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Franz Lemmermeyer Die Mathematik der Babylonier

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Franz Lemmermeyer

Die Mathematik der Babylonier

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Franz [email protected]

http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/∼hb3

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Vorwort

Auf die Frage, was sich menschheitsgeschichtlich zwischen der letzten Eiszeit etwa20 000 v.Chr. und dem Aufbluhen der griechischen Kultur nach 500 v.Chr. getanhat, vielleicht noch Ackerbau und Viehzucht, den Umgang mit Metall, sowie denBau der Pyramiden als Antwort bekommen. Die “richtige” Kulturgeschichte derMenschheit scheint immer noch mit den Griechen zu beginnen. Auch die Geschichteder Mathematik lasst man in den meisten Buchern nach einer kurzen und eherverschamten Einfuhrung in die babylonische und agyptische Mathematik mit dergriechischen Mathematik, vor allem naturlich mit Euklid, beginnen. Angesichtsder riesigen Leistung der griechischen Mathematik ist das durchaus gerechtfertigt;allerdings sollte man sich vor der Vorstellung huten, die andern alten Kulturenwaren in Sachen Mathematik nicht uber das Zahlen bis 20 hinausgekommen.

Die Mathematik der Babylonier ist bis heute ein Nischenthema geblieben, uberdas außer einigen wenigen Spezialisten nicht sehr viele Leute Bescheid wissen,selbst wenn sie sich fur die Geschichte der Mathematik interessieren. Die Aussage,dass Babylonier und vor allem Agypter fur die Entwicklung der Mathematik eineeher marginale Rolle gespielt haben sollen, findet sich daher an nicht wenigenStellen, auch wenn nur wenige Autoren sich so weit aus dem Fenster gelehnt habenwie etwa Morris Kline in [30, S. 14]:

Vergleicht man agyptische und babylonische Leistungen in der Mathema-tik mit denjenigen von alteren und ahnlich alten Kulturen, kann man inder Tat Grunde finden, deren Errungenschaften zu loben. Beurteilt mansie aber mit anderen Maßstaben, dann sind agyptische und babylonischeBeistrage zur Mathematik praktisch unbedeutend [. . . ]. Verglichen mitden Leistungen ihrer unmittelbaren Nachfolgern, den Griechen, verhaltsich die Mathematik der Agypter und Babylonier wie Kritzeleien von Kin-dern, die eben das Schreiben lernen, zu großer Literatur. [. . . ] Agyptischeund babylonische Mathematik wird am besten als empirisch beschriebenund verdient kaum den Namen Mathematik angesichts dessen, was wirseit den Griechen als die Hauptmerkmale dieser Wissenschaft betrachten.

Griechische Geschichtsschreiber haben dagegen wiederholt erklart, sie hatten ihreMathematik von den Agyptern gelernt. Das erste Mal taucht diese Geschichte beiHerodot auf; nachdem dieser aber erklart hatte, welche Rolle die Geographie, alsodie Vermessung der Erde, bei den Agyptern im Zusammenhang mit den jahrli-chen Uberschwemmungen des Nil und der Festsetzung der Steuern gespielt hatte,

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erwahnte er, dass die Sonnenuhr und die Einteilung des Tages in 12 Stunden ausBabylonien nach Griechenland gekommen seien. Bis heute ist der Vollwinkel in360◦ eingeteilt, und Stunden haben 60 Minuten, eine Minute 60 Sekunden: diessind alles Uberreste des Sexagesimalsystems, das die Babylonier entwickelt haben.

Otto Neugebauer, einer der besten Kenner der griechischen und vorgriechischenMathematik, hat in [46, S. 13] denn auch betont, dass die Griechen wohl kaumReisen ihrer ersten Mathematiker nach Agypten und Babylonien erwahnt hatten,wenn sie dort nichts hatten lernen konnen:

In der Tat sind diese immer wiederholten Studienreisen kaum zu verste-hen (selbst wenn man bei den Griechen zunachst absolute Kenntnislosig-keit voraussetzt), falls es dort nicht mehr zu holen gegeben hatte, wie dieelementarsten Satze uber Drei- und Viereck.

Dass die alten Kulturen Agyptens und Mesopotamiens uber erstaunliche Fahig-keiten (nicht nur in der Mathematik, sondern auch in Astronomie, Architektur undLiteratur) verfugten, ist eigentlich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts bekannt ge-worden. Es ist daher einigermaßen erstaunlich, dass bereits 1911 Edmund Hoppe(1854–1928) in seiner Geschichte der Mathematik und Astronomie im klassischenAltertum [22] nach dem obligatorischen Lobgesang auf die griechische Mathematikdie Frage stellt, ob die Griechen wirklich, wie man bisher glaubte, nur Schopferund keine Empfanger gewesen seien, und dann Herodot erwahnt, dessen Ansich-ten uber agyptische und babylonische Einflusse auf das griechische Denken alsunzuverlassig angesehen worden seien. Dann schreibt er:

Nahezu gleichzeitig erschienen nun zwei Funde, welche den Anstoß gaben,unsere Anschauungen uber die Selbstandigkeit der griechischen Forschungeiner Revision zu unterziehen, indem sie plotzlich zwei Quellen mathe-matischer Kentnisse aufdeckten, welche um mehr als 1000 Jahre fruherals die ersten Spuren griechischer Mathematik uns eine Kultur eroffne-ten, die wohl geeignet ist, als Quelle griechischer Wissenschaft betrachtetzu werden. Ich meine die Auffindung der beiden Tontafeln von Senkerehdurch Loftus 1854 und des Papyrus Rhind , welcher erst nach dem Todeseines Entdeckers bekannt wurde, dessen Auffindung und Erwerb durchRhind aber um das Jahr 1862 stattfand.

Es ist wahrlich erstaunlich, wie nahe Hoppe mit seinen sparlichen Quellen (einigeTafeln mit Quadratzahlen und Multiplikationstabellen – mehr war damals nochnicht verstanden) der heute allgemein anerkannten Sichtweise gekommen ist, wiesie J. Friberg etwa in seinem Buch [19] dargelegt hat.

Die Entwicklung der babylonischen Mathematik ist eng mit der GeschichteMesopotamiens verknupft; diese Geschichte, mit ihrem standigen Wechsel derherrschenden Volker und Sprachen und den vielfaltigen Verbindungen zu andernVolkern der Antike wie den Agyptern, Persern, Griechen oder den Romern, istsicherlich zu verworren, als dass man daraus in kurzer Zeit viel lernen konnte.Anders sieht es mit der Geschichte der babylonischen Mathematik aus: das meistevon dem, was Schuler in der 8. und 9. Klasse lernen sollten (lineare und qua-dratische Gleichungen, binomische Formeln, Satz des Pythagoras, Strahlensatz),

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F. Lemmermeyer 27. Oktober 2015 ix

haben bereits die Babylonier gekannt. Dieses Buch soll den Versuch machen, aufdem schmalen Grat zwischen historischer Genauigkeit und Verstandlichkeit ei-ne Einfuhrung in die babylonische Mathematik zu geben, die auch fur Schulerverstandlich sein soll. Es mochte zeigen, dass die Mathematik sehr wohl zu denkulturellen Errungenschaften der Menschheit gehort und dass diese ein Spiel ist,dessen Regeln man verstehen kann, wenn man sich etwas Muhe gibt.

Die Geschichte der babylonischen Mathematik ist erst im 20. Jahrhundert ent-standen; zuvor war fast gar nichts uber die intellektuellen Leistungen dieser altenKulturen Mesopotamiens bekannt, wenn man von einigen literarischen Werkenabsieht: das Gilgamesch-Epos und die Tatsache, dass viele von der Bibel verwen-dete Bilder wie etwa die Sintflut auch in babylonischen Mythen auftauchen, habenbereits Ende des 19. Jahrhunderts fur Schlagzeilen gesorgt; die Aufregung wardeutlich kleiner, als Irving Finkel 2014 die Entdeckung einer weiteren Keilschrift-tafel mit dem Bauplan der babylonischen Arche publik machte: nachlesen kannman das in [13], bisher allerdings nur auf Englisch oder Franzosisch.

Nachdem E. Weidner [61] 1916 erkannt hatte, dass die Babylonier den Satzdes Pythagoras gekannt haben mussen, passierte erst einmal nichts – die Welthatte andere Sorgen. 1928 veroffentlichte C. Frank “Straßburger Keilschrifttexte insumerischer und babylonischer Sprache”, und danach haben sich in den 30er Jahrenvor allem Otto Neugebauer und Francois Thureau-Dangin um die Ubersetzungmathematischer Keilschrifttexte verdient gemacht.

Einfuhrungen in die babylonische Mathematik gibt es zuhauf; nach steigendemSchwierigkeitsgrad geordnet seien die folgenden Werke allen empfohlen, die sichnaher mit den Leistungen der alten Babylonier und dem Ringen um ein adaquatesVerstandnis ihrer mathematischen Leistungen beschaftigen mochten:

• Das Buchlein [32] von Johannes Lehmann hat sehr elementaren Charakter,ist fur Schuler gemacht und sollte viel bekannter sein, als es ist.

• Kurt Vogel schon 1959 ein kleines Buchlein [58] bei Schroedel herausgebracht,das ebenfalls fur Gymnasiasten gedacht war, heute aber etwas trocken ruber-kommt.

• Ebenfalls einen Blick wert ist das Buch [50] von Reimer, dessen Titel “Countlike an Egyptian” eine Anspielung auf einen Bangles-Klassiker ist und insofernetwas irrefuhrend ist, als es auch auf die babylonische Mathematik eingeht.

• Flussig lesbar, wenn auch bisher nur in Englisch, ist das Buch [53] von Rud-man.

• Wer keine Angst vor der hollandischen Sprache hat, ist mit [7] von E.M. Bruinsbestens bedient, wenn es auch vielleicht antiquarisch etwas schwer zu beschaf-fen sein durfte.

• Anspruchsvoller ist Jens Høyrups Einfuhrung in die babylonische Algebra aufFranzosisch [26] oder auch [62] von Piedad Yuste auf Spanisch.

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Daruberhinaus gibt es eine ganze Reihe von Buchern, die eher an das Fachpubli-kum gerichtet sind; hier sind in erster Linie Maurice Caveing [9], Joran Friberg[17, 18, 19], Jens Høyrup [25] und Eleanor Robson [51] zu nennen.

Von den vielen Seiten im Netz mochte ich hier nur ganz wenige vorstellen.

• http://www.livius.org/ ist eine vorzugliche Sammlung von Quellen undKommentaren zu antiker Geschichte und Mathematik.

• Auf http://it.stlawu.edu/ dmelvill/mesomath/index.html gibt Duncan Mel-ville eine sehr gute Einfuhrung in die Mathematik Babyloniens

• http://www.ams.org/samplings/feature-column/fc-2012-05 ist eine Seite mitsehr schonen Bildern von Keilschrifttafeln zu Multiplikation und Reziprokenetc., welche Tony Phillips fur die AMS (American Mathematical Society) zu-sammengestellt hat.

Die im Buch vorgestellten Keilschrifttafeln tragen Bezeichnungen, die einenHinweis auf die Sammlung geben, zu der sie gehoren. Die bekanntesten sind

• AO Antiquites Orientales, Louvre, Paris. Eine digitale Sammlung der Objekteim Louvre findet man online.

• BM British Museum London

• CBS Catalogue of the Babylonian Section, University of Pennsylvania

• Db2 Tafeln im Irakischen Museum Bagdad, die vom Tell Dhibai stammen

• HS Frau Professor Hilprecht Sammlung an der Friedrich-Schiller-Universitatin Jena

• IM Irakisches Museum Bagdad

• Ist S Museum in Istanbul, Keilschrifttafeln aus Sippur

• MLC Morgan Library Collection, Yale University

• MS Manuskripte der Martin Schøyen Sammlung

• SKT Straßburger Keilschrift-Texte in der Bibliotheque Nationale et Univer-sitaire in Straßburg

• VAT Vorderasiatische Abteilung Tontafeln, Museum Berlin, heute Teil desPergamon-Museums auf der Museumsinsel im Zentrum Berlins, von welchemdas Vorderasiatische Museum nur einen Teil ausmacht

• YBC Yale Babylonian Collection

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Inhaltsverzeichnis

1. Mesopotamien – Kultur und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Die Geschichte Babyloniens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.2 Die Entzifferung der Keilschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61.3 Die Schreiberlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111.4 Babylonische Mythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141.5 Die Entdeckung der mathematischen Kultur Babyloniens . . . . . . . . . 17

2. Das Babylonische Zahlensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192.1 Das Sexagesimalsystem auf Tafeltexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202.2 Die Grundrechenarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292.3 Reziprokentafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382.4 Das Babylonische Maßsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

3. Babylonische Algebra: Lineare Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493.1 Lineare Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493.2 Die Methode des falschen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513.3 Lineare Gleichungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513.4 Arithmetische und Geometrische Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523.5 Zins und Zinseszins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

4. Quadratwurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554.1 Quadratwurzeln durch Faktorisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554.2 Naherungsformel fur

√1 + x . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

4.3 Das Heron-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604.4 Die babylonische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

5. Babylonische Algebra: Quadratische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . 655.1 Binomische Formeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655.2 Quadratische Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

6. Babylonische Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696.1 Der Satz des “Pythagoras” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696.2 Pythagoreische Dreiecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716.3 Rationale Exponenten; MLC 2078 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736.4 YBC 7289 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

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6.5 Das pythagoreische Dreieck (3,4,5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746.6 IM 55357 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

7. Plimpton 322 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777.1 Neugebauer: Pythagoreische Tripel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787.2 Reziproke Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797.3 Die Fehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

8. Die Komposition rechtwinkliger Dreiecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818.1 TMS 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818.2 Die “Verdopplung” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

9. Babylonische Geometrie: Kreise und Polygone . . . . . . . . . . . . . . . . . 859.1 Das babylonische Pi: YBC 7302 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859.2 Die Konstanten der Polygone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

10. Die Zahlengeometrie der Babylonier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8710.1 Ein diophantisches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8710.2 Die Keilschrifttafel IM 58045 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8810.3 Parametrisierung von Losungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9010.4 Die Komposition Babylonischer Trapeze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9410.5 Ein Erbschaftsproblem aus AO 17 264 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9510.6 Die Keilschrifttafel VAT 8512 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9610.7 Eins geht noch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9810.8 Warum Trapeze? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

A. Hinweise und Losungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

Tafelverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

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1. Mesopotamien – Kultur und Geschichte

Von den mathematischen Leistungen der Volker, die alter als 2500 Jahre sind,wissen wir nur wenig; im Wesentlichen die einzige Ausnahme ist die babyloni-sche Kultur, die sich vor 5000 Jahren in Mesopotamien (das Land zwischen denFlussen Euphrat und Tigris) auf dem Gebiet des heutigen Irak entwickelt hat.Unser Wissen uber die ganze Bandbreite der babylonischen Kultur verdanken wirdem Umstand, dass die dort lebenden Volker Tontafeln zum Schreiben benutzthaben: wahrend Dokumente, die auf verganglichen Materialien wie Papyrus, Per-gament oder Baumrinden geschrieben wurden, bis auf ganz wenige Bruchstuckelangst zerfallen sind, haben sich Tausende dieser Tontafeln erhalten. Die meistenTontafeln befassen sich mit verwaltungstechnischen Angaben, Geschichte, Religionund Literatur – nur bei einem kleinen Teil der Tafeln geht es um mathematischeProbleme.

Fur eine ganz grobe geschichtliche Einordnung, die in erster Linie die Orien-tierung erleichtern soll, genugt vielleicht das folgende Raster:

• 3. Jahrtausend vor Christus: die Sumerer schreiben auf Tontafeln, zuerst inPiktogrammen, spater in Keilschrift.

• Zu Beginn des 2. Jahrtausends v.Chr. ubernehmen die Akkader die Macht;die sumerische Sprache wird zuruckgedrangt, und die Akkader benutzen dieKeilschrift, um ihre eigene Sprache zu schreiben.

• Wahrend der altbabylonischen Periode um 1800 v.Chr., die mit der Herrschaftvon Hammurabi verknupft ist, entstehen die meisten Keilschrifttafeln, die wirheute kennen.

• Nach einem Niedergang der babylonischen Kultur gibt es ein Aufbluhen inder neubabylonischen Periode (626–539 v.Chr.), in welcher Nebukadnezar IIBabylon mit dem “Turm zu Babel” samt Ischtar-Tor zu einem Weltwunderder Architektur macht.

• Nach den Eroberungen durch Dareios I., Kyros II. und Alexander dem Großenist Babylon ein von den Einwohnern verlassener Ruinenhaufen; aus der Zeitder Seleukiden (so nennt man die Nachfolger Alexander des Großen, die nachweiteren Kriegen dessen Weltreich unter sich aufteilten) sind wieder einigeKeilschrifttafeln erhalten. Das Hauptinteresse gilt aber inzwischen der Astro-nomie.

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2 1. Mesopotamien – Kultur und Geschichte

Ein Zweck des babylonischen Interesses an Astronomie war die Sterndeutung. DieAstrologie stand, ebenso wie andere Methoden, aus gewissen Vorzeichen k unftigeEreignisse vorherzusagen, bei den Babyloniern hoch im Kurs; zu Zeiten der Romergalten die Chaldaer, also die damaligen Bewohner Mesopotamiens, in erster Linieals Sternkundige. Als solche tauchen sie auch im Neuen Testament als die dreiWeisen aus dem Morgenland auf.

1.1 Die Geschichte Babyloniens

Die Sumerer bewohnten um 3500 v.Chr. Mesopotamien, die Gegend zwischen Eu-phrat und Tigris im heutigen Irak. Sie benutzten Tontafeln zur Buchhaltung undVerwaltung; Zahlen wurden additiv aus Symbolen fur 1, 10, 60, 600, 3600 usw,zusammengesetzt. Die altesten bekannten Tontafeln stammen von Ausgrabungenin Uruk, das im Alten Testament als Erech auftaucht: im ersten Buch Mose gehtes in Kapitel 10 um die Nachfahren Noahs; einer von ihnen, Nimrod, errichteteein großes Reich, zu welchem die Stadte Babel, Erech, Akkad, Aschur und Ninivegehorten.

Tafeln der “Grabungsschicht IV” wurden etwa 3200 v.Chr. hergestellt. DieSchrift bestand damals aus Piktogrammen: ein Mensch wurde durch einen Kopf,Wasser durch zwei Wellen symbolisiert. Im Laufe der Jahrhunderte begann man,Linien durch Keile zu symbolisieren, und die Piktogramme wurden um 90◦ gedreht.Mit der Ausbildung der Keilschrift um 2700 v.Chr. wurden auch die Zahlensymbolein Keilschrift geschrieben.

Nach 2300 v.Chr. fielen die Akkader in Babylonien ein, und deren Konig Sar-gon I begrundete die Dynastie der Akkader. Diese ubernahmen die Keilschrift,um fortan ihre eigene Sprache zu schreiben. Auch die darauffolgenden Jahrhun-derte sind von Einwanderungen fremder Volker und Kriegen beherrscht; etwa um1700 v.Chr. gelingt es Hammurabi, ganz Mesopotamien und Syrien wieder zu ei-nem Reich zu vereinigen. Er erlasst Gesetze (den Codex Hammurabi), von denenTeile auf der uber 2 m hohen Stele des Hammurabi eingemeißelt sind, und dieBlute der “altbabylonischen Kultur” unter seiner Herrschaft fuhrt dazu, dass diemeisten heute erhaltenen Keilschrifttafeln aus dieser Zeit stammen.

Die Einfuhrung neuer Gesetze erforderte gottliche Legitimation; Hammurabiließ also auf dem Kopf seiner Gesetzesstele ein Bild einmeißeln, das ihm beimEmpfang der koniglichen Insignien vom Sonnengott Schamasch zeigte, ein Bild,das an den Empfang der Zehn Gebote auf dem Berg Sinai durch Moses direkt vomjudischen Gott erinnert. Auch das Gesetz “Auge um Auge, Zahn um Zahn” findetsich, zusammen mit anderen biblischen Gesetzen, bereits im Codex des Hammu-rabi, der sich selbst als “Enlils auserwahlter Hirte” bezeichnet. Das Original derStele steht im Louvre in Paris, eine Nachbildung kann man im VorderasiatischenMuseum in Berlin bewundern. Hammurabi ließ die Stele vermutlich in Sippar auf-stellen, aber die Elamer nahmen sie im 12. Jhdt. v.Chr. als Kriegsbeute mit nachSusa, wo sie dann 1902 von einem franzosischen Team ausgegraben wurde.

Die Gesetze Hammurabis regelten das komplette tagliche Leben;

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1.1 Die Geschichte Babyloniens 3

Abb. 1.1. Karte von Elam

Abb. 1.2. Stele des Hammurabi (Louvre, Paris; Kopie im Vorderasiatischen Museum inBerlin)

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4 1. Mesopotamien – Kultur und Geschichte

• § 8: Stiehlt ein Mann Rind, Schaf, Esel, Schwein oder Schiff, so soll er, wenndieses Gott oder dem Palast gehort, das 30fache zuruckggeben; gehort eseinem Beamten, so soll er das 10fache zuruckggeben; hat der Dieb nichts zugeben, soll er sterben.

• § 111: Ein Tempelmadchen, das zum Trinken in eine Schenke geht, soll ver-brannt werden.

• § 211: Wenn ein Arzt die Tochter eines Beamten durch Schlage zum Abtreibenihres Fotus bringt, soll er 5 Schekel zahlen.

§ 212: Wenn diese Frau stirbt, soll er eine halbe Mine Geld zahlen.

§ 213: Wenn er die Sklavin eines Mannes schlagt und sie zum Abtreiben ihresFotus bringt, soll er 2 Schekel bezahlen.

§ 214: Wenn diese Sklavin stirbt, soll er 13 Mine Geld zahlen.

Dem Zeitalter des Hammurabi folgt ein Niedergang nach der Einwanderungvon Hethitern und Kassiten; um 650 v.Chr. grundet Assurbanipal eine riesige Bi-bliothek, und der letzte babylonische Herrscher, Nebukadnezar II., wird im AltenTestament verewigt, als er und sein Reich dem Perser Kyros unterliegen. Nebu-kadnezar hatte in Babylon noch das Ischtar-Tor errichten lassen, ein gewaltigesBauwerk zu Ehren der Gottin Ischtar (Venus) und eines der Haupt-Tore der Stadt,das auf die Prozessionsstraße fuhrte. Das Tor war Teil der riesigen StadtmauernBabylons, die vor ihrer Vernichtung zu den sieben Weltwundern zahlten.

Abb. 1.3. Das Ischtar-Tor nach seiner Freilegung durch Koldewey und auf einer Brief-marke von 2013

Babylon ist danach nur noch eine Sammlung von Ruinen; als Alexander derGroße um 330 v.Chr. das Reich erobert, plant er noch, Babylon wieder aufzubauen,

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1.1 Die Geschichte Babyloniens 5

aber vor seinem Tod gelingt es seinen Arbeitern nur, den Schutt wegzuraumen –wie viele Tontafeln dabei endgultig zerstort wurden, lasst sich kaum erahnen.

Abb. 1.4. Tierfiguren am Ischtar-Tor und der Prozessionsstraße

In der Neuzeit wurden erstmals 1851–54 einige glasierte Ziegel in den RuinenBabylons entdeckt; Ausgrabungen von Robert Koldewey am Anfang des 20. Jahr-hunderts legten das vollstandige Ischtar-Tor frei. Die Ziegel wurden in knapp 400Kisten gepackt und per Schiff nach Berlin gebracht; weitere 400 Kisten konntenerst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1927 ihren Weg nach Berlin antreten,wo das Tor Ziegel fur Ziegel wie ein Puzzle zusammengesetzt und wieder aufge-baut wurde. Heute kann man dieses Meisterwerk der Baukunst zusammen mit derProzessionsstraße im Vorderasiatischen Museum bewundern.

Die Kurzversion der Geschichte Mesopotamiens zwischen Alexander dem Großenund heute ist folgende:

• 636 n.Chr. wird Mesopotamien muslimisch.

• 762 n.Chr. wird Bagdad gegrundet und entwickelt sich zur bedeutendstenStadt der islamischen Welt.

• Ab 1534 wird Mesopotamien Teil des Osmanischen Reichs.

• Im ersten Weltkrieg wird Mesopotamien von den Briten besetzt, im zweitenebenfalls.

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6 1. Mesopotamien – Kultur und Geschichte

• 1958 erklart sich der Irak fur unabhangig.

• 1979: Nach jahrelangen Machtkampfen kommt Saddam Hussein an die Machtund greift 1980 den Iran an; der Krieg dauert bis 1988.

• 1990 uberfallt der Irak Kuwait und wird im zweiten Golfkrieg wieder von dortvertrieben.

• Am 20.03.2003 marschieren die USA und ihre Koalition der Willigen ebensovolkerrechtswidrig in den Irak ein wie zuvor Hussein in den Iran und Ku-wait, verwusten das Land; Zehntausende sterben, Museen werden geplundert,Kunstschatze auf dem Schwarzmarkt berscherbelt, und bei ihrem Abzug hin-terlassen die USA ein machtpolitisches Vakuum, das in den letzten Jahrenvom Islamischen Staat gefullt worden ist, der seither alle historischen Stattenin die Luft sprengt, derer er habhaft werden kann, und der mit seiner BarbareiFluchtlingsstrome produziert, um die sich vor allem diejenigen Lander nichtkummern, deren Politik der “Demokratisierung” des Nahen Ostens fur diesesChaos in erster Linie verantwortlich ist, namlich die USA, England und Polen.

1.2 Die Entzifferung der Keilschrift

Dass man alte, langst tote Sprachen entziffern kann, hat Francois Champollion amAnfang des 19. Jahrhunderts gezeigt. Im Zuge der militarisch nutzlosen ExpeditionNapoleons nach Agypten, die ihn bis zu den Pyramiden fuhrte, kamen Dutzendevon Wissenschaftlern mit Hieroglyphen in Kontakt; die Entzifferung gelang durchden Fund des Rosetta-Steins (benannt nach dem Fundort), auf dem ein und die-selbe Inschrift in drei verschiedenen Sprachen eingemeißelt waren. Weil eine davongriechisch war, konnte Champollion nach und nach erst die Namen (Kleopatraund Ptolemaus) und dann ganze Satze entschlusseln. Der Rosetta-Stein wanderteubrigens als Kriegsbeute ziemlich schnell nach England und steht heute im BritishMuseum in London.

Die Keilschrift wurde erstmals im 17. Jahrhunderts in Europa zur Kenntnisgenommen: Beispiele der Keilschrift brachte der Reisende Pietro della Valle mit,spater hat S. Flowers einige Zeilen aus den Inschriften an den Ruinen von Perse-polis kopiert.

Carsten Niebuhr (1733–1815) brach 1749 nach dem Tod seines Vaters die La-teinschule ab und beendete seine Schulausbildung erst nach seinem Umzug 1755nach Hamburg. Nach einem dreijahrigen Mathematikstudium in Gottingen ginger zum danischen Militar und wurde 1761 von Konig Frederik V. als Kartographfur eine Expedition nach Arabien berufen, auf der unter Anderem Beweise fur denWahrheitsgehalt des Alten Testaments gesucht werden sollten. 1765 gekangte Nie-buhr nach Persepolis, wo er mehrere Inschriften in Keilschrift mit großer Sorgfaltkopierte. 1767 kehrte Niebuhr nach Kopenhagen zuruck und veroffentlichte seineDaten; weiter gelingt es ihm, den jungen Friedrich Munter fur die Archaologie zubegeistern.

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1.2 Die Entzifferung der Keilschrift 7

Jahr Ereignis

1621 Pietro della Valle berichtet am 21. Oktober von seiner Reise (1614–1626) uber die Turkei nach Agypten, Palastina, Persien und Indien ineinem Brief uber Zeichen auf Monumenten in Persepolis und vermu-tet, dass es sich dabei nicht um Verzierungen, sondern um eine Schrifthandelt.

1772 Carsten Niebuhr beginnt mit den Veroffentlichungen der Ergebnisseseiner Arabischen Reise; der letzte Band erscheint 1778.

1798 Oluf Tychsen erklart, die Inschrift in Behistun sei ein Text in drei ver-schiedenen Sprachen.

1802 Friedrich Munter erkennt in einer Inschrift aus Persepolis einen drei-sprachigen Text.

1802 Friedrich Grotefend entziffert Teile der von Niebuhr kopierten Inschriftin Persepolis

1826 Rasmus Rask erklart weitere grammatikalische Besonderheiten der In-schrift von Persepolis

1833 Eugene Burnouf veroffentlicht Commentaire sur le Yacna1835 Rawlinson kopiert dreisprachige Inschrift am Berg Elwand bei Hama-

dan, einer Stadt in der Nahe der antiken Stadt Ekbatana1836 Burnouf [8] findet in altpersischen Inschriften, die Niebuhr in Naksh-i-

Rustam kopiert hatte, eine Liste von Landernamen.Christian Lassen veroffentlicht Die altpersischen Keil-Inschriften vonPersepolis. Entzifferung des Alphabets und Erklarung des Inhalts

1838 Rawlinson entziffert die ersten zwei Paragraphen der altpersischen In-schrift in Behistun

1839 Rawlinson schickt einen Bericht nach London, der die altpersische unddie elamitische Inschrift in Behistun enthalt

1844 Nils Ludwig Westergaard entziffert elamitische Inschriften aus Perse-polis und Naksh-i-Rustam.

1846 Am 9. Juni halt Hincks in Dublin einen Vortrag On the First and SecondKinds of Persepolitan Writing

1846 Rawlinson veroffentlicht The Persian Cuneiform Inscription at Be-histun, Decyphered and Translated, with a Memoir

1847 Hincks veroffentlicht einen Artikel mit Zahlen in Keilschrift1847 Rawlinson kopiert die babylonische Inschrift von Behistun1851 Rawlinson veroffentlicht die babylonische Inschrift von Behistun1853 Edwin Norris (1795–1872) veroffentlicht den elamitischen Text aus Be-

histun1857 Ein von William Henry Fox Talbot 1857 organisierter “Wettbewerb”

zwischen Hincks, Rawlinson und Oppert beweist, dass die Keilschriftenin der Tat im wesentlichen entziffert sind.

Abb. 1.5. Entzifferung der Keilschrift

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8 1. Mesopotamien – Kultur und Geschichte

1798 entdeckte der Rostocker Orientalist Oluf Tychsen, dass ein schrager Keildie Bedeutung eines Trennungszeichens zwischen zwei Wortern hatte, und er be-hauptete, dass die drei Inschriften in Behistun nicht nur in drei verschiedeneSchriftarten, sondern drei verschiedene Sprachen geschrieben waren. Der DaneFriedrich Munter zeigte in einem 1802 erschienenen Buch, dass die erste Inschriftin Persepolis eine alphabetische, die zweite (mit uber 100 verschiedenen Zeichen)eine Silben- und die dritte eine Monogrammschrift ist. Er hat auch gesehen, dassWiederholungen von Wortern in der ersten Inschrift auch Wiederholungen in derzweiten und dritten entsprechen, dass also die drei Inschriften tatsachlich densel-ben Text wiedergeben. Auch das Wort “Konig” und “Konig der Konige” konnteer bereits korrekt erahnen.

Die Entzifferung der akkadischen und sumerischen Keilschrifttexte verdankenwir einer Reihe von Gelehrten: nach den ersten Erfolgen des Gymnasiallehrers Gro-tefend im Jahre 1802 gelang Lowenstern, Hincks und Rawlinson der Durchbruch.

Georg Friedrich Grotefend (1775 - 1853) war das sechste Kind eines Schuhma-chermeisters aus Munden. 1795 begann er in Gottingen Theologie und Philologiezu studieren. Im Juli 1802 ging er mit seinem Freund Rafaello Fiorillo, der Sekretarder Gottinger Bibliothek war, spazieren; Grotefend behauptete, dass es moglichsein musse, Inschriften zu entziffern, von denen man weder weiß, in welcher Spra-che sie geschrieben sind, noch, worum es darin geht. Fiorillo forderte Grotefenddaraufhin auf, die Keilschrift zu entziffern. Dieser begann mit einer Abschrift, dieer im Bericht von Carsten Niebuhr fand, der von 1761 bis 1767 den Vorderen Ori-ent im Auftrag des danischen Konigs bereist hatte, und machte sich danach andie Untersuchung einer Inschrift aus Persepolis, die sich uber einem Relief befand.Grotefend glaubte, dass es darin um einen Konig gehen musse, und tatsachlichgelang es ihm, dieses Wort mehrfach in der Inschrift zu entdecken. So fand er her-aus, dass die Inschrift vom Perserkonig Dareios I. handelte, und ihm gelang dieEntzifferung von zehn Keilschriftzeichen.

Danach gelangen dem Franzosen Burnouf und dem Bonner Professor Lassen1836 im wesentlichen die korrekte Ubersetzung der bekannten Teile der Inschrift:

Darius, der große Konig, der Konig der Konige, der Konig der Lander,des Hystaspes Sohn, der Achamenide, der diesen Palast gebaut hat.

Xerxes, große Konig, der Konig der Konige, des Konigs Darius Sohn,der Achamenide.

Christian Lassen erklart im Vorwort seines Buchs [31], dass die Beschaffungder Abschriften durch Niebuhr alles andere als ein Kinderspiel war:

Die hoch an den Mauern stehenden Inschriften waren nur dann deutlichzu erkennen, wenn die Sonne sie beschien; da nun in dieser Luft der harteursprunglich polirte schwarze Marmor nicht verwittert, so wurden seineAugen, schon von der ununterbrochenen Arbeit außerst angegriffen, sehrgefahrlich entzundet; und diess, so wie der Tod seines armenischen Be-dienten, nothigte ihn, hochst widerstrebend das alte persische Heiligthumzu verlassen, ohne es durch Abzeichnungen erschopft zu haben.

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1.2 Die Entzifferung der Keilschrift 9

Edward Hincks (1792–1866) stammte aus dem irischen Cork und war wie seinVater protestantischer Priester. Er studierte am Trinity College in Dublin und be-gann sich Anfang der 1830er Jahre fur das Altpersische zu interessieren – 1823 warJean-Francois Champollion die Entzifferung der agyptischen Hieroglyphen gelun-gen. 1842 entdeckte Paul Emile Botta in Niniveh die Keilschriftbibliothek des ba-bylonischen Herrschers Assurbanipal, die Tausende von Keilschrifttafeln enthielt.Deren Studium lieferten Hincks die Erkenntnis, dass die akkadische Keilschrift eineSilbenschrift war, und dass ein und dasselbe Symbol je nach Kontext verschiedeninterpretiert werden konnte.

Henry Rawlinson (1810–1895) hatte schon mit 17 Jahren Persisch gelernt undwurde vom britischen Militar nach Persien geschickt. Im Jahre 1835 kopierte Raw-linson eine dreisprachige Inschrift am Mount Elwand bei Hamadan, und mit denErkenntnissen Grotefends sowie des Danischen Philologen Rasmus Rask gelangihm die Entzifferung des Texts.

In Behistun (auch Bisutun, im heutigen Iran) kopierte Rawlinson 1836 oder1837 eine drei-sprachige Inschrift in Altpersisch, Elamitisch und Akkadisch – al-lerdings war damals keine der drei Sprachen entziffert. Die Inschrift auf einerFelswand nahe der Verbindungsstraße zwischen Babylon und Ekbatana hatte derpersische Konig Dareios anfertigen lassen, nachdem er 522 v.Chr. Aufstandischeunter der Fuhrung eines gewissen Gaumata besiegt hatte. Damit diese Inschriftniemand beschadigen konnte, wurde der Felsvorsprung, auf dem die Schreiber ge-standen hatten, wahrend sie den Text und die Bilder in die Wand meißelten,abgeschlagen. Vor Rawlinson hatten schon andere Reisende aus Europa das Reliefgesehen, es aber fur ein Bild von Jesus und seinen 12 Aposteln gehalten. Rawlinsongelang in Zusammenarbeit mit Lassen die Entzifferung des Altpersischen Textes,die er 1845 veroffentlichte.

1844 kehrte Rawlinson noch einmal nach Behistun zuruck und kopierte denvollstandigen Text; diese Kopie erlaubte Niels Westergaard und Edwin Norris dieEntzifferung der 131 Elamitischen Schriftzeichen, wahrend Rawlinson selbst 1852die Entzifferung des akkadischen Textes gelang. Das Relief selbst wurde im zweitenWeltkrieg schwer beschadigt, als es von Soldaten als Zielscheibe benutzt wurde.

1857 organisierte William Henry Fox Talbot (1800–1877) eine Art Entziffe-rungswettbewerb: er gab Hincks, Rawlinson und Oppert die Abschrift einer jungstentdeckten Keilschrifttafel und bat sie, diese zu ubersetzen. Alle drei liefertensinngemaß dieselbe Ubersetzung ab und zeigten dadurch, dass die Keilschrifttatsachlich entziffert worden war.

Jules Oppert (1825–1905) entstammte einer judischen Familie aus Hamburg.Er studierte in Heidelberg, Bonn, Berlin und Kiel Orientalistik; 1847 emigrierte ernach Frankreich und wurde schnell zu einem der besten Kenner des Altpersischen.1855 nahm er an einer Expedition nach Mesopotamien teil; nach seiner Ruckkehrim Jahre 1854 ging er nach England, um die Sammlung im Britischen Museum zuuntersuchen. Nach 1857 befasste er sich vor allem mit Assyriologie und gab derSprache, die vor dem Akkadischen in Mesopotamien verwendet wurde, den Namen“Sumerisch”; die Existenz der Sumerer konnte erst 20 Jahre spater zweifelsfreinachgewiesen werden.

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10 1. Mesopotamien – Kultur und Geschichte

Abb. 1.6. Relief in der Felswand in Behistun

Piktogramme der Sumerer

Abb. 1.7. Sumerische Tafeln mit Piktogrammen

Die Schrift der alten Sumerer bestand, ahnlich wie die Hieroglyphen der Agyp-ter, aus Piktogrammen. Die Piktogramme in der oberen Zeile in Abb. 1.8 aus [58,S. 10] (vgl. auch [60]) wurden um etwa 3000 v.Chr. benutzt, die Keilschriftsymbolein der Mitte um 2400 v.Chr.; die Keilschriftsymbole in der unteren Zeile waren imSpat-Assyrischen etwa 650 v.Chr. in Gebrauch.

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1.3 Die Schreiberlehre 11

Archaische Form

nach Drehung

sumerische Keilschrift

assyrische Keilschrift

Bedeutung Vogel Wasser Auge Korn essen

Name Musen A Igi Se Ku

Abb. 1.8. Vom Piktogramm zur Keilschrift

Das Symbol fur essen ist aus einem Kopf und einer kleinen Schale zusammen-gesetzt; wer sich die rechte Tafel in Abb. 1.7 genauer ansieht, wird das Symboldort erkennen. Es wurde verwendet, wenn es um die Rationen von Brot und Bierging, die Arbeitern als Lohn ausbezahlt wurden. Brot und Bier waren Grundnah-rungsmittel; das Bier diente in erster Linie nicht dem Genuss, sondern wurde mitWasser verdunnt: der Alkohol war lediglich dazu da, die Keime abzutoten.

Die Keilschrift selbst ist wie jede Schrift sehr komplex, auch wenn mancheihrer Strukturen einfach zu verstehen sind. So bedeutete das sumerische SymbolKA den Mund, und es wurde als Kopf gezeichnet, bei dem der Mund stark betontwurde. Dasselbe Symbol konnte je nach Kontext aber auch “sprechen”, “Wort”oder “Zahn” bedeuten; schrieb man in das Symbol fur KA das Zeichen A furWasser, bedeutete es “trinken”.

1.3 Die Schreiberlehre

Der Beruf des Schreibers (vgl. Abb. 1.10 und [14, S. 36]) war in Babylonien eben-so wie in Agypten ein Beruf, zu dem man ausgebildet wurde, und stand in al-lerhochstem Ansehen. Die Ausbildung begann damals wie heute mit 5-6 Jahrenund fand im “Tafelhaus” statt, wo erfahrene Schreiber dem Nachwuchs den Um-gang mit Griffel und Tontafel beibrachte und die Schuler Listen von Konigen oderPflanzen abschreiben ließ. Dort lernten sie die alten Sprachen (z.B. Sumerisch, alsdas Akkadische zur Umgangssprache geworden war), und sie lernten Mathematik.

Selbst Konige prahlten damit, des Lesens und Schreibens machtig zu sein, undAssurbanipal, dessen Bibliothek in Niniveh wir Tausende von Keilschrifttafeln ver-danken, ruhmte sich gar damit, die Schrift aus der Zeit vor der großen Flut lesen zukonnen. Diese Bibliothek wurde 612 v.Chr. bei der Einnahme von Niniveh durchMeder und Babylonier niedergebrannt, was zwar viele Keilschrifttafeln zerstorte,andere aber dadurch konservierte: gebrannte Tontafeln sind viel langer haltbar als

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12 1. Mesopotamien – Kultur und Geschichte

solche, die nur getrocknet worden sind. Nebenbei bemerkt haben viele Tafeln 4000Jahre im Wustensand Iraks besser uberstanden als einige Jahrzehnte in den Muse-en der westlichen Welt; heute stehen diese Tafeln in Glaskasten, deren Temperaturund Luftfeuchtigkeit genauestens uberwacht werden.

Sicherlich konnte nicht jeder, der schreiben lernen wollte, dies auch tun; ver-mutlich hatte man zu einer angesehenen und reichen Familie zu gehoren. Dennochsollte man sich vor der Vorstellung huten, dass es in Babylonien nur ganz wenigeSchreiber gegeben hat. Dies ließe sich namlich nur schwer mit der Vielzahl an Ver-tragen und Tafeln zur Buchhaltung in Einklang bringen, die man gefunden hat.Wahrend die allermeisten Schreiber mannlich waren, sind uns auch einige wenigeFrauen bekannt, die des Schreibens machtig waren.

Abb. 1.9. Keilschrifttafel mit Umschlag

Auch heute kann man das Schreiben in Keilschrift erlernen; viele Verantwort-liche in den Museen, die Keilschrifttafeln besitzen, haben diese Kunst erlernt, umKopien der Tafeln herzustellen. Empfehlen mochte ich ein Video [38], in dem der

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1.3 Die Schreiberlehre 13

Leiter des Vorderasiatischen Museums in Berlin, Dr. Joachim Marzahn das Schrei-ben auf einer Keilschrifttafel vormacht. Marzahn arbeitete bis 1970 als Betriebs-schlosser, machte dann sein Abitur an der Abendschule und studierte danach Vor-derasiatische Archaologie und Altorientalistik in Halle. Nach seinem Diplom 1979arbeitete er am Vorderasiatischen Museum im Berlin, und 1989 promovierte er inJena uber die “Grundlagen der Getreidewirtschaft in Lagasch, 24. Jh. v.u.Z.”.

Ahnliche Videos gibt es vom Leiter des Britischen Museums, Irving Finkel undvon Christine Proust, Forschungsdirektorin des CNRS an der Universitat Paris.

Abb. 1.10. Babylonische Schreiber: der vordere schreibt auf eine Tontafel, der hintereauf eine Papyrusrolle.

Es gibt eine ganze Reihe von Tafeln, deren Eintrage wie ein Lexikon wirken:Konigslisten, mit denen die Schuler das Schreiben von Namen ubten, Namen ver-schiedener Fische, von Vogeln, von verschiedenen Gefaßen zum Aufbewahren vonNahrungsmitteln bis hin zum Brauen von Bier.

Zu Beginn wurden diese Listen von Schulern abgeschrieben, um das Schreibenzu lernen, in spateren Zeiten wurden sie von fortgeschrittenen Schreiberlehrlingenkopiert. In den Zeiten, in welchen das Sumerische nur noch als Wissenschaftsspra-che benutzt wurde (wie in der europaischen Renaissance das Lateinische), wahrenddie Bevolkerung die akkadische Sprache benutzte, dienten ahnliche Listen auch als

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14 1. Mesopotamien – Kultur und Geschichte

Worterbucher. Aus einer Liste von Sprichwortern auf der Tafel Ni 5376 aus deraltbabylonischen Zeit kennen wir den Spruch

Ein Schreiber, der kein Sumerisch kann – wie will er eine Ubersetzungerstellen?

Im Rechenunterricht wurde Addition und Subtraktion (vornehmlich wohl alsKopfrechnen, weil uns keine Schultafeln dazu bekannt sind), Multiplikation unddie Berechnung von Reziproken und das Ziehen von Quadratwurzeln unterrichtet,bevor es an schwierigere, auch geometrische Probleme ging. Auf der Tafel A 29 985,auf der es um die Berechnung der Reziproken einer Zahl geht, musste der Schulerauf der Ruckseite zwei Mal den Spruch

Ein schwatzender Schreiber; seine Schuld ist groß.

schreiben.

1.4 Babylonische Mythen

Die Keilschrifttafeln der Babylonier erzahlen uns eine ganze Menge uber die altenKulturen Mesopotamiens; die bekannteste Geschichte ist wohl diejenige von Gilga-mesch, eine epische Erzahlung, die sich mit Fragen von Leben, Tod, Unsterblichkeitund dem Verhaltnis zwischen Menschen und Gottern auseinandersetzt.

Die Geschichte einer Flut, in welcher fast die gesamte Menschheit umgekom-men ist, findet sich in Kulturen auf jedem Kontinent. Etwa 20 000 v.Chr. endetedie letzte Eiszeit – damals war wegen der riesigen Eismassen auf dem Land derMeeresspiegel mehr als 60 m unterhalb dem heutigen, und man hatte Englandvon Europa aus zu Fuß erreichen konnen. Der Anstieg des Meeresspiegels mit demSchmelzen des Eismantels muss an manchen Orten zu Katastrophen gefuhrt ha-ben, wenn plotzlich wahrend einer Springflut eine ganze Tiefebene geflutet wurde.

Wie alle großen Mythen der alten Kulturen geht auch die Geschichte der großenFlut auf eine Zeit zuruck, in der es noch keine Schrift gab und diese Erzahlungmundlich weitergegeben wurde; auch die Ilias und die Odyssee, also die Geschichtevom Trojanischen Krieg, wurden mundlich tradiert, bevor Homer sie niederschrieb.Als die Babylonier daran gingen, ihre Geschichte der Flut niederzuschreiben, gab esbereits drei solcher Mythen mit verschiedenen “Helden”, Atrahasis und Utnapishti.

Die sumerische Geschichte der Flut erzahlt davon, dass die Gotter der Men-schen uberdrussig werden und sie, trotz Protesten der Schopferin Nintur, vernich-ten wollen. Konig Ziusudra baut daraufhin ein Boot und erhalt die Unsterblich-keit: in der Tat bedeutet sein Name “der mit dem langen Leben” (im babyloni-schen Gilgamesch-Epos heißt der Erbauer der Arche Utnapishti, was “Ich fand dasLeben” bedeutet). Diese Geschichte wurde vor 200 v.Chr. von Berossos ins Grie-chische ubertragen; davon sind nur noch Fragmente erhalten, die erzahlen, dassXisuthros im Traum vor einer Flut gewarnt wurde; er solle den Anfang, die Mitte

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1.4 Babylonische Mythen 15

und das Ende aller Erzahlungen in Sippar begraben und ein Boot bauen. Er be-folgte den Befehl und nahm seine Familie und seine Freunde ebenso mit wie Tiere,und ließ nach einer Weile Vogel frei, die aber wieder zuruckkamen. Das zweite Malhatten die Vogel Schlamm an ihren Fußen, und beim dritten Mal kamen sie nichtmehr zuruck. Die Arche war in Armenien gelandet; Xisuthros und seine Familiedurften bei den Gottern wohnen, die anderen wurden beauftragt, nach Babylo-nien zuruckzugehen, die Schriften auszugraben, und sie unter den Menschen zuverbreiten.

Der Atrahasis-Epos beginnt damit, dass die jungeren Gotter, die fur die alterenarbeiten mussen, rebellieren. Daraufhin beschließen die alteren Gotter, den Men-schen zu erschaffen, damit dieser fur sie arbeiten kann. Sie opfern einen Gott underschaffen aus ihm die Menschen; da diese unsterblich sind und sich schnell ver-mehren, machen sie einen solchen Larm, dass sie den Gottern den Schlaf rauben.Sie schicken zuerst eine Epidemie und dann Trockenheit, um die Menschheit zuvernichten, aber der Gott Ea (sumerisch Enki), der fur die Erschaffung des Men-schen verantwortlich war, vereitelt diese Plane. Der dritte Versuch besteht in derFlut (“am Tage des Neumonds”: an diesem Tag stehen Mond und Sonne in einerRichtung, was auch heute noch fur “Springfluten” sorgt), und dieses Mal warntEa Atrahasis und befiehlt ihm, eine Arche zu bauen, um sich und die Tiere derErde zu retten.

Letztendlich sind die andern Gotter dankbar, dass einige Menschen die Kata-strophe uberlebt haben, mussten sie sich doch sonst selbst wieder um ihren Lebens-unterhalt kummern. Allerdings “erfinden” sie jetzt den Tod, Kindersterblichkeitund zolibatare Priesterinnen, um der menschlichen Uberbevolkerung Einhalt zugebieten. Bereits damals gab es Probleme mit der Einhaltung des Zolibats, wiedie autobiographische Skizze des ersten akkadischen Herrschers Sargon I beweist:dieser hat etwa um 2200 v.Chr. regiert und erzahlte von sich, dass sein Vater unbe-kannt sei und seine Mutter, eine Priesterin, ihn heimlich zur Welt gebracht habe.Die Geschichte, wonach sie ihn auf einem kleinen Schiffchen auf dem Euphrat aus-gesetzt hat, wo ihn jemand herausgefischt und aufgezogen hat, wurde im AltenTestament dann fur den Lebenslauf von Moses verwendet.

Im Zusammenhang mit der Entdeckung einer Keilschrifttafel, welche einenBauplan der babylonischen Arche enthielt, hat Irving Finkel ein Buch [13] uberdiese Entdeckung geschrieben.

Der Urvater der Israeliten Abraham stammt der Bibel nach aus der babyloni-schen Stadt Ur. Die Geschichte der Flut ist bei weitem nicht die einzige Geschichte,die es ins Alte Testament geschafft hat; uber die Parallelen zu babylonischen My-then im Talmud und dem Alten Testament sind ganze Bucher geschrieben worden.

Die Entdeckung der sumerischen Schrift

Dass die Sumerer nicht nur die Erhaltung der Tierwelt fur bedeutend gehaltenhaben, sondern auch die Bewahrung ihrer Schrift, zeigt, welche Bedeutung sieder Erfindung der Keilschrift und ihrer eigenen literarischen Tradition zugemessenhaben. Die Sumerer hatten auch eine Geschichte, die sich um die Erfindung der

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16 1. Mesopotamien – Kultur und Geschichte

Abb. 1.11. Irving Finkel und die von ihm gefundene Keilschrifttafel mit der Bauanlei-tung der babylonischen Arche

Schrift dreht und auf die Zeit um 2100 v.Chr. zuruckgeht. In dem Gedicht “Enmer-kar und der Herr von Aratta” schickt Enmerkar, der zweite Herrscher der erstenDynastie von Uruk, einen Boten nach Aratta, einer Stadt, die durch sieben Bergevon Uruk getrennt ist, und fordert die Bewohner von Aratta auf, ihm Gold, Silber,Lapislazuli und andere Edelsteine zu schicken. Der Herrscher von Aratta stelltedem Boden Bedingungen, von denen er glaubte, dass sie nicht annehmbar waren,und schickte den Boten zuruck. Dieses Spiel wiederholte sich, und die Bedingungenwurden von Mal zu Mal komplizierter, bis der Bote die zu uberbringende Nachrichtkaum mehr verstand:

Der Bote, dessen Mund schwer war, konnte es nicht wiederholen. Dader Mund des Boten schwer war und er die Nachricht nicht wiedergebenkonnte, druckte der Herr von Kulaba etwas Lehm flach und schrieb dieNachricht auf eine Tafel. Zuvor gab es kein Schreiben auf Lehm. Jetzt,unter der Sonne und an diesem Tag, gab es sie. Der Herr von Kulabaschrieb die Nachricht auf eine Tafel. So ist es geschehen.

Die Wiederholung von Informationen wie in diesem Gedicht ist typisch bei Ge-schichten, die zuerst nur mundlich uberliefert und erst viel spater niedergeschrie-ben worden sind.

Der Adressat, der Herrscher von Aratta, konnte die Tafel problemlos lesen;entweder war die Schrift auf einem andern Medium also bereits zuvor bekannt,oder es handelt sich hier um eine Inkonsistenz, wie sie sich in alten Mythen zuhauffinden lassen.

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1.5 Die Entdeckung der mathematischen Kultur Babyloniens 17

1.5 Die Entdeckung der mathematischen KulturBabyloniens

Dass die Babylonier ein Zahlensystem mit der Basis 60 benutzt haben sollen,hatten bereits die Griechen geschrieben, lange bevor Hypsikles und Ptolemaussolche Systeme fur ihre astronomischen Rechnungen benutzten. Formaleoni ausVenedig behauptete 1788, dass das Sexagesimalsystem wegen der Einteilung desJahrs in 360 Tage und wegen der Eigenschaften des regelmaßigen Sechsecks gewahltworden sei. Es war ebenfalls “allgemein bekannt”, dass die Chaldaer die Schrifterfunden hatten. Genaueres wurde aber erst bewannt, nachdem die Keilschriftentziffert worden war.

Es war wohl Edward Hincks, der 1854 durch die Untersuchung eines kurzenastronomischen Texts erkannte, dass das Zahlensystem der Babylonier auf derBasis 60 aufgebaut ist. Ebenfalls 1954 ubersetzte Rawlinson einen nur teilweiseerhaltenen Zylinder, von dem er zeigen konnte, dass er Tafeln von Quadrat- undKubikzahlen enthielt, die im Sexagesimalsystem geschrieben waren. Die ernsthafteAuseinandersetzung mit der babylonischen Mathematik begann erst, als ErnstWeidner wahrend des ersten Weltkriegs auf einer Keilschrifttafel eine Anwendungdes Satzes von Pythagoras erkennt.

Am Ende des 19. Jahrhunderts stellte die Universitat von Pennsylvania Aus-grabungen in Nippur, bei denen ca. 50 000 Keilschrifttafeln ausgegraben wurden,fast 1000 davon mathematischen Inhalts. Je die Halfte der Tafeln gingen an dieUniversitat und das Osmanische Reich, also an ein Museum in Istanbul, einigeTafeln erhielt der Leiter der Ausgrabungen, Professor Hilprecht, fur sich. Dieseletzteren stiftete er nach seinem Tod der Universitat Jena, einige davon hatte erin seinem Bericht aus dem Jahre 1906 der Offentlichkeit zuganglich gemacht. Inden letzten Jahren wurden diese drei Sammlungen untersucht und von EleanorRobson und Christine Proust [49] veroffentlicht.

Die Erkenntnis, dass die Mathematik der Babylonier ein ganz erstaunlichesNiveau besessen hat, verdanken wir in erster Linie den Arbeiten von Otto Neuge-bauer und Thureau-Dangin in den 1930er Jahren. Neben Tabellen von Vielfachen,Quadratzahlen, Reziproken gibt es vor allem reine Aufgabentexte, Aufgabentextemit Angabe der Losungen, und Aufgabentexte mit den durchgefuhrten Rechnun-gen.

Nur wenige Mathematiker des 20. Jahrhunderts haben sich um die Geschichtevon Mathematik und Astronomie so verdient gemacht wie Otto Neugebauer. Die-ser wurde am 26. Mai 1899 in Innsbruck geboren und studierte nach dem Endedes ersten Weltkriegs in Graz, Munchen und schließlich in Gottingen, dem dama-ligen Mekka der Mathematik. Neben seinen mathematischen Studien befasste ersich mit Agyptologie und altorientalischen Sprachen, und an 1928 unterrichtete erGeschichte der Mathematik in Gottingen. Nach der Machtergreifung der National-sozialisten emigrierte er nach Kopenhagen und 1939 an die Brown Unversity in denUSA. Unter Mathematikern ist er heute vor allem als Grunder des Zentralblattsund spater der Mathematical Reviews bekannt, also Zeitschriften, in welchen die

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18 1. Mesopotamien – Kultur und Geschichte

neuesten mathematischen Artikel und Bucher kurz besprochen werden. Neugebau-er ist am 19. Februar 1990 in Princeton gestorben.

Fur uns ist Otto Neugebauer vor allem alsAutor der Bucher Mathematische Keilschrift-Texte bekannt, die von 1935 bis 1937 erschie-nen sind, sowie fur den Erganzungsband Ma-thematical Cuneiform Texts zusammen mitAbraham Sachs (1945). Auch wenn mancheseiner Interpretationen babylonischer Mathe-matik sich als zu mutig herausgestellt haben,hat er doch mehr fur die Geschichte der Ma-thematik getan als viele seiner scharfsten Kri-tiker.

Bereits vor Neugebauer hat sich der franzosische Altorientalist Jean GenevieveFrancois Thureau-Dangin, (1872–1944), der von 1895 bis 1928 als Chefkonservatoram Louvre Experte fur babylonische Keilschrifttexte war, um die Ubersetzungsumerischer Tafeln verdient gemacht. 1938 erschien sein großes Werk [57] ubermathematische Keilschrifttexte aus Babylonien.

Nach dem zweiten Weltkrieg hat sich vor allem Evert Marie Bruins (1909–1990)fur die Mathematik der Babylonier interessiert. Bruins wurde am 4. Januar 1909 inWoudrichem (Niederlande) geboren und studierte von 1927 bis 1932 Mathematik,Physik und Chemie in Amsterdam. Sein erster Artikel uber die Berechnung vonQuadratwurzeln in der babylonischen und griechischen Mathematik stammt ausdem Jahre 1948; zwischen 1953 und 1956 nahm er eine Stelle an der Universitatvon Baghdad an, und 1961 veroffentlich er zusammen mit Marguerite Rutten dieTextes mathematiques de Suse [6], eine Sammlung von Keilschrifttafeln, die in Susa(im heutigen Iran) gefunden worden waren.

Ein weiterer Mathematikhistoriker, der sich in [58] auch mit babylonischerMathematik auseinandergesetzt hat, ist Kurt Vogel (1888–1985). Nach dem Abiturin Ansbach studierte er Mathematik und Physik in Erlangen und unterrichtete alsLehrer am Maximiliansgymnasium Munchen und als Professor an der UniversitatMunchen.

Heute ist eine Vielzahl von Wissenschaftlern auf diesem Gebiet aktiv; danebengab und gibt es eine ganze Reihe interessierter Laien: Johannes Lehmann (1922–1995) [32] hat 20 Jahre lang die mathematische Schulerzeitschrift alpha geleitet, diein ihren besten Jahren eine Auflage von fast 100 000 Exemplaren (in der ehemaligenDDR) hatte. Weiter hat Peter Rudman, in seiner aktiven Zeit Professor fur Physik,eine Leidenschaft fur die Geschichte der Mathematik entwickelt und mit [53] einsehr unterhaltsames und empfehlenswertes Buch uber babylonische Mathematikvorgelegt.

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2. Das Babylonische Zahlensystem

Die Schreibweise der Zahlen hat sich im Lauf der Jahrtausende auch in Babyloniengewandelt. Die Sumerer um 3000 v.Chr. hatten, ahnlich wie viel spater auch dieRomer, eigene Zeichen fur die 1, 10, 60, 600 usw.; daraus wurden die Zahlen addi-tiv zusammengesetzt. Insbesondere konnte man mit endlich vielen Symbolen nichtbeliebig große Zahlen schreiben: mit den romischen Zeichen I, V, X, L, C, D, Mbeispielsweise kommt man bis 5000 oder 10 000 und muss dann fur jede neue Zeh-nerpotenz ein neues Symbol erfinden. Fur die Wahl der Grundzahl 60 (anstatt wiebei den Romern 10) durfte es verschiedene Grunde gegeben haben. Zum einen istdie Zahl 60 durch sehr viele kleine Zahlen teilbar, was den Handlern sehr gelegenkam: wir werden weiter unten bei der Besprechung der babylonischen Maßeinhei-ten sehen, dass deren Einheiten fur Langen, Flachen und Gewichte ebenfalls einenengen Bezug zum Sexagesimalsystem haben. Auf der andern Seite durfte die Tat-sache, dass ein Monat etwa 30 Tage und das Jahr grob 360 Tage hat, auch eineRolle bei der Wahl des Sexagesimalsystems ebenfalls eine Rolle gespielt haben –Belege dafur zu finden ist naturlich unmoglich, weil sich diese Dinge bereits inZeiten abgespielt haben, als die Sumerer noch gar keine Schrift entwickelt hatten.

Abb. 2.1. Sumerische Zahlzeichen

Die Symbole fur die Zahlen 1, 10 und 60 gehen auf sogenannte Zahlsteinezuruck: um den Besitz eines babylonischen Burgers zu fixieren, hat man in einTongefaß kleine Kugeln, Kegel und Zylinder aus Ton gelegt, auf die man dasSymbol einer Ziege oder eines Rinds geritzt hat.

Einige dieser Zahlen kann man auf den Tafeln in Abb. 1.7 gut erkennen; siewurden mit einem runden Griffel in den Lehm gedruckt. Als die piktographischenSymbole 500 Jahre spater durch Keilschriftsymbole ersetzt wurden, hat man eineneckigen Griffel benutzt, mit dem man Keile und Winkelhaken eindrucken konnte.Nochmal ein halbes Jahrtausend spater kam das akkadische System in Gebrauch,

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20 2. Das Babylonische Zahlensystem

das auf den allermeisten Keilschrifttafeln verwendet wird, und auf das wir weiterunten genauer eingehen werden.

Die linke Spalte beginnt mit demSymbol einer 1, in der zweiten Zeiletaucht die Zahl 7 auf.

Die Symbole in der rechten Spaltebezeichnen die Zahlen

4 · 36 000,5 · 3 600,4 · 600 + 2 · 60,5 · 10 + 1.

Zusammen macht dies 164 571. In

der letzten Zeile der rechten Spaltesieht man noch die Zahl 3.

Die Erklarung fur die dazugehori-ge Rechnung werden wir unten aufS. 38 liefern.

Abb. 2.2. Tontafel aus Shuruppak

Unsere heutigen Zahlensymbole kamen auf dem Weg uber die Araber von denIndern, die in der zweiten Halfte des ersten Jahrtausends n.Chr. das Dezimalsystementwickelten, das wir noch heute benutzen. Wer mehr daruber wissen mochte, sollteeinen Blick in das Buch [27] von George Ifrah werfen.

Unser heutiges Alphabet geht dagegen auf die Phonikier zuruck, einem Volk vonHandlern und Seefahrern aus dem Gebiet des heutigen Palastina; deren Idee, jedenLaut durch einen eindeutigen Buchstaben auszudrucken, kopierten die Griechenebenso wie die Etrusker (die Toskana tragt ihren Namen, und dort findet man auchdie wenigen heute noch erhaltenen Uberreste ihrer Kultur), von denen es dann dieRomer ubernahmen.

2.1 Das Sexagesimalsystem auf Tafeltexten

Wahrend die Entzifferung der Keilschrift ein schwieriges und langwieriges Unter-nehmen war, machte das Lesen der babylonischen Zahlen keine großen Probleme.Mit der Einfuhrung der Keilschrift kam auch eine Schreibweise von Zahlen inGebrauch, die es erlaubte, beliebig große Zahlen darzustellen. Schaut man sichTafeln an, die im wesentlichen aus Zahlen bestehen, so stellt man schnell fest, dassdie Babylonier ihre Zahlen durch Zusammensetzung von nur zwei verschiedenen

Symbolen geschrieben haben, namlich den Keil und den Winkelhaken . Das

Symbol taucht dabei allein oder in Gruppen bis zu neun solcher Symbole auf,und es ist nicht schwer zu erraten, dass diese die Zahlen 1 bis 9 reprasentieren.

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2.1 Das Sexagesimalsystem auf Tafeltexten 21

Das Symbol dagegen tritt maximal funfmal nebeneinander auf und bezeichnetdie Zehnerzahlen von 10 bis 50.

Um mehr uber das babylonische Sexagesimalsystem herauszufinden, schauenwir uns wie die ersten Orientalisten Keilschrifttafeln an, die fast ausschließlich ausZahlen bestehen, also Tabellen mit Quadratzahlen oder Multiplikationstabellen.

Quadrattafeln

Die Entschlusselung des von den Babyloniern gebrauchten Sexagesimalsystemsgeht bereits auf Rawlinson zuruck, und zwar hatte er zu diesem Zweck eine vonWilliam Loftus in Senkereh (Larsa) gefundene Tafel studiert. Dieser hatte aufseiner Forschungsreise zwei Tafeln mitgebracht; die zweite enthielt auf Vorder- undRuckseite 60 Zahlen samt ihrer Quadrate, die Ruckseite der ersten Tafel enthieltentsprechend eine Tabelle von Kubikzahlen.

Dieselbe Tafel wurde 1868 von Francois Lenormant, einem Schuler von JulesOppert, unterucht. Er veroffentliche seine Ergebnisse auf fast 400 Seiten hand-schriftlich (das Setzen von Keilschriftsymbolen in Druckereien war in den Anfangender Assyriologie naturlich kein kleines Problem) in [36]. Wie viele andere langstvergessener Bucher kann man eine digitaler Kopie dieses Werkes auf der Seitewww.archive.org finden; außerdem gibt es noch eine Version in der digitalenSammlung der Bayerischen Staatsbibliothek.

Die damalige franzosische Schule um Oppert, insbesondere auch Lenormant,

hatten die Uberzeugung gewonnen, die wurde neben der 1 auch 50 (und nicht60) bedeuten, wahrend sie mit Rawlinson darin ubereinstimmten, dass die BrucheVielfache von 1

60 sind. Dies zwang Lenormant dazu, die Tafel der Quadratzahlenals Quadrate zwischen 1

60 und 1 zu betrachten.

Die allererste Seite gibt einen Ausschnitt aus besagter Tafel wieder. Uber dieseTafel schreibt Lenormant:

C’est par consequent, d’apres toutes les vraisemblances, le plus ancienmonument mathematique qu’aucun pays nous ait conserve. A ce titre ilest digne de toute l’attention des savants et merite une place a part entreles monuments relatifs a l’histoire des connaissances humaines, car seulil nous donne idee des progres que la science des nombres avait deja faitsa une epoque aussi reculee chez les habitants de la Chaldee.

Aller Wahrscheinlichkeit nach ist dies das alteste mathematische Relikt,das irgend ein Land uns hinterlassen hat. Es ist daher der ganzen Auf-merksamkeit der Wissenschaftler wurdig und verdient einen Platz unterden Denkmalen der Geschichte der menschlichen Kenntnisse, denn esgibt uns eine Idee vom Fortschritt, den die Zahlentheorie bereits in einerso weit zuruckgehenden Epoche bei den Einwohnern Chaldaas gemachthat.

Die Floskel “der ganzen Aufmerksamkeit der Wissenschaftler wurdig” wirkt heuteantiquiert, war im 19. Jahrhundert aber gang und gabe. Wussten wir also nicht, wie

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22 2. Das Babylonische Zahlensystem

Abb. 2.3. Auszug aus Lenormants Dissertation

alt ein Manuskript ist, konnten wir mit Hilfe solcher linguistischer Mittel das Alterbis auf ein Jahrhundert genau festlegen. Diese Methode spielt fur die Datierung vonKeilschrifttafeln eine ganz große Rolle: neben den fur Zahlen benutzten Symbolekann man babylonische Texte anhand der Sprache (sumerisch bzw. akkadisch)und teilweise mit Hilfe verschiedener Dialekte (auch akkadisch wurde nicht zuallen Zeiten und an allen Orten genau gleich gesprochen oder geschrieben) grobdatieren.

Die Chaldaer waren ein semitisches Volk, das im 1. Jahrtausend v.Chr. denSuden Mesopotamiens bewohnte und mit den Aramaern verwandt ist. Die alterenVolker wie die Akkader oder gar die Sumerer waren im 19. Jahrhundert nochganzlich unbekannt.

Die Tafel selbst, deren Anfang in Abb. 2.4 zu sehen ist, enthalt knapp linksvon der Mitte eine Spalte, in welcher man ohne große Muhe die Zahlen 1, 2, 3,

. . . erkennen kann, die dort als , , usw. auftauchen. Nach der 9, also ,

kommt mit naturlich die 10, und danach geht es wieder ganz regelmaßig weiter.

In der linken Spalte stehen also nacheinander die Zahlen (1), (4),

(9), (16), (25) usw., d.h. die Tafel gibt die Quadratzahlen der Zahlenvon 1 bis 60 (oder, das kann man anhand der Zahlen allein nicht erkennen, dieQuadratwurzeln der Quadratzahlen zwischen 1 und 3600) an.

Eine Uberraschung erkennt man in der achten Zeile, wo das Quadrat 64 von 8

nicht durch 6 Winkelhaken und eine 4 geschrieben ist, sondern in der Form .

Die Zahl 60 wird also durch dasselbe Symbol bezeichnet wie die 1. Das Quadrat

121 = 112 wird dementsprechend wegen 2 · 60 + 1 als geschrieben.

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2.1 Das Sexagesimalsystem auf Tafeltexten 23

Abb. 2.4. Auszug aus einer Keilschrifttafel von Lenormant

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24 2. Das Babylonische Zahlensystem

Aufgabe 2.1. Fuhre die Tabelle der Quadratzahlen bis zu 602 = 3600 fort. Be-

achte, dass die erste und die letzte Zeile dabei identisch sind, denn dass das

Quadrat von ist, kann sowohl 1 = 12 bedeuten als auch 3600 = 602. Vergleichedas Resultat mit den Tabellen A.1 im Anhang.

Wie die Quadrattafeln errechnet worden sind, wissen wir nicht. Es ist allerdingsnicht notwendig, jede Zahl von 1 bis 60 ins Quadrat zu erheben: vielmehr kann mandie Werte der Quadrate auch erhalten, wenn man, mit 1 beginnend, die ungeradenZahlen 3, 5, 7, . . . zu den jeweiligen Quadratzahlen addiert:

+3 +5 +7 +91 4 9 16 25

Hinter dieser Beobachtung steckt die binomische Formel:

(n+ 1)2 − n2 = n2 + 2n+ 1− n2 = 2n+ 1, (2.1)

und die Folge von Zahlen der Form 2n + 1 ist einfach die Folge der ungeradennaturlichen Zahlen. Zum Erstellen einer Quadrattafel muss man also nicht einmalmultiplizieren konnen – allerdings erfordert diese Einsicht wohl mehr mathemati-sche Reife als eine einfache Technik zum Multiplizieren zweier Zahlen.

Multiplikationstafeln

Ebenfalls einfach zu verstehen sind Tabellen mit dem babylonischen “kleinen Ein-maleins”, das sich allerdings nicht wie im Dezimalsystem auf Produkte bis 9 · 9erstreckt, sondern bis 59 ·59 ausgefuhrt werden muss. Allerdings werden Produkteder Zahlen ab 20 nicht mehr einzeln angegeben; vielmehr beschrankt man sich furZahlen großer als 20 auf die Produkte von Zehnerzahlen, also von 20, 30, 40 und50.

Betrachtet man die Tabelle auf der Tafel HS 0217 in Abb. 2.5, so wird manschnell zu der Uberzeugung kommen, dass in der linken Spalte nacheinander dieZahlen 1, 2, 3, . . . , 9 stehen. Die senkrechten Keile symbolisieren also die Zahlen 1bis 9. Der horizontale Keil muss dann fur die 10 stehen, und die letzte Zahl linksunten ist 14 (auf der Ruckseite geht es mit 15 weiter, und nach 20 folgen 30, 40,50 und 60.

Die rechte Spalte dieser Tabelle beginnt also mit den Zahlen 9, 18, 27 usw.; dieslegt die Vermutung nahe, dass es sich hierbei um eine Tabelle zur Multiplikation

mit 9 handelt. Nach 6 · 9 = 54 (also ) kommt 7 · 9 = 63 ( ).Die letzte Zeile in der rechten Spalte der Tabelle steht also fur 9 ·14 = 126, und

126 = 2 · 60 + 6 wird geschrieben. Entsprechend steht in der vorletzen Zeile

9 · 13 = 117, was wegen 117 = 60 + 57 als geschrieben wird. Die Ruckseiteder Tafel prasentiert die Vielfachen der 9 von 15 · 9 bis 20 · 9, sowie das Neunfachevon 30, 40 und 50. Damit konnte man dann jede Ziffer des Sexagesimalsystemsmit 9 multiplizieren: zur Bestimmung von 34 · 9 liest man aus der Tabelle 30 · 9und 4 · 9 ab und addiert diese Zahlen.

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2.1 Das Sexagesimalsystem auf Tafeltexten 25

Abb. 2.5. Tafel HS 217, Vorderseite und Ruckseite

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26 2. Das Babylonische Zahlensystem

Aus Untersuchungen weiterer Tafeln wird klar, dass die Babylonier vor 500 v.Chr.

kein Symbol fur fehlende Ziffern hatten; in ihrem System konnte also sowohl furdie Zahl 1, also auch fur 60 oder gar 602, 603 usw. stehen; der Wert solcher Zah-len musste aus dem Kontext bestimmt werden. Insbesondere wird das Produkt4 · 15 = 60 im babylonischen System ebenso mit bezeichnet wie die 1.

Abb. 2.6. VAT 7858. Wie man hier sehen kann, wurde die Ruckseite einer Tafel nacheiner Drehung um die horizontale Achse beschriftet, d.h. die Tafeln wurden nicht wie ineinem heutigen Buch von links nach rechts gedreht, sondern von oben nach unten. VieleFalschungen von Keilschrifttafeln (auch solche gibt es) sind daran zu erkennen, dass dieRuckseite um die vertikale Achse gedreht wurde.

Die Tafel VAT 7858 ist zwar stark beschadigt, allerdings kann man mit wenigMuhe erkennen, dass hier eine Multiplikationstabelle fur den Faktor 10 vorliegt;im Dezimalsystem ware eine solche Tabelle naturlich ebenso uberflussig wie eine

Tabelle fur die Multiplikation mit 60, also .Hatten die Multiplikationstabellen nur der Multiplikation von Zahlen gedient,

dann wurden Tabellen der Vielfachen der Zahlen 1, 2, . . . , 9 und der Zehnerzahlen10, 20, . . . , 50 ausreichen, da man

39 · 54 = (30 + 9)(50 + 4) = 30 · 50 + 30 · 4 + 9 · 50 + 9 · 4

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2.1 Das Sexagesimalsystem auf Tafeltexten 27

Abb. 2.7. TMS 4: Multiplikation mit 25

rechnen kann. Tatsachlich hat man aber auch Tafeln mit Vielfachen etwa von

gefunden, also von 16 23 , oder, da die Zahl nur bis auf Vielfache von 60

bestimmt ist, auch einfach von 1000.Ein besonders interessantes Tafelwerk ist das altbabylonische Prisma A 7897

([45, S.24]), auf dessen 13 Flachen eine ganze Sammlung von Multiplikationsta-bellen eingetragen sind. In der Mitte des Prismas ist ein rundes, gut 1 cm breitesrundes Loch; vermutlich war es in einer Tafelhaus drehbar angebracht und dientedem schnellen Nachschlagen von Produkten.

Die Existenz der Multiplikationstafeln bedeutet nicht, dass die Babylonier beijeder Multiplikation ihre Tafeln zu Rate gezogen haben: die wichtigsten Tafeln,wenn nicht gar alle, kannten gute Schreiber sicherlich auswendig.

Verwandlung von Zahlen in das Sexagesimalsystem

Das Umrechnen von Zahlen aus dem Sexagesimalsystem in das Dezimalsystem

ist einfach: die Zahl steht (unter anderem) fur 35 · 60 + 17 = 2117.Bei mehrstelligen Zahlen empfiehlt sich eine Technik, die man vor nicht allzu lan-

ger Zeit unter dem Namen Horner-Schema kannte: um insDezimalsystem umzurechnen, kann man statt

45 · 603 + 1 · 602 + 24 · 60 + 39 = 9 725 079

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28 2. Das Babylonische Zahlensystem

besser

((((45 · 60) + 1) · 60) + 24) · 60 + 39 = 9 725 079

rechnen.Will man umgekehrt 2117 im Sexagesimalsystem darstellen, muss man wieder-

holt durch 60 mit Rest teilen: 2117 : 60 = 35, 283 . . ., und 2117−35 ·60 = 17 ergibtdann die Darstellung

2117 = 35 · 60 + 17 also .

Wenn man die Zahl

N = 2020 = 104 857 600 000 000 000 000 000 000

im Sexagesimalsystem darstellen mochte, geht man ebenso vor (vgl. die Rechnungin Abb. 2.8).

Da man im babylonischen Sexagesimalsystem 20 nicht von 2060 = 1

3 unterschei-den kann, konnte anstatt 2020 auf der Tafel auch der Wert von (1/3)20 angegebensein, also das Reziproke von 320. Ich halte dies fur wahrscheinlicher, weil es andereTafeln gibt, auf denen solche Reziproke großer Zahlen ausgerechnet sind, wie wirunten noch sehen werden.

Satz 2.1. Um eine Zahl N , die im Dezimalsystem gegeben ist, im System mit derBasis b ≥ 2 darzustellen, dividiert man N wiederholt mit Rest durch b:

N = q1b+ r1,

q1 = q2b+ r2,

. . .

qn−1 = qnb+ rn,

qn = rn+1,

wo die letzte Zeile andeuten soll, dass qn < b ist. Die Darstellung der Zahl N imSystem mit der Basis b ist dann (rn+1rn . . . r2r1)b.

Die Richtigkeit des Satzes wollen wir uns an einem Beispiel klar machen, indemman nur zweimal durch b teilen muss. Ist namlich

N = q1b+ r1, q1 = q2b+ r2 und q2 = r3,

dann folgt

N = q1b+ r1 = (q2b+ r2)b+ r1

= (r3b+ r2)b+ r1 = r3b2 + r2b+ r1.

Da die “Reste” r1, r2, r3 alle kleiner als b sind, ist dies die Darstellung von N imSystem mit der Basis b.

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2.2 Die Grundrechenarten 29

In diesem Buch wird es nur um das Dezimal- und das Sexagesimalsystem gehen;in der Informatik spielt vor allem das Dualsystem eine Rolle, das auf der Basis2 aufgebaut ist und nur die Ziffern 0 und 1 besitzt. Hier ist das Erlernen deskleinen Einmaleins ein Kinderspiel, dafur sind die Zahlen recht lang. Um etwa 47im Dualsystem zu schreiben, mussen wir wiederholt durch 2 mit Rest teilen:

45 = 22 · 2 + 1,

22 = 11 · 2 + 0,

11 = 5 · 2 + 1,

5 = 2 · 2 + 1,

2 = 1 · 2 + 0,

1 = 1,

woraus sich die Darstellung 47 = (101101)2 ergibt: in der Tat ist

1 · 25 + 0 · 24 + 1 · 23 + 1 · 22 + 0 · 21 + 1 = 47.

Fur die Babylonier stellte sich das Problem der Verwandlung von Zahlen ins De-zimalsystem naturlich nicht. Als die Griechen in den letzten Jahrhunderten v.Chr.die babylonische Astronomie entdeckten und deren Daten ubersetzten, werden sieum die Frage, wie man die babylonischen Sexagesimalzahlen in die in Griechenlandgebrauchliche Notation umwandelt, wohl nicht herumgekommen sein. Letztendlichmussten sie aber einsehen, dass ihr eigenes Zahlensystem (das ahnlich wie das romi-sche funktionierte) dem babylonischen in allen Belangen unterlegen war, und siefuhrten alle astronomischen Rechnungen im Sexagesimalsystem aus.

Deutlich wird das am Bericht uber die Messung des Erdradius durch Eratosthe-nes: dieser hatte durch die Beobachtung der Schattenlange in Syene und Alexandriaherausgefunden, dass der Umfang der Erde etwa 250 000 Stadien waren, und hattediese Zahl dann auf 252 000 gerundet. Dies lasst sich einfach dadurch erklaren,dass

250 000 = 1, 09, 26, 40 =

ist, wahrend

252 000 = 1, 10, 00, 00 =

sexagesimal in der Tat viel “runder” ist.

2.2 Die Grundrechenarten

Die Addition und Subtraktion von Zahlen im Sexagesimalsystem ist kein Problem:

hat man und zu addieren, rechnet man 5 + 8 = 13; die Summe endet

also in einer . Den einen Zehner ubertragt man und rechnet 40 + 30 + 10 =

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30 2. Das Babylonische Zahlensystem

N = 1 747 626 666 666 666 666 666 666 · 60 + 40,

1 747 626 666 666 666 666 666 666 = 29 127 111 111 111 111 111 111 · 60 + 6,

29 127 111 111 111 111 111 111 = 485 451 851 851 851 851 851 · 60 + 51,

485 451 851 851 851 851 851 = 8 090 864 197 530 864 197 · 60 + 31,

8 090 864 197 530 864 197 = 134 847 736 625 514 403 · 60 + 17,

134 847 736 625 514 403 = 2 247 462 277 091 906 · 60 + 43,

2 247 462 277 091 906 = 37 457 704 618 198 · 60 + 26,

37 457 704 618 198 = 624 295 076 969 · 60 + 58,

624 295 076 969 = 10 404 917 949 · 60 + 29,

10 404 917 949 = 173 415 299 · 60 + 9,

173 415 299 = 2 890 254 · 60 + 59,

2 890 254 = 48 170 · 60 + 54,

48 170 = 802 · 60 + 50,

802 = 13 · 60 + 22,

also2020 = 13, 22, 50, 54, 59, 9, 29, 58, 26, 43, 17, 31, 51, 06, 40

und damit sexagesimal:

Diese Zahl findet sich auf der Keilschrifttafel MS 2351.

Abb. 2.8. Die Zahl 2020 oder das Reziproke von 320

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2.2 Die Grundrechenarten 31

80 = 60+20; die gesuchte Summe ist also . Subtraktion macht ebensowenigProbleme; selbstverstandlich konnten die Babylonier nur kleinere von großerenZahlen abziehen: negative Zahlen wurden erst zwei Jahrtausende spater erfunden.

Ein etwas großeres Beispiel ist folgendes:

Addiere und .

Wie im Dezimalsystem beginnen wir mit der letzten Ziffer: 26 plus 39 = 65, also

schreiben wir und behalten einen Ubertrag von . Jetzt kommt 35 + 44 + 1 =

80, also schreiben wir und behalten einen Ubertrag von . Schließlich rechnenwir 1 + 12 + 1 = 14 und haben das Ergebnis

.

Bei der Kontrolle im Dezimalsystem (5726+45 879 = 51 605) mussen wir beachten,dass das Ergebnis 14 · 602 + 20 · 60 + 5 = 51 605 und nicht etwa gleich 14 · 60 + 25ist!

Es sind nur wenige Keilschrifttafel erhalten, aus der wir lernen konnen, wiedie Babylonier multipliziert haben. Die Berechnung von Quadratzahlen jeden-falls wurden im spatbabylonischen Zeitalter wie folgt durchgefuhrt. Um etwa

das Quadrat von 3,24 = zu bestimmen, haben Sie (3, 24) · (3, 24) =(3 ·3, 3 ·24+24 ·3, 24 ·24) gerechnet, und zwar in folgendem quadratischen Schema:

3 243 10 12

24 1 21 3611 33 36

Dabei ist 3 · 24 = 72 = 1, 12, sowie 3 · 3 = 9; mit dem Ubertrag von 3 · 24 ergibtsich damit 3 · (3, 24) = 10, 12. In der nachsten Zeile ist 242 = 576 = 9, 36, undwegen 24 · 3 = 1, 12 erhalten wir mit Ubertrag 24 · 3, 24 = 1, 21, 36. SpaltenweiseAddition liefert dann 3, 24 · 3, 24 = 11, 33, 36, oder 2042 = 41616.

Wir wollen ein weiteres Beispiel zur schriftlichen Multiplikation im Sexagesi-malsystem vorrechnen, namlich 52 · 100 = 5000. Im Sexagesimalsystem haben wir

und zu multiplizieren; das Produkt der “Einerziffern” und ist

; die addieren wir zum Produkt von und und erhalten

:

In der Tat ist 50 · 602 + 23 · 60 + 20 = 5000.Die Babylonier haben das Quadrieren solch kleiner Zahlen nicht auf Tafeln

hinterlassen. Auf der Tafel BM 34 601 (vgl. Abb. 2.9) finden sich Rechnungen, die

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32 2. Das Babylonische Zahlensystem

sich lange nicht erklaren ließen. John Britton kam der Losung naher, als er eineZahl auf dieser Tafel als die Zahl

[3] 03 13 15 33 54 58 1[9 24 11 01 39] 06 45 = 5 · 348

identifizierte.

Abb. 2.9. BM 34601

Da augenscheinlich klar war, dass es sich bei der Tafel um eine Berechnungeines Produkts mehrstelliger Zahlen handelte, muss es bei der Multiplikation umdas Produkt zweier Zahlen gegangen sein, deren eine etwa 325 ist und von der dieandere die Ziffer 5 enthielt; weitere Moglichkeiten sind, dass die Zahl 347 oder 346

und die entsprechende Ziffer 15 oder 45 gewesen ist.Friberg ([18, S. 456]) hat die Rechnung als die Bestimmung des Quadrats der

Zahl 4041740451317455214421209 = 346 erkannt; bei der Multiplikation dieserZahlen taucht an einer Stelle das Proukt der Zahl mit der Sexagesimalziffer 45auf. Die komplette Multiplikation lautet also:

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2.2 Die Grundrechenarten 33

Die Tafel selbst enthalt dagegen nur die Teilprodukte mit den Ziffern 17, 40,45, 52, 14, 42, 12 und 9; wahrend die Produkte mit den ersten Ziffern wegge-brochen sind, fehlen die Produkte mit den Ziffern 13, 17 und 45. Offenbar hatteein nachlassiger Schreiber eine Tafel mit der korrekten Berechnung von (346)2 ko-piert, dabei aber drei Zeilen vergessen; anders kann man nicht erklaren, warumdas Endergebnis wieder korrekt ist.

Drei Bruchstucke einer Tafel aus dem Britischen Museum

Mathieu Ossendrijver (Humboldt Univ. Berlin) hat 2014 drei Bruchstucke einerTafel aus dem Britischen Museum als Teile einer großen Tafel identifiziert. Die vonihm anfangs untersuchte Keilschrifttafel war das kleine Bruchstuck links oben inAbb. 2.10. Diese Tafel BM 34249 ist keine 4cm auf 4cm groß, und auf ihr erkenntman die Zahlen

16, 34, 39

1, 50, 31, 5

12, 16, 47, 10

1, 21, 51, 50

9, 5

1, 0

Die rechten Einerziffern in den Zeilen 3 und 4 sind abgebrochen; die letzte Zeileenthalt rechts von der Eins das Zeichen fur eine fehlende Ziffer, die erst in derSeleukidenzeit, also nach 300 v.Chr. eingefuhrt worden ist. Wie soll man ein solchesBruchstuck analysieren?

Wer ein gutes Gedachtnis hat wird sofort gesehen haben, dass diese Ziffern dieAnfangsziffern der Zahl

946 = 78 551 672 112 789 411 833 022 577 315 290 546 060 373 041.

aus BM 34 601 ist!Der nachste Schritt war die Suche nach einem weiteren Teil dieser Tafel unter

den Tausenden von Bruchstucken, die zur Sammlung des Britischen Museumsgehoren (es ist durchaus denkbar, dass es in andern Museen weitere Bruchstucke

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34 2. Das Babylonische Zahlensystem

Abb. 2.10. Zwei der drei erhaltenen Bruchstucke einer Keilschrifttafel

davon gibt). Diese Suche forderte zwei weitere Tafeln zutage, namlich BM 32401(mit knappp 7× 5 cm) und BM 34517 (wieder kaum 4× 4 cm groß).

An der Rekonstruktion der Tafel in Abb. 2.11 kann man erkennen, welch kleinerBruchteil der Tafel uberlebt habt, trotz des Anrufs der Gotter Bel und Beltiya inder ersten Zeile, dass die Tafel mit ihrem Segen intakt bleiben moge.

Agyptische Multiplikation

Außer der oben vorgestellten “schriftlichen” Methode der Multiplikation, die sichauch durch Keilschrifttafeln belegen lasst, sind im Laufe der Zeit eine ganze Reiheweiterer Moglichkeiten zur Multiplikation zweier Zahlen in Betracht gezogen wor-den. So konnten die Babylonier ihre Nebenrechnungen auf Lehmtafeln geschriebenhaben, die sie nach Gebrauch wieder glatteten, oder sie haben gleich im Sand ge-rechnet. Denkbar ist ebenfalls, dass sie bereits mit Rechensteinen operiert haben,also einer Vorstufe des Abakus.

Den Vorschlag, die Babylonier hatten die agyptische Multiplikation verwendet,die auf wiederholter Verdopplung beruht, halte ich angesichts der Tatsache, dassdie babylonische Methode der Multiplikation der agyptischen haushoch uberlegenist, fur nicht sehr glaubwurdig. Dennoch hat sich dieses System des Multiplizierensin verschiedenen Teilen der Welt bis in das spate 20. Jahrhundert hinein erhalten.

Um beispielsweise das Produkt 23 · 13 zu berechnen, haben die Agypter die 23wiederholt verdoppelt und dann wegen 13 = 1 + 4 + 8 die Zahl 23 zu ihrem 4- und8-fachen addiert:

1 23 x2 464 92 x8 184 x

299

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2.2 Die Grundrechenarten 35

Abb. 2.11. Rekonstruktion der Keilschrifttafel BM 34249 + BM 32401 + BM 34517

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36 2. Das Babylonische Zahlensystem

in der Tat ist 23 + 92 + 184 = 299 = 23 · 13.Eine Verbesserung dieses Algorithmus ist der folgende: zur Berechnung von

23 ·13 verdoppelt man die erste Zahl und halbiert die zweite (eventuell auftretendeReste vergisst man):

23 1346 692 3

184 1299

dann addiert man diejenigen Zahlen auf der linken Seite, fur welche die Zahl aufder rechten Seite ungerade ist. Damit ist in der Tat

23 · 13 = 23 · 1 + 23 · 12

= 23 · 1 + 46 · 6= 23 · 1 + 92 · 3= 23 · 1 + 92 · 1 + 92 · 2= 23 · 1 + 92 · 1 + 184 · 1.

Der Gebrauch dieser Technik bei den Babyloniern ist aber ebensowenig belegtwie die bisweilen anzutreffende Behauptung, die Babylonier hatten Produkte mitHilfe der Formel (a+ b

2

)2−(a− b

2

)2= ab (2.2)

berechnet. So hatten die Babylonier das Produkt 13 · 15 durch

13 · 15 =(15 + 13

2

)2−(15− 13

2

)2= 142 − 12 = 195

bestimmen konnen.

Aufgabe 2.2. Beweise die Gleichung (2.2) a) durch Ausmultiplizieren und b)durch die Anwendung der dritten binomischen Formel.

Weniger geheimnisvoll, wenn auch ganzlich anders als vielleicht erwartet, istdie babylonische Methode der Division. Tatsachlich war den Babyloniern, soweitwir das ersehen konnen, eine unserer schriftlichen Division verwandte Methodewohl unbekannt. Stattdessen haben sie eine Zahkl z.B. durch 5 geteilt, indem siesie mit der Reziproken von 5, also mit 12, multipliziert haben. Im Dezimalsystemwurde der Division durch 5 wegen 2 · 5 = 10 die Multiplikation mit 2 entsprechen:statt 105 : 5 = 21 hatten die Babylonier also 105 · 2 = 210 gerechnet (und dabeidie hintere Null nicht gesehen, weil es eine solche bei ihnen nicht gab).

Diese Technik der “Division” setzt voraus, dass man in der Lage ist, die Re-ziproken aller “regularen” Zahlen (also solche, die nur durch 2, 3 oder 5 teilbarsind) zu berechnen. Auf derartige Techniken werden wir im nachsten Abschnitteingehen.

Hier sei nioch erwahnt, dass die griechischen Astronomen (etwa der alexandri-nische Astronom Ptolemaios), als sie das Sexagesimalsystem fur ihre Rechnungen

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2.2 Die Grundrechenarten 37

nutzten, eine schriftliche Methode zur Division besaßen. Eine Darstellung einersolchen Division ist uns aber erst von Theon von Alexandria erhalten (vgl. [59,S. 83]), der beschrieben hat, wie man die Zahl 1515;20,15 durch 25;12,10 dividiert.Die Griechen benutzten dabei die Sexagesimalschreibweise nur fur die nicht ganzenZahlen.

Theon geht so vor: aus 1515 : 25 = 60, 6 folgert er, dass der Quotient etwa 60ist. Division der gegebenen Zahl durch 60 liefert einen Quotienten, der großer istals 25;12,10. Substraktion von 60 ·25; 12, 10 liefert einen Rest von 3;10,15. Um eineSchatzung des Quotienten zu erhalten, nimmt man die ersten beiden Ziffern 3;10= 0;190 und teilt durch 25, was etwa 7 ergibt. Zieht man 7 · 25; 12, 10 von 3;10,15ab, bleibt ein Rest von 0;13,49,50, mit dem man wieder so verfahrt.

Die Rolle der Sieben

Die Tatsache, dass 7 die kleinste naturliche Zahl ist, deren Reziproke man nicht alsendlichen Sexagesimalbruch schreiben kann, durfte fur die besondere Rolle der 7 inder babylonischen (und spater der judischen) Mythologie verantwortlich sein. “Sie-ben Lugen sind zuviel”, hieß es schon im 3. Jahrtausend v.Chr., und Gilgameschmusste in seinem Epos uber sieben Berge gehen (dies hat sich bis heute erhalten:die sieben Zwerge wohnen hinter den sieben Bergen, und man muss uber siebenBrucken gehen, nicht uber sechs oder acht). Auch in der Astronomie spielt die 7eine besondere Rolle: das Siebengestirn, die Plejaden, waren ein sehr bekanntesSternbild; es gibt sieben “Wandelsterne”, namlich Sonne, Mond und die funf Pla-neten; und der Mondmonat ist durch die vier Phasen des Mondes (Neumond, auf-gehender Halbmond, Vollmond, abnehmender Halbmond) in vier “Wochen” zu je7 Tagen eingeteilt; diese babylonische Woche ist letztendlich auch fur die Erschaf-fung der Welt in sieben Tagen im judisch-christlichen Glauben verantwortlich. DieJuden lernten den babylonischen Kalender wahrend der Zeit der “babylonischenGefangenschaft” kennen, aus der sie erst von Kyros wieder entlassen wurden; auchdie heutigen hebraischen Namen fur die 12 Monate sind babylonischen Ursprungs.

Wenn Divisionen durch 7 ausgefuhrt werden mussten, behalfen die Babylonier

sich mit der Naherung 17 = 0; 8, 34, 17 = . Angesichts der Tatsa-

che, dass die Babylonier Reziproke von Zahlen mit sehr vielen Sexagesimalstellenberechnet haben, ist es ziemlich verwunderlich, dass es keine Versuche gab, dieReziproke von 7 genauer zu bestimmen. Der einzige Grund fur das Fehlen solcherRechnungen, den ich mir vorstellen kann, ist dass die Babylonier wussten, dassdas Reziproke von 7 keine endliche Sexagesimaldarstellung besitzt. Hatte 1

7 eineendliche Sexagesimaldarstellung mit etwa n Sexagesimalziffern, dann ware 60n/7eine ganze Zahl, also 60n durch 7 teilbar. Haben die Babylonier also gesehen, dassdas nur der Fall sein kann, wenn 60 durch 7 teilbar ist?

Auf der Tafel YBC 10 529 (sh. [45, ], [59, S. 70]) finden sich Approximationender Reziproken aller Zahlen von 50 bis 80, unter anderem

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38 2. Das Babylonische Zahlensystem

Auf einer von bereits 1937 von Raymond Jestin untersuchten Keilschrifttafel(sh. Abb. 2.2 und [23]), die offenkundig noch die sumerischen Zahlensymbole vorder Einfuhrung des Sexagesimalsystems benutzt, sollen 1 152 000 sila (eine Raum-einheit, die grob einem Liter entspricht) Getreide so an Manner aufgeteilt werden,dass jeder von ihnen 7 sila bekommt. Das Ergebnis der Rechnung wird mitgeteilt:das Getreide reicht fur 164 571 Manner, und es bleiben 3 sila ubrig.

Auf der Seite mesocalc lassen sich Dezimalzahlen in Sexagesimalzahlen um-wandeln und die Grundrechenarten ausfuhren. Man kann die Webseite auch her-unterladen und offline verwenden.

2.3 Reziprokentafeln

Zu den Keilschrifttafeln, die weniger leicht zu entratseln sind als einfache Tabellenvon Produkten oder Quadratzahlen, gehort die Tafel MS 3874 in Abb. 2.12.

Ab der dritten Zeile stehen an zweiter Stelle Zahlen, die wir ohne Muhe als 3,4, 5, 6, 8, . . . , 30 entziffern. Die fehlenden Zahlen sind 7, 11, 13, 14 und einige

weitere. In der rechten Spalte stehen die Zahlen 20, 15, 12, 10, und dann ,was eigentlich 7 · 60 + 30 entspricht, aber so gar nicht in die Folge der Zahlenpassen will, die von 20 an abnehmen. Tatsachlich muss diese Zahl als 7 + 30

60 = 7 12

gelesen werden: die babylonische Mathematik hat notationell nicht zwischen 1 oder

60 oder 160 unterschieden: alle diese Zahlen wurden mit bezeichnet, und man

musste die Bedeutung aus dem Kontext ableiten.Schaut man sich die Zahlen nun genauer an, so stellt man fest, dass das Pro-

dukt der Zahlen in der zweiten und in der letzten Spalte immer 60 ergibt. Dieserklart das Fehlen der Zahlen 7 und 11 usw.: die Zahl 60 ist nicht durch 7 oder11 teilbar. Genausogut konnten wir aber sagen, das Produkt dieser Zahlen sei 1,

da es notationell keinen Unterschied zwischen 1 und 60 gibt: steht dann fur3060 = 1

2 und fur 2060 = 1

3 . In dieser Interpretation enthalt jede Zeile einen Teilerder 60 und ihr Reziprokes. Die Tafel MS 3874 ist also eine Reziprokentafel, die zujeder “regularen Zahl” (das sind Zahlen, die nur durch 2, 3 oder 5 teilbar sind)deren reziproke Zahl angibt. Die letzte Zeile lautet daher 1

30 = 260 , die vorletzte

dagegen 127 = 2

60 + 1360 + 20

603 .Es macht nun keinerlei Probleme mehr, die Tafel nachzurechnen. Interessanter

ist aber die Frage, wie man diese Werte errechnet. Eine Moglichkeit, die Stan-dardtabelle der Reziproken zu berechnen, ist folgende: ausgehend von 2 = 30 (wirbezeichnen das Reziproke einer Zahl n im Folgenden durch Uberstreichen: n = 1

n )erhalt man durch verdoppeln der ersten und gleichzeitiges halbieren der zweitenZahl

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2.3 Reziprokentafeln 39

Abb. 2.12. MS 3874

4 = 0; 15, 8 = 0; 7, 30, 16 = 0; 3, 45 32 = 0; 1, 52, 30 usw.

Um 3,45 zu halbieren, nimmt man sich eine 1 von der 3 und schiebt sie als 60in die nachste Stelle: 3,45 = “2,105”; weil 105 ungerade ist, nehmen wir wiedereine 1 und schieben sie als 60 in die nachste Stelle; dann haben wir 2,104,60 zuhalbieren und erhalten 1,52,30 oder, wenn wir das “Komma” wieder richtig setzen,0;01,52,30. Auf diese Art und Weise ist das Halbieren von Sexagesimalzahlen einKinderspiel.

Aufgabe 2.3. Berechne 1516 durch fortgesetztes Halbieren im Dezimalsystem.

Entsprechend erhalten wir ausgehend von 3 = 0; 20 nacheinander

6 = 0; 10, 12 = 0; 5, 24 = 0; 2, 30 und 48 = 0; 1, 15.

Auf dieselbe Art folgen aus 5 = 12 die Reziproken von 10, 20 und 40. Weiter ist

9 = 32, also 9 = 32

= 0; 6, 40 wegen 202 = 400 = 6, 40. Daraus wiederwum folgendie Reziproken von 18 und 36, und eine ahnliche Vorgehensweise liefert endlich dienoch fehlenden Reziproken von 25 = 52, 27 = 33 und 54.

Eine andere Moglichkeit, wie wir die Reziproke von 27 ausrechnen konnen,ist die folgende: da 1

27 dieselbe Sexagesimaldarstellung besitzt wie 127 · 60n fur

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40 2. Das Babylonische Zahlensystem

eine geeignete Potenz von 60, konnen wir den Nenner durch Multiplikation miteiner solchen Potenz einfach beseitigen. Offenbar ist 1

27 · 603 = 8000, und dieStandardmethode zur Transformation in das Sexagesimalsystem liefert nun

8000 = 133 · 60 + 20,

133 = 2 · 60 + 13,

also 8000 = (2 ·60+13) ·60+20 = 2 ·602 +13 ·60+20. Die Sexagesimaldarstellung

von 127 ist also wie erwartet.

A.J. Sachs [54] entschlusselte 1947 eine Methode zur Berechnung von Rezipro-ken, die auf der Tafel VAT 6505 enthalten war. Seine Transkription der Tafel siehtso aus:

1. 2,[13],20 ist das igum. [Was ist das igibum?]

2. [Du, wenn du rechnest,] gehe so vor:

3. Nimm das Reziproke von 3,20; [du findest 18]

4. Multipliziere 18 mit 2,10; [du findest 39]

5. Addiere 1; du findest 40.

6. Nimm das Reziproke von 40; [du findest] 1,30.

7. Multipliziere 1,30 mit 18,

8. du findest 27. Das igibum ist 27.

9. So geht die Methode.

Was passiert hier? Mit igibum bezeichneten die Babylonier das Reziproke derGroße, die sie igum nannten. Es ist also das Reziproke der Zahl

= 2, 13, 20 = 8 000

zu berechnen. Dazu schreibt man die Zahl 2,13,20, als Summe des Hauptteils2,10,0 und des Rests 3,20, und multipliziert den Hauptteil mit dem Reziprokendes Rests, der naturlich so gewahlt sein muss, dass er ein Reziprokes besitzt, dasman in den Tafeln nachschlagen kann oder auswendig weiß. Im Falle von 3,20 =200 ist das Reziproke 18 wegen 18 · 200 = 602, und das Produkt des Hauptteils2,10 mit dem Reziproken 18 ist 39 (wir kummern uns wie die Babylonier nicht umdie richtige Setzung des Kommas, unterscheiden also nicht zwischen 2,10,0 und2,10). Addition von 1 ergibt 40, und das Reziproke von 40 ist 1,30 (Kopfrechnen:6040 = 3

2 = 1 12 = 1, 30). Dieses Ergebnis wird wieder mit 18 multipliziert, was 27

ergibt, und das ist in der Tat das Reziproke von 2,13,20 wegen 8000 · 27 = 603.Auf den ersten Blick ist kaum zu glauben, dass nach all der seltsamen Rechnerei

tatsachlich das richtige Ergebnis herauskommt – was um alles in der Welt gehthier vor? Hinter der babylonischen Technik steckt eine ganz einfache Formel; es

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2.3 Reziprokentafeln 41

ist vermutlich ein offenes Problem herauszufinden, wie die Babylonier auf dieseMethode gekommen sind. Durch zufalliges Rechnen mit Zahlen wird das kaummoglich sein.

Um nachvollziehen zu konnen, was sich hinter der babylonischen Methode ver-birgt, bezeichnen wir das Reziproke einer Zahl mit 1

n ; das geht etwas am Kern derMethode vorbei, weil unsere moderne algebraische Schreibweise die sexagesimalenKommaverschiebungen (also das Weglassen von Potenzen der 60) nicht wirklichwiderspiegeln kann. Mathematisch steckt aber folgendes dahinter: Um das Rezi-proke von n = a+ b zu finden, multiplizieren wir a mit dem Reziproken von b underhalten a · 1b = a

b . Addition von 1 liefert ab + 1 = a+b

b = nb . Das Reziproke hiervon

ist bn , und wenn wir dieses mit dem Reziproken von b multiplizieren, erhalten wir

bn ·

1b = 1

n , also das Reziproke von n.

Satz 2.2. Das Reziproke von der regularen Zahl a + b mit dem regularen Ende blasst sich uber

1

a+ b=

1ab + 1

· 1

b

berechnen.

Aufgabe 2.4. Berechne das Reziproke von mit der babylonischen Methode.

Aufgabe 2.5. Berechne das Reziproke von mit der babylonischen Me-thode.

Zur Beschaffung eines hinreichend großen Zahlenmaterials gingen die Baby-lonier von einem kleinen Paar reziproker Zahlen aus, etwa 2,5 und 28,48; dannverdoppelten sie die Zahl links wiederholt, wahrend sie gleichzeitig die Zahl rechtshablierten:

2, 5 28,48

4,10 14,24

8,20 7,12

16,40 3,36

33,20 1,48

1,06,40 54

2,13,20 27

Um beispielsweise 7,12 zu halbieren bringt man 1,00 = 60 nach rechts unddenkt sich die Zahl als 6,72; deren Halfte ist dann 3,36. Halbieren ist damit eineeinfache Kopfrechenubung, die ebenso leicht zu erledigen ist wie das fortgesetzteVerdoppeln.

Zur Bestimmung der Reziproken etwa von 1,06,40 setzen wir b = 6, 40, dieReziproke davon ist 9 (mit etwas Ubung erkennt man derartige Reziproken kleinerZahlen sehr schnell). Also bestimmen wir das Produkt von 1 und 9 und erhalten

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42 2. Das Babylonische Zahlensystem

9; Addition von 1 ergibt 10, die Reziproke von 10 ist 6. Damit erhalten wir dieReziproke der Ausgangszahl als Produkt von 6 und 9 zu 54.

Hatten wir dagegen den Ansatz a = 1, 06 und b = 40 versucht, so ware dieRechnung wie folgt verlaufen: Die Reziproke von 40 ist 1,30; Multiplikation von1,06 mit 1,30 ergibt 1,39. Mit dem neuen Ansatz a′ = 1, 30 und b′ = 9 finden wirdie Reziproke 6,40 von 9, und das Produkt von 1,30 und 6,40 ist 10. Die Reziprokevon 10 ist 6, Addition von 1 ergibt 7, aber diese Zahl hat keine Reziproke. In derTat ist 1,06 = 66 nicht regular, sodass unser Ansatz von vornherein zum Scheiternverurteilt war.

Die Tafel YBC 4704

Auf der altbabylonischen Tafel YBC 4704 ([45, S.16]) finden sich die Reziprokenvon drei großen Zahlen, namlich von

Die dazugehorigen Reziproken sind

Das Geheimnis dieser Zahlen enthullt sich, wenn man sich deren Primfaktor-zerlegung ansieht: die drei Zahlen sind 10 · 314, 10 · 316 und 324. Haben sich diebabylonischen Schreiber davon uberzeugen wollen, dass Zahlen dieser Form immereine abbrechende Sexagesimaldarstellung besitzen?

Auch die Frage, wie die Babylonier diese Werte errechnet haben konnten, istinteressant. Die Reziproken der ersten Potenzen von 3 sind

31 3 0; 2032 9 0; 6, 4033 27 0; 2, 13, 2034 81 0; 0, 44, 26, 40

Division durch 3 im Sexagesimalsystem ist dasselbe wie Multiplikation mit 20; dieBabylonier werden diese Werte also wohl durch fortgesetzte Multiplikation mit 20erhalten haben. Wenn man die Tabelle der Vielfachen von 20 beherrscht, ist daskein Problem: 202 = 400 = 6 · 60 + 40; 40 · 20 = 800 = 13 · 60 + 20, schreibe 20,behalte 13, (6 · 20 + 13 = 2 · 60 + 13, also 203 = 2, 13, 20.

Auf der andern Seite ist die Division durch 3 nur unwesentlich komplizierter imKopf durchzufuhren als das Halbieren: um etwa 6,40 durch 3 zu teilen, wird die 40durch 39 + 1 ersetzt und die 1 als 60 in die nachste Sexagesimalstelle verfrachtet.Also ist ein Drittel von 6,40 gleich einem Drittel von 6,39,60 und damit gleich2,13,20.

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2.3 Reziprokentafeln 43

Arithmetische Rechnungen

Es gibt viele Tafeln, die in offenkundigem Zusammenhang mit Reziproken stehen,deren Bedeutung sich uns bisher aber nicht vollstandig erschlossen hat. Ein Pro-totyp einer solchen Tafel ist YBC 11127 (sh. [45, S. 15] und [58, S. 32]). Der Inhaltder etwa 9× 8 cm großen Tafel ist schnell erklart (vgl. Abb. 2.13):

1 1 2 2 4,54

2 30 1 2

3 20 40 2

4 15 30 2

5 12 24 2

6 10 20 2

Abb. 2.13. YBC 11127

Die erste Spalte enthalt die ersten sechs regularen Zahlen, die zweite derenReziproke; die dritte Spalte erhalt man, indem man die Zahlen in der zweitenSpalte mit dem konstanten Faktor 2, der in Spalte vier angegeben ist, multipliziert.Die Zahl rechts oben gibt die Summe der Zahlen in der dritten Spalte an: in derTat ist (

1 +1

2+

1

3+

1

4+

1

5+

1

6

)· 2 =

49

10= 4

9

10= 4

54

60.

Worum es dabei wirklich geht, ist meines Wissens nach noch nicht geklart. Viel-leicht war es eine Art Standardaufgabe beim Unterricht des Bruchrechnens furAnfanger?

Teilbarkeitsregeln

Auf der altbabylonischen Keilschrifttafel MS 2242 finden sich folgende Zahlen:

Alle diese Zahlen enden auf , also auf 225. Dies bedeutet, dass die Zahl beider Teilung durch 602 den Rest 225 lasst. Weil auch 602 durch 225 teilbar ist, muss

die ganze Zahl durch 225 teilbar sein, also durch . Eine analoge Regel imDezimalsystem besagt, dass jede Zahl, die im Dezimalsystem auf 25 endet, auch

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44 2. Das Babylonische Zahlensystem

durch 25 teilbar ist, weil sie bei der Teilung durch 102 = 100 den Rest 25 lasstund sowohl 102 als auch 25 durch 25 teilbar sind.

Wenn die Aufgabe also gelautet hat, die Zerlegung der regularen Zahl in derersten Zeile zu finden, dann hatte der Schreiberlehrling gewusst, dass die Zahl

durch teilbar ist; die Reziproke dieser Zahl ist 16, und Multiplikation der

gegebenen Zahl mit 16 ergibt die zweite Zahl. Da diese ebenfalls auf ,

wird dieses Spiel fortgesetzt, bis sich am Ende ergibt. Dies bedeutet, dassdie Ausganszahl gleich 156 = 36 · 56 ist.

2.4 Das Babylonische Maßsystem

Wer glaubt, das Umrechnen von Quadratmetern in Quadratzentimeter sei eine in-tellektuelle Leistung, die man als Schuler nicht mehr zu erlernen braucht, weil dieneueste Generation der Taschenrechner entsprechende Tasten besitzen, wird sichwundern, wenn er sieht, was man babylonischen “Sohnen des Tafelhauses” zuge-mutet hat. Dass unser Maßsystem im Vergleich zum babylonischen von geradezukindlicher Einfachheit ist verdanken wir den Franzosen, die im Zuge ihrer Revo-lution am Ende des 18. Jahrhunderts beschlossen haben, konsequent Langen- undGewichtsmaße einzufuhren, die auf dem Dezimalsystem beruhen: aus der Grund-einheit Meter lassen sich dann Zentimeter, Millimeter und Kilometer auf dieselbeArt und Weise zuruckfuhren wie Milligramm und Kilogramm auf das Gramm.

Dass sie es dabei etwas zu gut meinten und auch die Zeit dezimalisieren wollten,indem sie jedem Monat genau 30 Tage gaben und diese in drei Wochen zu je10 Tagen einteilten, daruberhinaus den Tag in 10 Stunden, jede Stunde in 100Minuten und jede Minute in 100 Sekunden, hat das Volk nicht beeindruckt: zwarwurden einige Uhren mit einem Ziffernblatt von 10 Stunden hergestellt, aber dieTatsache, nun nur noch jeden zehnten Tag arbeitsfrei zu haben, hat die Freude ander Umsetzung der Dezimalisierung der Zeit doch arg gedampft.

Auch vor der Abschaffung der Einteilung des Winkels in 360◦ sind die Revo-lutionare nicht zuruckgeschreckt: sie haben auch dem rechten Winkel statt 90◦

den dezimalen Wert von 100 Neugrad gegeben. Auch diese Idee versank schnellwieder in der Versenkung und wurde erst wieder ausgegraben, als die Taschen-rechnerhersteller beschlossen, fur dieses heute nicht mehr gebrauchte Winkelmaßneben Grad (degree) und Bogenmaß (radian) eine Taste auf jedem Rechner zureservieren (namlich grad).

Das metrische System wurde peu a peu in vielen anderen Landern eingefuhrtund ist heute Standard in allen Landern der Welt mit Ausnahme von Liberia undden USA. In England wurden die alten “imperialen Einheiten” 1971 durch dasmetrische System ersetzt. Ein inch ist 2,54 cm lang; 12 inch ergeben einen Fuß, 3Fuß ein yard, 22 yard eine chain, 10 chains ein furlong und 8 furlong eine Meile,die etwa 1,609 km entspricht. Auf der See wurden Langen dagegen in Faden undSeemeilen gemessen. Das Volumen hatte von der Lange unabhangige Einheiten:ein gallon entspricht 4,546 Liter, daneben gab es quarts (ein Viertel einer gallon),pints (ein Achtel gallon, mit 0,568 l also etwas mehr als ein halber Liter, auch

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2.4 Das Babylonische Maßsystem 45

heute noch die gebrauchliche Einheit bei Bier) und fur die kleinen Mengen Unzen(fluid ounces), die den 160ten Teil einer gallon bezeichnen; die entsprechendenUS-Einheiten haben dieselben Namen, aber leicht andere Werte.

Das babylonische System der Maße ist ahnlich verwirrend wie das britische,weil es doch etwas mehr System enthalt. Dennoch hat das Erlernen des Umrech-nens der Maßeinheiten ineinander einen großen Teil der ersten Ausbildung derSchreiberlehrlinge eingenommen.

Die einfachsten Langeneinheiten der altbabylonischen Periode sind

• se (Gerstenkorn, etwa 28 mm)

• 6 se sind ein su-si (Finger, etwa 1,7 cm)

• 30 su-si sind ein kus (Elle, etwa 50 cm)

• 6 kus sind ein gi (Schilfrohr, etwa 3 m)

• 2 gi sind ein GAR, also etwa 6 m

• 10 GAR sind ein TIR (Seil, etwa 60 m)

• 6 TIR sind ein US, also etwa 360 m.

Die Grundeinheit der Flache ist das SAR (Beet), was einem Quadrat-GARentspricht, also etwa 36 m2. Ein gin (0,6 m2) ist 1

60 eines SAR, und der 180te Teileines gin ist das se.

Auch die kleinste Gewichtseinheit wurde se genannt; 180 se sind ein gin (Sche-kel), 60 gin ein mina (Mine). Diese Gewichtseinheiten wurden auch fur Silbergebraucht; dieses diente als Zahlungsmittel, und 60 Minen ergaben ein Talent.

Um die Tafel von Shuruppak (Abb. 2.2) zu verstehen, benotigen wir auchHohlmaße. Ein sila ist etwa 1 Liter, der aus 60 gin besteht, und jedes gin aus 180se (das Gerstenkorn musste fur viele kleine Maßeinheiten herhalten). Die Tafelstammt etwa von 2500 v.Chr., und die Aufgabe besteht darin, ein Silo Getreideso zu verteilen, dass jeder Mann 7 sila bekommt. Man nimmt an, dass ein Silo2400 gur und ein gur (damals) 480 sila entsprochen haben. Tatsachlich hat mandas komplette Maßsystem der Babylonier im wesentlichen aus den auf derartigenTafeln angegebenen Rechnungen herausgelesen.

SAR war auch das sumerische Wort fur 3600; weil es durch den Kreis dargestelltwurde, konnte es auch einen solchen symbolisieren. Als Edmund Halley ein Wortfur den etwa 18-jahrigen Zyklus suchte, in dem sich Sonnen- und Mondfinsternissewiederholen, benannte er es nach dem von den Griechen aus dem Babylonischenentlehnten Wort “saros” (σαρoς) den Saroszyklus. Diesen Zyklus hatten die Baby-lonier spatestens um 700 v.Chr. entdeckt. Dem ersten griechischen MathematikerThales wird die Vorhersage einer Sonnenfinsternis in Kleinasien zugeschrieben, wasman lange Zeit nicht geglaubt hat, weil die griechische Astronomie damals noch garnicht so weit entwickelt war, um eine derartige Vorhersage zu erlauben. Da Thalesaber seine Kenntnisse von Reisen nach Agypten und Mesopotamien mitgebracht

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46 2. Das Babylonische Zahlensystem

hatte, scheint eine solche Vorhersage durchaus im Bereich seiner Moglichkeitengelegen zu haben.

Ein anderes von den Griechen aus dem Babylonischen entlehntes Wort ist “sos-sos” (σωσσoς); das babylonische “soss” konnte sowohl 1

6 als auch 60 bedeuten, wasdamit erklart wird, dass der sechste Teil eines Jahres etwa 60 Tage sind. Man kanndies durchaus als Hinweis darauf verstehen, dass die Entstehung des Sexagesimal-systems durchaus etwas mit den etwa 360 Tagen im Jahr zu tun gehabt habenkonnte.

Ubungen

2.1 Verwandle folgende Zahlen ins Dezimalsystem:

a)

b)

c)

d)

e)

f)

2.2 Verwandle folgende Zahlen ins Sexagesimalsystem: 12; 153; 1 024; 2 844; 10 000.

2.3 Verwandle folgende Bruche ins Sexagesimalsystem: 12, 1

4, 1

5, 1

6, 5

12, 7

20, 17

36.

2.4 Erstelle eine Tafel fur die Reziproken der 2er-Potenzen von 21 = 2 bis 210 = 1024.

2.5 Fuhre die 9er-Multiplikationstabelle bis einschließlich 20 · 9 fort.

2.6 Worum handelt es sich bei der folgenden Tafel?

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2.4 Das Babylonische Maßsystem 47

2.7 Kontrolliere die folgenden Tafel:

Zwischen 18 und 20 steht hier ubrigens keine 21, sondern das Symbol fur 20−1: wiespater die Romer, die 19 bisweilen in der Form XIX statt XVIIII geschrieben haben,kam auch bei den Babyloniern die subtraktive Schreibweise von Zahlen schon vor.

2.8 Erstelle ahnliche Multiplikationstabellen fur die andern Zahlen zwischen 1 und 10.

2.9 Was ist auf der folgenden Tafel gerechnet?

2.10 Erklare die folgende Tafel (YBC 7354) (vgl. [45, S.17]):

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48 2. Das Babylonische Zahlensystem

2.11 Bestimme die Reziproken der Zweierpotenzen von 1/2 bis 1/210. Gibt es eineMoglichkeit, solche Tafeln ohne große Muhe zu berechnen?

Erstelle ahnliche Tafeln fur die Reziproken von 3n, 5n, 2 · 5n usw.

2.12 Die einfachsten periodischen Dezimalbruche sind wohl die Vielfachen von 19

=0, 1111 . . .. Wie sieht das Reziproke von 59 im Sexagesimalsystem aus, wie seineVielfachen?

2.13 Sexagesimalzahlen, die auf 12, 24, 36 oder 48 enden, sind durch 12 teilbar. Auf derTafel MS 2242 findet sich eine Rechnung, die mit der Zahl

= 3 11 06 10 42 48 57 36

beginnt. Teile diese Zahl so lange durch 12 (durch wiederholte Multiplikation mit5), bis man die Faktorzerlegung dieser Zahl ablesen kann.

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3. Babylonische Algebra: Lineare Probleme

Mit “babylonischer Algebra” sind im folgenden Techniken gemeint, mit deren Hilfedie Babylonier Probleme gelost haben, die wir durch das Losen von Gleichungenmit einer oder mehrerer Unbekannten behandeln wurden. Da den Babylonierndie algebraische Schreibweise noch ganzlich unbekannt ist, mussten sie fur jedenAufgabentyp ein eigenes Rezept entwickeln. Man nimmt an, dass sie sich dabeivon einfachen geometrischen Vorstellungen haben leiten lassen.

3.1 Lineare Gleichungen

Auf der Tafel YBC 4652 (sh. [45, S. 100-102] und [58, S. 45–46]) sind eine Reihe vonProblemen nebst der Angabe ihrer Losungen enthalten. Die ersten sechs Problemesind so unvollstandig erhalten, dass sie nicht rekonstruiert werden konnen; siedrehen sich aber wie alle andern Aufgaben auch um die Bestimmung des Gewichtseines Steins. Die Aufgaben sind, wie auf vielen anderen Lehrtexten auch, nachsteigendem Schwierigkeitsgrad angeordnet.

Das siebte Problem lautet:

Ich fand einen Stein. Ich habe ihn nicht gewogen. Ich habe ein Siebteladdiert, dann ein Elftel; er wog eine Mine.

Ein Vergleich mit der Losung zeigt, dass damit folgendes gemeint war: zum unbe-kannten Gewicht x eines Steines wird 1

7 des Gewichts addiert. Dann wird 111 des

neuen Gewichts dazu gezahlt, und am Ende hat man ein Gewicht von einer Mine.Wir schreiben dies als Gleichung

x+x

7+

1

11

(x+

x

7

)= 60, (3.1)

wobei wir 1 Mine durch 60 gin ersetzt haben.Mit den heutigen Mitteln der Algebra ist die Losung kein Problem. Ohne Nach-

denken und mit reinem Rechnen erhalten wir durch Auflosen der Klammern

x+x

7+

x

11+

x

77= 60,

also nach Multiplikation mit 77

77x+ 11x+ 7x+ x = 4620,

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50 3. Babylonische Algebra: Lineare Probleme

was auf 96x = 4620 und damit auf x = 48 18 . Der Stein wog daher 48 1

8 gin, wasmit der angegebenen Losung von 2

3 Mine 8 gin 2212 se ubereinstimmt (wir erinnern

daran dass 1 Mine 60 gin und 1 gin gleich 180 se sind).Mit etwas weniger Rechnung kommt man aus, wenn man den Term x+ x

7x+ x7

ausklammert: dann folgt (1 +

1

11

)(x+

x

7

)= 60,

also 1211 ·

87x = 60. Multiplikation mit den Reziproken liefert

x =11

12· 7

8· 60 = 48

1

8

wie oben. Die Substitution z = x + x7 hatte im wesentlichen dieselbe Rechnung

geliefert.Die weiteren Probleme sind die folgenden:

8. Ich fand einen Stein. Ich habe ihn nicht gewogen. Ich subtrahierte ein Siebtelund dann nocheinmal ein Dreizehntel und wog ihn: 1 Mine. Wiewiel wog derStein?

Antwort: 1 Mine 15 56 gin.

9. Ich fand einen Stein. Ich habe ihn nicht gewogen. Ich subtrahierte ein Siebtel,addierte ein Elftel und subtrahierte dann nocheinmal ein Dreizehntel: 1 Mine.Wiewiel wog der Stein?

Antwort: 1 Mine 9 12 gin 2 1

2 se,

Die dazugehorigen Gleichungen sind also

x− x

7− 1

13

(x− x

7

)= 60; (3.2)

x− x

7+

1

11

(x− x

7

)− 1

13

(x− x

7+

1

11

(x− x

7

))= 60. (3.3)

Vielleicht haben die Babylonier solche Schachtelgleichungen mit “Substitution”gelost: setzt man in der letzten Gleichung die letzte Klammer, also das Gewichtdes Steins, bevor man ein Dreizehntel wegnimmt, gleich z, so lautet das Problemz − z

13 = 60, oder 1213 · z = 60. Dies ergibt z = 13

12 · 60 = 65, d.h. der Stein wog vorder Subtraktion des Dreizehntels 65 gin. Setzt man jetzt das Gewicht des Steinsvor der Addition des Elftels gleich w, so ist w + w

11 = 65, also w = 1112 · 65. Damit

ist x− x7 = 11·65

12 und endlich x = 7·11·656·12 = 69 37

72 , was wegen 69 3772 = 60 + 9 1

2 + 172

und 172 = 5

2 ·1

180 gleich 1 Mine, 9 12 gin und 21

2 se sind.Dabei soll der Gebrauch des Wortes “Substitution” nicht bedeuten, die Ba-

bylonier hatten eine Bezeichnung fur Unbekannte oder eine algebraische Notationbesessen. Im Falle der Gleichung (3.2) beispielsweise hatten sie zur Losung so vor-gehen konnen: hat man vom Stein ein Siebtel weggenommen, und subtrahiert mandann ein Dreizehntel, dann hat man noch 12

13 vom Stein, von welchem man ein

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3.2 Die Methode des falschen Ansatzes 51

Siebtel subtrahiert hat. Dieser wiegt dann 1312 von 60, also 65 gin. Da dies nur 6

7vom ursprunglichen Stein sind, muss dieser 7

6 · 65 = 4556 gin gewogen haben.

Eine andere Moglichkeit, solche Schachtelgleichungen zu losen, ist die Methodedes falschen Ansatzes, der im Mittelalter bei derartigen Aufgaben oft angewandtwurde, und den wir als nachstes vorstellen werden.

3.2 Die Methode des falschen Ansatzes

Die Methode des falschen Ansatzes ist schnell erklart. Nehmen wir an, wir habeneine Gleichung wie

x

3+x

5= 60

zu losen. Setzen wir x = 15 (um links einen ganzzahligen Ausdruck zu erhalten,ergibt sich 8 statt 60. Wir mussen also unseren Ausgangswert mit 60

8 multiplizieren,um die richtige Losung x = 15 · 608 = 112 1

2 zu erhalten.

Satz 3.1. Sei f(x) = ax eine lineare Funktion; um die Gleichung f(x) = b zulosen, setzt man x = x0 · b

f(x0), d.h. man wahlt den “falschen Ansatz x = x0 und

korrigiert den Ansatz mit dem Korrekturfaktor bf(x0)

.

Zum Beweis mussen wir nur nachrechnen, dass f(x) = b ist:

f(x) = ax = a · x0 ·b

f(x0)= a · x0 ·

b

ax0= b.

Die Gleichungen (3.2) und (3.3) sind von der angegebenen Gestalt, auch wennwir die Konstante a nicht direkt ablesen konnen: diese ergibt sich erst nach Aus-multiplizieren und Zusammenfassen. Wahlen wir im Falle (3.2) x0 = 7 · 13, dannerhalten wir

7 · 13− 7 · 13

7− 1

13

(7 · 13− 7 · 13

7

)= 7 · 13− 13− 7 + 1 = 13(7− 1)− (7− 1)

= 13 · 6− 6 = 12 · 6 = 72.

Also multiplizieren wir unsere erste Wahl mit dem Korrekturfaktor 6072 = 5

6 underhalten x = 7·13·5

6 = 4556 .

Aufgabe 3.1. Lose (3.1) und (3.3) mit der Methode des falschen Ansatzes.

3.3 Lineare Gleichungssysteme

Ein Problem auf SKT 6 ([41, S. 124]) liest sich wie folgt:

Der siebte Teil der Lange addiert zur Flache ist 27.

0;30 ist die Breite. Berechne Lange und Flache.

42 ist die Lange, 21 die Flache.

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52 3. Babylonische Algebra: Lineare Probleme

Bezeichnen wir die Lange mit L und die Breite mit B, so jaben wir also

1

7L+ LB = 27, B =

1

2.

Unglucklicherweise ist uns keine Losung der Babylonier bekannt, sondern nurdie Antwort. Wir konnen das Problem leicht losen; im wesentlichen haben wirL7 + L

2 = 27, woraus wir sofort 914 · L = 27 und damit L = 42 und F = LB = 21

erhalten.Wegen des Bruchs mit Nenner 7 sind die Babylonier sehr wahrscheinlich anders

vorgegangen. Mit dem falschen Ansatz L = 14 folgt L7 + L

2 = 2 + 7 = 9 anstatt 27,sodass wir unseren Ansatz mit 3 multiplizieren mussen. Auch bei dieser Variantehatten sie nicht 14 durch 7 geteilt, sondern gefragt, womit man 7 malnehmen muss,um 14 zu erhalten.

3.4 Arithmetische und Geometrische Reihen

Das Problem no. 5 auf der Keilschrifttafel SKT 362 (vgl. [15, S. 19], [43, S. 239],[9, S. 123]) dreht sich um 10 Bruder, die 1;40 Minen, also 100 Schekel erben.Der achte Bruder soll dabei 8 Schekel bekommen. Bei solchen Aufgaben wird esoft als selbstverstandlich angenommen, dass der alteste Sohn ebensoviel mehr alsder zweitalteste wie dieser mehr als der drittalteste usw. bekommt. Bezeichnetman also die Anteile der Bruder mit b1, . . . , b10, so ist d = bk+1 − bk konstant,b1 + . . . + b10 = 100, und b8 = 6. Wenn man mochte, kann man dieses Problemals lineares Gleichungssystem mit 9 Unbekannten auffassen. Wegen b7 = 6 + d,b6 = b+ 2d, . . . , b1 = 6 + 7d und b9 = 6− d, b10 = 6− 2d erhalten wir

100 = (6 + 7d) + (6 + 6d) + . . .+ 6 + (6− d) + (6− 2d)

= 60 + (7 + 6 + 5 + 4 + 3)d = 60 + 25d,

was auf d = 4025 = 8

5 fuhrt.Der babylonische Text geht (naturlich) anders vor. Zuerst bestimmt der Schrei-

ber das mittlere Erbe: wegen 100 : 10 = 10 erhalt jeder Bruder im Durchschnitt10 Schekel. Der dritte Bruder erhalt so viel mehr als der Mittelwert wie der achteBruder weniger erhalt: a3 −m = m − a8. Also ist 2m − 2a8 = a3 − a8, und dieletztere Differenz ist gleich dem 5-fachen der konstanten Differenz d. Der Schrei-ber rechnete daher 2 · 10 − 2 · 6 = 8 und teilte dies durch 5 (naturlich, indem er8 mit 12, dem Reziproken von 5, multiplizierte. Das Ergebnis 96

60 = 85 ist dann

die gemeinsame Differenz, und daraus kann man leicht den Erbteil jedes Brudersausrechnen.

Auf der Tafel AO 6484 aus der Seleukidenzeit soll die Summe aller Quadratzah-len von 1 bis 10 bestimmt werden. Um diese Summe zu finden, geht der Schreiberwie folgt vor:

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3.5 Zins und Zinseszins 53

Multipliziere 1 mit 13 : 1

313

Multipliziere 10 mit 23 : 10

32n3

Addiere die Ergebnisse: 13 + 10

3 = 113

2n+13

Multipliziere die Summe mit 55: macht 385 2n+12 · n(n+1)

2

In der rechten Spalte haben wir die moderne algebraische Interpretation furdie Berechnung der Summe der Quadratzahlen von 12 bis einschließlich n2 aufge-schrieben. Die ersten Schritte sind klar; die Zahl 55, die unvermittelt auftaucht,ist die Summe der Zahlen von 1 bis 10, die durch 10·11

2 = 55 gegeben ist. Fur12 + 22 + . . .+ n2 =

∑nk=1 k

2 erhalten wir also

n∑k=1

k2 =2n+ 1

3· n(n+ 1)

2=n(n+ 1)(2n+ 1)

6.

3.5 Zins und Zinseszins

Um 2400 v.Chr. ließ Enmetena, der Herrscher von Lagash, einen Tempel bauen, aufdessen Grundstein in Form eines gebrannten Kegels aus Ton er Details uber seinesiegreiche Schlacht gegen die Nachbarstadt Umma festhalten ließ. Daraus wirdklar, dass Enmetena Urlumma, dem Fuhrer von Umma, Getreide geliehen hatte,dieser aber, anstatt sie nach sieben Jahren mit Zins und Zinseszins zuruckzuzahlen,die Stadt Lagash angegriffen habe. Die Auseinandersetzung endete mit UrlummasTod, und dessen Nachfolger Il ist fur die Schulden seines Vorgangers aufgekommen(sh. Kazuo Muroi [40]).

Der Standardzins fur Getreide im alten Sumer war ein Drittel pro Jahr. Nachsieben Jahren ware also wegen ( 4

3 )7 ≈ 7, 5 das 7,5-fache des geliehenen Getreidesfallig gewesen.

Es gibt eine ganze Reihe altbabylonischer Keilschrifttafeln, in denen es um Zin-seszinsrechnungen geht, unter Anderem YBC 4669, VAT 8528 # 1, und AO 6770# 2.

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54 3. Babylonische Algebra: Lineare Probleme

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4. Quadratwurzeln

Im nachsten Kapitel werden wir sehen, dass die Babylonier in der Lage waren,“quadratische Gleichungen” zu losen. Die Anfuhrungszeichen sollen andeuten, dassden Babyloniern das Konzept von Formeln und Gleichungen naturlich fremd war,Anstatt x2 + x = 6 hatten sie etwa gesagt: “Ich habe Flache und Seite einesQuadrats addiert: 6. Was ist die Seite?”

Um solche Probleme losen zu konnen, mussten die Babylonier in der Lagesein, Quadratwurzeln zu berechnen. Wie sie das angestellt haben, werden wir indiesem Kapitel erklaren. Dabei werden wir mehr als an andern Stellen auf spatereTechniken zur naherungsweisen Berechnung von Wurzeln eingehen.

4.1 Quadratwurzeln durch Faktorisieren

Teilbarkeitsregeln konnen auch beim Berechnen von Quadratwurzeln nutzbringendangewandt werden, die großer sind als diejenigen, die man aus Tabellen ablesen

kann. Um etwa die Quadratwurzel aus auszurechnen, liest man ausder letzten Sexagesimalstelle 45 ab, dass diese Zahl durch 15 (und falls sie eineQuadratzahl ist, sogar durch 225) teilbar ist. Teilen durch 15, also Multiplikation

mit 4, ergibt , und nochmalige Multiplikation mit 4 liefert = 81;diese Zahl hat die Quadratwurzel 9. Die Ausgangszahl ist also das Quadrat von9 · 15 = 135.

Auf der altbabylonischen Keilschrifttafel TMS 19b ([25, S. 194], [19, S. 402])wird ein geometrisches Problem gelost, und im Verlauf der Rechnung taucht dieQuadratwurzel der Sexagesimalzahl 3,50,35,23,27,24,26,40 auf; ohne Kommen-tar wird das Ergebnis 15,11,06,40 genannt. Eine Moglichkeit, diese Wurzel zuberechnen, besteht in der Faktorisierungsmethode. Da die Zahl auf 40 endet,muss sie durch 20 teilbar sein, und wenn sie eine Quadratzahl ist, sogar durch202: dies lasst sich durch betrachten der beiden letzten Ziffern bestatigen, denn26, 40 = 26 · 60 + 40 = 1600. Division durch 202 entspricht einer Multiplikationmit 32 = 9: Multiplikation der letzten Ziffer 40 mit 9 ergibt 360 = 6 · 60, was einenicht aufzuschreibende Null und einen Ubertrag von 6 ergibt. Als nachstes folgtaus 9 · 26 + 6 = 240 = 4 · 60 eine weitere “Null” und ein Ubertrag von 4; dannkommt 9 · 24 + 4 = 220 = 3 · 60 + 40, was eine Sexagesimalziffer 40 und einenUbertrag 3 ergibt. Die vollstandige Rechnung liefert

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56 4. Quadratwurzeln

3, 50, 35, 23, 27, 24, 26, 40 = 202 · 34, 35, 18, 31, 06, 40.

Auch hier zeigen die beiden letzten Ziffern, dass die Zahl wegen 6 · 60 + 40 = 400durch 202 teilbar sein muss, und eine weitere Rechnung wie oben ergibt

34, 35, 18, 31, 06, 40 = 202 · 5, 11, 17, 46, 40.

Wieder ist das Ergebnis durch 202 teilbar, und wir finden

5, 11, 17, 46, 40 = 202 · 46, 41, 40.

Dieses Mal ist das Ergebnis nicht mehr durch 202, sondern nur noch durch 102

teilbar; Multiplikation mit 62 = 36 liefert dann

46, 41, 40 = 102 · 28, 01.

Diese Zahl ist klein genug, um die Quadratwurzel aus Tafeln abzulesen: 28,01(dezimal 1681) ist das Quadrat von 41.

Jetzt mussen wir nur noch die Divisionen ruckgangig machen: da wir die Aus-gangszahl drei Mal durch 202 und einmal durch 102 dividiert haben, muss dieQuadratwurzel dieser Zahl gleich 20 · 20 · 20 · 10 · 41 sein, was das Endergebnis

3, 50, 35, 23, 27, 24, 26, 40 ist das Quadrat von 15, 11, 06, 40

ergibt.Noch hubscher ist ein Beispiel, das auf der Tafel Ist S 428 zu finden ist. Neuge-

bauer konnte in [43, S. 80] zwar bereits erkennen, dass es dabei um die Berechnungeiner Quadratwurzel geht, war aber angesichts der ziemlich schwer lesbaren Tafelnicht in der Lage, der gesamten Rechnung einen Sinn zu geben. Dies ist erst Huber[80] (vgl. auch Friberg [19, S. 400]) gelungen.

Danach wird auf Ist S 428 die Quadratwurzel der Zahl 2,02,02,02,05,05,04 zu-mindest teilweise durch Faktorisierung bestimmt. Die Rechnungen verlaufen dabeiwie folgt:

2, 02, 02, 02, 05, 05, 04 = 22 · 30, 30, 30, 31, 16, 16

30, 30, 30, 31, 16, 16 = 42 · 1, 54, 24, 24, 27, 16

1, 54, 24, 24, 27, 16 = 42 · 7, 09, 01, 31, 42, 15

4 · 7, 09, 01, 31, 42, 15 = 28, 36, 06, 06, 49

Hier erstaunt zuerst, dass die Sexagesimalzahl 1,54,24,24,27,16 nach der Teilungdurch 16 großer wird. Dies liegt daran, dass 1,54,24,24,27,16 nicht durch 16, son-dern nur durch 4 teilbar ist, die Zahl rechts somit als 7,09,01,31,42;15 zu lesenware. Diesen “Bruch” bekommt man durch Multiplikation mit 4 (also nicht wiebei Friberg [19, S. 403] mit einer Division durch 15) wieder weg. Denkbar ist, dassein Schuler versehentlich geglaubt hatte, die Zahl 30,30,30,31,16,16 ware durch16 teilbar, und sein Versehen dann durch eine anschließende Multiplikation mit 4wieder ausgebugelt hat.

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4.2 Naherungsformel fur√

1 + x 57

Die Quadratwurzel dieser Zahl ist jetzt ohne weitere Rechnung angegeben, ob-wohl sich das Ergebnis sicherlich nicht aus Tafeln ablesen lasst. Sehr wahrscheinlichwurde die Quadratwurzel dieser Zahl naherungsweise mit dem “Heron-Verfahren”bestimmt, das wir im Rest dieses Kapitels erklaren werden. Nach der Bestimmungvon

28, 36, 06, 06, 49 ist das Quadrat von 5, 20, 53

mussen die Divisionen wieder ruckgangig gemacht werden, und als Ergebnis derQuadratwurzelberechnung erhalt man jetzt

2, 02, 02, 02, 05, 05, 04 ist das Quadrat von2 · 4 · 4 · 30 · 5, 20, 53 = 1, 25, 34, 08.

Noch interessanter als die Frage, wie die Babylonier diese Quadratwurzel be-rechnet haben, ist wohl die Frage, wie der Autor dieses Problems auf diese Aufgabegekommen ist. Offenbar hat er die Quadratwurzel aus der Zahl 2,02,02,02,02,02,02naherungsweise berechnet, dann das Ergebnis 1,25,34,08 quadriert und die Qua-dratzahl 2,02,02,02,05,05,04 erhalten, also die kleinste Quadratzahl großer als2,02,02,02,02,02,02.

Kubikwurzeln

Auch Kubikwurzeln von Kubikzahlen, die außerhalb der angelegten Tafeln lagen,wurden in der Regel mit Hilfe von Teilbarkeitsregeln bestimmt (vgl. [58, S. 35]).Um etwa die Kubikwurzel aus

= 3,22,30,00 = 729 000zu bestimmen (diese Aufgabe wird auf YBC 6295 behandelt), beachte man, dasseine Kubikzahl, die ein Vielfaches der 60 ist, notwendig durch die dritte Potenzvon 2 ·3 ·5 = 30 teilbar sein muss. Division durch 30 entspricht einer Verdopplung,

Division durch 303 also einer Multiplikation mit 8, was die Zahl ergibt, also27 und damit die Kubikzahl von 3. Die dritte Wurzel aus der ursprunglichen Zahlmuss also 30 · 3 = 90 gewesen sein.

4.2 Naherungsformel fur√

1 + x

Die folgende Naherung fur Zahlen, die nahe bei 1 liegen, hat den Vorteil, dass siesich sehr leicht herleiten lasst: setzen wir

√1 + x = 1+h, und nehmen wir an, dass

x und damit h kleine Zahlen sein sollen, dann liefert Quadrieren 1+x = 1+2h+h2.Wenn h klein ist, ist h2 noch viel kleiner: bei h = 0, 1 ist ja schon h2 = 0, 01. Wennwir also h2 aus der letzten Gleichung einfach weglassen, machen wir nur einenkleinen Fehler (der umso kleiner ist, je kleiner x ist). Dann haben wir 1+x ≈ 1+2h,was auf h = x

2 und damit auf

√1 + x ≈ 1 +

x

2(4.1)

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58 4. Quadratwurzeln

Abb. 4.1. YBC 6295: Berechnung einer Kubikwurzel

fuhrt. Diese Gleichung gilt naturlich auch, wenn x negativ (und betragsmaßigklein) ist.

Binomische Formeln haben eine klassische geometrische Interpretation. Bei-spielsweise beruht die Formel (a + b)2 = a2 + 2ab + b2 in geometrischer Hinsichtauf der Berechnung des Flacheninhaltes eines Quadrats mit der Seitenlange a+ bauf zwei verschiedene Arten.

Zum einen ist der Flacheninhalt desgroßen Quadrats gleich (a + b)2, zumandern besteht das Quadrat aus zweiTeilquadraten mit Flacheninhalt a2 undb2, sowie zwei Rechtecken, deren Flachejeweils gleich ab ist. Also muss

(a+ b)2 = a2 + 2ab+ b2

sein (vgl. [33, Kap. 3]).

Dieselbe geometrische Idee lasst sich auf die Verwendung der binomischen For-mel bei der Herleitung der Naherungsformel

√1 + x ≈ 1 + x

2 verwenden. Diesmacht die Sache nicht unbedingt klarer, erleichtert aber das Verstandnis fur dasVorgehen der Babylonier, das wir weiter unten vorstellen werden.

Die Große√

1 + x beschreibt die Kantenlange eines Quadrats mit Flachenin-halt 1+x, wobei wir wieder annehmen wollen, dass x klein ist. Zum Flacheninhalt

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4.2 Naherungsformel fur√

1 + x 59

eines Quadrats mit Kantenlange 1 mussen wir also noch eine Flache von x dazu-legen.

Dies machen wir, indem wir rechts undoben an das Quadrat zwei kleine Rechteckemit den Seitenlangen x

2 anlegen. Die sichhier ergebende Figur ist kein Quadrat, weilrechts oben noch ein kleines Quadrat mitFlacheninhalt x2/4 fehlt. Fur sehr kleine xist diese Flache allerdings sehr klein, sodasswir nur einen kleinen Fehler machen, wennwir das kleine Quadrat mit Flacheninhaltx2/4 einfach dazu addieren und dann einQuadrat mit Kantenlange 1 + x

2 und einerFlache von etwas mehr als 1 + x erhalten.

Erklarung der Naherung mit modernen Hilfsmitteln

Das Schaubild der Funktion y =√x ist eine liegende Parabel, oder genauer deren

(obere) Halfte. Dies kann man dadurch einsehen, dass man die Gleichung y =√x

quadriert: dann ist y2 = x, und diese Beziehung beschreibt die Normalparabelnach Vertauschen von x- und y-Achse.

Das Schaubild von f(x) =√

1 + xerhalt man, wenn man diese liegendeParabel um 1 nach links verschiebt.Man erhalt Naherungswerte fur f inder Nahe von x = 0, indem man dieFunktion durch ihre Tangente appro-ximiert. Die Bestimmung der Tangen-te ist Standard: es ist f ′(x) = 1

2√1+x

und damit f ′(0) = 12 ; da die Tangen-

te durch (0|1) geht, ist ihre Gleichungdaher y = 1

2x+ 1.

Satz 4.1. Die Tangente an die Funktion f(x) =√

1 + x in x = 0 ist gegebendurch y = 1 + x

2 .

Beispiel. Fur√

1, 2 erhalt man mit x = 0, 2 sofort√

1, 2 ≈ 1, 1; der richtige Wertist√

1, 2 ≈ 1, 095445 . . ..

Beispiel. Um eine Naherung fur√

17, kann man (4.1) nicht direkt anwenden,sondern muss erst etwas umformen:

√17 =

√16 · 17

16= 4

√17

16= 4

√1 +

1

16.

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60 4. Quadratwurzeln

Ziel dieser Aktion war es, die 17 unter der Wurzel in eine Zahl nahe bei 1 zuverwandeln, was wir dadurch erreicht haben, dass wir die

√16 ausgeklammert

haben.Jetzt konnen wir (4.1) darauf loslassen und finden

√17 = 4

√1 +

1

16≈ 4(

1 +1

32

)= 4 +

1

8= 4, 125.

Wegen√

17 ≈ 4, 123 . . . ist das eine sehr gute Naherung; fur Zahlen, die von einerQuadratzahl weiter entfernt sind, sind die Naherungen nicht so gut.

Beispiel. Wenn eine Zahl nicht in der Nahe einer Quadratzahl liegt, kann manvorgehen wie folgt: um

√20 zu approximieren, nutzt man aus, dass 4 · 20 = 80 in

der Nahe einer Quadratzahl liegt:

√20 =

1

2

√80 =

1

2· 3 ·

√80

81=

3

2

√1− 1

81,

und jetzt fahrt man fort wie oben.

Beispiel. Mit dem eben angewandten Trick lasst sich auch eine gegebene Nahe-rung verbessern. Wir haben oben gesehen, dass

√1, 2 ≈ 1, 1 ist. Wegen 1, 12 = 1, 21

gilt nun weiter

√1, 2 =

√1, 21 · 1, 2

1, 21= 1, 1 ·

√1− 1

121= 1, 1 ·

(1− 1

242

)= 1, 1− 1

220

= 1, 095454 . . . , wahrend der genau Wert√1, 2 = 1, 095445 . . .

ist.

4.3 Das Heron-Verfahren

Zum Ziehen der Quadratwurzel aus kleineren Quadratzahlen hatten die Baby-lonier Tafeln (oder sie wussten sie auswendig). Daneben gab es Techniken zumBestimmen der Quadratwurzeln aus großen Quadratzahlen, ebenso wie eine Me-thode, Naherungen von Quadratwurzeln aus Nichtquadratzahlen zu berechnen.Bevor wir diese Methode vorstellen, wollen wir uns ansehen, wie man Naherungenvon Quadratwurzeln heute findet.

Die babylonische Methode des Berechnens von Quadratwurzeln ist nach demgriechischen Mathematiker Heron von Alexandria benannt, weil dessen Schriftenlange bekannt waren, bevor man die babylonische Keilschrift entziffern konnte. Wirtun uns leichter, wenn wir die Sprache der modernen Algebra benutzen konnen.Angenommen, wir haben eine Naherung

√N ≈ a; wir machen den Ansatz

√N =

a+h und versuchen etwas uber h herauszufinden. Quadrieren liefert N = a2+2ah+h2. Nun ist aber h =

√N − a “klein” gegenuber

√N , weil doch a eine Naherung

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4.3 Das Heron-Verfahren 61

fur√N sein sollte. Verglichen mit a2 ≈ N und 2ah ist also h2 klein. Wenn wir

diesen Term vernachlassigen, folgt N ≈ a2 +2ah; lost man diese “Gleichung” nachh auf, erhalt man

h ≈ N − a2

2a,

also√N ≈ a+ h = a+

N − a2

2a. (4.2)

Diese “babylonische Formel” ist also eine einfache Folgerung aus der binomischenFormel, und mit ihrer Hilfe kann man aus einer Naherung a eine bessere Naherunga1 = a+ h berechnen.

Beispiel. Um eine Naherung fur√

2 zu finden, beginnen wir mit dem (schlechten)Naherungswert a = 1 und finden mit der Formel (4.2) und N = 2 im ersten Schritt

√2 ≈ 1 +

2− 1

2=

3

2.

Diese Naherung√

2 ≈ 1, 5 konnen wir schrittweise verbessern, indem wir die alteNaherung a = 1 durch die neue ersetzen; damit finden wir

√2 ≈ 3

2+

2− 94

2 · 32=

3

2− 1

12=

17

12,

und dann

√2 ≈ 17

12+

2− 172

122

2 · 1712=

577

408.

Diese Naherung ist schon sehr gut; wir haben

3

2= 1, 5

17

12= 1, 41666 . . . ,

577

408= 1.414215686 . . . ,

wahrend

√2 ≈ 1.414213562 . . .

ist. Die nachste Naherung 665857470832 ist schon auf mehr als zehn Nachkommastellen

genau.Wir bemerken ebenfalls, dass mit einer Naherung a von

√2 auch die Zahl 2/a

eine Naherung ist; liegt die eine Approximation uber√

2, dann liegt die anderedarunter und umgekehrt. Aus der Naherung a = 7

5 = 1, 4 erhalten wir so dieNaherung 2

a = 107 ≈ 1, 4286.

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62 4. Quadratwurzeln

Ubrigens erhalt man denselben Wert, wenn man statt (4.1) die Formel (4.2)mit a = 4 verwendet: dann ist ja

√17 ≈ 4 +

17− 42

2 · 4= 4 +

1

8

wie oben, nur dass man hier durch Wiederholung mit der neuen Approximationa = 4 1

8 = 338 eine noch bessere Naherung erhalten kann.

4.4 Die babylonische Methode

Das Ziehen von Quadratwurzeln aus kleinen Zahlen erfolgte mit Hilfe von Qua-drattabellen, also Tabellen, welche kleine Zahlen und deren Quadrate angaben.Ahnliche Tafeln gibt es auch fur Kubikzahlen und sogar fur Zahlen der Formn3 + n2, namlich MS 3048, BM 85200 und VAT 6599.

Auf der Tafel IM 52301 (vgl. Bruins [5] und Vogel [58, S. 34–35]) findet sicheine Anleitung zum Ziehen der Quadratwurzel aus Zahlen, die sich nicht auf Qua-drattafeln finden. Ist N eine solche Zahl, so hat man eine Quadratzahl a2 kleinerals N zu suchen; den Rest N − a2 = r muss man in vier Teile zerlegen und jedendieser Teile “in die vier Windrichtungen” antragen.

Fur N = 20 ist a2 = 16 und r = N − a2 = 4. Teilt man diese Flache in viergleich große Teile, so hat man, damit man sie an die vier Seiten des Quadrats mitKantenlange a = 4 anlegen kann, daraus vier Rechtecke mit den Kanten a = 4und b = 1

4 zu machen.

Anstatt als wie wir das Ausgangsquadrat durchdas Anlegen zweier Rechtecke “fast” zu einemQuadrat zu erganzen, legen die Babylonier vierhalb so große Rechtecke an jede Seite des Aus-gangsquadrat.Ein besserer Naherungswert fur

√N als a ist da-

her a+ 2b = 4 + 2 · 0, 25 = 4, 5; das Quadrat von4, 25 ist, wie man an der Skizze ablesen kann, umdie vier kleinen Quadrate, also um 4b2, zu groß.Im Vorliegenden Fall ist 4b2 = 1

4 , und in der Tatist 4, 52 = 20, 25 um 1

4 = 0, 25 zu groß.

Im allgemeinen Fall wahle man eine Naherung a <√N , berechne r = N − a2

und b = r4a und erhalt den neuen Naherungswert

a′ = a+ 2b = a+N − a2

2a.

Bei Quadratwurzeln ist es ubrigens ein großer Unterschied, ob die Sexsagesi-

malzahl als 1 oder als 60 gelesen wird, da 1 eine Quadratzahl ist, 60 dagegen

nicht. Ist in einer babylonischen Rechnung die Wurzel aus wieder , so steht

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4.4 Die babylonische Methode 63

fur die Zahl 1 (oder 602 = 3600 bzw. 1602 = 1

3600 usw.). Liegt die Quadratwurzel

aus dagegen zwischen 7 und 8, so muss als 60 gelesen werden.Um fur diese Quadratwurzel eine Naherung mit Hilfe des babylonischen Ver-

fahrens zu gewinnen, setzen wir N = 60 und a = 7; dann ist

a+N − a2

2a= 7 +

11

14.

Division durch 14 ist nun fur die Babylonier ein Problem; wir behelfen uns mit

der Naherung 1114 ≈

1215 = 48

60 und erhalten als Naherung fur√

60 die Zahl ,

also√

60 ≈ 7, 8.Um fur

√2 eine brauchbare Naherung zu erhalten, betrachten wir

√2 · 602 =√

7200 (im Dezimalsystem ware die Wahl√

200 naturlicher: aus√

200 ≈ 14 wegen142 = 196 folgt dann sofort die Naherung

√2 ≈ 1, 4) und finden, dass 7200 =

842 + 144 ist; damit folgt√

7200 ≈ 84 + 1442·84 = 84 + 144

168 = 84 + 67 . Quadrieren

liefert (84 67 )2 = 7200, 7, was erstaunlich genau ist. Als gute Babylonier sollten wir

die 67 allerdings durch einen regularen Bruch approximieren. Dazu beachten wir

67 · 60 = 360

7 ≈ 51, was sexagesimal geschrieben wird. Addieren wir dies zu 84

= erhalten wir die Naherung fur√

2.Tatsachlich existieren verschiedene altbabylonische Tafeln mit Listen von Kon-

stanten; auf einer von ihnen, namlich YBC 7243 (sh. [45, Plate 49]), findet sichin der zehnten Zeile die Lange einer Diagonale eines Quadrats mit Seitenlange 1angegeben als

was noch genauer ist als unsere obige Naherung.

Ubungen

4.1 Bestimme die Quadratwurzel der folgenden Quadratzahlen:

(BM 13901) 0;0,17,21,40

4.2 Bestimme die Kubikwurzel der folgenden Kubikzahlen:

4.3 Benutze zwei Schritte der Formel (4.2), um gute Naherungswerte fur die folgendenQuadratwurzeln zu erhalten:

1.√

37 ≈2.√

102 ≈3.√

3 ≈

4.4 Benutze die Formel (4.1), um eine Naherung der folgenden Quadratwurzeln zufinden:

1.√

1, 1 ≈2.√

0, 98 ≈3.√

37 ≈

Kontrolliere mit dem Taschenrechner.

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110 Namensverzeichnis

Namensverzeichnis

Aaboe, A., 71Anagnostakis, C., 77Assurbanipal, 9Atrahasis, 14

Berossos, 14Botta, E., 9Britton, J., 32Bruins, E.M., ix, 18, 60, 77Burnouf, E., 7, 8

Caveing, M., xChampollion, J.-F., 6, 9

Damerow, P., 71Dareios I., 1, 8

Eratosthenes, 29

Finkel, I., 13, 15Frank, C., ixFriberg, J., viii, x, 32

Gilgamesch, 14Gilllings, R.J., 77Goldstein, B.R., 77Grotefend, 7Grotefend, G., 8

Høyrup, J., ixHammurabi, 1, 2Herodot, viiHeron, 57Hincks, E., 9, 17Hoppe, N., viiiHuber, P., 56, 77

Ifrah, G., 20Ischtar, 4

Jestin, R., 37

Kline, M., viiKoldewey, R., 5

Kyros II., 1

Lassen, Ch., 8, 9Lehmann, J., ix, 18Lenormant, F., 21Loftus, W., viii, 21

Marzahn, J., 13Melville, D., xMunter, F., 7, 8Muroi, K., 53

Nebukadnezar II, 4Neugebauer, O., viii, ix, 17, 56, 64,

68, 76Niebuhr, 8Niebuhr, C., 7, 8Norris, E., 7

Oppert, J., 9, 21Ossendrijver, 33

Phillips, T., xPlimpton, G., 75Proust, Ch., 13, 17

Rask, R., 7Rawlinson, H., 9, 21Reimer, D., ixRobson, E., x, 17Rudman, P., ix, 18Rutten, M., 18

Sachs, A., 18, 39Sargon I, 2, 15Schamasch, 2Schøyen, M., xSolla Price, D.J. de, 77

Thureau-Dangin, F., ix, 17, 18, 64Tychsen, O., 7, 8

Utnapishti, 14

Vogel, K., ix, 18, 60

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Namensverzeichnis 111

Weidner, E., ix, 17, 67Westergaard, N., 7

Yuste, ix

Ziusudra, 14

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112 Sachverzeichnis

Sachverzeichnis

Akkader, 22Aramaer, 22

Babylon, 1Behistun, 9Bisutun, 9British Museum, 6

Chaldaer, 22

Etrusker, 20

Gilgamesch-Epos, ix

Heron-Verfahren, 57Horner-Schema, 27

Ischtar-Tor, 1

Larsa, 21Louvre, 2

Nioppur, 17

Papyrus Rhind, viiiPersepolis, 6Phonikier, 20pythaogreische Tripel, 76

Quadratwurzeln, 55

SatzPythagoras, ix

Seleukiden, 1Semiten, 22Senkereh, viii, 21Sexagesimalsystem, 19Sintflut, ix, 11, 14Stein von Rosetta, 6Sumerer, 2, 22Susa, 2

Teilbarkeitsregeln, 55

Ur, 15

Uruk, 2

Zahlregular, 36

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Tafelverzeichnis 113

Tafelverzeichnis

A 29985, 14A 7897, 27AO 17264, 93AO 6486, 52AO 6770, 53

BM 13091, 64BM 15285, 70, 99BM 32401, 34BM 34249, 33BM 34517, 34BM 34601, 31, 33BM 85196, 68, 69BM 85200, 60BM 96957, 67

DB2-146, 68

HS 0217, 24

IM 52301, 60IM 55357, 73IM 58045, 87Ist S 428, 56

MS 2242, 47MS 2351, 30MS 3048, 60MS 3874, 38

Ni 5376, 14

Plimpton 322, 75, 86

SKT 362, 52SKT 6, 51

TMS 23, 94TMS I, 79, 98

VAT 6505, 39VAT 6598, 67, 69VAT 6599, 60VAT 7531, 96

VAT 7848, 97VAT 7858, 26VAT 8512, 94VAT 8528, 53

YBC 10529, 37YBC 11127, 42YBC 4652, 49YBC 4669, 53YBC 4675, 86YBC 4704, 41YBC 6295, 57YBC 6967, 63YBC 7243, 61YBC 7289, 72, 99YBC 7302, 83YBC 7354, 47