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Gedenkveranstaltung für die Opfer von Kundus am 4. September 2010 in der Heilig-Kreuz-Kirche, Berlin-Kreuzberg Dokumentation 1. Was geschah in der Nacht vom 3. zum 4. September 2009 in Kundus? 2. Karim Popal, Anwalt aus Bremen, der 131 Opfer aus Kundus vertritt 3. Obeidullah El-Mogadeddi, Arzt und Vorsitzender des Bonner Vereins für Afghanistanförderung e.V. (VAF) 4. Dagmar Apel, Pastorin der Heilig-Kreuz-Kirche, Berlin-Kreuzberg 5. Jan van Aken, MdB, DIE LINKE 6. Hans Christian Ströbele, MdB, Bündnis 90 / DIE GRÜNEN 7. Christine Buchholz, MdB, DIE LINKE 8. Erklärung des Zentralrates der Muslime e.V. 9. Dr. med. Angelika Claußen, Vorsitzende der IPPNW 10. Appell der Friedensbewegung

Gedenkveranstaltung für die Opfer von Kundus am 4 ... · Gedenkveranstaltung für die Opfer von Kundus am 4. September 2010 in der Heilig-Kreuz-Kirche, Berlin-Kreuzberg Dokumentation

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Gedenkveranstaltung für die Opfervon Kundus am 4. September 2010 in der Heilig-Kreuz-Kirche, Berlin-Kreuzberg

Dokumentation1. Was geschah in der Nacht vom 3. zum 4. September 2009 in Kundus?2. Karim Popal, Anwalt aus Bremen, der 131 Opfer aus Kundus vertritt3. Obeidullah El-Mogadeddi, Arzt und Vorsitzender des Bonner Vereins

für Afghanistanförderung e.V. (VAF)4. Dagmar Apel, Pastorin der Heilig-Kreuz-Kirche, Berlin-Kreuzberg5. Jan van Aken, MdB, DIE LINKE6. Hans Christian Ströbele, MdB, Bündnis 90 / DIE GRÜNEN7. Christine Buchholz, MdB, DIE LINKE8. Erklärung des Zentralrates der Muslime e.V.9. Dr. med. Angelika Claußen, Vorsitzende der IPPNW10. Appell der Friedensbewegung

Gedenkveranstaltung für die Opfer von Kundus am 4. September 2010 in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg

Inhalt

Was geschah in der Nacht vom 3. zum 4. September 2009 in Kundus?Karim PopalObeidullah El-MogadeddiDagmar ApelJan van AkenHans Christian StröbeleChristine BuchholzErklärung des Zentralrates der Muslime e.V.Dr. med. Angelika ClaußenAppell der Friedensbewegung

Bei der Gedenkveranstaltung wirkten mit:Jean-Theo Jost, Schauspieler der Berliner Compagnie,Jutta Kausch (Moderation),Kammermusikensemble der Berliner Symphoniker

Die Veranstaltung wurde unterstütztvon: Gruppen der Berliner Friedenskoordination,Attac Deutschland, Attac Berlin, Attac AG Globalisierung und Krieg, BDS-Berlin, Bündnis 90/Die Grünen Friedrichshain-Kreuzberg, DIE LINKE Friedrichshain-Kreuzberg, Deutsche Friedensgesellschaft – VereinigteKriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Deutscher Friedensrat e.V., DIE LINKE., die linke.SDS, DKP-Berlin, Europäisches Friedensforum/Deutsche Sektion, Friedensratschlag Kassel, Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrechtund Menschenwürde e.V. (GBM), IMI Tübingen, Internationale Liga für Menschenrechte, Naturfreunde Deutschlands e.V., SDAJ und anderen

In Medienpartnerschaft mit:Die Tageszeitung (taz)Junge WeltNeues Deutschland

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Seite

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Kontakt zur Berliner Friedenskoordination:c/o Laura von Wimmersperg, Hauptstraße 37,10027 Berlin, Fon/Fax: 030/78233 82Spendenkonto der Berliner Friedenskoordination: Regina Aram,Berliner Sparkasse, Konto-Nr. 990209768, BLZ 10050000, Stichwort: Kundus

Die Dokumentation wurde erarbeitet von Anja Lucascio.Titel-Foto: Steffen Twardowski.V.i.S.d.P.: Klaus-Dieter Heiser, 12043 BerlinBerlin, September 2010

Was geschah in der Nacht vom 3. zum 4. September 2009 in Kundus?

Heute, am 4. September 2010, jährt sich dieBombardierung von zwei Tanklastzügen in derafghanischen Provinz Kundus, in der Nähe desDorfes Hadschi Amanullah. In der Nähe derTanklastzüge befand sich eine große Gruppevon Menschen, als die Bomben fielen. Mindes-tens 140 Menschen starben, darunter Kinderund Jugendliche. Die überlebenden Men-schen wurden zum großen Teil schwer verletzt.Das Bombardement erfolgte auf Befehl derBundeswehr. Es war der folgenschwerste Ein-satz, seit die Bundeswehr am HindukuschKrieg führt.

Was geschah in dieser unheilvollen Nacht?

3. September:

An einem Kontrollpunkt stoppen Aufständi-sche zwei beladene Tanklastzüge und kaperndie Fahrzeuge und entführen den LasterfahrerAbdul Malek. Am Abend des 3. Septembermeldet die afghanische Armee die Entführungan das Hauptquartier der NATO-Truppe ISAF inKabul.

Um 21.12 Uhr trifft die Meldung über die Ent-führung der Tanklastzüge im Feldlager derBundeswehr in Kundus ein.

Um 23.14 Uhr werden beide LKW durch einUS-Flugzeug auf einer Sandbank in einer Furtim Kundus-Fluss geortet, sechs Kilometer süd-westlich vom Bundeswehr-Feldlager. Die Tank-laster sind offenbar auf der Sandbank steckengeblieben. Die vom US-Flugzeug aufgenom-

menen Bilder zeigen, dass eine große Gruppevon Menschen bei den Fahrzeugen sind.

Um 23.29 Uhr wird das US-Flugzeug wegenTreibstoffmangels abgezogen.

Um 23.49 Uhr kommen zwei F-15-Kampfflug-zeuge, die das Geschehen weiter beobachten.Von den Maschinen werden Live-Bilder in dasdeutsche Kommandozentrum übertragen. Aufden Nachtaufnahmen sind keine Details zu er-kennen. Die „Washington Post“ schreibt nachRecherchen einige Tage später, dass voneinem deutschen Geheimdienstler ein afgha-nischer Informant kontaktiert wurde, um dieLage vor Ort einschätzen zu können. Dieser In-formant bestätigt angeblich, dass sich schät-zungsweise 100 Personen bei den Tanklasternaufhalten. Es handele sich um Aufständische.

4. September:

Um 1.39 Uhr befiehlt der deutsche Komman-deur Oberst Georg Klein den Luftangriff. Er for-derte keine Tiefflieger zur Warnung an, lehntealso ab, eine "show of force" aufzuführen,damit Unbeteiligte davonlaufen. Die US-Pilo-ten fragen, ob es um die Fahrzeuge gehe oderum die Leute. Die Antwort lautet: Es gehedarum, "die Leute auszuschalten", "to take outthe people".

Um 1.49 Uhr feuern die Piloten der F-15-Jetszwei Bomben ab, die jeweils 227 Kilogrammschwer waren. Auf den Bildschirmen in derKommandozentrale der Deutschen ist laut

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„Washington Post“ nach dem Abwurf der Bom-ben eine riesige Explosionswolke zu sehen. Ei-nige kleine schwarze Punkte, die die wenigenÜberlebenden darstellen, seien noch auf demBildschirm zu erkennen gewesen. Sie schlepp-ten sich von der Stelle weg.

Um 8.30 Uhr veröffentlicht die Bundeswehr aufihrer Internetseite eine Mitteilung zu der Atta-cke. Titel der Erklärung: „Erfolgreicher Einsatzgegen Aufständische im Raum Kundus“.

Das ist die Chronologie aus der Sicht der Mili-tärs.

Tatsächlich waren aber, anders als die Bundes-wehr meldete, viele Zivilisten zum Zeitpunktdes Bombardements an den Tanklastzügen.Sie sind in der besagten Nacht nach demGebet – es war die Zeit des Ramadans – zurSandbank im Kundus-Fluss geeilt. Teils ausNeugier, teils um Benzin abzuzapfen. Bulbul,eine alte Frau, hat drei Enkelkinder verloren.Wir können sie auf dem Bild sehen. Wir könnenin ihr Gesicht schauen. Sie symbolisiert dasLeid, das die Menschen des Dorfes HadschiAmanullah und weiterer Dörfer im Umkreisgetroffen hat.

Seither ist offiziell viel von Aufklärung dieRede. Jedoch, selbst im Untersuchungsaus-schuss des Bundestages zur Bombardierungvon Kundus am 4. September 2009 sind dieMeinungen der betroffenen Familien, Kinder,Frauen und Eltern bisher nicht gefragt. Die Ver-antwortlichen für das Bombardement wurdennicht zur Verantwortung gezogen, stattdessenwurde Oberst Klein freigesprochen. Die Bun-desregierung veranstaltet ein unwürdiges Ge-pokerte um die Entschädigungen für dieHinterbliebenen und Verletzten.

Am Kundus-Fluss zeigte der Krieg am Hindu-kusch sein wahres Gesicht. Es ist die Tragödie,die Militärs zynisch „Vernichtung von Aufstän-

dischen“ nennen. Truppen können keinenFrieden schaffen, sie können nur Krieg führen.Krieg ist nichts Abstraktes. Krieg bedeutet tag-tägliches Sterben. Hinter jedem Toten steht einSchicksal, ein Gesicht, ein Name. Nur die Men-schen in Afghanistan selbst können Friedenund Versöhnung schaffen.

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Karim Popal Anwalt aus Bremen, der 131 Opfer aus Kundus vertritt

Meine Damen, meine Herren, im Namen aller 457 Hinterbliebenen in Kundusbedanke ich mich recht herzlich bei den Ver-anstaltern dieser Gedenkveranstaltung. Ichhabe heute morgen mit Kundus telefoniert.Ich habe Abdul Hanan, der zwei Söhne verlo-ren hat, gesprochen und ich habe Haji AbdulBasier, der drei Söhne und drei Enkelkinderverloren hat, angesprochen und gefragt:„Haben Sie eine Botschaft? Eine Botschaft andie Menschen an die Deutschen, die diesesBombardement kritisieren, die Frieden for-dern. Abdul Hanan hat keine Botschaft gehabt,er hat geweint.

Haji Abdul Basier hat zu mir gesagt: „Wo wirddie Veranstaltung stattfinden?“ Ich habe ge-sagt: „In einer Kirche.“ Er hat gesagt: „Sehrschön. Mahne die Menschen an die Barmher-zigkeit Gottes. Fange Deine Rede im Namendes Barmherzigen Gottes an und sage denDeutschen, unser Gott und ihr Gott mahnt zurBarmherzigkeit. Ich habe drei Kinder verlorenund ich bin 80 Jahre alt. Ich habe drei Enkel-kinder verloren und die waren meine Ernährer.Es gibt keine Sozialversicherung. Es gibt keineRentenversicherung. Ich hab meine Ernährerverloren. Die reiche große deutsche Regierungund die Helfer ihrer Marionetten, die korrupteRegierung in Kabul und in Kundus hat unsererFamilie, einer 18-köpfige Familie, den Hinter-bliebenen dieser Toten 5000 Dollar gegeben.Wenn wir das unter uns verteilen - einer 18-köpfigen Familie - können wir uns vielleicht einpaar Monate ernähren. Ist das Gottes Barmher-zigkeit? Hat Gott Barmherzigkeit den Deut-

schen beigebracht? So zu handeln mit denToten? So zu handeln mit den Hinterbliebe-nen? Das ist ein Verstoß - ein Verstoß gegenalle Religionen. Im Namen des barmherzigenGottes fordere ich alle Menschen in Deutsch-land, politische Parteien, alle Parteien, die sichdemokratisch nennen, alle Konfessionen, allerKirchen, handeln Sie bitte menschlich. Was wirerlebt haben als Hinterbliebene der Opfer. Waswir erlebt haben als Vertreter der Opfer: Arro-ganz, Arroganz und unfaire Ungerechtigkeit.Man hat uns Afghanen versprochen nach 30Jahren Krieg, wir werden Eure Heimat auf-bauen. Wir werden Euch Demokratie beibrin-gen. Ist das Demokratie gewesen, dass wirunsere Enkelkinder und Kinder verlorenhaben, ist das Aufbau von Aufbau von Afgha-nistan gewesen?“

Die toten Zivilisten sind Menschen, die eine Fa-milie haben. Die sind arm, die haben keineKühlschränke, Autos etc. Die haben aber Her-zen. Die haben Gefühle. Die sind Menschenwie wir alle. Die Mütter lieben ihre Kinder unddie Kinder lieben ihre Eltern. Warum nehmenden Eltern ihre Kinder? Ist das vereinbar mitDemokratisierung oder Aufbau von Afghanis-tan? Nein, meine Damen und Herren, ich be-zeichne dies als ein Verbrechen.

Am 4. September 2009 gegen 8.00 Uhr mor-gens deutscher Zeit habe ich einen Anruf be-kommen von einem guten Freund, der einGasthaus betreibt in Kundus. Er teilte mir mit:„Ich war heute um 8.00 Uhr im Krankenhaus inKundus. Die Krankenhäuser in Kundus sind

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voller verletzter und verbrannter Menschen.“Ich habe erwidert, ich habe gesagt: „Die Nach-richten in Deutschland sagen: ‚Wir haben sehrerfolgreich gehandelt und Führungskräfte vonTaliban vernichtet.’“ Er sagt: „Nein Karim,glaubt den Medien nicht. Die sagen nicht dieWahrheit. Ich habe brennende Kinder gese-hen. Ich habe Leichen von Kindern, die vierund acht Jahre alt waren gesehen. Ich habeweinende Mütter und Väter gesehen. Diewaren weder Taliban noch andere feindlicheKräfte. Die waren Menschen. Tu was! Du bistder einzige Rechtsanwalt in Deutschland. Dubist nach Kundus gekommen. Du hast gesagt,wie es ist in Deutschland gelebt zu haben, Duhast gesagt, die Deutschen sind ein wunder-bares Volk und die wollen uns helfen. Diebauen unsere Justiz auf. Die Soldaten habensich PRT genannt, Wiederaufbauteam, und diewollten doch wiederaufbauen. Was die uns tunsind Schmerzen und Leiden.“

Als ich in Afghanistan war, meine Damen undHerren, hab ich diese Schmerzen und Leiden ge-sehen. Ich habe mit Leuten gesprochen, ichhabe mit Freunden gesprochen und ich habemit Kindern gesprochen. Ich bin zerstörten Men-schen begegnet. Ich habe weinende Kinder ge-sehen, die sich an der Stelle ihrer Väter gesehenhaben. Abdul Satar, acht Jahre alt, sagte zu mir:„Ich bin jetzt Familienvater. Ich muss meinekleine Schwester ernähren. Meine Mutter hateine Hoffnung auf mich. Ich bin ein großerMann.“ Ich habe Bubul gesehen, die Enkelkinderund Kinder verloren hat. Und sie hat mir vonihrem Aref erzählt. Aref, ein Enkelkind. Das ein-zige Kind im Dorf, das es geschafft hat die 9.Klasse in der Schule zu besuchen. Er war Schrei-ber, in afghanischer Form. Man nannte ihnSchreiber des Dorfes. Er hat Briefe geschriebenan die Flüchtlinge in Pakistan und im Iran. Eltern,Väter und Mütter haben Aref gebeten: „Kommzu uns. Trink einen Tee. Schreib einen Brief fürmeinen Sohn in Pakistan.“ In der Nacht vom 4.September ist dieser Schreiber des Dorfes als Ta-liban vernichtet worden.

Ich habe eine andere Person kennengelernt,die weinend zu mir gesagt hat: „Ich heißeSahar Gul. Ich kann nur eins sagen, was ichnicht vergessen habe und das ist mein Name.Ich habe zwei Söhne gehabt, zwei Söhne,Abdul Gayur und Said Rasul. Die waren beide17 Jahre alt und die haben in der Familiehohen Rang gehabt, weil die gerade an derGrenze waren, als Bauarbeiter und als Land-wirtschaftsarbeiter zu arbeiten und ihre Fami-lie zu ernähren. Die beiden Zwillinge wareneine Hoffnung für den Vater und die Mutter.Die haben gearbeitet und die beiden habengefastet. Die Mutter aus Liebe zu ihren Kindernsagt: „Gayur, Rasul bleibt ihr bitte zu Hause. Ihrhabt gearbeitet am Tag und ihr habt auch ge-fastet. Ihr braucht ein bisschen Ruhe.“ Siebeide haben mit ihrem Vater einen Tee getrun-ken. Die Familie war unruhig. Armut trieb dieFamilie in die Unruhe. Es wurde laut von derNachbarschaft in den Straßen. „Taliban vertei-len Benzin, Kerosin, was wir für die Lampenbrauchen. Wir brauchen zu Hause so was.Unser Nachbar hat schon drei Kanister ge-bracht. Aber wir ruhen uns aus.“ Doch dannsagen sie zu ihrer Mutter: „Mutter, wir holenauch Benzin.“ Dreimal sind sie an den Ort ge-gangen. Der Vater war sehr müde. Die Mutterbat beide Kinder: „Das reicht. Bleibt doch zuHause. Wir haben genug für die kommendenMonate, um es zu verbrauchen.“ Gayur undRasul entscheiden sich: „Noch einmal unddann ruhen wir uns aus und bleiben zu Hause.“Die sind zur Sandbank gegangen und nichtwiedergekommen. Herr Klein hat die beidenumgebracht.

Es gibt weitere tragische Geschichten Herzenvoller Schmerzen. Tränen von Müttern, die wei-nen für ihre Söhne. Ich spreche von einer Mutternamens Zeitun. Frau Zeitun hat zwei Söhne ge-habt. Ein Sohn Abdulla, der ist schon vorher ge-storben an einer Krankheit. Er hatte zwei Kindergehabt. Die Großmutter hat diese zwei Kindergroßgezogen und wie eigene Söhne geliebtund zusätzlich ihren Sohn Gulabudin. Die saßen

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auch zu Hause. Und Gulabudin hat sich ent-schieden wegen Armut auch Benzin zu holenund die beiden Enkelkinder haben gesagt: „Wirlassen unseren Onkel nicht allein. Wir gehen mitihm.“ Die sind zur Sandbank gegangen. Zwei-mal haben sie Benzin geholt und sind wiederzurückgekommen. Unterwegs sagte Gulabu-din: „Unser Nachbar geht wieder zurück zurSandbank. Wollen wir ihn auch begleiten undnoch einmal Benzin holen?“ Die haben sich ent-schieden wieder Benzin zu holen und sind nichtwieder gekommen.Tragisch ist auch die Geschichte von AbdulBayan. Abdul Bayan ist 37 Jahre alt. Seine Mut-ter ist am Leben. Durch Weinen und Trauer hatsie ihr Augenlicht verloren, weil sie zwei Enkel-kinder verloren hat. Und die beiden Enkelkin-der, acht und zwölf Jahre alt, Abdel Bayar undRasul. Abdul Bayan war sehr stolz. Er hat als Ta-geslohnarbeiter in der Landwirtschaft einesGroßgrundbesitzers gearbeitet. Er hat immermehr gearbeitet. Seine Frau sagte zu ihm: „Duarbeitest mehr am Tag als 10 bis 12 Stunden.“ Ersagte zu seiner Frau: „Ich habe einen Plan, einenglücklichen Plan für die Zukunft. Mein Plan ist,dass meine beiden Kinder die Schule besu-chen.“ Und er hat seine beiden Söhne, 8 und 12Jahre alt, in die Schule geschickt. Die haben sichan dem Abend auch entschieden Benzin zuholen. Zufall spielte hier eine Rolle, dass AbdulBayan am Leben geblieben ist. Da standen dieDorfbewohner, weil von allen Dörfern - vonacht Dörfern - kamen die Menschen, um Benzinzu holen. Die standen in zwei Reihen. Die Väterstanden in einer Reihe und die Kinder standenin einer Reihe. Und der Vater kam als erster dranBenzin zu holen und die Kinder warteten. DerVater hat sich auf den Weg nach Hause bege-ben, um das Benzin abzugeben. Unterwegshörte er eine große Explosion und einen Bergvon Feuer. Er drehte sich um, sieht keinen Men-schen mehr – nur Feuer. Beide Söhne sind ver-brannt und getötet.

Abdulah Khan ein älterer Mann hat jahrelanggekämpft ein Kind zu bekommen. Er war in

den 80er und 70er Jahren zig Mal in Kabul undhat verschiedene Ärzte besucht, um sich bzw.seine Frau zu behandeln, um ein Kind zuhaben. Er hat viel gebetet, als Gott ihm einenSohn gegeben hat, als dieser Sohn kam, weiles ein Gottesgeschenk war. 28 Jahre lang habeer nur sein Kind geliebt, es groß gezogen, fürihn alles gemacht. „Er war mein einziger Sohn.Meine einzige Hoffnung, meine große Liebe.“Und dieser Sohn wollte auch für seine 30jäh-rige Frau und seine drei Kinder Benzin holen.Der einzige Sohn ist ums Leben gekommen.“

Meine Damen und Herren,ich habe 113 Mandanten. 113 solcher Fälle. Ichmahne in diesem Gotteshaus die gesamtedeutsche Politik, egal wie sie mich behandeln,egal wie sie mich in den Dreck ziehen durchihre abhängige Pro-Regierungsmedien. Ichhabe meinen Mandanten versprochen, derenSeele werde ich nicht verkaufen. Ich mahne,dass dieser tragische Fall Jahre um Jahre umJahre lebendig bleibt. Ich mahne an Gerech-tigkeit, ich mahne, dass man mit diesen Men-schen, der Trauer dieser Menschen, mit denGefühlen dieser Menschen nicht eine dreckigePolitik macht. Ich mahne an Gerechtigkeit,Wiedergutmachung und Völkerverständigungund nicht zu zweifeln: Es ist nicht unser Schick-sal. Gott hat es nicht zu unserem Schicksal ge-macht, dass die Deutschen bezahlen und dassdie Afghanen sterben. Wir beide Völker müs-sen aufeinander achtgeben und uns gegensei-tig am Leben lassen. Und den Krieg beenden.An dieser Stelle im Namen aller meiner Man-danten, im Namen aller Hinterbliebenen, derVerpflichtungen gegenüber den Toten, derenFamilien ich vertrete, sage ich den Mütternund Vätern, die deutsch sind, die ihre Kinder inAfghanistan verloren haben, sage ich: Wir Af-ghanen, wir betroffenen Afghanen, wir Hinter-bliebenen von Kundus haben mit Euch Mitleidund trauern um Eure Toten, respektieren EureToten. Lasst uns dieses Töten beenden. Lasstuns in Frieden leben. Ich danke ihnen.

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Obeidullah El-MogadeddiArzt und seit drei Jahrzehnten Vorsitzender des Bonner Vereins für Afghanistanförderung e.V. (VAF), der seit seiner Gründung medizinische,humanitäre Projekte und Wiederaufbauarbeit für notleidende Menschenaus Afghanistan in Pakistan, Iran und Afghanistan realisiert.

Guten Abend, meine Damen und Herren, im Namen des afghanischen Volkes, aber ins-besondere im Namen der Menschen in Kun-dus danke ich den Veranstaltern für dieOrganisation dieser Gedenkstunde.

Für mich ist es eine Ehre hier stehen zu dürfen,um den Opfern des Luftangriffes vom 4. Sep-tember 2009 in Kundus zu gedenken.

Die Militäraktion am Morgen des 4.Septem-bers 2009, die zum Tod von unschuldigen Zivilisten führte, ist eine weitere traurige undtragische Geschichte, denn wir Afghanen lei-den bereits seit über 30 Jahren unter Krieg. Das afghanische Volk blutet seit 1978, als diekommunistische Partei die Macht in Kabul ergriff, und die im Jahr 1979 beginnende 10-jährige sowjetische Besatzung Afghanistaneinleitete.In der damaligen Zeit haben wir über 1,5 Mil-lionen Zivilisten verloren. Danach gab es von1992-1996 in Afghanistan eine andere Regie-rung, die so genannte „Mudschahedin-Regie-rung“. Unter dieser Regierung, die vonAfghanen gestellt wurde, hat das afghanischeVolk erneut geblutet, diesmal nicht wegen derPräsenz eines ausländischen Aggressors, son-dern wegen der Streitereien zwischen den ver-schiedenen politischen afghanischenGruppierungen. Von 1996 bis 2001 herrschten die Taliban in Af-ghanistan. Zwischen ihnen und der so ge-nannten Nordallianz kam es auch zukämpferischen und kriegerischen Auseinan-dersetzungen mit vielen Toten.

Und von 2001 bis heute leiden wir wieder, die-ses Mal unter der so genannten Befreiung Af-ghanistans durch die USA. Afghanistan solltebefreit und demokratisiert werden. Doch dasBluten des afghanischen Volkes geht unauf-hörlich weiter, und ich weiß nicht wie lange wirweiter bluten müssen.

Mir stellt sich heute aus Anlass dieser Gedenk-veranstaltung eine andere Frage, und aus mei-ner Sicht eine berechtigte Frage.Ich frage michund Sie, weshalb wir einen so großen Wirbelum die 140 Getöteten in Kundus machen. Siesind doch nicht die ersten und mit Sicherheitwerden sie nicht die letzten Opfer in der vonmir skizzierten Kriegsgeschichte Afghanistansgewesen sein.Lassen Sie mich Ihnen deshalb eine kurze Ge-schichte erzählen, die aufzeigt warum die Er-eignisse vom 4. September 2009 eineAusnahme darstellen und warum wir der 140Toten von Kundus heute zu Recht in Deutsch-land an diesem Ort gedenken:Es wird erzählt, dass im Reich von König Salo-mon ein Mann unschuldig verurteilt wurde. Dieser unschuldige Mann sollte auf Anord-nung des Richters in der Öffentlichkeit bestraftwerden. Er wurde dazu verurteilt an einenPranger gestellt und mit Steinen beworfen zuwerden. Alle Dorfbewohner wurden vom Rich-ter dazu verpflichtet den zu Unrecht verurteil-ten Mann als Strafe für eine vermeintliche Tat,die er nie begangen hatte, mit je einem Steinzu bewerfen. Und so vereinigte sich die Dorfgemeinschaftin der Dorfmitte und ein jeder Bewohner

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nahm einen Stein in die Hand und warf mitdiesem nach dem Mann. Dieser gab jedochkeinen Laut von sich, auch schrie er nicht, nochweinte er vor Schmerz.Als jedoch die Reihe an seinen besten Freundkam, einen Stein zu werfen, und dieser ausMitgefühl statt eines Steines eine Blume nachihm warf, schrie der Mann laut und rief: „Dasschmerzt, das hat mir weh getan.“ Alle Dorfbewohner waren erstaunt und frag-ten ihn: „ Wie kommt es, dass du auf die durchdie Steine dir zugefügten Schmerzen nichtreagiert hast, aber als die Blume dich traf, duvor Schmerz aufgeschrien hast?“ Daraufhinentgegnete ihnen der Mann: „Nie hätte ich ge-dacht und erwartet, dass mein bester Freundmich bewirft, und sei es nur mit einer Blume,weiß er doch am besten, dass ich unschuldigbin. Diese Blume aus seiner erhobenen undgegen mich gerichteten Hand hat mir deshalbmehr wehgetan, als die Steine der Anderen.“ Die Kriegsopfer Afghanistans der letzten 10Jahre wurden nicht von Deutschen getötet.Aber es ist eine unumstößliche Tatsache, dassdie 140 Menschen aus dem Distrikt Char Dar-rah in Kundus auf Befehl eines deutschen Offi-ziers getötet wurden. Und dieser Umstand hatuns Afghanen mehr Schmerz bereitet, als alleanderen Verluste, die wir seit 2001 zu erduldenund ertragen haben, denn wir haben immergeglaubt und tun dies immer noch, dassDeutschland unser bester Freund im Westenwar und ist. Wir haben nicht erwartet, dass so eine Tatdurch einen deutschen Offizier veranlasst wer-den konnte.

Meine Damen und Herren, diese getöteten Zi-vilisten in Kundus sind ein Symbol, ein Symbolfür das außerordentliche und besondere Lei-den des afghanischen Volkes. In den letzten zehn Jahren haben sich deut-sche Truppen nicht als Besatzer benommen,sondern sie traten als Helfer an unserer Seiteauf. Sie wurden daher überall gut willkommengeheißen. Und in den letzten zehn Jahren kam

es auch nicht zu schwerwiegenden Überfällenauf deutsche Truppen. Aber nach diesem tragischen Vorfall hat sichdie Sachlage dramatisch verändert. Und nungibt es leider bei den deutschen Truppen mehrgetötete Soldaten, was uns auch schmerzt.Jeder gefallene deutsche Soldat schmerzt ge-nauso wie jeder getötete afghanische Zivilist. In Kundus geht es primär nicht um die Frageeiner Entschädigung. Die Menschen in Kunduserwarten in erster Linie keine materielle Ent-schädigung, denn der angerichtete Schadenkann niemals durch Geld gut gemacht wer-den.

Aus diesem Grund frage ich: Wäre es nicht besser, tröstlicher und versöhn-licher gewesen, wenn einer der hochgestelltenOffiziere der Bundeswehr oder ein hoher poli-tischer Verantwortlicher Deutschlands den An-stand gehabt und den Weg zu den Menschenin Kundus gefunden hätte und zu den hinter-bliebenen Familien der Getöteten gegangenwäre, um ihnen ein Wort des Beileides und desMitgefühls auszusprechen? Das hätte ihnen und uns mehr geholfen undunseren Schmerz gelindert als die 5.000 US-Dollar, die nach einem unerträglichen politi-schen Gezerre nun für jeden Getötetenausgezahlt werden sollen. Menschenleben kann man nicht mit Geld be-werten. Jeder gefallene Soldat oder getöteteZivilist ist ein Verlust zu viel in Afghanistan. Deshalb hoffen wir, dass die deutschen Trup-pen in Afghanistan zukünftig immer darandenken, dass sie nach Afghanistan gekommensind, nicht um Afghanistan zu besetzen undAfghanen zu töten, sondern mit dem gutenWillen, Wiederaufbauprojekte in Afghanistanzu realisieren, denn auf diese Art wirdDeutschland am besten, wenn überhaupt, amHindukusch verteidigt.Wir müssen immer wieder damit rechnen, dassfür jeden gefallenen Zivilisten, wieder fünf biszehn Männer aufstehen und zu den Waffengreifen, um ihren Schmerz über das Unrecht

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zum Ausdruck zu bringen, das ihren Familienund Getöteten angetan wurde. Mit Raketen kann man die Herzen der Afgha-nen nicht gewinnen, sondern nur mit einer imgutem Willen ausgestreckten Hand und mitvernünftigen Hilfsprojekten für einen friedli-chen Aufbau des zerstörten Afghanistans. Dieses seit 30 Jahren geschundene afghani-sche Volk braucht Wiederaufbauprojekte undhumanitäre Hilfe, es braucht Schulen, Kranken-häuser und vor allem Bildung, denn Bildung istdie beste Waffe gegen fanatische Ideen. Wir können die Taliban oder sonst irgendeinefanatische Idee nicht mit Waffengewalt be-kämpfen, sondern nur mit klugen humanitä-ren Projekten und intensiver Wieder-aufbauarbeit des Landes. Ich will daher nicht lange reden, sondern zumSchluss kommen und ein traditionelles Toten-gebet für die Märtyrer von Kundus sprechen. Die Menschen in Kundus haben heute auch fürihre Toten eine Gedenkfeier abgehalten, undich will nun auch hier in diesem Gotteshaus, indem man Gott gedenkt -denn ob eine Kircheoder eine Moschee, beide sind Gotteshäuser-ein Gebet sprechen und um Schutz und Ver-gebung bitten.Das Totengebet werde ich kurz in Arabischsprechen und ihnen nachher auf Deutschübersetzen. Ich bitte Sie danach „Amen“ zusagen, damit unsere Bitten und Gebete erhörtwerden.(Es folgt die Fürbitte in Arabisch)Oh Gott, wir bitten Dich, unseren Toten zu ver-geben und ihre Gräber zu einem Teil des Para-dieses zu verwandeln und wir bitten Dich ohGottden Hinterbliebenen Geduld zu geben-und ihnen die Kraft zu geben, diese schwereBürde des Verlustes mit zu ertragenund wirbitten auch Dich oh Gottden Verursachern die-ses Massakers zu vergeben, denn sie wissennicht, was sie getan haben. Amen

Ich appelliere an die deutschen Truppen in Afghanistan, bitte denkt immer daran, dassdas afghanische Volk nicht euer Feind ist!

Wir Afghanen haben nie mit Deutschland inFeindschaft gelebt!Ihr seid nach Afghanistan gekommen, um unszu helfen und nicht, um uns zu töten! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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Dagmar ApelPastorin der Heilig-Kreuz-Kirche

Bilder des Krieges haben wir alle in uns. Todund Zerstörung sind Bilder, die wir durch Me-dien kennen. Aber wir wissen oft durch die ei-genen Familiengeschichten, was Kriegbedeutet. Alle Menschen in Europa wissen dasdurch Erfahrungen von Generationen. Darumkönnen wir auch beurteilen, was ein Kriegsein-satz ist und was ein Einsatz für den Frieden be-deutet. Jeder kann das.

Soldaten bringen eben meistens Krieg undkeinen Frieden. Und das ist es, was die Menschen in Afghanis-tan auch während der Besatzungszeit erfahrenhaben. Tote und Verletzte beim Bombardement inKundus lassen kein Vertrauen wachsen für dievermeintlichen Friedensbringer weder in Af-ghanistan, noch hier in Deutschland.

Den Familien, die Opfer zu beklagen haben,gilt unserer aufrichtiges Mitgefühl und Beileid.An einem solchen Tag wollen wir zeigen, neinEure Toten sind auch bei uns nicht vergessen.Wir denken an Euch und fordern Konsequen-zen zum Frieden hin. Wir wollen Frieden undkeinen Krieg.

Nicht nur für die Menschen in Afghanistan undbesonders für die Familien, die Opfer zu be-klagen haben, sondern auch ganz egoistischauch hier für uns. Auch für die Familien die An-gehörigen haben, die dort im Einsatz sind undoft nicht so genau wissen, was auf sie zukommt und die verletzt und traumatisiert zu-rückkommen, wollen wir, dass sie Erfahrungen

des Friedens und der Heilung machen könnenin ihrem Leben und nicht der Zerstörung unddes Krieges. Wir wollen, dass offen und ehrlichdarüber gesprochen wird, was Krieg ist undwas dem Frieden dient. Genau darum wollenund müssen die NGOs - auch die kirchlichen -Distanz zu dem Militär halten, wenn sie Hilfeleisten wollen, die die Bevölkerung in Afgha-nistan auch erreicht.

Der Mann aus Nazareth, Jesus, sagte es so:„Selig sind die Friedfertigen, denn sie werdenGottes Kinder heißen.“Er steht damit in der friedensbringenden Tra-dition der jüdischen Propheten und des VolkesIsrael.Schwerter zu Pflugscharen und Spieße zu Si-cheln, denn davon hatte bereits der ProphetJesaja gesprochen. Er ging davon aus, dass esdie Möglichkeit gibt, dass „kein Volk wieder dasandere das Schwert erhebt und niemand mehrlernt Krieg zu führen.“ Diese Worte und Bildernähren die Friedenshoffnungen von Men-schen und damit die Friedensmöglichkeitenseit tausenden von Jahren.Und konkret heißt das hier heute für uns: keineWaffen und Soldaten mehr für Afghanistan!Sondern Ernährung und medizinische Versor-gung für die Bevölkerung, Brunnen bauen undBildung. Das sind Zeichen des Friedens unddie Pflugscharen für unsere Zeit.

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Jan van AkenMdB, DIE LINKE

Vor neun Monaten konnte ich zum ersten Malden Film sehen, den die Soldaten aufgenom-men hatten, vom 4. September. Da kann manalles ganz genau sehen: den Fluss, die Sand-bank und die beiden Lastwagen. Und dannsieht man viele schwarze Punkte, die sich hinund her bewegten am Ufer der Sandbank zuden Lastern und wieder zurück. Das waren nurkleine namenlose Punkte. Und nach demBombenangriff waren sie alle verschwunden.

Das war der Moment, wo wir überlegt haben,selbst nach Kundus zu fahren und zu sehen,welche Gesichter, welche Menschen, welcheGeschichten stecken eigentlich hinter diesenkleinen schwarzen Punkten. Wir wollten denschwarzen Punkten und wir wollten dem Kriegin Afghanistan Namen und Gesicht geben.

Ich selber bin Biologe. Ich hab viele Jahre imLabor gearbeitet und bin natürlich als Wissen-schaftler fixiert auf Zahlen, auf Daten, auf Fak-ten. Aber wenn es um Krieg geht, sagen unsdie Zahlen relativ wenig. Auch wir, als diejeni-gen, die gegen den Krieg sind, benutzen sieimmer wieder. Jedes Jahr sterben 2500 afgha-nische Zivilisten bei Kämpfen. Über 40 deut-sche Soldaten sind gestorben in Afghanistan,bis zu 142 Menschen sind gestorben in derNacht vom 4. September.

Aber diese Zahlen sagen nichts, aber auch garnichts über den Schmerz, an dem zum BeispielNoorjan leidet. Noorjan war in der Nacht aufder Sandback, und ist verletzt worden. Ihm istein Arm abgerissen worden und er hat bis

heute täglich Schmerzen. Als wir ihn im Feb-ruar in Kundus getroffen haben, hat er zu mirin einem Gespräch gesagt: „Ich wollte ich wäregetötet worden.“ Noorjan hat überlebt, aberviele andere sind in der Nacht gestorben undihnen wollen wir heute gedenken, damit sieuns eine tägliche Mahnung sind, heute undmorgen und die nächsten Wochen und Mona-ten und Jahren, bis wir diesen Krieg endlichbeendet haben. Ich danke Ihnen.

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Hans Christian StröbeleMdB, Bündnis 90 / DIE GRÜNEN

Heute hat in Afghanistan, wiederum in Kun-dus, eine schwerer Anschlag stattgefunden,bei dem zahlreiche Menschen getötet wordensind. Heute vor einem Jahr hat die Bombardie-rung auf Befehl des deutschen Oberst Kleinstattgefunden, bei der über 140 Menschen ge-tötet wurden. In Afghanistan herrscht Kriegund Krieg bedeutet, dass jeden Tag Menschengetötet werden, Menschen zu Krüppeln ge-macht werden, Menschen unendliche Schmer-zen erleiden und viel an Möglichkeiten, anRessourcen, an Infrastruktur zerstört wird undzwar sowohl von den sogenannten Aufständi-schen als auch durch die NATO-Truppen.

Als ich Ende Januar nach Afghanistan gereistbin, ergab sich die Möglichkeit einige von denAngehörigen der Opfer dort zu sehen und mitihnen zu sprechen. Dieses Gespräch kam unterproblematischen Bedingungen zustande. Wirwollten aus dem befestigten deutschen Lagernach Kundus-Stadt fahren, um sie im „Deut-schen Haus“ zu treffen. Das wurde uns unter-sagt. Daraufhin wurde aus Sicherheitsgründendas beste Hotel dort von deutschen Bundes-wehrsoldaten an allen Eingängen und Fens-tern gesichert. Wir fuhren mitPanzerfahrzeugen dahin. Und dann musstensich diese Angehörigen, die dort hingekom-men sind, sich einem sehr unwürdigen Proze-dere unterwerfen, wurden gründlichdurchsucht, beim Eingang in dieses Hotel. Dasich unter diesen Besucherinnen und Besu-chern auch einige Frauen befanden, aberkeine Soldatin da war, die die Durchsuchungvon Frauen hätte durchführen können, wurde

dann meine Mitarbeiterin, die mich begleitete,gebeten, doch die Durchsuchungen vorzu-nehmen.

Man kann sich vorstellen, dass die Menschen,die wir dort trafen schon angesichts dieserUmstände, das, was sie da sahen und erlebten,das was dort passierte in diesem Augenblickzutiefst verunsichert waren. Wir waren dann ineinem Raum mit ihnen zusammen. Sie saßenan einem langen Tisch. Und wir haben jedemund jeder die Möglichkeit gegeben zu sagen,wer von seinen Angehörigen gestorben istund was passiert ist. Und dann gab es – unddas geht mir nicht mehr aus dem Kopf – ineinem ganz nüchternen Raum an einem lan-gen Tisch – etwa ein Dutzend Personen, dievöllig verschüchtert einer nach dem anderenerklärten: „Meine Mutter ist jetzt Witwe.“ „MeinBruder ist jetzt tot.“, „Mein Vater ist jetzt tot.“„Mein Onkel ist jetzt tot.“ Und der Verletzte, derda war, hat auch geschildert, wie seine Verlet-zungen sich entwickelten und welche Schmer-zen er auch heute noch hat.

Und sie schilderten nicht nur wie sie in dieserNacht ihre Angehörigen verloren haben, son-dern sie schilderten auch die Situation, indenen sich die Familien jetzt im Januar im Win-ter in Afghanistan versuchten über Wasser zuhalten. Da wurde deutlich, dass für einige die-ser Familien die Fortexistenz als Familien undals Menschen direkt gefährdet ist, weil der Er-nährer tot ist. Eine Frau fragte uns: „Wer bestelltjetzt die Felder? Wer kann dafür sorgen, dassdie Familie, die aus so und so viel Personen be-

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steht, weiter bestehen kann?“ Deshalb habenwir am Schluss dieser Besprechung erklärt,was wir denn von deutscher Seite aus tun kön-nen.

Und zunächst wurde auch das angesprochen,was hier heute abend auch angesprochenworden ist. Man erwartete eine menschlicheGeste, von hoher deutscher Stelle ausDeutschland, die anerkennt, die echte Bei-leidsbekundungen ausspricht, die die Leiden,die den Menschen dort zugefügt worden sind,anerkennt. Man erwartet, dass diesen Familienin ihrer Not, in diesem Winter und für dienächsten Jahre die Möglichkeit gegeben wird,zu überleben durch Hilfe aus dem reichenDeutschland.

Und wir haben, ich persönlich habe ihnen zu-gesagt, dass ich alles mir Mögliche tun werde,um Beides zu erreichen. Und nachdem ichnach Deutschland zurück gekommen bin,habe ich – wie vorher schon - meine politischeArbeit unter anderem in den Dienst der Aufga-ben gestellt, diese Versprechen einzulösenund darüber hinaus mit dafür zu sorgen mei-nen Teil dazu beizutragen, dass dieser Krieg,der heute und der vor einem Jahr, der jedenTag Opfer fordert, diesen Krieg zu beendenund zwar in verantwortlicher Weise, damitdurch diesen Krieg und dessen Folgen nichtnoch mehr Menschen ihr Leben, ihre Gesund-heit und ihre Zukunft verlieren.

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Christine BuchholzMdB, DIE LINKE

„Mit der Modernisierung des Landes wird sichauch die Lage der Frauen kontinuierlich ver-bessern. Daran wirken wir mit.“ Diesen kurzenSatz habe ich aus dem sogenannten „Fragen-und Antworten-Katalog“ der Bundesregierungzu ihrem Afghanistaneinsatz. Und auch das,was mir Soldaten in Kundus immer wieder ge-sagt haben: „Wir sind doch hier um die Afgha-nen zu schützen und die Frauen zu schützen.“

In der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009sind 91 Frauen zu Witwen geworden, Mütterhaben ihre Söhne verloren, Töchter ihre Väter,Schwestern ihr Brüder, Großmütter ihre Enkel.Viele derer, die den Ernährer der Familie verlo-ren haben, sind von Almosen abhängig. Ichkonnte mit zwei Frauen sprechen, derenLeben vor einem Jahr auf einen Schlag zerstörtwurde.

„Wäre ich nicht arm, hätten wir kein Benzin ge-braucht.“ sagt Bulbul als wir uns begegnen.Sie ist klein, ihr Gesicht ist zerfurcht, ihr Blickfest. Ein Tuch liegt locker auf Bulbuls Kopf.Oben hat es ein großes Loch. Bulbul lebt ineinem Haus mit Kindern, mit Enkeln. In derBombennacht fragen ihre kleinen Enkel sie, obsie auch mit raus dürfen zu den Tanklastern.Dahin, wo alle hin laufen.Sie sagt „Nein“. Sie findet, dass ihre Enkel zuklein für so ein Abenteuer sind. Sie geben aberkeine Ruhe. Schließlich schleichen sie sichheimlich aus dem Haus. Ihre Großmuttermerkt nichts.Was dann geschieht kann Bulbul nicht sagen.In den frühen Morgenstunden kommen Nach-

barn aus dem Dorf und bringen ihr die Über-reste ihrer Enkel. „Ich hatte wenigstens etwaswas ich beerdigen konnte. Andere hattennicht mal das.“ Sie hat Tränen in den Augen.

Leila war schon seit drei Jahren verwitwet undhatte schon vorher zu kämpfen. Glücklicher-weise haben ihr zwei Söhne, 13 und 15 Jahrealt, viel Arbeit abgenommen. Und haben sichdarum gekümmert, dass das Feld bestelltwurde und die Kuh, die die Familie besaß, ge-pflegt wurde. Der eine hat das Feld bestellt,der andere hat sich um die Kuh gekümmert.Diese Arbeit machen ihre Söhne jetzt nichtmehr. Beide sind tot. Der eine der Söhne wollteBenzin holen. Sein Bruder hat ihn begleitet.Leila weiß nicht wie es weitergehen soll. Diehat kleine Töchter zu versorgen und ist jetztauf Leihgaben ihrer Verwandten angewiesen.Sie sagt zu mir: „Wenn es mittags Kartoffelngibt, gibt es abends nur Brot“.

„Mit der Modernisierung des Landes wird sichauch die Lage der Frauen kontinuierlich ver-bessern. Daran wirken wir mit.“ Was denkenwohl die Witwen, die Mütter, die Schwesternund Großmütter aus Kundus über dieseWorte?

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Erklärung des Zentralrates der Muslime e.V.verlesen von Volker Taher Neef, Redakteur für Politik und Geschichte beiIslam.de, dem Organ des Zentralrates des Muslime e.V.

Der Tod der der Zivilisten in Kundus ist beson-ders für uns Deutsche ein Mahnmal für  die vielzu vielen Opfer des Afghanistankrieges. UnserMitgefühl gilt insbesondere den betroffenenFamilien. Immer mehr deutsche und mit unsverbündete Soldaten fallen in diesem Krieg.Das Leid aller Kriegsopfer in Afghanistanmacht uns tief betroffen. Wir sind bestürztüber die Entwicklung des deutschen militäri-schen Einsatzes.

Von unseren ursprünglichen Absichten undZielen im Rahmen des NATO-Einsatzes habenwir uns immer weiter entfernt. Aus unseremhumanitären Einsatz ist ein Krieg geworden!Auch eingedenk unserer leidvollen und be-schämenden Erfahrungen in den beiden letz-ten Weltkriegen ist es geboten, möglichstzeitnah unsere Truppen aus Afghanistan zu-rückzuziehen!

Wir Muslime stehen zusammen mit allen fried-liebenden Menschen in der Welt. Wir solltengemeinsam mit allen gutwilligen Menschennach politischen Lösungen für die Beendigungdes Krieges in Afghanistan suchen und gegenExtremismus und Terrorismus zusammenste-hen und uns für die Beseitigung der Ursachenfür derartige Konflikte einsetzen.

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Dr. med. Angelika ClaußenVorsitzende der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW)

Sterben, Tod, Leiden, meine Damen und Her-ren, das ist für mich als Ärztin Berufsalltag.Trotzdem empfinde ich das Sterben, Krank-heit, das Leiden als Folge von Krieg von Kriegs-traumatisierung das Schlimmste. Denn Kriegist von Menschenhand gemacht.

Im Zentrum eines jeden Kriegs steht Töten undSterben. Angehörige einer regulären Armee,einer Miliz, oder Widerstandskämpfer stehensich in einem unerbittlichen gegenseitigenMachtkampf auf Leben und Tod gegenüber.Sie sind Teil dieses Kriegs-Systems, aus dem eskein Entrinnen gibt – erst recht nicht für die zi-vile afghanische Bevölkerung, die kollektiv inGeiselhaft genommen wird.

Seit fast neun Jahren kämpfen internationaleSoldaten des NATO-Bündnisses in AfghanistanSeite an Seite mit afghanischen Warlords undkorrupten Eliten. In der Bilanz dieses Kriegeswerden die Opfer der westlichen Soldatenakribisch gezählt, es sind mittlerweile 2004tote Soldaten, davon 43 Bundeswehrsoldaten.Dem stehen seit 2001 geschätzte 10.172-12.969 Tote Zivilisten und Aufständische ge-genüber, eine sehr konservative Schätzungvon Marc Herold, einem amerikanischen Poli-tologen. Die vom Friedensratschlag veröffent-liche Zahl von ca. 60.000 toten afghanischenKriegsopfern, seien es Zivilisten oder aufstän-dische Kämpfer, entspricht vermutlich eherder Realität.

Ihr Alltag heißt Tod, Verwundung, Vergewalti-gung, vor allem für Frauen, Folter, Demüti-

gung, Willkür, Regellosigkeit und extreme Un-sicherheit. Krieg macht krank, die kämpfendenSoldaten und die Aufständischen und erstrecht die Zivilbevölkerung.

Als Ärztin frage ich mich: Warum wird ein Land, in dem die Bevölkerungeine Lebenserwartung von nur 44 Jahren hat, in dem mehr als zwei Drittel (geschätzte 70 –

80 %) der Bevölkerung unter der Armuts-grenze leben, in dem mehr als 50 Prozent allerunter fünfjährigen Kinder in Afghanistan un-terernährt sind, in dem jeder sechste Säuglingin den ersten 24 Stunden nach seiner Geburtstirbt, in dem 24.000 Mütter jedes Jahr an Ge-burtskomplikationen sterben, warum wird dieBevölkerung eines solchen Landes von NATO-Bomben zerstört und von den Milizen der ver-schiedenen Warlords geschunden undermordet? Welches Ziel hat unsere Bundesre-gierung als Teil des NATO-Bündnisses in die-sem Krieg gegen Afghanistan? WelcheRechtfertigung gibt es von Seiten der Bundes-regierung dafür, gesunde junge Menschen,meistens junge Männer gegen den Willen derüberwiegenden Mehrheit der Bevölkerung indiesen Krieg zu schicken, die ihre Seele zer-stört und der sie krank macht?

Es ist gut, dass traumatisierte Soldaten nachihrer Rückkehr Hilfe und psychologische Be-handlung bekommen. Die vielen Erfahrungenvon tiefem Leid, die Soldaten mit nach Hausebringen, führen zwangsläufig zu Veränderungihres Erlebens und Fühlens, zu einer Verände-rung ihrer Persönlichkeit.

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Ohne dass sich heimkehrende traumatisierteSoldaten mit dieser Veränderung ihrer eige-nen Identität und mit ihrer Rolle als Täter aus-einandersetzen, ist Heilung meines Erachtensschwierig. Überlebensschuld und Schuldge-fühle gegenüber den toten Kameraden, ge-genüber der betroffenen Zivilbevölkerunggehören zum System Krieg, werden in unserergesellschaftlichen Kultur aber systematischabgespalten. Soldaten sind Täter und Opfer zu-gleich. Ein Entrinnen aus diesem System ge-lingt nur über den Weg zum Frieden. Friedenheilt, der Weg, den die kriegsmüde Bevölke-rung in Afghanistan ebenso wie unsere deut-sche Bevölkerung seit langem ersehnt.

Ich hoffe, dass Sie und wir alle, wenn wir heuteaus diesem Saal auseinander gehen, morgenund übermorgen und jeden Tag viel Aktivität,viel Kraft in die Hand nehmen und ganz viel fürden Frieden tun. Danke.

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Appell der Friedensbewegung

Es gibt Signale der Hoffnung. 70 Prozent derDeutschen sprachen sich im April dieses Jah-res für einen schnellen Abzug der Bundeswehraus Afghanistan aus.

Ein breites Bündnis der Friedensbewegungruft zu einer Unterschriftensammlung auf, umden Druck auf Bundesregierung und Bundes-tag zu erhöhen, die Bundeswehr aus Afghanis-tan abzuziehen.

Zu den Erstunterzeichner/-innen gehörenunter anderem folgende bundesweite Organi-sationen:• Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden

(GDF) • Bundesausschuss Friedensratschlag• Bund für Soziale Verteidigung (BSV) • Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte

KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) • Internationaler Versöhnungsbund -

Deutscher Zweig e.V. • Juristinnen und Juristen gegen atomare,

biologische und chemische Waffen (IALANA) • Internationale Ärzte für die Verhütung des

Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwor-tung e.V. (IPPNW) • Kooperation für den Frieden • Naturwissenschaftlerinitiative für Frieden

und Zukunftsfähigkeit • pax christi, Internationale Katholische

Friedensbewegung, Deutsche Sektion • Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes

Bund der Antifaschisten (VVN-BdA)

Unterzeichen Sie den Aufruf. Nehmen Sie sichbitte Unterschriften-Listen von dieser Veran-staltung mit. Sprechen Sie mit ihren Freundin-nen und Freunden, ihren Kolleginnen undKollegen, mit allen ihren Bekannten über dieZiele des Aufrufes. Helfen Sie mit, die die Mei-nung der übergroßen Mehrheit in diesemLand politisch Praxis wird.

Die Botschaft des Appells ist einfach und ein-deutig:

Den Krieg in Afghanistan beenden – zivil helfen

Wir fordern von Bundestag und Bundes-regierung• den Stopp aller Kampfhandlungen,• den sofortigen Beginn des Abzugs derBundeswehr aus Afghanistan,

• den Einsatz der frei werdenden Gelderzur Verbesserung der Lebensbedin-gungen der afghanischen Bevölkerungnach deren Bedürfnissen.

So haben ein selbstbestimmter Friedensprozess und der zivile Aufbau in Afghanistan eine Chance.

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