19

Click here to load reader

Frobenius Kompositionslehre

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 1

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

Wolf Frobenius

Abendländische Kompositionslehre

1. Zum Begriff Kompositionslehre

Kompositionslehre ist durch zwei Besonderheiten der abendländischen Musik geprägt: durch deren Rationalität und Theoriefähigkeit und durch die Ausbildung der Kategorie Werk (Überblick bei Rösing, 1993, S. 74-86). Die Rationalität der Musik wurde zunächst durch die Erforschung der Konsonanzproportionen und durch die Tonartenkonstruktionen sowie durch eine entsprechende Auffassung der Rhythmik gefördert, die Theorie-fähigkeit durch eine hochdifferenzierte Terminologie bestätigt. Die Katego-rie musikalisches Werk ist eine Folgeerscheinung der schriftlichen Planung von Musik, die als Errungenschaft der Notre-Dame-Epoche (um 1200) gilt (→ Verschriftlichung von Musik). Ausdrücklich auf Kompositionen wird der Werkbegriff seit dem 16. Jahrhundert angewendet (opus perfectum et absolutum). Der Komposition im engeren Sinn, deren Ergebnisse schriftlich geplant werden, steht die Komposition im weiteren Sinn gegenüber, die auch ohne schriftliche Arbeit zu einem individuell gestalteten, wiederholbaren Musik-stück führen kann (→ Überlieferte Musik). Einen Gegenbegriff zu Kompo-sition im weiteren wie im engeren Sinn bildet die → Improvisation, die strenggenommen dem Augenblick der Entstehung verhaftet bleibt und nicht wiederholt werden kann. Komposition im weiteren Sinn gibt es in den meisten Kulturen, Komposition im engeren Sinn gilt als Errungenschaft der westlichen Kultur. Das jeweilige Regelsystem für Komposition ist in Kompositionslehren (Kontrapunkt-, Harmonie-, Rhythmus-, Melodie-, Instrumentationslehren) festgelegt und theoretisch formuliert. Prägend wirken aber weiterhin die mündliche Überlieferung von Regeln und als mustergültig anerkannte Mei-sterwerke. Die Kompositionslehre besteht zunächst im Kontrapunkt, seit dem 15. Jahrhundert auch in Instrumentalmusiklehren (fundamentum), seit etwa 1730 in der Generalbaßlehre, aus der dann die Harmonielehre hervorgeht. Im 19. Jahrhundert setzt sich die Kompositionslehre zusammen aus - der Harmonielehre (mit Melodielehre, Satzbau und kleineren Formen),

Page 2: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 2

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

- dem Kontrapunkt (mit Kanon und Fuge) und - der Formen- und Instrumentationslehre (zusammengesetzte Formen, Stil-

arten, Gattungen, Orchestersatz, Ensemblesatz). Nach Hugo Riemann (1889) und Stephan Krehl (1902) umfaßt die Kom-positionslehre im weiteren Sinn die gesamte Lehre des musikalischen Sat-zes (Elementarmusik-, Melodie-, Rhythmus-, Harmonielehre, Kontrapunkt mit Kanon und Fuge, Formenlehre). Im engeren Sinn ist sie mit der For-menlehre identisch. Im 20. Jahrhundert büßt die Kompositionslehre ihren normativen Anspruch ein und weicht vielfach einer historisch-deskriptiven Satzlehre. Diese verbindet einerseits Harmonielehre und Kontrapunkt und berücksichtigt auch weitere Gesichtspunkte wie Rhythmik, Metrik, Melo-die- und Formbildung sowie Prinzipien neuerer Musik. Andererseits führt sie im Unterschied zur Kompositionslehre nicht bis zur Komposition, son-dern lehrt durch Finden und Übermitteln von Regeln sowie durch Satz-übungen die für eine Satzart typischen Erscheinungen zu verstehen und zu beurteilen.

2. Kontrapunkt

Der Kontrapunkt (seit dem 14. Jahrhundert, → Epochengliederung und Ge-schichtsschreibung) ist ursprünglich ein Note-gegen-Note-Satz aus Konso-nanzen. Unterschieden werden perfekte Konsonanzen (Einklang, Quinte, Oktave) und imperfekte (Terzen und Sexten). Die Regeln sehen generell Gegenbewegung der Stimmen und Klangwechsel unter Sekundanschluß in wenigstens einer Stimme vor. Sie verbieten Parallelführung der Stimmen in einer perfekten, nicht aber in einer imperfekten Konsonanz. Die Klangzeilen beginnen und schließen mit einer perfekten Konsonanz, wobei der vorletzte Klang imperfekt sein muß. Dabei schreitet die gegebe-ne Stimme (Tenor) eine Sekunde abwärts (Tenorklausel) und die Zusatz-stimme (Discantus) eine Sekunde aufwärts (Diskantklausel). Von den in dieses Satzgerüst einzuhängenden Stimmen fällt die tiefere (Contratenor bassus) eine Quint oder steigt eine Quart (Baßklausel), während die höhere (Contratenor altus) auf ihrem Ton verharrt (Altklausel). Erst im 16. Jahr-hundert wird der charakteristische Terzfall des Altes üblich. Zugleich er-scheint mehr und mehr die Baßklausel als Träger des abschließenden Har-monieschrittes, der schließlich zum eigentlichen Konstruktionselement der Kadenz wird (s. später).

Page 3: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 3

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

Werden die Dissonanzen anfangs nur als Abspaltungen von der harmo-nisch geltenden Note betrachtet, so differenziert Johannes Tinctoris (1477) für den Kontrapunkt in gemischten Werten (Figuralgesang) zwischen ver-schiedenen Fällen: Die Synkopendissonanz ist vorzubereiten, die Durch-gangsdissonanz in Ganztonschritten zu erreichen und weiterzuführen. Wechseltondissonanzen sollen auf kürzeste Zeitwerte beschränkt bleiben. Die bis dahin gültigen Konsonanzfolgeregeln ersetzt Tinctoris weitgehend durch Stimmführungsregeln. So wird der Kontrapunkt zum Prinzip der Kombination melodisch und rhythmisch selbständiger Stimmen im Rahmen geregelter Zusammenklän-ge und Klangfortschreitungen. Gelehrt werden vor allem freie, nicht an ei-nen Cantus firmus gebundene Komposition, Kanon, Imitation, doppelter Kontrapunkt, Mehrchörigkeit sowie die Rolle des Soggettos, die Ausprä-gung des Modus und Textaussprache und -ausdruck. Besonders bemerkens-wert ist die Technik der Imitation, der Übernahme von musikalischem Ma-terial durch später einsetzende Stimmen eines mehrstimmigen Satzes. Im durchimitierenden Stil des 16. Jahrhundert erhält jedes Textglied ein eige-nes Soggetto, das während der Dauer eines Abschnittes (meist durch ein Textglied bestimmt) in allen Stimmen durchimitiert wird. Diese ab-schnittsweise Durch-Imitation greift im späteren 16. Jahrhundert auch auf die Instrumentalmusik über und führt zur Form des Imitations-Ricercars und zur Gattung der Fuge. Seit der Wiener Klassik tritt die Imitation als form- und gattungsprägender Stil zurück, wird jedoch maßgebend für die Kunst der thematischen Arbeit. Im 16. bis 17. Jahrhundert führt die freiere Dissonanzbehandlung des Madrigals und der Monodie sowie der Generalbaß ein Denken in fertigen Akkorden, das zur Harmonielehre führt. Schon im 18. Jahrhundert er-scheint der Kontrapunkt zunehmend als veralteter Stil (vgl. Scheibe, 1737). Erst die dissonanzenreiche und stark modulierende spätromantische Har-monik führt bei regelmäßiger Dissonanzbehandlung wieder zu einer Aktua-lisierung des Kontrapunkts (Brahms, Bruckner). Seit Beginn des 20. Jahr-hunderts dient der Kontrapunkt zunehmend als Mittel zur linearen Bindung der Töne und motiviert so Klänge und Klangfolgen.

Page 4: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 4

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

3. Harmonielehre

Ist der Kontrapunkt wesentlich ein Konzept horizontaler Stimmenerfindung (Melodie), so die Harmonielehre Konzept einer simultanen Mehrstimmig-keit. Die Klänge sind nicht mehr sekundäres Ergebnis von mehreren selb-ständig agierenden Stimmen, sondern Erscheinungsformen von Dreiklän-gen auf bestimmten Stufen der verwendeten Tonleiter. Die Harmonielehre behandelt die Akkorde und ihre Verbindung. An Ak-korden stehen der Dreiklang (Dur, Moll, vermindert, übermäßig), der Sep-takkord (Dominantseptakkord, verminderter Septakkord, sonstige) sowie Nonen-, Undezimen- und Tredezimenakkord in ihrer Grundform und in ihren Umkehrungen zur Verfügung. Dissonant (und daher nicht schlußkräf-tig) sind die zweite Umkehrung des Dreiklangs (Quartsextakkord), der verminderte und der übermäßige Dreiklang, der Sept-, Nonen-, Unde-zimen- und Tredezimenakkord. Neben diesen Akkorddissonanzen gibt es nach wie vor Stimmführungsdissonanzen, die sich zum Teil allerdings zu Akkorddissonanzen verfestigen: liegende Stimme, Antizipation, Vorhalt, Durchgang und Wechsel- oder Drehnote. Die Lehre von der Akkordverbindung ist gespalten. Nach der Funda-menttheorie (Simon Sechter, 1853/54; Ernst Kurth, 1913) beruht jede Ak-kordverbindung auf einem offenen oder verborgenen Quintschritt des Fun-daments. Vollziehen die Akkordgrundtöne einen Terzschritt, so erfolgt da-mit zugleich, wenn auch nur latent, ein Quintschritt des Fundaments in gleicher Richtung, der die eigentliche Funktion des Akkords bewirkt. Der aufsteigende Ganztonschritt I-II der Akkordgrundtöne geht mit einem ver-borgenen Quintfall VI7-II des Fundaments einher; der fallende Ganzton-schritt II-I oder VI-V gilt als Fragment des Nonenakkords V9(-I) bzw. II9(-V). Hängt in der Fundamenttheorie die harmonische Funktion der einzelnen Tonartstufen von der jeweiligen Akkordverbindung ab, so steht sie für die Funktionstheorie (Hugo Riemann, z. B. 1889) als Beziehung zum tonalen Zentrum von vorneherein fest. Hauptfunktionen sind Tonika (I), Dominan-te (beruhend auf dem Quintschritt V-I) und Subdominante (beruhend auf dem Quintschritt I-IV). Die Folge Tonika-Subdominante-Dominante-Tonika prägt die Tonart aus. Nebenfunktionen sind die Parallelen von To-nika (in Dur 6., in Moll 3. Stufe), Subdominante (in Dur 2., in Moll 6. Stu-fe) und Dominante (in Dur 3., in Moll 7. Stufe). In Durtonarten kann der

Page 5: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 5

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

Dreiklang der 3. Stufe auch die Tonika vertreten, wenn die Quinte im mu-sikalischen Zusammenhang als erstarrter Vorhalt zu dem Grundton der To-nika erscheint (Leittonwechselklang). Die 7. Stufe gilt als unvollständiger Dominantseptakkord. Fundament- und Funktionstheorie können gleichermaßen als einseitige Zuspitzungen der Theorie von Jean Philippe Rameau (1722) gelten. Ob-wohl sich die entscheidenden Schritte in der Entwicklung der Harmonieleh-re über einen langen Zeitraum verteilen, erscheint Rameau als der eigentli-che Schöpfer der Theorie der tonalen Harmonik. Wesentliche Stationen der Entwicklung waren (vgl. Dahlhaus, 1967 a): - die Auffassung des Dur- und Molldreiklangs als unmittelbar gegebener

Einheit (Gioseffo Zarlino 1558); - die Deutung des Sext- und Quartsextakkords als Umkehrungen des

Grunddreiklangs (Johann Lippius, 1612; Thomas Campian, 1613); - die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Harmonien als das ihrer

Grundtöne, die Erkenntnis des Quintschritts als Normalverbindung zweier Harmonien und eigentliches Konstruktionselement der Kadenz, das in Spannung steht zur Einheit des tonalen Zentrums, und die Er-kenntnis und Benennung der Akkordfunktionen Tonika, Dominante und Subdominante als Gerüst oder Substanz einer durch Akkorde dargestell-ten Tonart (Rameau 1726);

- das Theorem der Terzenschichtung (derselbe); - die Unterscheidung zwischen 'wesentlichen' (I, IV, V) und 'zufälligen'

(II, III, VI) Akkordstufen (Heinrich Christoph Koch 1811); - und die Reduktion der 'zufälligen' Akkorde, die als Scheinkonsonanzen

bzw. Auffassungsdissonanzen erklärt werden (Riemann 1893).

4. Formenlehre

Die Formenlehre mit der systematischen Darstellung von Gliederungstypen musikalischer Werke, der Gruppierung thematischer und nichtthematischer Teile und der Disposition der Tonarten entsteht im 18. Jahrhundert, als durch die Verselbständigung der Instrumentalmusik die Form zum Problem wird. Sie wird als Interpunktion begriffen: Form entsteht durch Abstufung der Endigungsformeln (vgl. Heinrich Christoph Koch, 1793; dazu auch Dahlhaus, 1978).

Page 6: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 6

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

Für Adolf Bernhard Marx (1839) ist der Urgegensatz von Ruhe-Be-wegung-Ruhe das Grundprinzip von Form; es manifestiert sich in der Drei-teiligkeit von Exposition, Durchführung und Reprise. Haupt- und Seiten-satz kontrastieren und ergänzen sich zugleich. Die Formen von der dreitei-ligen Liedform über fünf verschiedenartige Rondoformen (s. Marx, 1837-47) bis hin zur Sonatensatzform gehen durch fortschreitende funktionale Differenzierung und Subordination der Teile genetisch auseinander hervor. Demgegenüber unterscheidet Hugo Riemann (1889) „eigentlich den Auf-bau konstituierende, entwickelnde Partien und Einschaltungen“. Weitere Modelle für die Formerklärung bilden: - das Drama – so bei Anton Reicha (1826) und Carl Czerny (1837), die die

Sonatensatzform mit den dramentheoretischen Begriffen Exposition, Développement (noeud, intrigue) und Dénouement darstellen;

- die Architektur – so bei Vincent d’Indy (1909), der die Symmetrie z. B. von Exposition und Reprise in der Sonatensatzform hervorhebt und

- der Organismus – so bei Ebenezer Prout (1895), demzufolge Musik or-ganisch wächst, und zwar durch motivisch-thematische wie tektonische Prozesse.

Stellt schon August Halm (1913) Fuge und Sonate als zwei Kulturen der Musik einander gegenüber, so ist heute im Anschluß an die Unterscheidung von processus und structura in der mittelalterlichen Musik grob schemati-sierend festzustellen, daß der Komponist in zwei Richtungen arbeiten kann: Entweder er geht von einer gegebenen Kohärenz aus und bemüht sich um Divergenz; oder er muß in einem Material, das von sich aus Divergenz bie-tet, Kohärenz schaffen (Reckow, 1986). Bei geschlossenen Formen wie liedartigen Stücken oder Sonatensätzen muß man sich um Divergenz be-mühen – bei den mittelalterlichen Cantus-firmus-Kompositionen (Notre-Dame-Choralbearbeitung, Motette, Meßsätze), in den Formen der Poly-phonie (Kanon, Imitation, Fuge usw.), in der musikalischen Prosa und in der seriellen Musik um Kohärenz.

5. Erweiterte Tonalität

Die Geschichte der Komposition im 20. Jahrhundert vollzieht sich im gro-ben Überblick in den folgenden Schritten: - Erweiterte Tonalität, - Atonalität,

Page 7: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 7

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

- Zwölftontechnik, - Serialismus, - Aleatorik, - Elektronische Musik/Musique concrète und - Programmierte Musik. Diese Systematik entspricht jedoch keineswegs einer zeitlichen Abfolge. So gibt es in der abendländischen Kunstmusik bei Strawinsky, Bartok oder Hindemith Werke, die sich mit einem erweiterten Tonalitätsbegriff den den überlieferten Normen der tonalen Harmonik entziehen (Dahlhaus, 1967 b), während andere Komponisten bereits atonal komponieren. Zwei Phasen der Restauration sind zwischen den innovativen Phasen 1905 bis1930 und 1950 bis 1965 zu erkennen. Auch muß der Begriff der erweiterten Tonalität differenziert werden: Im weiteren Sinn gebraucht, umfaßt er alle Phänomene zwischen reiner (Dur-Moll-)Tonalität und reiner Atonalität; im engeren und strengen Sinn läßt er sich nur auf Konzeptionen anwenden, die die neue Klanglichkeit schlüssig als Walten einer Tonalität darstellen wie bislang wohl nur Paul Hindemiths Unterweisung im Tonsatz (1937, s. unten). Zwischen reiner Tonalität und reiner Atonalität finden sich Modifikationen der Tonalität. Hierzu zählen Alterationen, Überterzung oder das Hinzufügen einer Sekunde an einen Dreiklangston (Ajoutierung), besondere Skalen oder Bi- und Polytonalität das Schwanken zwischen zwei oder mehr Tonarten. Von bloß scheinbarer Tonalität oder verschmutzter Atonalität könnte man bei Resten tonaler Klanglichkeit in einer ansonsten atonalen Musik sprechen. Die besonderen Skalen, durch die die Tonalität eingeschränkt sein kann, werden teils auf das Distanzprinzip zurückgeführt (wie die Ganztonleiter und andere äquidistante Oktavunterteilungen, aber auch die Skalen aus al-ternierenden Intervallen wie Messiaens modes), teils auf die Obertonreihe wie die akustische Tonalität, die auch als mährische Tonart bekannt ist und vor allem bei Skrjabin eine Rolle spielt (Gardonyi & Nordhoff, 1990). Tatsächlich im strengen Sinn erweitert ist die Tonalität bei Paul Hinde-mith (1937/39). Denn er gibt Terzaufbau, Umkehrbarkeit, Alteration und Mehrdeutigkeit der Akkorde auf; er arbeitet also nicht mehr mit terzge-schichteten Drei-, Vier-, Fünf- und Sechsklängen des diatonischen Systems und ihren Umkehrungen, sondern mit allen möglichen Zusammenklängen des chromatischen Systems. Zwischen deren Baß- und Grundton wird al-lerdings weiterhin unterschieden. Es gibt keine Tonart, kein Tongeschlecht

Page 8: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 8

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

und kein diatonisches System mehr, sondern nur noch ein tonales Zentrum. Hindemith kennt keine harmoniefremden Töne (Stimmführungsdissonan-zen) mehr, löst Dissonanzen nicht auf (ausgenommen den Tritonus) und kennt keine verminderten und übermäßigen Intervalle außer dem Tritonus, der entweder eine übermäßige Quart oder eine verminderte Quint ist. Die Akkorde werden hinsichtlich ihres Konsonanzgrades, ihrer Grundtondeut-lichkeit und hinsichtlich ihrer Selbständigkeit/Auflösungsbedürftigkeit klassifiziert (s. Tab.). Konsonanzgrad Grundtondeutlichkeit Auflösungsbedürftigkeit

ohne Sekunden und Septimen

Grundton im Baß Akkord selbständig: Akkord ohne Tritonus

nur mit kleiner Septime und/oder großer Sekunde

Grundton liegt in Mittel- bzw. Oberstimmen

Akkord auflösungs-bedürftig: Akkord mit Tritonus

mit großer Sept und/oder kleiner Sekunde

Grundton unbestimmbar

Die Harmonik reguliert sich durch das Gefälle der Konsonanzgrade und den Gang der Grundtöne, in dem sich die Tonalität ausprägt. Bei Klängen mit Tritonus ist dieser beim Fortschreiten in einen Klang ohne Tritonus aufzulösen: Der Tritonuston mit dem günstigsten Verhältnis zum Akkord-grundton soll mit einem möglichst günstigen Intervallschritt (Sekunde oder Einklang) in den Grundton des folgenden Akkords führen.

6. Atonalität

Die Atonalität wird von Arnold Schönberg (1911, S. 459 ff, und 1969, S. 193) mit der Emanzipation der Dissonanz, das heißt ihrer Gleichstellung mit der Konsonanz begründet (Dahlhaus, 1968). Anders als Hindemith ver-bindet Schönberg allerdings mit der Ablehnung des Zwangs zur Auflösung von Dissonanzen auch den Verzicht auf ein tonales Zentrum. Mit der Gleichstellung der Dissonanzen mit den Konsonanzen werden die Unter-schiede im Konsonanzgrad der Zusammenklänge keineswegs geleugnet. Schönberg will jedoch anders als Hindemith das Gefälle der Konsonanz-grade nicht als gültiges formbildendes Element anerkennen. Die freie Ato-

Page 9: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 9

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

nalität ist noch stärker als die erweiterte Tonalität durch die ständige Prä-senz aller zwölf Töne sowie die chromatische Stimmführung gekennzeich-net. Als spezifisch atonale Klangfortschreitung sind die Komple-mentärharmonik, in der die Töne aufeinanderfolgender Akkorde sich zum chromatischen Total ergänzen, und die Zentralklangtechnik beschrieben worden. Von freier Atonalität ist die Rede, wenn die Beziehung der Töne und Klänge untereinander in jedem Werk auf eine neue, nicht wiederholte Wei-se hergestellt wird. Gebundene Atonalität dagegen entsteht durch die von Schönberg erfundene Zwölftontechnik, die wieder größere Stücke sowie Rückgriffe auf traditionelle Techniken und Formen ermöglicht, oder in der seriellen Musik (vgl. Eggebrecht, 1967).

7. Reihentechnik: Zwölftontechnik und Serialismus

Grundlage und Ausgangspunkt der Zwölftontechnik ist die „Reihe“, ein frei gewähltes melodisches Gebilde, das alle zwölf Töne der temperierten Skala je einmal enthält, wobei nur die Tonqualitäten (sozusagen die Ton-namen), nicht aber deren Oktavlage festgelegt werden (vertiefend s. Ste-phan, 1957; Meyers Taschenlexikon, 1984, Artikel Zwölftontechnik). Die Reihe soll alle zwölf Töne enthalten, um der Musik einen möglichst großen Stufenreichtum zu sichern. Innerhalb der Reihe ist aber sowohl größtmög-liche Abwechslung der Intervalle als auch starke Bevorzugung bestimmter Intervalle möglich. Als Grenzfälle erscheinen sogenannte Allintervallreihen – das sind Reihen, die alle möglichen Intervalle von der kleinen Sekunde bis zur großen Septime aufweisen – und (musikalisch gesehen wertlos) die chromatische Skala, die lediglich aus kleinen Sekundschritten besteht. Die Reihe kann in vier verschiedenen Erscheinungsweisen auftreten: in ihrer Original- oder Grundgestalt, in der Umkehrung, im Krebs oder im Krebs der Umkehrung. Da jede Erscheinungsform der Reihe elfmal trans-ponierbar ist (nämlich auf allen zwölf Tonstufen erscheinen kann), stehen einer Reihenkomposition insgeamt 48 Reihengestalten zur Verfügung. Durchweg wird jedoch nur ein kleiner Teil dieser Reihengestalten für eine Komposition herangezogen. Die Funktion einer Reihe besteht darin, innerhalb einer Komposition Zu-sammenhang und Einheitlichkeit zu stiften. Deshalb werden sämtliche Ton-konstellationen (seien es Themen, Motive oder Klänge) aus einer Reihe

Page 10: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 10

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

bzw. deren unterschiedlichen Erscheinungsformen oder Transpositionen abgeleitet. Aus der Reihe gehen also nicht nur die horizontalen Melo-dielinien hervor, sondern auch die vertikalen Klangbildungen. Die kombinatorischen Möglichkeiten der Zwölftontechnik sind nahezu unbegrenzt, darum läßt sich ein allgemein verbindliches System von Re-geln kaum aufstellen. Die Regeln ergeben sich je aus der Besonderheit der Komposition. Komposition und Reihe stehen in einem wechselseitigen Ab-hängigkeitsverhältnis: So wie die Komposition aus der Reihe hervorgeht, so bestimmt die Idee der Komposition das Gefüge der Reihe. Die Grund-reihe hat die Funktion eines Motivs (Schönberg, 1969). Zusätzlich zu den Tonqualitäten werden in der Seriellen Musik weitere Eigenschaften (Parameter) des Tons wie Dauer, Lautstärke, Klangfarbe, Oktavlage einer eigenen festen Reihenfolge unterworfen. Später wird die-ses Prinzip sogar auf Tongruppen oder musikalische Einheiten wie Grup-pendauer, Tonumfang, Tönemenge und Dichte übertragen. Werden so die Parameter des Einzeltones (Tonpunktes) behandelt, spricht man mit Stock-hausen von punktueller Musik, bei serieller Regelung von Tongruppenpa-rametern von Gruppenkomposition. Der frühe Serialismus der punktuellen Musik krankt nach Koenig (1991, S. 48 f) an Schwierigkeiten, die die Chiffrierung der Reihe kaum zu über-decken vermag. Denn die Reihe bildet die Stufenverhältnisse in den einzel-nen Parametern unterschiedlich genau ab: sehr genau bei Tonhöhe und Dauer, nur vergleichbar bei der Lautstärke, überhaupt nicht bei numerierten Instrumenten. Deshalb sollte zwischen Proportionsreihe, Vergleichsreihen und Nummernfolgen unterschieden werden. Auch werden Dauerpro-portionen grundsätzlich anders aufgefaßt als Frequenzproportionen, weil sie nicht unmittelbar wie diese, sondern (wie jegliche Zeit) nur unter Mit-wirkung der Erinnerung erfahren werden können (Koenig, 1991, S. 178). Schließlich führen die Permutationen dazu, die Reihe(nfolge) als Werkzeug der Formbildung zu entkräften und die Reihe zu bloßem Material zu nivel-lieren (ebenda, S. 49 f). Dennoch wird am Reihenprinzip (an der Ausstufung und gesonderten Regulierung jedes Parameters) festgehalten, freilich unter ständiger Erwei-terung des Parameterbegriffs und seiner Anwendung auch auf Formkatego-rien. Dabei tritt zunehmend das gegenseitige Verhältnis der Parameter in Blickfeld (parametrisches Konzept). So können sie im Parameter Verände-rungsgrad zusammenwirken und unterliegen nur der Bedingung, daß sich

Page 11: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 11

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

ihr Stufenintervall mit denen der anderen Parameter zum jeweils geforder-ten Veränderungsgrad addiert. Oder es wird eine Parameterhierarchie zwi-schen Haupt- und Unterparametern bzw. zwischen Haupt- und Nebenpara-metern etabliert. Zum Beispiel könnte die Stufen eines Hauptparameters Ähnlichkeitsgrad in einem der Unterparameter Frequenzabstand, Teilton-zahl und Bandbreite realisiert werden, wobei die Wahl des Unterparameters seriell zu regeln wäre. Demselben Hauptparameter Ähnlichkeitsgrad, der eher Material ist, könnte ein eher formaler Nebenparameter Kontinuitäts-grad zugesellt werden, der in seinen Unterparametern Pausendauer, Maß der Überschneidung und Lautstärkeverhältnis realisiert werden.

8. Aleatorik

Aleatorik bezeichnet seit 1957 eine Kompositionsweise, bei der die Teile einer Komposition in bestimmter Weise vertauscht werden können und/oder in ihrer Ausführung variabel sind (Karlheinz Stockhausen, Kla-vierstück XI, 1956; Pierre Boulez, 3. Klaviersonate, 1957), häufig auch die gänzlich mittels Zufallsoperationen hergestellte experimentelle Musik von John Cage und die musikalische Graphik (Frobenius, 1976). Will Cage „die Töne zu sich selbst kommen lassen, anstatt sie für den Ausdruck von Ge-fühlen, Ideen oder Ordnungsvorstellungen auszubeuten“, so erstreben Stockhausen, Boulez und Koenig die offene (mehrdeutige) Form; Hermann Heiß und Franco Evangelisti wiederum wollen die Aleatorik in die reine Gruppenimprovisation überführen. Aleatorik wurde vielfach als dialektischer Umschlag von der totalen De-termination ins entgegengesetzte Extrem (Indetermination) oder als prakti-sche Konsequenz aus dem Umstand betrachtet, daß schon die totale Deter-mination der historisch ihr vorausgehenden seriellen Musik zu unvorher-sehbaren Ergebnissen führte (Ligeti, 1960). Gottfried Michael Koenig (1992, S. 300-315) begreift sie, da das Maß der Zufälligkeit durch Wieder-holungsverbote oder -gebote bestimmt werden kann, als Extremfall des Se-rialismus. Ihm zufolge ist der Zufall nicht von außen und als etwas System-fremdes in den Serialismus eingedrungen; vielmehr war er zwar anfangs unbeachtet, doch nie gänzlich ausgeschlossen und hat die Entwicklung des Serialismus seinen Spielraum ständig erweitert. In welchem Maß auch immer eine Komposition determiniert sein mag, sie kennt doch Momente, in denen es mehrere gleichberechtigte Fortschrei-

Page 12: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 12

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

tungsmöglichkeiten gibt, zwischen denen (vom System her gesehen) der Zufall entscheidet. Neben solchen sozusagen systemimmanenten Ambigui-täten gibt es aber auch Freiheiten, die geradezu systemkonstitutiv sind – z. B. bei der Realisierung von Veränderungsgraden, die als Stufen eines Strukturparameters nicht zuletzt durch die Freiheit seiner Unterparameter deutlich werden. Erweist sich die Aleatorik so als bloße Erweiterung des Serialismus, so kann auch umgekehrt der Serialismus als Spezialfall der Aleatorik betrach-tet werden (was grundlegend für Koenigs programmierte Musik ist). Denn faßt man die Aleatorik als Zufall, der durch Wiederholungsver- und -gebote eingeschränkt ist (das Wiederholungsverbot besagt, nach wievielen anderen Elementen ein Element erst wiederkehren darf, das Wiederholungsgebot, wie oft es in ununterbrochener Folge auftreten muß), so erscheint die seriell determinierte Entscheidung nur als Spezialfall der aleatorischen. Unterliegt (nach Koenig 1992, S. 357-379) die Reihe der seriellen Komposition (im engeren Sinn) der systematischen Permutation, die an prinzipielle Bedin-gungen wie Vollständigkeit und Unwiederholbarkeit der Elemente gebun-den ist, so die Datenliste der aleatorischen Komposition einer aleatorischen Permutation, für die diese Bedingungen nicht bestehen. System-Komposition, für die der Serialimus exemplarisch ist, wie auch Zufalls-Komposition können in dreierlei Weise gebraucht werden: als Blickpunkt, als Folie und als Indikator. Im Blickpunkt stehend liefern das System das Erwartete und der Zufall das Unerwartete; als Folie dienen das System dem Zufall und der Zufall dem System; und als Indikator markieren das System die Gesetzlichkeit und der Zufall seinen Spielraum. Exponieren System-Kompositionen „ihren Regelcharakter meistens so weit, daß der hörende Komponist die einzelnen Strukturen als die Stufen eines Strukturparameters empfindet“, so provozieren Zufallskompositionen die „Beobachtung engster Nachbarschaften, die auf ihre je eigene Weise aufeinander reagieren“ (d. h., sich dis- und assoziieren im Lauf der Durch-führung und schließlich in ein endgültiges Verhältnis zueinander treten). Sind System-Komposition und Zufalls-Komposition schon an sich in je eigener Weise eingeschränkt – die System-Komposition durch die Mehr-dimensionalität ihrer Strukturen und die Zufalls-Komposition schon durch geringste Ansätze zur Formbildung -, so unterliegen sie darüber hinaus auch gleichermaßen der unwillkürlichen Transformation durch den Hörer, die das System in seiner Wirkung schwächt und den Zufall als System von

Page 13: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 13

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

Beziehungen erscheinen läßt. (Dieser unwillkürlichen Transformation durch den Hörer tragen Konzeptionen Rechnung, die die Form als Leer-schema für die vom Hörer wahrgenommenen Beziehungen gestalten.) Als ein konkretes Beispiel für die Gestaltungsmöglichkeiten der Aleato-rik sei der Rhythmus betrachtet. Dieser kann periodisch oder aperiodisch sein. Wie bei der Periodizität gibt es auch verschiedene Grade der Aperio-dizität. Parameter der Aperiodizität sind nach Koenig (1991, S. 233) (1) die Zahl der Werte, (2) ihre Proportionen (Intervalle) und (3) das Verhältnis zwischen kleinstem und größtem Wert (Ambitus). Mit den Werten dieser Parameter steigt der Grad der Aperiodizität, wobei aber Wechselwirkungen zu beachten sind: Eine große Zahl von Werten verkleinert ihre Intervalle; große Intervalle erfordern einen entsprechenden Ambitus usw.

9. Elektronische Musik

Die Pariser Schule um Pierre Schaeffer ließ Musik auf elektronische Weise entstehen, indem sie reales Klangmaterial wie Straßengeräusche, Wasser-tropfen, Vogelgezwitscher usw. verwendete und dann nach musikalischen Klangeigenschaften mittels Collagetechnik zur musique concrète zusam-mensetzte. Im Gegensatz dazu vertrat die Kölner Schule (Herbert Eimert, Karlheinz Stockhausen, Gottfried Michael Koenig) ursprünglich die Ansicht, daß elektronisches Material abstrakt sein und nach strukturellen Gesichtspunk-ten zusammengesetzt werden müsse. Elektronische Musik habe ausschließ-lich auf elektrischem Weg zu entstehen. Als Klangquellen dienten elektri-sche Generatoren für periodische und aperiodische Schwingungsformen (Sinuston, weißes Rauschen, Impuls). Durch Filterung, Transposition, Ver-hallung, Modulation und Zerhackung wurde dieses Material umgewandelt und deformiert. Elektronische Musik entstand keineswegs aus dem Wunsch, das Kon-zertpublikum mit neuen Klänge zu schockieren. Es sollten vielmehr Klänge geschaffen werden, die mit traditionellen Instrumenten nicht herbeigeführt werden konnten (König, 1992, S. 395). Zunächst versuchte man, verschie-dene Klangfarben in Form einer Skala anzuordnen gleich den Skalen der Tonhöhen, Dauern und Lautstärken. Später verstand man die Klangfarbe als das Zusammentreffen solcher Einzelwerte – nicht als ablösbare Ei-genschaft, sondern als Ergebnis. Das Bildungsgesetz der Klänge sollte auf

Page 14: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 14

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

engste mit dem Bildungsgesetz der Form zusammenhängen, die das ganze Stück ausmacht (Koenig 1991, S. 51). Die Frequenzproportionen der Teil-tonstrukturen wurden seriell determiniert; die Klangfarbe sollte „als Resul-tierende aus einer abstrakten Matrix“ erscheinen, der elektronische Klang kein weiterer Instrumentalklang sein, sondern „zu seiner eigenen Negation komponiert“ werden (Koenig 1991, S. 176). Als die neuen elektronischen Klangfarben dennoch Instrumen-talcharakter aufwiesen, nämlich individuiert und stationär waren und die Konstruktion verdeckten, aus der sie resultierten, wurde ein inwendig strukturierter, variabler Klang gefordert, in dem ein ganzer musikalischer Ablauf präsent wird, so daß ein ganzes Stück als Klang erscheinen kann. Ziel war die in Konturen gesetzte, bewegte Farbe; melodische, harmoni-sche und rhythmische Verläufe sollten übergehen an einen Farbfluß (Koe-nig, 1991, S. 294 und 1992, S. 78). Die Lösung des Problems, zu der Koenig bei der Auseinandersetzung mit Stockhausens Zeittheorie gelangte, bestand in der „mikrozeitlichen Auflösung des Klangverlaufs“ (Dibelius, 1966, S. 170). Der Klangverlauf wurde als Anordnung von Amplitudenwerten in der Zeit bestimmt: „einer bestimmten Anordnung von Zeit- und Amplitudenwerten entspricht eine bestimmte Dauer, eine bestimmte Klangfarbe, eine bestimmte rhythmische und dynamische Artikulation“; und diese Anordnung war nach den glei-chen Prinzipien zu komponieren wie die Makrostruktur, so daß Zeitstruktu-ren als Klang hörbar würden und der Klang Resultat eines Kompositions-prozesses wäre (Koenig, 1991, S. 278, und 1993, S. 10 f). Während Koenig an dieser ursprünglichen Konzeption der elektroni-schen Musik festhielt, wurde von anderen (z. B. von Stockhausen) alles als Klangmaterial zugelassen, was sich auf Tonband aufnehmen ließ: Sprache, Geräusche, Nationalhymnen, Vogelgesänge, Fabriklärm usw. Das ent-scheidende Kriterium der elektronischen Musik war nun nicht mehr das reine Material, sondern die elektronische Verarbeitungsweise des Materi-als. Die Kompositionsweise traf sich hierin mit den Methoden der Musique concrete. Besondere Bedeutung erlangte bald elektronische Musik innerhalb nicht-elektronischer Vokal- und Instrumentalmusik. Von Tonbandgeräten wird semantisch eindeutigeres musikalisches Material zugespielt und hierdurch die Aussage von Kompositionen verdeutlicht. Ähnliche Kompositionsver-fahren wurden auch in der über Schallplatte verbreiteten Unterhaltungs-

Page 15: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 15

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

und Rockmusik üblich, je mehr die Beat- und Popmusik sich an Stu-dioproduktionsweisen orientierte (bei den Beatles ab etwa Mitte der 60er Jahre). Bei der seit Mitte der 60er Jahre bevorzugten Live-Elektronik wird die elektronische Klangerzeugung mit instrumentalen Klängen bei der Auffüh-rung verknüpft. Dies geschieht z. B. dadurch, daß konkretes Klangmaterial mit durch Generatoren erzeugten Sinustönen verschmolzen wird. Oder man nimmt instrumental erzeugte Klänge über Mikrophon auf und verteilt sie bei entsprechender Lautsprecheraufstellung im Raum. Das Prinzip der Spannungssteuerung, das Ende der 60er Jahre mit dem Synthesizer Ein-gang in die Live-Elektronik fand, ermöglicht die live-elektronische Realisa-tion auch komplexerer Schwingungsformen sowie die Verkoppelung und direkte Steuerung einzelner Klangquellen untereinander in ihren verschie-denen Parametern. Seit Anfang der 80er Jahre werden auch Computer für live-elektronische Steuerungs- und Transformationsprozesse benutzt (zur Vertiefung s. Humpert, 1987; Darstellung in Anlehnung an Meyers Ta-schenlexikon, 1984, Artikel Elektronische Musik und Live-Elektronik; ak-tuelle Entwicklung in Knolle, 1995).

10. Lehrbücher

Die Inhalte der abendländischen Kompositionslehre sind heute dem Fach Musiktheorie zugeordnet, das eigentlich treffender als musikalische Satz-lehre zu bezeichnen wäre. Meist werden die Inhalte nicht in der histori-schen Reihenfolge ihrer Genese gelehrt, sondern gemäß ihrer Bedeutung für das 19. Jahrhundert, als sich das Lehrfach Musiktheorie konstituierte. Meist folgen nacheinander die allgemeine Musiklehre als Propädeutik, die Harmonielehre, der Kontrapunkt und die Formenlehre. Rhythmus- und Me-lodielehre werden nicht gesondert unterrichtet. Allgemeine oder elementare Musiklehren sollen den Laien in die musik-theoretischen Grundlagen einführen. Bis vor kurzen waren die Lehrbücher weithin dem Physikalismus verpflichtet, orientierten sich am Prinzip der Partialtonreihe und betrachteten nur physikalische Gegebenheiten wie In-tervalle, Quintenzirkel u. ä. als Grundlagen. Bei Clemens Kühn (1981) wird jedoch auch die Geschichtlichkeit der musikalischen Phänomene, das Wesen des Kunstwerks oder der Sinn von Formen behandelt.

Page 16: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 16

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

Die Harmonielehren herkömmlicher Art lehren weithin einen stilistisch heterogenen und anonym scheinenden, möglichst systematisch oder gar „naturgesetzlich“ begründeten strengen Satz, der in dieser Weise zu keiner Zeit praktiziert wurde. Dies gilt im Grunde auch für das am weitesten ver-breitete Werk von Wilhelm Mahler (1931). Seine aus der Arbeit von Hugo Riemann abgeleiteten Funktionsbezeichnungen haben sich allgemein durchgesetzt und müssen schon deshalb berücksichtigt werden. Demge-genüber differenziert Diether de la Motte (1976) zwischen den ver-schiedenen Stadien der Harmonik: vom homophonen Satz des frühen 17. Jahrhundert über die Bach-Zeit, die Klassik, Schubert, Schumann, Wagner, Liszt, die Oper, Debussy bis zur Neuen Musik (Schönberg, Webern, Hin-demith und Messiaen). De la Motte macht sinnfällig, „daß Klänge und Klangfolgen im Laufe der musikgeschichtlichen Entwicklung immer weni-ger anonymes, jedem zur Verfügung stehendes Material bleiben und immer mehr Gegenstand individueller Erfindung werden“ (1976, S. 11; → Analy-se). Obwohl seit 1600 immer wieder versucht wird, die Kontrapunktlehre dem jeweils herrschenden Stil anzupassen (z. B. Bernhard, um 1648/49; Kirnberger, 1771; Hindemith, 1937; Krenek, 1940; Pepping, 1943-56) , wird im Unterricht überwiegend der Palestrinastil als Beispiel herangezo-gen, dessen Regelhaftigkeit und Strenge als beispielhaft gilt. Von seinen Kodifikationen war gewiß die von Johann Joseph Fux (1725) die erfolg-reichste, wenn auch Knud Jeppesens Lehrbuch (1930) Palestrinas Stil sehr viel genauer trifft. Anders als diese verzichtet Diether de la Motte (1981) auf den dort grundlegenden Cantus-firmus-Satz und die etüdenhaften Gat-tungen des Kontrapunkts und lehrt vielmehr drei verschiedene Kontra-punkt-Sprachen: die Sprache Josquins, die Sprache von Johann Sebastian Bach (bei der er bereits die Kenntnis der Harmonielehre voraussetzt) und die Sprache der Neuen Musik. Er strebt somit eine ähnliche historische Dif-ferenzierung an wie in seiner Harmonielehre. Die meisten Formenlehren wollen ihre Benutzer mit den gängigsten Formschemen vertraut machen, damit sie diese in der Musik wiedererken-nen. Dabei wird nicht selten versucht, die Formen systematisch voneinan-der abzuleiten, wodurch sie als geradezu naturnotwendig erscheinen kön-nen. Seltener wird dem Leser klargemacht, daß nicht nur darum gehen kann, die Formschemata zu erkennen, sondern auch darum, ihren jeweili-gen Sinn im konkreten Fall der musiksprachlichen Bedingungen zu erfas-

Page 17: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 17

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

sen. So verbindet etwa Clemens Kühn (1987) formale, historische, stilisti-sche und gattungstypische Aspekte in einem weitgespannten historischen Rahmen, der von der Gregorianik bis zur Musik der Gegenwart reicht. Es ist nur konsequent, wenn andere Autoren (wie schon Erwin Ratz, 1951) die Formenlehre in die → Analyse überführen. Genannt seien Die-ther de la Mottes Musikalische Analyse (1968) – ein Buch, das nicht zuletzt durch die darin enthaltenen kritischen Anmerkungen von Carl Dahlhaus bemerkenswert ist – sowie seine Melodielehre (1993). Es liegt auf der Hand, daß alle diese Lehrbücher, selbst wenn sie das 20. Jahrhundert berücksichtigen, primär der historischen Kompositionslehre gewidmet sind. Ähnlich entwickelte und Allgemeingültigkeit beanspru-chende Lehrbücher für die Musik nach 1950 gibt es nicht und kann es wohl auch nicht geben. Immerhin können einige Texte von Gottfried Michael Koenig dank ihrem didaktischen Zweck einen gewissen Ersatz bieten, so die Bilthovener Vorlesungen aus den Jahren 1961 bis 1964 und seine Bei-träge von 1969 und 1970/75 (s. Koenig, 1991 ff). Sie weisen ein unge-wöhnliches Maß an kompositorischer Reflexion auf und zeugen auch hier-durch von ihrer zentralen Stellung in der abendländischen Tradition. Literatur Bernhard, C. (um 1648/49). Tractatus compositionis augmentatus. In Müller-Blattau, J.

(Hg.) (1926), Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schü-lers Christoph Berhard. Leipzig (2. Aufl. 1963 Kassel: Bärenreiter).

Campian, T. (1613). A New Way of Making Foure Parts in Counter-Point. London: Printed by T.S. for Browne.

Czerny, C. (1837). Vollständige theoretisch-praktische Kompositionslehre. Wien: Uni-versal.

Dahlhaus, C. (1967a). Harmonielehre; Formenlehre; Tonalität. In Eggebrecht, H. H. (Hg.), Riemann Musiklexikon Sachteil. Mainz: Schott.

Dahlhaus, C. (1967b). Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonali-tät (Saarbrücker Studien zur Musikwissenschaft, Bd. 2). Kassel: Bärenreiter.

Dahlhaus, C. (1968). Emanzipation der Dissonanz. In Burde, W. (Hg.), Aspekte der Neuen Musik (Staatliches Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz) (S. 30-37). Kassel: Bärenreiter

Dahlhaus, C. (1978). Der rhetorische Formbegriff H. Chr. Kochs und die Theorie der Sonatenform. Archiv für Musikwissenschaft 35, 155-177.

Dibelius, U. (1966). Moderne Musik 1945-1965. München: Piper. Eggebrecht, H. H. (1967). Atonalität. In Eggebrecht, H. H. (Hg.), Riemann Musiklexi-

kon Sachteil. Mainz: Schott.

Page 18: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 18

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

Frobenius, W. (1976). Aleatorisch, Aleatorik. In Eggebrecht, H. H. (Hg.), Handwörter-buch der musikalischen Terminologie, Wiesbaden/Stuttgart: Steiner

Fux, J. J. (1725). Gradus ad Parnassum. Wien: Van Ghelen, dt. (mit Anm.) von L. C. Mizler (1742). Leipzig: Mizler.

Gárdonyi, Z. & Nordhoff, H. (1990). Harmonik. Wolfenbüttel: Möseler. Halm, A. (1913). Von zwei Kulturen der Musik. München: G. Müller. Hindemith, P. (1937/1939). Unterweisung im Tonsatz. 2 Bde. Mainz: Schott. Humpert, H. U. (1987). Elektronische Musik. Geschichte – Technik – Kompositionen.

Mainz: Schott. d’Indy, V. (1903-1905). Cours de composition musicale. 4 Bde. Paris: Durand. Jeppesen, K. (1930). Kontrapunkt, Lehrbuch der klassischen Vokalpolyphonie, dän.

Kopenhagen: Levin & Munksgaard (dt. 1935 Leipzig: Breitkopf & Härtel) Kirnberger, J. P. (1771-79). Die Kunst des reinen Satzes in der Musik. Teil 1 1771 Ber-

lin: Voss, 1774 Berlin/Königsberg: Decker/Hartung, Teil 2 1776 ebd., Teil 1 und 2 1793 Wien: Typographische Gesellschaft

Knolle, N. (1995). Neue Technologien im Musikunterricht. Habil. Universität Olden-burg.

Koch, H. C. (1782, 1787-1793). Versuch einer Anleitung zur Composition. Bd. 1. Ru-dolstadt: Löwe & Schirach, Bd. 2-3. Leipzig: Böhme.

Koch, H. C. (1811). Handbuch bey dem Studium der Harmonie. Leipzig: Hartknoch. Koenig, G. M. (1991 ff). Ästhetische Praxis. Texte zur Musik. Bd. 1 (1991) 1954-1961;

Bd. 2 (1992) 1962-1967; Bd. 3 (1993) 1968-1969; Bd. 4 (in Vorb.) Supplement I, Pro-tokoll und Briefe; Bd. 5 (in Vorb.) Nachträge. (Quellentexte zur Musik im 20. Jahr-hundert). Saarbrücken: Pfau.

Krehl,S. (1902). Musikalische Formenlehre (Kompositionslehre). 2 Teile. Leipzig: Gö-schen.

Krenek, E. (1952). Zwölfton-Kontrapunkt-Studien. Mainz: Schott (Orig. 1940). Kühn, C. (1981). Musiklehre. Laaber: Laaber. Kühn, C. (1987). Formenlehre der Musik. München/Kassel: dtv/Bärenreiter. Kurth, E. (1913). Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik und der tonalen

Darstellungssysteme. Bern: Haupt. Ligeti, G. (1960). Wandlungen der musikalischen Form. In die reihe. Bd. 7. Wien: Uni-

versal Edition, S. 5-17. Lippius, J. (1612). Synopsis musicae novae. Staßburg: Ledertz. typis Kieffer. Maler, W. (1931). Beitrag zur durmolltonalen Harmonielehre. Bd. 1 (6. Aufl. 1967).

München: Leuckart. Marx, A. B. (1837-1847). Die Lehre von der musikalischen Komposition. 4 Bde. Leip-

zig: Breitkopf & Härtel. Meyers Taschenlexikon Musik (1984), Hg. von Eggebrecht, H. H. 3 Bde. Mannheim:

Bibliographisches Institut. Motte, D. de la (1968). Musikalische Analyse. Text- und Notenteil. Kassel: Bärenreiter.

Page 19: Frobenius Kompositionslehre

Grundkurs Musikwissenschaft – 6. Teil: Musik herstellen 19

Frobenius Wolf: Abendländische Kompositionslehre

Motte, D. de la (1981). Kontrapunkt. München/Kassel: dtv/Bärenreiter. Motte, D. de la (1985). Harmonielehre (1. Aufl. 1976). München/Kassel: dtv/Bärenrei-

ter. Motte, D. de la (1993). Melodie. Ein Lese- und Arbeitsbuch. München/Kassel: dtv/Bä-

renreiter. Pepping, E. (1943-57). Der polyphone Satz. 2 Bde. Berlin: Göschen. Prout, E. (1895). Applied Forms. London: Augener. Rameau, J. P. (1722). Traité de l'harmonie réduite à ses principes naturels. Paris: Bal-

lard. Rameau, J. P. (1726). Nouveau système de musique théorique. Paris: Ballard. Ratz, E. (1951). Einführung in die musikalische Formenlehre. Wien: Österreichischer

Bundesverlag für Unterricht, Wissenschaft und Kunst. Reckow, F. (1986). processus und structura. Über Gattungstradition und Formverständ-

nis im Mittelalter. Musiktheorie. Bd. 1, S. 115-143. Reicha, A. (1824-1826). Traité de haute composition musicale. 2 Bde. Paris: Costallat,

dt. von Carl Czerny zusammen mit Cours de composition als „Vollständiges Lehrbuch der musikalischen Komposition“, 4 Bde, 1834 Wien: Diabelli.

Riemann, H. (1889). Handbuch der Kompositionslehre. 2 Bde. Berlin: Hesse. Riemann, H. (1893). Vereinfachte Harmonielehre oder der Lehre von den tonalen

Funktionen der Akkorde. London/New York: Augener-Schirmer. Rösing, H. (1993). Sonderfall Abendland. In Bruhn, H., Oerter, R. & Rösing, H. (Hg.),

Musikpsychologie. Ein Handbuch. Reinbek: Rowohlt (3. Aufl. 1997). Scheibe, J. A. (1737-40). Der critische Musicus. Hamburg: Wiering. Schönberg, A. (1911). Harmonielehre. Wien: Universal Edition. Schönberg, A. (1957). Die formbildenden Tendenzen der Harmonie. Mainz: Schott

(Orig. engl. 1954, zit. nach der revid. Vers. 1969). Sechter, S. (1853-1854). Die Grundsätze der musikalischen Komposition. 3 Bde. Leip-

zig: Breitkopf & Härtel. Stephan, R. (1957). Zwölftontechnmik. In Stephan, R. (Hg.), Fischer Lexikon Musik.

Frankfurt/M.: Fischer. Tinctoris, J. (1477). Liber de arte contrapunctus. In Coussemaker, E. de (Hg.), Scripto-

rum de musica medii aevi nova series. Bd. 4, S. 76-153. Paris: Durand, 1869. In Seay, A. (Hg.), Johannis Tinctoris Opera theoretica (Corpus Scriptorum de musica 22, Bd. 2, S. 11-157). Rom: American Institut of Musicology, 1975-1978.

Zarlino, G. (1558). Istitutioni harmoniche. Venedig: Francesco de i Franceschi Senese.