger lich auch zu uns. Die ses Pfei -
fen, das sich erhebt, wo allen ande ren Schwei -
gen auf er legt ist, kommt fast wie eine Bot schaft
des Vol kes zu dem ein zel nen; das dünne Pfei fen
Jose fi nens mit ten in den schwe ren Ent schei dun -
gen ist fast wie die arm se lige Exi stenz unse res
Vol kes mit ten im Tumult der feind li chen Welt.
Jose fine behaup tet sich, die ses Nichts an
Stimme, die ses Nichts an Lei stung behaup tet
sich und schafft sich den Weg zu uns, es tut
wohl, daran zu den ken. Einen wirk li chen
Gesangs künst ler, wenn einer ein mal sich unter
uns fin den sollte, wür den wir in sol cher Zeit
gewiß nicht ertra gen und die Unsin nig keit einer
sol chen Vor füh rung ein mü tig abwei sen. Möge
Jose fine beschützt wer den vor der Erkennt nis,
daß die Tat sa che, daß wir ihr zuhö ren, ein
Beweis gegen ihren Gesang ist. Eine Ahnung
des sen hat sie wohl, warum würde sie sonst so
lei den schaft lich leug nen, daß wir ihr zuhö ren,
aber immer wie der singt sie, pfeift sie sich über
diese Ahnung hin weg.
Aber es gäbe auch sonst noch immer einen
Trost für sie: wir hören ihr doch auch gewis ser -
ma ßen wirk lich zu, wahr schein lich ähn lich, wie
man einem Gesangs künst ler zuhört; sie erreicht
Wir kun gen, die ein Gesangs künst ler ver geb lich
bei uns anstre ben würde und die nur gerade
ihren un zu rei chen den Mit teln ver lie hen sind.
Dies hängt wohl haupt säch lich mit unse rer
Lebens weise zu sam men.
In unse rem Volke kennt man keine Jugend,
kaum eine win zige Kin der zeit. Es tre ten zwar
regel mä ßig For de run gen auf, man möge den
Kin dern eine beson dere Frei heit, eine beson -
dere Scho nung gewähr lei sten, ihr Recht auf ein
wenig Sorg lo sig keit, ein wenig sinn lo ses Sich her -
um tum meln, auf ein wenig Spiel, die ses Recht
möge man aner ken nen und ihm zur Erfül lung
ver hel fen; sol che For de run gen tre ten auf und
fast jeder mann bil ligt sie, es gibt nichts, was
mehr zu bil li gen wäre, aber es gibt auch nichts,
was in der Wirk lich keit unse res Lebens weni ger
zuge stan den wer den könnte, man bil ligt die For -
de run gen, man macht Ver su che in ihrem Sinn,
aber bald ist wie der alles beim Alten. Unser
Leben ist eben der art, daß ein Kind, sobald es
nur ein wenig läuft und die Um welt ein wenig
unter schei den kann, ebenso für sich sor gen
muß wie ein Erwach se ner; die Ge biete, auf
denen wir aus wirt schaft li chen Rück sichten zer -
streut leben müs sen, sind zu groß, unse rer
Feinde sind zu viele, die uns über all berei te ten
Gefah ren zu unbe re chen bar — wir kön nen die
Kin der vom Exi stenz kampfe nicht fern hal ten,
täten wir es, es wäre ihr vor zei ti ges Ende. Zu die -
sen trau ri gen Grün den kommt frei lich auch ein
erhe ben der: die Frucht bar keit unse res Stam -
mes. Eine Gener ation — und jede ist zahl reich —
drängt die andere, die Kin der haben nicht Zeit,
Kin der zu sein. Mögen bei ande ren Völ kern die
Kin der sorg fäl tig gepflegt wer den, mögen dort
Schu len für die Klei nen errich tet sein, mögen
dort aus die sen Schu len täg lich die Kin der strö -
men, die Zukunft des Vol kes, so sind es doch
immer lange Zeit Tag für Tag die glei chen Kin -
der, die dort her vor kom men. Wir haben keine
Schu len, aber aus unse rem Volke strö men in
aller kür ze sten Zwi schen räu men die unüber seh -
ba ren Scha ren un se rer Kin der, fröh lich zischend
oder piep send, so lange sie noch nicht pfei fen
kön nen, sich wäl zend oder kraft des Druc kes
wei ter rol lend, solange sie noch nicht lau fen kön -
nen, täp pisch durch ihre Masse alles mit sich
fort rei ßend, solange sie noch nicht sehen kön -
nen, unsere Kin der! Und nicht wie in jenen
Schu len die glei chen Kin der, nein, immer,
immer wie der neue, ohne Ende, ohne Unter bre -
chung, kaum erscheint ein Kind, ist es nicht
mehr Kind, aber schon drän gen hin ter ihm die
neuen Kin der ge sich ter unun ter scheid bar in
ihrer Menge und Eile, rosig vor Glück. Frei lich,
wie schön dies auch sein mag und wie sehr uns
andere darum auch mit Recht ben ei den mögen,
eine wirk Er re gung, ihr Auf schwung paßt nicht
für unsere Schwere, müde win ken wir ihr ab;
wir haben uns auf das Pfei fen zurück gezogen;
ein wenig Pfei fen hie und da, das ist das Rich tige
für uns. Wer weiß, ob es nicht Musik ta lente
unter uns gibt; wenn es sie aber gäbe, der Cha -
rak ter der Volks ge nos sen müßte sie noch vor
ihrer Ent fal tung unter drüc ken. Dage gen mag
Jose fine nach ihrem Behe ben pfei fen oder sin -
gen oder wie sie es nen nen will, das stört uns
nicht, das ent spricht uns, das kön nen wir wohl
ver tra gen; wenn darin etwas von Musik ent hal -
ten sein sollte, so ist es auf die mög lich ste Nich -
tig keit redu ziert; eine gewisse Musik tra di tion
wird ge wahrt, aber ohne daß uns dies im gering -
sten be schwe ren würde.
Aber Jose fine bringt die sem so gestimm ten
Volke noch mehr. Bei ihren Kon zer ten, beson -
ders in ern ster Zeit, haben nur noch die ganz Jun -
gen Inter esse an der Sän ge rin als sol cher, nur sie
sehen mit Stau nen zu, wie sie ihre Lip pen kräu -
selt, zwi schen den nied li chen Vor der zäh nen die
Luft aus stößt, in Bewun de rung der Töne, die sie
selbst her vor bringt, erstirbt und die ses Hin sin -
ken be nützt, um sich zu neuer, ihr immer Unver -
ständ li cher wer den der Lei stung anzu feu ern,
aber die eigent li che Menge hat sich — das ist
deut lich zu erken nen — auf sich selbst zurück -
gezogen. Hier in den dürf ti gen Pau sen zwi schen
den Kämp fen träumt das Volk, es ist, als lösten
sich dem Ein zel nen die Glie der, als dürfte sich
der Ruhe lose ein mal nach sei ner Lust im gro ßen
war men Bett des Vol kes deh nen und strec ken.
Und in diese Träume klingt hie und da Jose fi -
nens Pfei fen; sie nennt es per lend, wir nen nen es
sto ßend; aber jeden falls ist es hier an sei nem
Platze, wie nir gends sonst, wie Musik kaum
jemals den auf sie war ten den Augen blick fin det.
Etwas von der armen kur zen Kind heit ist darin,
etwas von ver lo re nem, nie wie der auf zu fin den -
dem Glück, aber auch etwas vom täti gen heu ti -
gen Leben ist darin, von sei ner klei nen, unbe -
greif li chen und den noch beste hen den und nicht
zu ertö ten den Mun ter keit. Und dies alles ist
wahr haf tig nicht mit gro ßen Tönen ge sagt, son -
dern leicht, flü sternd, ver trau lich, manch mal ein
wenig hei ser. Natür lich ist es ein Pfei fen. Wie
denn nicht? Pfei fen ist die Spra che unse res Vol -
kes, nur pfeift man cher sein Leben lang und
weiß es nicht, hier aber ist das Pfei fen frei ge -
macht von den Fes seln des täg li chen Lebens
und befreit auch uns für eine kurze Weile.
Gewiß, diese Vor füh run gen woll ten wir nicht
mis sen.
Aber von da bis zu Jose fi nens Behaup tung, sie
gebe uns in sol chen Zei ten neue Kräfte usw.
usw., ist noch ein sehr wei ter Weg. Für gewöhn li -
che Leute aller dings, nicht für Jose fi nens
Schmeich ler. »Wie könnte es anders sein« —
sagen sie in recht unbe fan ge ner Keck heit — »wie
könnte man anders den gro ßen Zulauf, beson -
ders unter unmit tel bar drän gen der Gefahr, erklä -
ren, der schon manch mal sogar die genü gende,
recht zei tige Abwehr eben die ser Gefahr ver hin -
dert hat.« Nun, dies letz tere ist lei der rich tig,
gehört aber doch nicht zu den Ruh mes ti teln Jose -
fi nens, beson ders wenn man hin zu fügt, daß,
wenn sol che Ver samm lun gen uner war tet vom
Feind gesprengt wur den, und man cher der
unser igen dabei sein Leben las sen mußte, Jo se -
fine, die alles ver schul det, ja, durch ihr Pfei fen
den Feind viel leicht ange lockt hatte, immer im
Be sitz des sicher sten Plätz chens war und unter
dem Schutze ihres Anhan ges sehr still und eiligst
als erste ver schwand. Aber auch die ses wis sen
im Grunde alle, und den noch eilen sie wie der
hin, wenn Jose fine näch stens nach ihrem Belie -
ben irgendwo, irgend wann zum Gesänge sich
erhebt. Dar aus könnte man schlie ßen, daß Jose -
fine fast außer halb des Geset zes steht, daß sie
tun darf, was sie will, selbst wenn es die Gesamt -
heit gefähr det, und daß ihr alles ver zie hen wird.
Wenn dies so wäre, dann wären auch Jose fi nens
Ansprü che völ lig ver ständ lich, ja, man könnte
gewis ser ma ßen in die ser Frei heit, die ihr das
Volk geben würde, in die sem außer or dent li -
chen, nie mand sonst gewähr ten, die Gesetze
eigent lich wider le gen den Geschenk ein Ein ge -
ständ nis des sen sehen, daß das Volk Jose fine,
wie sie es behaup tet, nicht ver steht, ohn mäch tig
ihre Kunst anstaunt, sich ihrer nicht wür dig
fühlt, die ses Leid, daß es Jose fine tut, durch eine
gera dezu ver zwei felte Lei stung aus zu glei chen
strebt und, so wie ihre Kunst außer halb sei nes
Fas sungs ver mö gens ist, auch ihre Per son und
deren Wün sche außer halb sei ner Befehls ge walt
stellt. Nun, das ist aller dings ganz und gar nicht
rich tig, viel leicht kapi tu liert im ein zel nen das
Volk zu schnell vor Jose fine, aber wie es be din -
gungs los vor nie man dem kapi tu liert, also auch
nicht vor ihr.
Schon seit lan ger Zeit, viel leicht schon seit Be -
ginn ihrer Künst ler lauf bahn, kämpft Jose fine
dar um, daß sie mit Rück sicht auf ihren Gesang
von jeder Arbeit befreit werde; man solle ihr
also die Sorge um das täg li che Brot und alles,
was sonst mit unse rem Exi stenz kampf ver bun -
den ist, ab neh men und es — wahr schein lich —
auf das Volk als Gan zes über wäl zen. Ein schnell
Begei ster ter — es fan den sich auch sol che —
könnte schon allein aus der Son der bar keit die -
ser For de rung, aus der Gei stes ver fas sung, die
eine sol che For de rung aus zu den ken imstande
ist, auf deren innere Berech ti gung schlie ßen.
Unser Volk zieht aber andere Schlüsse, und
lehnt ruhig die For de rung ab. Es müht sich auch
mit der Wider le gung der Gesuchs be grün dung
nicht sehr ab. Jose fine weist z. B. dar auf hin, daß
die Anstren gung bei der Arbeit ihrer Stimme
schade, daß zwar die Anstren gung bei der
Arbeit gering sei im Ver gleich zu jener beim
Gesang, daß sie ihr aber doch die Mög lich keit
nehme, nach dem Gesang sich genü gend aus zu -
ru hen und für neuen Gesang sich zu stär ken, sie
müsse sich dabei gänz lich erschöp fen und
könne trotz dem unter die sen Umstän den ihre
Höchst lei stung nie mals errei chen.
Das Volk hört sie an und geht dar über hin -
weg. Die ses so leicht zu rüh rende Volk ist
manch mal gar nicht zu rüh ren. Die Abwei sung
ist manch mal so hart, daß selbst Jose fine stutzt,
sie scheint sich zu fügen, arbei tet wie sichs
gehört, singt so gut sie kann, aber das alles nur
eine Weile, dann nimmt sie den Kampf mit
neuen Kräf ten — dafür scheint sie unbe schränkt
viele zu haben — wie der auf.
Nun ist es ja klar, daß Jose fine nicht eigent lich
das anstrebt, was sie wört lich ver langt. Sie ist
ver nünf tig, sie scheut die Arbeit nicht, wie ja
Arbeits scheu über haupt bei uns unbe kannt ist,
sie würde auch nach Bewil li gung ihrer For de -
rung gewiß nicht anders leben als frü her, die
Arbeit würde ihrem Gesang gar nicht im Wege
stehn, und der Gesang aller dings würde auch
nicht schö ner wer den — was sie anstrebt, ist also
nur die öffent li che, ein deu tige, die Zei ten über -
dau ernde, über alles bis her Bekannte sich weit
erhe bende Aner ken nung ihrer Kunst. Wäh rend
ihr aber fast alles andere erreich bar scheint, ver -
sagt sich ihr die ses hart näc kig. Viel leicht hätte
sie den Angriff gleich an fangs in andere Rich -
tung len ken sol len, viel leicht sieht sie jetzt selbst
den Feh ler ein, aber nun kann sie nicht mehr
zurück, ein Zurück gehen hieße sich selbst
untreu wer den, nun muß sie schon mit die ser
For de rung ste hen oder fal len.
Hätte sie wirk lich Feinde, wie sie sagt, sie
könn ten die sem Kampfe, ohne selbst den Fin ger
rüh ren zu müs sen, belu stigt zuse hen. Aber sie
hat keine Feinde, und selbst wenn man cher hie
und da Ein wände gegen sie hat, die ser Kampf
belu stigt nie man den. Schon des halb nicht, weil
sich hier das Volk in sei ner kal ten rich ter li chen
Hal tung zeigt, wie man es sonst bei uns nur sehr
sel ten sieht. Und wenn einer auch diese Hal tung
in die sem Falle bil li gen mag, so schließt doch die
bloße Vor stel lung, daß sich ein mal das Volk ähn -
lich gegen ihn selbst ver hal ten könnte, jede
Freude aus. Es han delt sich eben auch bei der
Abwei sung, ähn lich wie bei der For de rung,
nicht um die Sache selbst, son dern darum, daß
sich das Volk gegen einen Volks ge nos sen der art
undurch dring lich abschlie ßen kann und um so
undurch dring li cher, als es sonst für eben die sen
Genos sen väter lich und mehr als väter lich,
demü tig sorgt.
Stünde hier an Stelle des Vol kes ein Ein zel ner:
man könnte glau ben, die ser Mann habe die
ganze Zeit über Jose fine nach ge ge ben unter dem
fort wäh ren den bren nen den Ver lan gen end lich
der Nach gie big keit ein Ende zu machen; er habe
über mensch lich viel nach ge ge ben im festen
Glau ben, daß das Nach ge ben trotz dem seine
rich tige Grenze fin den werde; ja, er habe mehr
nach ge ge ben als nötig war, nur um die Sache zu
beschleu ni gen, nur, um Jose fine zu ver wöh nen
und zu immer neuen Wün schen zu trei ben, bis
sie dann wirk lich diese letzte For de rung erhob;
da habe er nun frei lich, kurz, weil längst vor be -
rei tet, die end gül tige Abwei sung vor ge nom men.
Nun, so ver hält es sich ganz gewiß nicht, das
Volk braucht sol che Listen nicht, außer dem ist
seine Ver eh rung für Jose fine auf rich tig und
erprobt und Jose fi nens For de rung ist aller dings
so stark, daß jedes unbe fan gene Kind ihr den
Aus gang hätte vor aus sa gen kön nen; trotz dem
mag es sein, daß in der Auf fas sung, die Jose fine
von der Sache hat, auch sol che Ver mu tun gen
mit spie len und dem Schmerz der Abge wies enen
eine Bit ter nis hin zu fü gen.
Aber mag sie auch sol che Ver mu tun gen
haben, vom Kampf abschrec ken läßt sie sich
dadurch nicht. In letz ter Zeit ver schärft sich
sogar der Kampf; hat sie ihn bis her nur durch
Worte ge führt, fängt sie jetzt an, andere Mit tel
anzu wen den, die ihrer Mei nung nach wirk sa -
mer, unse rer Mei nung nach für sie selbst gefähr -
li cher sind.
Man che glau ben, Jose fine werde des halb so
dring lich, weil sie sich alt wer den fühle, die
Stimme Schwä chen zeige, und es ihr daher höch -
ste Zeit zu sein scheine, den letz ten Kampf um
ihre Aner ken nung zu füh ren. Ich glaube daran
nicht. Jose fine wäre nicht Jose fine, wenn dies
wahr wäre. Für sie gibt es kein Altern und keine
Schwä chen ihrer Stimme. Wenn sie etwas for -
dert, so wird sie nicht durch äußere Dinge, son -
dern durch innere Fol ge rich tig keit dazu
gebracht. Sie greift nach dem höch sten Kranz,
nicht, weil er im Augen blick ge rade ein wenig tie -
fer hängt, son dern weil es der höch ste ist; wäre
es in ihrer Macht, sie würde ihn noch höher hän -
gen.
Diese Miß ach tung äuße rer Schwie rig kei ten
hin dert sie aller dings nicht, die unwür dig sten
Mit tel anzu wen den. Ihr Recht steht ihr außer
Zwei fel; was Hegt also daran, wie sie es erreicht;
beson ders da doch in die ser Welt, so wie sie sich
ihr dar stellt, gerade die wür di gen Mit tel ver sa -
gen müs sen. Viel leicht hat sie sogar des halb den
Kampf um ihr Recht aus dem Gebiet des Gesan -
ges auf ein ande res ihr wenig teu res ver legt. Ihr
Anhang hat Aus sprü che von ihr in Umlauf
gebracht, nach denen sie sich durch aus fähig
fühlt, so zu sin gen, daß es dem Volk in allen sei -
nen Schich ten bis in die ver steck teste Oppo si -
tion hin ein eine wirk li che Lust wäre, wirk li che
Lust nicht im Sinne des Vol kes, wel ches ja
behaup tet, diese Lust seit jeher bei Jose fi nens
Gesang zu füh len, son dern Lust im Sinne von
Jose fi nens Ver lan gen. Aber, fügt sie hinzu, da sie
das Hohe nicht fäl schen und dem Gemei nen
nicht schmei cheln könne, müsse es eben blei -
ben, wie es sei. Anders aber ist es bei ihrem
Kampf um die Arbeits be frei ung, zwar ist es
auch ein Kampf um ihren Gesang, aber hier
kämpft sie nicht un mit tel bar mit der kost ba ren
Waffe des Gesan ges, jedes Mit tel, das sie anwen -
det, ist daher gut genug. So wurde z. B. das
Gerücht ver brei tet, Jose fine beab sich tige, wenn
man ihr nicht nach gebe, die Kolo ra tu ren zu kür -
zen. Ich weiß nichts von Kolo ra tu ren, habe in
ihrem Gesänge nie mals etwas von Kolo ra tu ren
bemerkt. Jose fine aber will die Kolo ra tu ren kür -
zen, vor läu fig nicht besei ti gen, son dern nur kür -
zen. Sie hat angeb lich ihre Dro hung wahr
gemacht, mir aller dings ist kein Unter schied
gegen über ihren frü he ren Vor füh run gen auf ge -
fal len. Das Volk als Gan zes hat zuge hört wie
immer, ohne sich über die Kolo ra tu ren zu
äußern, und auch die Behand lung von Jose fi -
nens For de rung hat sich nicht geän dert. Übri -
gens hat Jose fine, wie in ihrer Gestalt, unleug bar
auch in ihrem Den ken manch mal etwas recht
Gra ziö ses. So hat sie z. B. nach jener Vor füh -
rung, so als sei ihr Ent schluß hin sicht lich der
Kolo ra tu ren gegen über dem Volk zu hart oder
zu plötz lich gewe sen, erklärt, näch stens werde
sie die Kolo ra tu ren doch wie der voll stän dig sin -
gen. Aber nach dem näch sten Kon zert besann
sie sich wie der anders, nun sei es end gül tig zu
Ende mit den gro ßen Kolo ra tu ren, und vor
einer für Jose fine gün sti gen Ent schei dung
kämen sie nicht wie der. Nun, das Volk hört über
alle diese Er klä run gen, Ent schlüsse und Ent -
schlu ß än de run gen hin weg, wie ein Erwach se -
ner in Gedan ken über das Plau dern eines Kin -
des hin weg hört, grund sätz lich wohl wol lend,
aber uner reich bar.
Jose fine aber gibt nicht nach. So behaup tete
sie z. B. neu lich, sie habe sich bei der Arbeit eine
Fuß ver let zung zuge zo gen, die ihr das Ste hen
wäh rend des Gesan ges beschwer lich mache; da
sie aber nur ste hend sin gen könne, müsse sie
jetzt sogar die Gesänge kür zen. Trotz dem sie
hinkt und sich von ihrem Anhang stüt zen läßt,
glaubt nie mand an eine wirk li che Ver let zung.
Selbst die be son dere Emp find lich keit ihres Kör -
per chens zuge ge ben, sind wir doch ein Arbeits -
volk und auch Jose fine gehört zu ihm; wenn wir
aber wegen jeder Haut ab schür fung hin ken woll -
ten, dürfte das ganze Volk mit Hin ken gar nicht
auf hö ren. Aber mag sie sich wie eine Lahme füh -
ren las sen, mag sie sich in die sem bedau erns wer -
ten Zustand öfters zei gen als sonst, das Volk
hört ihren Gesang dank bar und ent zückt wie frü -
her, aber wegen der Kür zung macht es nicht viel
Auf he bens.
Da sie nicht immer fort hin ken kann, erfin det
sie etwas ande res, sie schützt Müdig keit vor,
Miß stim mung, Schwä che. Wir haben nun
außer dem Kon zert auch ein Schau spiel. Wir
sehen hin ter Jo se fine ihren Anhang, wie er sie
bit tet und be schwört zu sin gen. Sie wollte gern,
aber sie kann nicht. Man trö stet sie, umschmei -
chelt sie, trägt sie fast auf den schon vor her aus -
ge such ten Platz, wo sie sin gen soll. End lich gibt
sie mit un deut ba ren Trä nen nach, aber wie sie
mit offen bar letz tem Wil len zu sin gen anfan gen
will, matt, die Arme nicht wie sonst aus ge brei tet,
son dern am Kör per leb los her un ter hän gend,
wobei man den Ein druck erhält, daß sie viel -
leicht ein wenig zu kurz sind — wie sie so anstim -
men will, nun, da geht es doch wie der nicht, ein
unwil li ger Ruck des Kop fes zeigt es an und sie
sinkt vor unse ren Augen zu sam men. Dann aller -
dings rafft sie sich doch wie der auf und singt, ich
glaube, nicht viel anders als sonst, viel leicht
wenn man für fein ste Nuan cen das Ohr hat,
hört man ein wenig außer ge wöhn li che Erre -
gung her aus, die der Sache aber nur zug ute
kommt. Und am Ende ist sie sogar weni ger
müde als vor her, mit festem Gang, soweit man
ihr huschen des Trip peln so nen nen kann, ent -
fernt sie sich, jede Hilfe des Anhangs ableh nend
und mit kal ten Blic ken die ihr ehr furchts voll aus -
wei chende Menge prü fend.
So war es letzt hin, das Neue ste aber ist, daß sie
zu einer Zeit, wo ihr Gesang erwar tet wurde,
ver schwun den war. Nicht nur der Anhang sucht
sie, viele stel len sich in den Dienst des Suchens,
es ist ver geb lich; Jose fine ist ver schwun den, sie
will nicht sin gen, sie will nicht ein mal darum
gebe ten wer den, sie hat uns dies mal völ lig ver las -
sen.
Son der bar, wie falsch sie rech net, die Kluge, so
falsch, daß man glau ben sollte, sie rechne gar
nicht, son dern werde nur wei ter getrie ben von
ihrem Schick sal, das in unse rer Welt nur ein
sehr trau ri ges wer den kann. Selbst ent zieht sie
sich dem Gesang, selbst zer stört sie die Macht,
die sie über die Gemü ter erwor ben hat. Wie
konnte sie nur diese Macht erwer ben, da sie
diese Gemü ter so wenig kennt. Sie ver steckt sich
und singt nicht, aber das Volk, ruhig, ohne sicht -
bare Ent täu schung, her risch, eine in sich
ruhende Masse, die förm lich, auch wenn der
Anschein dage gen spricht, Ge schenke nur
geben, nie mals emp fan gen kann, auch von Jose -
fine nicht, die ses Volk zieht wei ter sei nes Weges.
Mit Jose fine aber muß es abwärts gehn. Bald
wird die Zeit kom men, wo ihr letz ter Pfiff ertönt
und ver stummt. Sie ist eine kleine Epi sode in
der ewi gen Geschichte unse res Vol kes und das
Volk wird den Ver lust über win den. Leicht wird
es uns ja nicht wer den; wie wer den die Ver -
samm lun gen in völ li ger Stumm heit mög lich
sein? Frei lich, waren sie nicht auch mit Jose fine
stumm? War ihr wirk li ches Pfei fen nen nens wert
lau ter und leben di ger, als die Erin ne rung daran
sein wird? War es denn noch bei ihren Leb zei ten
mehr als eine bloße Erin ne rung? Hat nicht viel -
mehr das Volk in sei ner Weis heit Jose fi nens
Gesang, eben des halb, weil er in die ser Art
unver lier bar war, so hoch gestellt?
Viel leicht wer den wir also gar nicht sehr viel
ent beh ren, Jose fine aber, erlöst von der irdi -
schen Plage, die aber ihrer Mei nung nach Aus er -
wähl ten berei tet ist, wird fröh lich sich ver lie ren
in der zahl lo sen Menge der Hel den unse res Vol -
kes, und bald, da wir keine Geschichte trei ben,
in gestei ger ter Er lö sung ver ges sen sein wie alle
ihre Brü der.