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330 Petra Gehring, Vom Begriff des Politischen zur ersten Philosophie Vom Begriff des Politischen zur ersten Philosophie Von PETRA GEHRING (Darmstadt) OLIVER MARCHART: DIE POLITISCHE DIFFERENZ. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 391 S. Das Buch ist wie zwei Bücher. Zum einen lässt sich Die politische Differenz als informative Zusammenschau lesen. In einem knackigen und gerade auch für Einsteiger gut geeigneten Durchgang gibt der Soziologe Oliver Marchart einen Überblick über eine Anzahl aktuell viel diskutierter politischer Philosophien, die er als Vertreter eines „französische[n] Heideggeria- nismus der Linken“ (19) charakterisiert. Vor dem gemeinsamen postmarxistischen Hintergrund kann „politische Differenz“ als Überschrift dienen, sofern ein Augenmerk auf das Politische alle Autoren kennzeichnet, und zwar auf ein „Politisches“ jenseits bloßer „Politik“. Von der Politik ist eine Ebene des Politischen abzuheben: Damit ist auch Marcharts Blickwinkel benannt. Fünf Kapitel behandeln Jean-Luc Nancy (und Philippe Lacoue-Labarthe), Claude Lefort, Alain Badiou, Ernesto Laclau (und Chantal Mouffe) sowie Giorgio Agamben. Darüber hinaus findet sich ein Exkurs zu Jacques Rancière, und eine Fülle weiterer Ansätze wird zur verglei- chenden Komplettierung des Bildes mit beigezogen. So kommen nicht nur Theoriegrößen wie Etienne Balibar, Judith Butler, Antonio Negri oder Slavoj Žižek und immer wieder Derrida zur Sprache, sondern auch Thesen von Miguel de Beistegui, Jean-Paul Coujou, Fred Dallmayr und Brought to you by | Staatsbibliothek zu Berlin Preussischer Kulturbesitz Authenticated Download Date | 10/6/15 4:29 PM

Gehring (2011) Vom Begriff Des Politischen Zur Ersten Philosophie

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Review von OLIVER MARCHART: DIE POLITISCHE DIFFERENZ. Zum Denken des Politischen beiNancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010Von Petra Gehring (Darmstadt) In:Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jahr 2011, Nr. 59, Band 2, ss. 330-334

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zierten tatsächlichen Sprachgebrauch nur sehr wenig zu tun haben. Und dies soll ja nach Puntel auch so sein.

6. Der gesamte Ansatz von Puntel ist wider Willen dadurch interessant und aufschlussreich, dass man ihn als Gedankenexperiment lesen kann: Wie könnte/würde man denken, wenn es keine kritische Philosophie Kants, keinen Pragmatismus, keine Phänomenologie und Hermeneutik, keine Lebens- und Existenzphilosophie, keine Ontologiekritik Heideggers und keine Sprachkritik und Alltagssprachanalyse Wittgensteins gegeben hätte?

7. So ergibt sich eine Restitution der Vormoderne/Voraufklärung mit formal-analytisch-ontologischen Mitteln, die weder sozial noch kulturell noch praktisch-lebensbezogen vorgehen zu können meint. Daher werfen die Werke ein Licht auf mögliche Selbstmiss-verständnisse philosophischen Denkens.

8. Im Eingehen auf alternative Ansätze, auf Putnam, auf Brandom, auf Lévinas und Mari-on, insbesondere auf Heidegger und immer wieder auf Kant, klingen Möglichkeiten der Selbstkritik an. Diese aber werden nicht genutzt und nicht entwickelt, da kein erkenn-barer Lebens-, Praxis- und Sprachbezug zugelassen wird, weder auf den Alltag noch auf die Kontexte der Reflexion und Theoriebildung, noch auf den der religiösen Sprache zum Beispiel in der Bibel, in ethischen Selbstverständnissen, in modernen und gegen-wärtigen Rezeptions- und Transformationsprozessen im Kontext der sozialen Wirklich-keit. Welche Sinnkriterien bleiben, um einen Isolationismus der reinen Theorie in Onto-logie und Theologie zu begründen? Die Identifikation einer bestimmten Ontologie mit einer bestimmten Semantik und deren Absolutsetzung?

Vom Begriff des Politischen zur ersten Philosophie

Von PETRA GEHRING (Darmstadt)

OLIVER MARCHART: DIE POLITISCHE DIFFERENZ. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 391 S.

Das Buch ist wie zwei Bücher. Zum einen lässt sich Die politische Differenz als informative Zusammenschau lesen. In einem knackigen und gerade auch für Einsteiger gut geeigneten Durchgang gibt der Soziologe Oliver Marchart einen Überblick über eine Anzahl aktuell viel diskutierter politischer Philosophien, die er als Vertreter eines „französische[n] Heideggeria-nismus der Linken“ (19) charakterisiert. Vor dem gemeinsamen postmarxistischen Hintergrund kann „politische Differenz“ als Überschrift dienen, sofern ein Augenmerk auf das Politische alle Autoren kennzeichnet, und zwar auf ein „Politisches“ jenseits bloßer „Politik“. Von der Politik ist eine Ebene des Politischen abzuheben: Damit ist auch Marcharts Blickwinkel benannt. Fünf Kapitel behandeln Jean-Luc Nancy (und Philippe Lacoue-Labarthe), Claude Lefort, Alain Badiou, Ernesto Laclau (und Chantal Mouffe) sowie Giorgio Agamben. Darüber hinaus findet sich ein Exkurs zu Jacques Rancière, und eine Fülle weiterer Ansätze wird zur verglei-chenden Komplettierung des Bildes mit beigezogen. So kommen nicht nur Theoriegrößen wie Etienne Balibar, Judith Butler, Antonio Negri oder Slavoj Žižek und immer wieder Derrida zur Sprache, sondern auch Thesen von Miguel de Beistegui, Jean-Paul Coujou, Fred Dallmayr und

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anderen. Zwischen all diesen Werken und Namen hält Marchart seinen Leitfaden, die Frage nach der Differenz Politik/Politisches, fest in der Hand. Er schreibt locker und glasklar. Neben der Prägnanz der Referate liegt vor allem in deren kenntnisreicher Verflechtung eine der Stärken des Buchs: Es beeindruckt als – auch kritisches – Portrait einer ganzen theoretischen Landschaft. Vor allem vergleichend besehen erweist sich diese als komplex. Wo Lacoue-Labarthe und Nancy, Badiou und Rancière Figuren eines in letzter Instanz moralisch-ethischen Durch-bruchs entwerfen und der Ebene bloßer „Politik“ entgegenhalten, setzen Lefort, Laclau und Mouffe auf Wege der Prozeduralisierung eines unaufhebbaren Konflikts, wobei Antagonis-men nicht verleugnet oder marginalisiert werden sollen. Agamben wiederum verweist auf die an Benjamins Gewaltaufsatz gemahnende Instanz des „reinen Mittels“ und forciert ansonsten die Aporie: Politik und Politisches kommen nicht zusammen. Während Badiou und Rancière schlichtweg unterstellen, im Zeichen „des“ Politischen gehe es stets politisch in die richtige Richtung (Marchart nennt das „emanzipatorischen Apriorismus“; vgl. 250), sind andere Auto-ren vorsichtiger. Hier bleibt das Politische in der Pflicht, sich tatsächlich immer wieder an der Frage nach ‚guter‘ Politik zu messen. Dies dann im Namen eines kommunitären Wir, zu Gunsten von Forderungen der „Anteilslosen“ oder in Gestalt eines angemessenen Umgangs mit Antagonismen. Unterschiedlich stellen sich die Autoren auch zur Frage der Demokra-tie – von dem Maoisten Badiou über den antidemokratischen Politikpessimismus Agambens, den Quasi-Anarchismus Nancys bis hin zu den Vorschlägen von Lefort, Lauclau und Mouffe, die auf radikalisierte Demokratiekonzepte hinauslaufen. Dass in der Tradition eines Denkens des Politischen bereits mit Hannah Arendt und Carl Schmitt zwei Linien existieren, eine der politischen Assoziation im gemeinsamen (machtvoll-legitimatorischen) Handeln und eine der politischen Dissoziation im Freund/Feind-Schema des (kriegerischen) Ernstfalls, macht Marchart deutlich. Er versucht jedoch nicht, seine Auto-ren diesbezüglicher Pfadentscheidungen zu überführen und lädt überhaupt die Alternative Arendt/Schmitt – wie ja auch den „Heideggerianismus“ – nicht moralisch auf. Durchaus quer zu ihrem Verständnis des Politischen bekennen sich Marcharts Autoren in sehr unterschiedlicher Weise (nicht) zur Philosophie. So weist Badiou Philosophie brüsk zurück, um politisch kompromisslos Wahrheit zu fordern, und auch Rancière steht für einen Primat der Politik vor Philosophie. Nancy und Lacoue-Labarthe folgen hingegen eher Derrida und also dem Heideggerschen Muster: Gegen Verfallsformen des Philosophischen bedarf es um ihrer selbst willen einer (Selbst-)Dekonstruktion der Philosophie. Das Politische jedenfalls ist nicht direkt zu haben. Es ist „Entzug“, wobei es als „ent-gründendes Gründen“ ebenso notwendig ist. Der Differenz die Treue zu halten: Das ist der heideggerianische Grundeinsatz, der im Buch durchweg herausgearbeitet wird. Nur um den Preis des Rückfalls auf bloß empirische Politik(en) darf die politische Philosophie die Frage nach dem Grund des Politischen aus den Augen lassen, stellt sie doch den Schlüssel zur onto-logischen Ebene sowie zur politischen Differenz dar und auch den Schlüssel zur Ebene einer „politischen Ontologie“ (245 ff.). Damit zum gleichsam zweiten Buch, das Marchart mit Die politische Differenz geschrie-ben hat – nämlich zu seiner eigenen Wendung der von ihm gezeichneten „postfundamentalis-tischen“ Problemlage. Bemerkenswert sind zunächst einige diagnostische Erträge. Sehr deutlich arbeitet Marchart heraus, wie der französische Heideggerianismus sich von der alten Bindung der politischen Kri-tik an die Sozialwissenschaften ablöst. Ein Primat der Politik hat die Verankerung im Horizont des Gesellschaftlichen ersetzt. Politik gegen Polizei – nicht nur in der Sache, sondern als Wahl einer anderen Wirklichkeitsebene: Politische Politik stellt sich gegebenenfalls gegen die zu han-delsüblichen Politikformaten gehörige Empirie. Damit nicht zwingend verbunden, aber offenbar

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schwer vermeidbar, handelt „Postfundamentalismus“ sich neue Unbestimmtheiten ein. So fallen etliche Autoren durch vages ethisches Pathos auf. Gemeinschaftsbegriffe wie „Kommunität“ (Nancy) oder „Lebens-Form“ (Agamben), aber auch alteritätstheoretische Überlegungen lassen politische Philosophie ins Reich moralischer captationes benevolentiae einschwenken – wenn nicht gar in das einer verkappten Theologie, „denn hinter nahezu jeder Ethik steckt eine Theolo-gie“ (235), bemerkt Marchart, der den Hang zum „Ethizismus“ in deutlichen Worten kritisiert. Generell scheint es schwer, die ontologisch hochtransformierte Ebene der Differenz wie-der zu verlassen. So hapert es mit konkreten Politikbezügen. Dass Konzepte wie „Ereignis“ den Platz einer Programmatik des Handelns einnehmen, kritisiert Marchart nicht. Er moniert aber verschiedentlich einen „Philosophismus“ – sagen wir also: eine gewisse Schreibtisch-lastigkeit – der Ansätze seiner Autoren: Die einen sehen Momente eines tatsächlich Poli-tischen nahezu überall, die anderen betonen seine Seltenheit, Badiou zufolge ereignet es sich fast nie. Kriterien fehlen. Dies hält, würde man mit Marchart sagen, die beiden so verschie-denen Seiten der politischen Differenz nicht wirklich unter Spannung. Vielmehr steht ein bloßes Politisches im Raum ohne Chancen für plausible Bezüge zur Politik. Solche Bezüge aber will Marchart haben. In drei abschließenden Kapiteln entwickelt er Bausteine einer politischen Relativierung der Ideengeschichte, eines Konzepts „minima-ler Politik“, einer (von ethischer Politik klar geschiedenen) politischen Ethik sowie einer Demokratietheorie, die erstens an der Unverzichtbarkeit des Politischen wie an den Heraus-forderungen der Differenz mit Nachdruck festhält und zweitens – ebenso ambitioniert wie provokativ – mit dem Plädoyer für eine politische prima philosophia mit „über-historischer Geltung“ (365) endet. Wie das geht? In der gebotenen Kürze lässt sich festhalten, dass der „politischen Differenz“ entsprechende Entzugsfiguren – und dazu das Gebot, diesen durch Selbstzurücknahme prak-tisch Rechnung zu tragen – auch in Zusammenhängen der Formierung von politisch handlungs-fähigen Einheiten wiederkehren. Mit Lacan rekonstruiert Marchart die Subjektkonstitution als prekär. Wir handeln auf der Basis von Selbst-Verkennung, was gelebten Anerkennungsverhält-nissen aber zu Gute kommen kann, sofern der Andere mir damit tendenziell näher rückt: Im Grenzfall ist er mir nicht fremder als ich mir selbst. Ähnliches gilt auf der Ebene öffentlicher Kämpfe. „Antagonismus“ sei ein Name des Politischen, so Marchart mit Laclau und Mouffe. Und zwar eben einer, welcher der Depotenzierung des Politischen auch im Zusammenhang mit Politik im engeren Sinne entgegenwirkt: Antagonismen auszutragen, schaffe Kollektive und verhindere eine vorschnelle Schließung von Kämpfen. Als Bindeglied zwischen Ethik und Poli-tik empfiehlt Marchart einen renovierten Begriff der „Solidarität“. Auch diese kann auf „Entso-lidarisierung mit dem Eigenen“ beruhen, statt sich auf Zugehörigkeit zu gründen. Von Symme-trieerwartungen macht sich eine solche ungegründet-gegründete Solidarität los und kann, was Projektionen hinsichtlich des Anderen angeht, voraussetzungslos operieren (vgl. 359). Jeweils entscheidend ist somit die – nennen wir es: unbedingte – Notwendigkeit einer Unmöglichkeit sowie eines – im Moment des Politischen – gebotenen Rekurses auf eine (durch die Latenz einer dazugehörigen Unmöglichkeitsebene verbürgte) Form der negativen Transzendenz. Die Differenz im Singular fasst dies zusammen. Marchart spricht selbst von einer typisch postfundamentalistischen Wendung: Die Dimension der Universalität ist als sol-che zu verneinen, aber dennoch nicht überflüssig, denn in ihrer indirekten Präsenz gewährt sie, dass das Denken aus der Verneinung nichts Endgültiges ableiten kann. Und das heißt politisch, dass nichts und niemand den Platz der Herrschaft endgültig besetzt: „Der Ort der Universalität bleibt entleert präsent und kann von einem Partikularismus nur vorübergehend inkarniert werden.“ (303) Von daher soll Demokratie sich erweisen „als eine Form des Zusam-menlebens, in welcher Kontingenz – als Abwesenheit eines letzten Grundes – als notwendig

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erachtet wird“ (331). Grundlosigkeit, ja geradezu Selbstentfremdung sind gewissermaßen die heimliche Stärke demokratischer Politik: Sie sichern die konstanten Infragestellungen, in denen sich demokratische Institutionen (und auch die Subjekte demokratischer Politik) im Konkreten immer wieder neu zum Politischen herausgefordert finden. Liest man Marcharts zweifach ergiebiges Buch mit Vergnügen, so bleiben doch Fragen. In der Analyse hinterlassen vor allem zahlreiche „Ismen“ ein unzufriedenes Gefühl. Wenn Marcharts „Postfundamentalismus“ sich pauschal von linkem „Antifundamentalismus“ und „Immanentismus“ absetzt, so muss man raten, wer gemeint ist: Politikerpragmatismus? Sozi-ologie und Politikwissenschaft? Oder nicht vielleicht doch auch philosophische Gegner? Etwa die ebenfalls postmarxistischen, jedoch etwas weniger heideggergläubigen und dafür nietzsche-anischen Differenztheorien: Eine (ontologische) Differenz versus viele (ontische) Differenzen? Lediglich Deleuze und Guattari werden kurz genannt und zurückgewiesen. Feministisch-poli-tisches Differenzdenken erhält eine Erwähnung. Und Lyotard – zeitweilig Libidoökonom, dann Linksheideggerianer, also ein interessanter Wanderer zwischen den Welten – wird gar nicht behandelt, was auch deshalb wundert, weil namentlich Lyotards Spätwerk Le Différend (Der Widerstreit) die Diskursart „Politik“ so ausdrücklich von dem politischen Anliegen unter-scheidet, eine unaufhebbare Differenz zu bezeugen, also das, was er „den Widerstreit“ nennt. Hier hätte man sich mehr Auseinandersetzung gewünscht, philosophisch und auch politisch. Ansonsten erstaunt die politische Kraft, welche Marchart der Bekehrung zum „Ontolo-gischen“ zutraut, leiten sich die (Selbst)Infragestellungskaskaden doch aus der formalsten aller formalen Figuren – eben der „Entgründung“ – her. Auch das hinterlässt in der philoso-phischen, aber auch in der politischen Kopfhälfte der Rezensentin Fragen. Kann ein Abwe-senheitspostulat qua Negativität wirklich, und sei es nur quasi-fundierend, wirken? Oder, um eine Anleihe bei Hegel zu machen: Funktioniert bereits die unbestimmte Negation kritisch? Lässt sich das Politische „erfahren“? Bedarf es nicht doch eines durch und durch „ontischen“, historisch-gegenwärtigen Realen – und also einer „bestimmten Negation“, damit der Sinn für das, was nicht ist, zu einem politischen Stachel wird? Hier kann die Rezensentin Zweifel nicht verhehlen. Was man als „ontologisch“ unwiderleglichen (und in diesem Sinne notwen-digen) Begleitumstand jederzeit aufzeigen mag, macht nicht schon deshalb etwas möglich. Geschweige denn, dass es Machtverhältnisse berührt. Oder sogar verändert. Man möchte dem Postfundamentalismus mit seinem Glauben an die radikalisierende Kraft des Negativen gewissermaßen alles Gute wünschen. Aber wenn dann die Rede ist vom „Grund, der nie erreicht werden kann und dennoch den Status eines Fundaments geltend macht“, einer „Ursache, die nichts bestimmt und dennoch Effekte ihrer Abwesenheit produ-ziert“ (364), fällt gerade, wer an Situationen denken möchte, die zum politischen Handeln drängen, aus dem Film. Eben weil Politisches sich nicht wie eine religiöse Erleuchtung oder wie ein Kunstwerk ereignet, gleichsam aus einer immer möglichen Latenz heraus, sondern sich an sehr fassbaren und sehr irdischen Umständen auskristallisieren und dann zu Ausnahmeformaten steigern kann, ist es wirklich – auch über bestimmte diskursive Routinen hinaus. Aber weder ist es deswegen gleichsam der Feiertag ansonsten unpolitischer Wochen, noch müssen die kleinen Dinge und Konfliktlagen der „ontische“ Ebene verraten werden, um ins Reich der ausge-zeichnet politischen Relevanzen überzuwechseln. Überhaupt fragt sich, warum eine diffe-renztheoretische Theorie des Politischen ausdrücklich eine „politische Differenz“ – und also die explizite Ausgrenzung eines Nicht-Politischen – zum Thema macht. Angenommen, es gibt eine politische Differenz – wie thematisiert man sie dann? Und wer kann, wenn sie mit Exklusionen verbunden ist, entscheiden, wo sie beginnt? Damit ist ein Punkt berührt, den Marchart an zwei Stellen anspricht. Dort, wo er nicht nur politische Phi-

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losophie betreiben will, sondern die „Inversion des traditionellen Prioritätsverhältnisses zwi-schen Ontologie und politischer Philosophie“ einfordert (vgl. 272), wird erstens der ‚reinen‘ Philosophie das letzte Wort genommen. Nicht einer abgehobenen Reflexionswissenschaft, sondern dem Politischen als Reflexion soll der Primat gebühren. Dies zu thematisieren, pro-voziert einen Gegner, der sich wehren kann: die Philosophie und das Wissenschaftssystem. Zweitens ist da ja aber auch noch die Welt der vielfältigen, profanen Differenzen: Will man hier ebenfalls das Politische herausheben, so muss man die Kategorie des Apolitischen explizit einführen. Marchart tut dies. Er unterscheidet das subtil Unpolitische, welches welt-lich-profane Politik produktiv herausfordern kann (vgl. 279 ff.), von einem Apolitischen, das den Namen des Politischen nicht verdient (vgl. 298 ff.). Sein Kriterienkatalog einer „minima-len Politik“ (die Apolitisches und auch Strategien einer „Mikropolitik“ ausscheidet) ist kon-sequent, aber in seiner programmatischen Klarheit bemerkenswert. Es bleibt offen, ob dies Gegner trifft, die sich wehren können. Wird die politische Differenz hier nicht doch – gerade aus der Sicht einer politischen Differenz – zu einer Messlatte, wobei womöglich noch nicht mit der Frage, ob es sie gibt, sondern mit der Frage, wer sie in der Hand hält, das Vordenker-tum beginnt? Wer aus Schweigen wütend und zornig aufbegehrt, mag andere, die von seinem oder ihrem Elend wegsehen, zu Recht als apolitisch bezeichnen. Wer aber Bücher über das Politische schreibt, sollte dies doch besser nicht tun.

Erfahrungssubjekte und Erfahrungsinhalte

Von JoHANNEs HAAG (Potsdam)

URSULA RENZ: DIE ERKLäRBARKEIT VON ERFAHRUNG. Realismus und Subjektivi-tät in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes. Vittorio Klostermann, Frankfurt/M. 2010, 353 S.

Mit ihrer breit angelegten Studie über Die Erklärbarkeit von Erfahrung, die exegetischen und systematischen Anspruch eindrucksvoll verbindet, legt Ursula Renz die erste große deutsch-sprachige Monographie zu Spinozas Ethik seit mehr als einem Jahrzehnt vor. Renz knüpft in dieser Untersuchung zwar bewusst an die deutsche Tradition der Spinoza-Exegese an, setzt sich aber in ihrer äußerst kenntnisreichen und sorgfältigen Rekonstruktion von Spinozas Argumentation auch intensiv mit den Forschungsbeiträgen sowohl der analy-tischen als auch der hermeneutisch-kontinentalen Tradition auseinander. Dabei belässt sie es nicht bei einer kritisch-abgrenzenden Auseinandersetzung mit diesen häufig konkurrierenden Ansätzen, sondern es gelingt ihr über weite Strecken, die extrem unterschiedlichen Herange-hensweisen in einer komplexen exegetischen Synthese zu verbinden und miteinander in ein fruchtbares Gespräch zu bringen. Auf diese Weise entsteht ein facettenreiches, vielgestaltiges und doch in sich schlüssiges Bild der Ethik, das aufbauend auf das Beste aus verschiedenen Traditionen an vielen zentralen Punkten exegetisches Neuland betritt. Das übergreifende Thema ist im Titel der Studie präzise erfasst: Es geht um die Erklärbar-keit von Erfahrung und die Frage, wie eine Theorie des Geistes aussehen muss, die in der Lage sein soll, eine aussichtsreiche Antwort auf diese Frage zu formulieren. Erklärtes exegetisches Ziel der Autorin ist es, nachzuweisen, dass es Spinoza in seiner Ethik gelingt, eine derartige Theorie zu entwickeln – und zwar vor dem Hintergrund eines „realistischen Rationalismus“

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