Fürsorgliche Praxis und gesellschaftliche Entwicklung ... · Pierre Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg 2013 Eva Senghaas-Knobloch: Beispiellos und herausfordernd

Eva Senghaas-Knobloch

artec Forschungszentrum Nachhaltigkeit

Fürsorgliche Praxis und gesellschaftliche Entwicklung jenseits des fordistischen

Wachstumsmodells

Prof. Dr. Eva Senghaas-Knobloch

Gleichstellungstagung des WSI, Berlin 2013


„Geh oft nach Haus zu Besuch…“(Debatte über kindliche Pietät in der Volksrepublik

China, Gesetz vom Dezember 2012)

Die moderne Arbeitsgesellschaft zehrt von sozialen Voraussetzungen, die sie selbst nicht herstellen kann:

fürsorgliche Praxis

2 Eva Senghaas-Knobloch: Fürsorgliche Praxis


Fürsorgliche Praxis

antwortet auf existenzielle Angewiesenheit

meint das Gesamt der lebensnotwendigen Sorgetätigkeiten für andere Menschen

verbindet sich mit einem Ethos der Anteilnahme und Verantwortlichkeit

ist durch die gesellschaftliche Organisation von Arbeit und fürsorglicher Praxis geprägt



Fürsorgliche Praxis und gesellschaftliche Entwicklung jenseits desfordistischen Wachstumsmodells

1. Historizität der gesellschaftlichen Organisation fürsorglicher Praxis

2. Die „postfordistische“ Wettbewerbsgesellschaft und die Krise fürsorglicher Praxis

3. Ansätze zur Überwindung der Krise fürsorglicher Praxis





Elisabeth in Marburg, Universitätsmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Marburg 2007


Fordistisch geprägte Industriegesellschaften

�Regime der standardisierten Massenproduktion für Massenkonsumtion

in Verbindung mit einem

�Regime der Trennung von Geschlechterzuständigkeiten





Fordistisch geprägtes Geschlechterregime

�Alltägliche Fürsorgetätigkeiten galten als Zuständigkeit der Frauen innerhalb der Familien

�Sozialpolitisch gestützt durch das klassisch-bürgerliche Modell des „männlichen Familienernährers“ (im Westen)

�Auf Rechtsverhältnissen der ehelichen Geschlechtsvormundschaft aufbauend




Postfordistisch geprägte Wettbewerbsgesellschaften

Das Modell des männlichen Familienernährers wird brüchig durch

� die weltweite Politik der Deregulierung und Ausdehnung des Marktprinzips

� die Unterordnung der Erwerbsarbeit und ihre Flexibilisierung

� die Rücknahme familienbezogener Entgeltbestandteile




Postfordistische Wettbewerbsgesellschaften

In der offiziellen Beschäftigungspolitik in der EU wurden die emanzipativen Bestrebungen der Frauen vereinnahmt:

Das neue allgemeine Erwerbsbürgermodell (adult worker model)

wird wettbewerbspolitisch begründet

Lebensnotwendige Fürsorgetätigkeiten werden nicht allgemein verpflichtend, mit der Folge von Fürsorgelücken und Fürsorgekrisen



Bewältigungsformen der Sorgeaufgaben

� Freistellungen von Erwerbsarbeit

� Atypische Beschäftigungsformen / individuelle Arbeitszeitverkürzung

� Professionalisierung und Ökonomisierung der Fürsorgetätigkeiten

� Verschiebung des Sorgeproblems


2. Die postfordistische Wettbewerbsgesellschaft und die Krise fürsorglicher Praxis



Probleme bei Freistellungen

* Keine verallgemeinerungsfähige ökonomische Tragfähigkeit

* Unzureichende Unterstützung der sorgenden Frauen und Männer

* Gefahr des Verlusts erworbener beruflicher Qualifikationen

* Hauptzuständigkeit für Sorge bei den Frauen wird bestärkt




Atypische Beschäftigung� Erwerbstätige nach Erwerbsform und Geschlecht in % 1991 und 2011


Quelle: Statistisches Jahrbuch 2012, S. 352


2. Die postfordistische Wettbewerbsgesellschaft und die die Krise fürsorglicher Praxis

Atypische Beschäftigung - Teilzeit in der EU 2010


In Prozent der Gesamtbeschäftigung der 15-64-Jährigen;Quelle: Eurostat Labourmarket Statistics 2011, S. 27


Atypische Beschäftigung

�Die Teilzeitquote von Müttern mit jüngstem Kind unter 14 Jahren betrug 2010 knapp 69 %, die der Väter knapp 5 %

Quelle: destatis, M. Keller 2012, 35





Professionalisierung und Ökonomisierung der Sorgetätigkeiten (Beispiel Pflege)

85 bzw. 88 % der Beschäftigten im Pflegeberuf sind Frauen

Atypische Beschäftigungsformen (Teilzeit, Minijobs, Leiharbeit) steigen in der beruflichen Pflege anDer Teilzeitanteil beträgt 61 % in Pflegeheimen, 70 % in ambulanten PflegedienstenQuelle: Stat. Bundesamt, Pflegestatistik 2011, Deutschlandergebnisse, Wiesbaden 2013, S. 10ff

Kennzeichen für einen „niedrigen gesellschaftlichen Entwicklungspfad“(Lehndorff) im Unterschied zu skandinavischen Ländern




Die Politik gleichzeitiger Professionalisierung und Ökonomisierungist widersprüchlich und beachtet unzureichend

• die unsichtbaren Anteile guter Fürsorgetätigkeiten (Beziehung)

• die Verletzbarkeit des Ethos in der Fürsorgebeziehung durch schlechte Arbeitsbedingungen

• die Vereinbarkeitsprobleme angesichts konfliktiverFlexibilitätsanforderungen in Beruf und privater Fürsorge

• die Unterbewertung aller Fürsorgetätigkeiten



Ökonomisierung und Professionalisierung - Berufstreue in Pflegeberufen im Vergleich zu anderen erlernten Berufen in Berlin

Daten: Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (am Arbeitsort) jeweils am 30.06. eines Jahres (Quelle: D. Wiethölter, IAB Regional 3/2012, S. 20)

2. Die postfordistische Arbeitsgesellschaft und die Krise fürsorglicher Praxis



2. Die postfordistische Arbeitsgesellschaft und die Krise fürsorglicher Praxis

Bewältigung durch Ökonomisierung und Professionalisierung - Berufstreue im Erzieher_inberuf im Vergleich zu anderen erlernten Berufen in Bayern

(Quelle: S. Böhme , L. Eigenhüller, IAB Regional 1/2013, S. 36)




Verschiebung des Sorgeproblems

Im Haushalt sind auf meist informeller Basis (geschätzt)

� in den Industrieländern zwischen 1 und 2,5 Prozent der Gesamtbeschäftigung beschäftigt

� in Deutschland insgesamt ca 2,5 Millionen; davon angemeldet im Jahre 2009: 36.000 sozialversichert und 200.000 geringfügig

� In vielen Regionen, auch in Europa sind die meisten Hausangestellten Migrantinnen ohne Arbeits- und Sozialschutz



Internationale Arbeitsorganisation (ILO): Übereinkommen 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte

Social Platform der EU: Empfehlungen für eine fürsorgliche Gesellschaft (caring society)





ILO Übereinkommens 189 menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte von 2011 als Teil der Decent Work Agenda

Als „Hausangestellte“ gelten Personen, die Haushaltsarbeit als Erwerb verrichten, dazu gehört auch Grundpflege

Hauptziele: rechtliche und faktische Gleichstellung der Hausangestellten mit allen anderen ArbeitnehmerInnen, grundlegende Rechte bei der Arbeit, Sozialschutz und Sozialdialog

Nicht abgedeckt: Selbständige




Notwendige Rechtsvorschriften und Maßnahmen bei Ratifizierung von Ü 189

� Mindestalter

� Schutz vor Missbrauch

� Faire Beschäftigungsbedingungen und Infos über Art der Arbeit, Entlohnung, Arbeitszeit, Urlaub und Ruhezeiten, Probezeit, Rückführungsbedingungen, Kündigungsfristen

� Vorherige Stellenbeschreibung oder Arbeitsvertrag (bei Migration außerhalb der EU)

� zum Wohnen innerhalb des Haushalts

� Gleichbehandlung mit anderen Arbeitnehmern hinsichtlich Arbeitszeiten und Mindestlohn sowie Auszahlungsweise

� Arbeitsschutz, Sicherheit und soziale Sicherung

� private Vermittlungsagenturen

� Arbeitsaufsicht und Beschwerdemechanismen



Umsetzungsprobleme des ILO-Übereinkommens 189 in Deutschland:

Ungeschützte 24-Stunden-Pflege

Geringes Problembewusstsein bei verbreiteter Schwarzarbeit und bei

Irregulären Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen von Migrantinnen




Social Platform der EU: Recommendations on Care (von 2011):

Fürsorge zu geben und zu empfangen ist ein Menschenrecht und bedarf der

� Achtung der Grundrechte von FürsorgeempfängerInnen (Qualität)

� Achtung der Grundrechte von Betreuenden und Pflegenden (Vereinbarkeit der Lebenssphären)

� Investition in Betreuungs- und Pflegedienstleistungen („soziale Rendite“)

� menschenwürdigen Arbeitsbedingungen, hochwertiger Beschäftigung und staatsbürgerlicher Rechte für alle Betreuungs- und Pflegekräfte (J. Tronto)





Ein Wandel zur „fürsorglichen“ Gesellschaft („caring society“) erfordert

ein Verständnis von fürsorglicher Praxis und professionellen Sorgetätigkeiten als „öffentlichen Beziehungsgütern“

(Nussbaum, Rosanvallon)

eine Neubegründung des Vertrauens in staatliche Institutionen solidarischer Umverteilung (z.B. Steuern, Sozialversicherung)



Literaturhinweise und Quellen

� Nancy Fraser: Die halbierte Gerechtigkeit, Frankfurt/M 2001, S. 67ff� Susy Giullari /Jane Lewis: The Adult Worker Model Family, Gender Quality and Care. UNRISD, Social Policy and

Development Programme paper Nr. 19, 2005� Friedrich Kambartel: Arbeit und Praxis. Zu den begrifflichen und methodischen Grundlagen einer aktuellen politischen

Debatte, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Hg. 41, 1993, H. 2.� Heintze, Cornelia (2012): Auf der Highroad – der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem. Ein

Vergleich zwischen fünf nordischen Ländern und Deutschland. Friedrich-Ebert Stiftung Diskurs, Juli 2012� Christel Kumbruck, Mechthild Rumpf, Eva Senghaas-Knobloch (mit einem Beitrag von Ute Gerhard): Unsichtbare

Pflegearbeit. Fürsorgliche Praxis auf der Suche nach Anerkennung, Berlin: Lit Verlag 2010� Pierre Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg 2013� Eva Senghaas-Knobloch: Beispiellos und herausfordernd – ein internationaler Arbeitsstandard für menschenwürdige

Arbeit, in: Feministische Studien 1/2011� Eva Senghaas-Knobloch: Von informeller Ökonomie bis zu atypischer Beschäftigung – weltweite Herausforderung für die

Gestaltung menschenwürdiger Arbeit, in: Johannes Wallacher u.a. (Hg.): Weltprobleme, München: Bayerische Landezentrale für politische Bildung 2013

� Sorgeverhältnisse, Schwerpunktheft der Feministischen Studien 2/2013 im Erscheinen� WSI-Nachrichten 2013

� http://www.ilo.org/berlin/presseinformationen/WCMS_209587/lang--de/index.htm� http://issuu.com/social_platform/docs/2012-12-17_social_platform_empfehlungen_fuer_pfleg


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