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GERHARD BOTZ GENESIS UND INHALT DER FASCHISMUS- THEORIEN OTTO BAUERS* Wie kaum ein anderer Theoretiker des Austromarxismus hat sich Otto Bauer eingehend mit dem Faschismus beschaftigt. Sein Beitrag zur gedanklichen Durchdringung des historischen Rohmaterials hat auch heute kaum an Aktualitat verloren. Zwar hat der GeschichtsprozeB seit den Analysen Bauers neue ,,Fakten" gehefert, die er wohl nicht geringer geschatzt hatte, als er es in seinen theoretischen und prak- tisch-politischen Arbeiten tat, die auch manche Einzelheiten seiner Darstellungen korrigieren oder erganzen; zu einer grundsatzlichen Revision seiner Begriffsbestimmung des Faschismus in seinen letzten Lebensjahren sind weder Optimismus beziiglich der gesellschaftlichen Entwicklung in den ehemals faschistischen Landern noch der Stand der heutigen Faschismusdiskussion AnlaB genug. Bauers Faschismus- interpretation beschrankt sich nicht auf die vorgeblich ,,objektive" Aneinanderreihung deskriptiver Satze solche sind gewiB auch notig -, sie hat vielmehr den Vorzug, im Rahmen einer expliziten Theorie der Gesellschaft zu stehen und einen echten Erklarungsversuch anzuvi- sieren. Faschismus bleibt so nicht ein letztlich Unerklarbares, er wird aber auch wegen Bauers hoher Apperzeptionsfahigkeit nicht zur leeren Formel, die einerseits den historisch-empirischen Befund negiert, an- dererseits jede Form terroristischer Unterdriickung oder alle Formen biirgerlicher Herrschaft iiberhaupt gleichsetzt. Bauer hiitet sich auch meist vor dem polemischen Gebrauch des Wortes Faschismus, der gerade in den letzten Jahren wieder auf der biirgerlichen Seite, aber auch bei der Linken nicht selten zu beobachten ist, obwohl gerade er nach 1934 alien AnlaB gehabt hatte; auch in der tiefsten Verbitterung nach der Niederlage der osterreichischen Sozialdemokratie ist er im Stande, zwischen dem eigentlichen Faschismus in seiner italienischen und deutschen Spielart und halb- oder scheinfaschistischen Dikta- turen wie dem ,,christlichen Standestaat" DollfuB' zu differenzieren. * Fur wertvolle Hinweise bin ich Herrn A. V. N. van Woerden, Internationales Institut fur Sozialgeschichte, Amsterdam zu groBem Dank verpflichtet.

Genesis und Inhalt der Faschismustheorien Otto Bauers

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GERHARD BOTZ

GENESIS UND INHALT DER FASCHISMUS-THEORIEN OTTO BAUERS*

Wie kaum ein anderer Theoretiker des Austromarxismus hat sich OttoBauer eingehend mit dem Faschismus beschaftigt. Sein Beitrag zurgedanklichen Durchdringung des historischen Rohmaterials hat auchheute kaum an Aktualitat verloren. Zwar hat der GeschichtsprozeBseit den Analysen Bauers neue ,,Fakten" gehefert, die er wohl nichtgeringer geschatzt hatte, als er es in seinen theoretischen und prak-tisch-politischen Arbeiten tat, die auch manche Einzelheiten seinerDarstellungen korrigieren oder erganzen; zu einer grundsatzlichenRevision seiner Begriffsbestimmung des Faschismus in seinen letztenLebensjahren sind weder Optimismus beziiglich der gesellschaftlichenEntwicklung in den ehemals faschistischen Landern noch der Standder heutigen Faschismusdiskussion AnlaB genug. Bauers Faschismus-interpretation beschrankt sich nicht auf die vorgeblich ,,objektive"Aneinanderreihung deskriptiver Satze — solche sind gewiB auch notig -,sie hat vielmehr den Vorzug, im Rahmen einer expliziten Theorie derGesellschaft zu stehen und einen echten Erklarungsversuch anzuvi-sieren. Faschismus bleibt so nicht ein letztlich Unerklarbares, er wirdaber auch wegen Bauers hoher Apperzeptionsfahigkeit nicht zur leerenFormel, die einerseits den historisch-empirischen Befund negiert, an-dererseits jede Form terroristischer Unterdriickung oder alle Formenbiirgerlicher Herrschaft iiberhaupt gleichsetzt. Bauer hiitet sich auchmeist vor dem polemischen Gebrauch des Wortes Faschismus, dergerade in den letzten Jahren wieder auf der biirgerlichen Seite, aberauch bei der Linken nicht selten zu beobachten ist, obwohl gerade ernach 1934 alien AnlaB gehabt hatte; auch in der tiefsten Verbitterungnach der Niederlage der osterreichischen Sozialdemokratie ist er imStande, zwischen dem eigentlichen Faschismus in seiner italienischenund deutschen Spielart und halb- oder scheinfaschistischen Dikta-turen wie dem ,,christlichen Standestaat" DollfuB' zu differenzieren.

* Fur wertvolle Hinweise bin ich Herrn A. V. N. van Woerden, InternationalesInstitut fur Sozialgeschichte, Amsterdam zu groBem Dank verpflichtet.

OTTO BAUERS FASCHISMUSTHEORIEN 29

Wie jeden wissenschaftlichen Erklarungsversuch wollte Bauer dieFaschismustheorie nur als annaherungsweises Abbild der ,,Tatsachen"

' verstanden wissen, als notwendig mit Vereinfachung behaftete Typi-sierung,1 deren Grenzen und Grad auch in jedem anderen Fall vonWissenschaft nach Bauer entscheidend durch materielle Moglichkeitenund praktischen Zweck mitbestimmt sind. Gerade letzteres solltenicht iibersehen werden, steht doch Bauers Faschismusinterpretationin engem Zusammenhang mit den Aufgaben der praktischen Politikder bsterreichischen sozialdemokratischen Partei, sei es etwa mit derBeurteilung der konkreten Situation nach der Revolution von 1918-19,sei es mit der Abfassung eines neuen Parteiprogramms oder sei es mitder Neuorientierung nach der politischen Niederlage und den Not-wendigkeiten des antifaschistischen Kampfes. Abgesehen vom Inhaltdriickt sich dies schon allein im zunehmenden Umfang und in derAusfiihrlichkeit seiner Erklarungsmodelle des Faschismus aus.

Die Erklarungsversuche des Faschismus sind nahezu so alt wiedieser selbst. Unter dem Eindruck des historischen Ablaufes unter-lagen sie seit den Anfangen einer Ausgestaltung, Akzentverschiebung,iiberhaupt einer Entwicklung, die sich weniger kontinuierlich alsschubweise vollzogen hat. Die grofien Zasuren hierin sind auch solcheder Geschichte der beiden begriffsbestimmenden Hauptformen desFaschismus, des italienischen Faschismus und des deutschen National-sozialismus.2 Dies gilt auch fur Otto Bauers Erklarungsversuch.Dessen Entstehungsgeschichte und Inhalt in seiner schlieBlichen Formsei in der Folge iiberblicksweise behandelt.

FASCHISMUS ALS BONAPARTISMUS

Die erste, uber das auch in der osterreichischen Sozialdemokratiedamals ubliche, durchaus unbefriedigende Erklarungsschema desFaschismus als Ausdruck der Konterrevolution und monarchistischenRestaurationsbestrebungen3 hinausgehende Faschismustheorie Bauerswurde Anfang 1924 im theoretischen Organ des Austromarxismus,Der Kamfif, veroffentlicht.4 Dort fiihrte Bauer in einer Auseinander-

1 Vgl. seine an die neopositivistische Erkenntnistheorie Ernst Machs anschlieBen-den Bemerkungen: Otto Bauer, ,,Das Gleichgewicht der Klassenkrafte", in:Der Kampf, Sozialdemokratische Monatsschrift, 17. Jg. (1924), S. 57-67, hierS. 62f.2 Renzo De Felice, Le interpretazioni del fascismo, 1. Aufl., Bari 1969, S. 7,129ff.3 Siehe Julius Deutsch, Die Fascistengefahr, Wien 1923; ders., SchwarzgelbeVerschworer, Wien 1923; vgl. auch ders., Wer riistet zum Burgerkrieg? NeueBeweise fiir die Riistungen der Reaktion, Wien 1923.4 Bauer, ,,Das Gleichgewicht der Klassenkrafte", a.a.O., S. 57ff.

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setzung mit einer Kritik Hans Kelsens seine Theorie des Gleichge-wichts der Klassenkrafte, die er in seinem kurz zuvor erschienenenBuch iiber die osterreichische Revolution entwickelt hatte,1 pointierteraus. Der linksliberale Staatsrechtler Kelsen, ,,Vater" der osterreichi-schen republikanischen Verfassung, hatte schon damals den Zusam-menhang dieser Theorie mit der Notwendigkeit seitens der oster-reichischen Sozialdemokratie, das Eingehen von Regierungskoalitio-nen mit den groBen biirgerlichen Parteien zwischen 1918 und 1920theoretisch zu rechtfertigen, erkannt und auf Widerspriiche zu derMarxschen Staatsauffassung und Bauers friiheren theoretischen Positi-onen hingewiesen und eine ,,Wendung von Marx zu Lassalle" konsta-tiert.2

Bauer bemiihte sich nun, aus den Schriften von Marx und Engelsnachzuweisen, da8 diese noch eine andere Form des Staates kanntenals die eines Mittels der Klassenherrschaft, einer Organisation zurAufrechterhaltung des Ausbeutungsverhaltnisses, wie Kelsen erinnerthatte. In Perioden, in denen eine junge, aufsteigende Klasse sozialund okonomisch so erstarkt sei, dafi sie den alten, geschwachtenKlassenkraften das Gleichgewicht halte, komme es zu einer zeitweisenVerselbstandigung der Staatsgewalt gegeniiber beiden Klassen. Weilsich die Krafte der Klassen das Gleichgewicht hielten, konne dieStaatsgewalt nicht das Herrschaftsinstrument einer Klasse bleibenund zu einem Faktor werden, der alle Klassen niederhalte. Marx undEngels hatten jedenfalls so die Entstehung des Absolutismus imscheinbaren Gleichgewicht zwischen Biirgertum und Feudalstandenund die des Bonapartismus in einer Periode erklart, ,,wo die Bourgeoi-sie die Fahigkeit, die Nation zu beherrschen, schon verloren, und wodie Arbeiterklasse diese Fahigkeit noch nicht erworben hatte".3 Auchfur die Teilung der Staatsmacht zwischen zwei Klassen in einer Situ-ation des Gleichgewichts fand Bauer in den Werken Marx' iiberEngland seit der Revolution von 1688 die Begriindung.4 Osterreichsei daher auch in der Periode der sozialdemokratisch-burgerlichenRegierungskoalition (1918-1920) und der weiteren Zusammenarbeit der

1 Otto Bauer, Die osterreichische Revolution, Wien 1923, bes. 4. Abschnitt,S. 196-248, bes. S. 242ff. Bauer erwahnt hier den ,,Faschismus" selbst nur zweimalals Form der Gegenrevolution in Italien (S. 268 und 276), obwohl diesem ProblemDeutsch (siehe S. 29, Anm. 3) und Wilhelm Ellenbogen (Faschismus! Das faschi-stische Italien, Wien 1923) schon zur gleichen Zeit Broschiiren widmeten.a Hans Kelsen, ,,Otto Bauers politische Theorien", in: Der Kampf, 17. Jg., S.50-56.8 Karl Marx, Der Burgerkrieg in Frankreich, in Karl Marx, Friedrich Engels,Werke (MEW), Bd 17, S. 338; vgl. bes. ders., Der achtzehnte Brumaire desLouis Bonaparte, ebd., Bd 8, S. 115-207, vor allem S. 204ff.* Bauer, ,,Das Gleichgewicht der Klassenkrafte", S. 58f.

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Klassengegner (bis 1922) eine echte ,,Volksrepublik" gewesen.1 Wieweit diese Interpretation des Klassenverhaltmsses mit den Schriftender beiden Klassiker des Marxismus ubereinstimmt, oder eine originelleWeiterentwicklung des ,,wissenschaftlichen Sozialismus" darstellt, seidahingestellt.2

Dieses Erklarungsschema iibertrug Bauer auf das 20. Jahrhundert.Ausgangspunkt war, daB die durch den Ersten Weltkrieg hervorge-rufenen Revolutionen ,,in vielen Landern einen Zustand des Gleich-gewichts der Klassenkrafte herbeigefuhrt" hatten, der in dreierleiRegierungsformen seinen Ausdruck finde:

In vielen (west- und mitteleuropaischen) Landern, wo weder diebtirgerlichen noch die Arbeiterparteien parlamentarisch allein regierenkonnten, ist es entweder zu formlichen Koalitionsregierungen oder zuverdeckten Formen der Kooperation der Klassengegner gekommen,zum Teil auch unter Ausschaltung des Parlaments.

In anderen Landern haben bewaffnete Parteien die Staatsgewaltiibernommen, und ihrer Diktatur alle Klassen unterworfen. Die eineForm dieser Diktatur ist in der Sowjetunion gegeben. ,,In RuBlandist der Bolschewismus, in seinen Anfangen eine Diktatur des Prole-tariats, unter dem Druck der okonomischen Notwendigkeiten zu etwasganz anderem geworden: Er ist heute, ganz ahnlich wie der Faschismus,die Diktatur einer iiber den Klassen stehenden regierenden Kaste, diein ihrer Praxis die Klasseninteressen der Arbeiter, der Bauern undder Nep-Manner, der neuen Bourgeoisie, gegeneinander ausbalancierenmuB."

Als die andere Ausdrucksform der Diktatur iiber zwei gegnerischeKlassen charakterisiert Bauer den Faschismus folgendermaBen: ,,Deritalienische Faschismus von 1922 ist das Gegenstiick des franzosischenBonapartismus von 1851. In beiden Fallen hat ein Abenteuerer, aufBanden bewaffneter Abenteuerer gestiitzt, das biirgerliche Parlamentauseinanderjagen, damit die politische Herrschaft der Bourgeoisiestiirzen und seine Diktatur iiber alle Klassen aufrichten konnen, weildie Bourgeoisie selbst ihre politische Vertretung im Stiche lieB, ihreeigene Klassenherrschaft preisgab, sich der gegen ihre eigene Staats-macht rebellierenden Gewalt in die Arme warf, um, gegen Preisgabeihrer politischen Herrschaft, ihr vom Proletariat bedrohtes Eigentumzu retten."

1 Bauer, Die osterreichische Revolution, S. 245.• Vgl. Kelsen, a.a.O., S. 50: ,,Wichtig ist, daB Engels diese zwischen den Klassenvermittelnde Funktion des Staates ausdriicklich nur fur einen Schein erklart."Ebenso, jedoch von einer anderen Position aus, kritisierte schon damals OttoLeichter, ,,Zum Problem der sozialen Gleichgewichtszustande", in: Der Kampf,17. Jg., S. 179-187.

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In einer FuBnote hiezu erganzte er noch: ,,Der Faschismus ist nichteine Diktatur der Bourgeoisie, so wenig wie es der Bonapartismus war."Die mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten RegierungenWilhelm Marx (1923-24) in Deutschland und Istvan Bethlen (1922-1931) in Ungarn bezeichnete er als eine ,,Diktatur der Bourgeoisie".Er erkannte jedoch auch schon zu diesem friihen Zeitpunkt, daB dieDiktaturen Hitlers oder Ludendorffs und (Horthys und) Gombos',sollten diese Manner zur Macht kommen, faschistischen Charakterhatten.1

An dieser knappen Definition ist zweierlei bemerkenswert: Daseine ist die Nahe, in der Bauer die faschistische Diktatur zur bolsche-wistischen Diktatur sieht. Bauer faBt aber diese Nahe niemals imSinne einer Identitat von Faschismus und Bolschewismus auf,2 wiedies von den spateren Totalitarismustheorien unternommen wird,wenn er auch diesen teilweise recht nahe kommt.3 Laut Nolte habe erdie russische Revolution sogar als den ,,Ausgangspunkt aller terrori-stischen Erscheinungen der Gegenwart" betrachtet.4 Sein Humanismusund sein liberalistisches Erbe aus dem deutsch-judischen Biirgertum,noch mehr die gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen derosterreichischen Arbeiterbewegung aber auch die Notwendigkeit derpraktisch-politischen Abgrenzung von der kommunistischen Parteimogen solche Vergleiche immer wieder nahegelegt haben. Noch 1936etwa schrieb er, unbeschadet seiner Theorie des ,,integralen Sozialis-mus", hiezu:

,,Selbstverstandlich besteht ein wesentlicher Gegensatz zwischenden beiden modernen Formen der Diktatur. Die faschistischeDiktatur zerstort die Resultate der politischen Emanzipation desIndividuums, um die soziale Emanzipation der Volksmassen zuverhindern. Die Diktatur des Proletariats hebt die Resultate derpolitischen Emanzipation des Individuums auf, um die sozialeEmanzipation der Volksmassen zu erzwingen. Aber so tief undwesentlich dieser Gegensatz auch ist, so haben beide doch gemein,

1 Bauer, ,,Das Gleichgewicht der Klassenkrafte", S. 64.2 Vgl. Otto Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen ? Die Krise der Weltwirtschaft,der Demokratie und des Sozialismus, Bratislava 1936, S. 187ff.3 Bauer ist der Begriff ,,totalitare Diktatur" durchaus gelaufig, setzt jedoch dasAdjektiv unter Anfuhrungszeichen (vgl. ebd., S. 126, 136, 207).4 Ernst Nolte, ,,Vierzig Jahre Theorien uber den Faschismus", in: Theorieniiber den Faschismus, hrsg. v. dems., Koln, Berlin 1967, S. 23; vgl. auch hiezuYvon Bourdet, Otto Bauer et la revolution, Paris 1968, S. 65; Otto Bauer,Bolschewismus oder Sozialdemokratie, 1. Aufl., Wien 1920, S. 99; und NorbertLeser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus, Wien, Frankfurt, Zurich1968, S. 123.

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daB sie zerstoren, was das Zeitalter der biirgerlichen Revolutionan Freiheit und Menschlichkeit erobert hatte; daB sie damit ver-nichten, was das wertvollste Resultat vierhundertjahriger Kampfe,das wichtigste Ergebnis der ganzen burgerlichen Geschichtsepoche,die Grundlage aller Kultur unserer Zeit gewesen ist."1

Zum anderen ist bemerkenswert, daB Bauer den Faschismus alsBonapartismus interpretiert. So selbstverstandlich dies fiir Marxistenauch sein mochte, so war Bauer mit seinem Aufsatz aus dem Jahre1924 neben einigen deutschen Kommunisten um August Thalheimer2

einer der ersten, die das Phanomen des Faschismus als iiber jeneallgemeine Form der Konterrevolution, die schon im Begriff derRevolution impliziert ist, hinausgehend erkannten und unter Riickgriffauf Marxens Schriften interpretierten.3 Es ist sehr wahrscheinlich,daB die Ansatze hiezu schon auf seine Versuche zur Erklarung undRechtfertigung der sozialdemokratischen Politik seit 1918 zuriick-gehen.4 Die Theorie des Klassengleichgewichts, auf die Bauer beson-deres Gewicht legte, basierte einerseits auf denselben klassischenTexten, andererseits legte sie die These von der Verselbstandigung derStaatsmacht nahe. Wahrend es fiir Bauer schon eine Selbstverstand-lichkeit war, iiber die er kein weiteres Wort verlor, daB der Faschismusnicht nur in relativ riickstandigen industriell-kapitalistischen Gesell-schaften wie Italien sondern auch in einem hochindustrialisierten Landwie Deutschland zur Herrschaft kommen konne, eine Prognose, diebis 1930 durchaus nicht allgemein anerkannt war, lassen seine Schriftennoch nicht erkennen, daB er auf den in der faschistischen Massenbewe-gung gelegenen Charakterzug irgendwelchen Wert gelegt hatte. Selbstder Hinweis auf die besondere Rolle des ,,Kleinburgertums" fehlt noch.

1 Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 188f.2 Vgl. Karl Hermann Tjaden, Struktur und Funktion der ,,KPD-Opposition"(KPO), Eine organisationssoziologische Untersuchung zur ,,Rechts"-Oppositionim deutschen Kommunismus zur Zeit der Weimarer Republik, Meisenheim amGlan 1964, S. 29, 272ff.3 Laut Otto Leichter (Befragung durch den Verfasser am 9. August 1972 inBad Goisern/Oberosterreich) gab dazu die linksmenschewistische Interpretationder Sowjet-Diktatur als ,,Thermidor" und ,,Bonapartismus" den AnlaB. Vorallem Theodor Dan veroffentlichte zahlreiche Beitrage im ,,Kampf" (1923-1933),siehe auch ders., ,,Die neue Phase der bolschewistischen Diktatur und dieSozialistische Arbeiter-Internationale", in: 21. Jg. (1928), S. 415.4 Vgl. hiezu als Vorlaufer zu seinem Buch Die osterreichische Revolution die,Referate Bauers in: Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der sozial-demokratischen Arbeiterpartei Deutschosterreichs, abgehalten in Wien vom5. bis zum 7. November 1920, Wien 1920, S. 136-147, bes. S. 143; Protokoll derVerhandlungen des Parteitages der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutsch-osterreichs, abgehalten in Wien vom 25. bis 27. November 1921, Wien 1922,S. 144-160, vor allem S. 149ff.

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Auch das VerhaJtnis von sozial und politisch bedrohter Bourgeoisieund faschistischer Bewegung ist im Gegensatz zu seiner Interpretation10 Jahre spater noch mechanistisch und undifferenziert dargestellt.

IMPLIZITE FASCHISMUSTHEORIE BES LINZER PROGRAMMS

Nach der Restauration der osterreichischen Wirtschaft durch Seipels..Sanierung" verschob sich seit 1924 in der osterreichischen Republikdie reale Macht allmahlich immer mehr zugunsten des Burgertums.Zwar kam dies noch nicht im politischen Krafteverhaltnis zum Aus-druck, ja die Stimmenzahl der sozialdemokratischen Partei stieg nachihrem Tief im Jahre 1920 wieder kontinuierlich an. Auch die ,,anti-marxistischen" paramilitarischen Formationen, Ausdruck verschiede-ner Fruhformen des Faschismus, entwickelten sich bis 1927 in Oster-reich nur zogernd. In dieser Phase, die den Optimismus beziiglich derErringung der Staatsmacht fur die Sozialdemokratie mit dem Stimm-zettel und in parlamentarischen Formen bestatigte, trat in OttoBauers Schriften das Problem Faschismus in auffalliger Weise zuriick.Zwar hielt er am Bonapartismus-Modell weiterhin fest, aber die ten-denzielle Gleichsetzung des Faschismus mit der monarchistischenRestauration, die in den dominierenden bauerlich-aristokratischenund katholischen Elementen des Heimwehrfaschismus ihren AnlaB hat,trug mehr zur Verhiillung als zur Klarung der Verhaltnisse bei. ManmuB jedoch den Repubhkanern dieser Jahre zubilligen, da6 die nachden Restaurationsversuchen des letzten habsburgischen Kaisers (1921)andauernde monarchistische Agitation, die, von Horthy-Ungarn unter-stiitzt, in der christlichsozialen Regierungspartei breite Resonanz fand,in gewissem MaBe berechtigten AnlaB gab, die monarchistische Gefahrnicht zu ignorieren. Zugleich verbarg auch die Krise des italienischenund deutschen Faschismus die von dieser Seite drohende eigentlicheGefahr.

So kam es, daB der Terminus Faschismus in das 1926 beschlosseneLinzer Parteiprogramm nur an einer Stelle Eingang fand.1 Inhaltlichjedoch wurde der Faschismus, wie 1924 bestimmt, an zentraler Stelledes hauptsachlich von Bauer formulierten Programms beriicksichtigt:dort wo es um die Erringung der Staatsmacht ging.2 Schon in einer1924 verfaBten Artikelserie3 hatte Bauer den Gedankengang ent-wickelt, der 1926 praktisch unverandert lautete:1 Protokoll des sozialdemokratischen Parteitages 1926, abgehalten in Linzvom 30. Oktober bis 3. November 1926, Wien 1926, S. 168ff.2 Vgl. die Bemerkungen Bauers iiber die Prognose der faschistischen Gefahr imLinzer Programm: Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 342.3 Zusammengefafit in Otto Bauer, Der Kampf um die Macht, Wien 1924, S.26, 30; vgl. auch Bourdet, Otto Bauer et la revolution, S. 43, 131ff.

OTTO BAUERS FASCHISMUSTHEORIEN 35

Im Verlaufe der Klassenkampfe zwischen Bourgeoisie und Arbeiter-klasse konne nach Gewinnung der proletarischen Randschichten undbiirgerlicher Zwischenschichten der Fall eines Machtgleichgewichtseintreten. Bezeichnenderweise wurde dieses nur mehr mit einer, wennauch kurzfristigen Koalition in Zusammenhang gebracht, aber dieMoglichkeit der bonapartistischen Diktatur unter diesen Bedingungenaus der endgultigen Fassung herausgestrichen.1 Bei dem weiterenRingen um die Herrschaft der Arbeiterklasse in der demokratischenRepublik werde die Bourgeoisie, wenn sie in ihrer Machtstellungbedroht sei, diese nicht freiwillig raumen. ,,Findet sie sich mit der ihrvon der Arbeiterklasse aufgezwungenen demokratischen Republik ab,solange sie die Republik zu beherrschen vermag, so wird sie versuchtsein, die demokratische Republik zu stiirzen, eine monarchistischeoder faschistische Diktatur aufzurichten, sobald das allgemeine Wahl-recht die Staatsmacht der Arbeiterklasse zu iiberantworten drohenoder schon iiberantwortet haben wird." Damit dies aber nicht eintrete,musse die Arbeiterklasse iiber starken EinfluB in Heer und Polizei undiiber eine schlagkraftige paramilitarische Organisation verfugen.2 Derdemokratisch-parlamentarische (Jbergang zur sozialistischen Gesell-schaftsordnung sei zwar in Osterreich der wahrscheinlichere,3 Biirger-krieg und die Notwendigkeit, ,,den Widerstand der Bourgeoisie mitden Mitteln der Diktatur zu brechen",4 wurden jedoch vorsorglichauch in den Bereich des Moglichen gezogen.

Uns interessiert hier nicht die ZweckmaBigkeit oder Fehlerhaftigkeitdieser Formulierungen,6 sondern nur die Aussage des Linzer Partei-programms zum Faschismus. Diese ist allerdings auf verhangnisvolleWeise rudimentar, selbst das Bonapartismus-Schema ist gegeniiber1924 stark vereinfacht. Auch die Diskussionsbeitrage auf dem Partei-tag, in denen einige Male von dem ,,uberall lauernden Faschismus"und der verbreiteten antikapitalistischen Sehnsucht des landlichenKleinbiirgertums nach einem osterreichischen Mussolini (Danneberg)6

- ein interessanter Hinweis, den Bauer erst spater in seiner Faschis-mustheorie rezipierte - gesprochen wurde, andert nichts an dieserFeststellung. Weitaus ofter war die Rede vom Bolschewismus. Ab-gesehen von den theoretischen Mangeln, waren auch politische Grund-voraussetzungen falsch wie die, daB die osterreichische Entwicklung

1 Protokoll [. . .] 1926, S. 174, 177. ! Ebd., S. 175f.* Vgl. auch Bauer, Der Kampf um die Macht, S. 30.4 Protokoll [. . .] 1926, S. 176.6 Vgl. hiezu Norbert Leser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus, S.393ff.; Otto Leichter, Otto Bauer, Tragodie oder Triumph, Wien, Frankfurt,Zurich 1970, S. 183ff.; Bourdet, Otto Bauer, et la revolution, S. 46f.6 Protokoll [. . .] 1926, S. 308, 378; vgl. auch S. 264ff., 300.

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von der gesamteuropaischen losgelb'st werden konne, daB die Arbeiter-schaft einem zu allem entschlossenen, langfristig operierenden Gegnergegeniiber ihre auBerparlamentarischen Positionen halten konne, oderauch, daB die biirgerlichen Parteien ohne das Vorhandensein einerrevolutionaren Situation wie 1918-19 nochmals zu einer auch bloBenTeilung der Macht bereit sein wurden.

Die Abweichungen von der prognostizierten historischen Ent-wicklung sind gerade an diesen Stellen in verhangnisvoller Weise ein-gebrochen. Schon binnen eines Jahres erzwangen die Folgen der blutigniedergeschlagenen Arbeiterunruhen des 15. Juli 1927 eine Bezug-nahme auf den anschwellenden Heimwehrfaschismus. Noch bevor sichdie Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in Osterreich richtigzeigten, wurde der Machtverfall der Sozialdemokratie, trotz zunehmen-der Zahl ihrer parlamentarischen Vertreter, manifest. Die Stabili-sierung des italienischen Faschismus und der Aufstieg des National-sozialismus zur Massenpartei, die wirtschaftliche Katastrophe und dieinnerosterreichischen Ereignisse seit 1929 fanden dann auch in Bauerstheoretischem Denken ihren Widerhall. Zugleich erschien auch imAusland eine Anzahl von dem Faschismus gewidmeten neuen Studien.1

Die Einflusse vor allem italienischer sozialdemokratischer Arbeiteniiber den Faschismus wie die Giovanni Zibordis, Angelica Balabanoffsund Pietro Nennis auf die Theorie des Austromarxismus sind zwarim einzelnen meist schwer zu belegen,2 miissen jedoch, wie auch dieRezensionen in dem theoretischen Fuhrungsorgan, Der Kampf,z nahe-legen, bedeutend gewesen sein.

FASCHISMUS ALS POLITISCHES PROBLEM IN OSTERREICH

Am Beispiel der Artikel Otto Bauers im Kampf laBt sich die Parallelitatvon politischer Situation und Entwicklungsstufen der Theorie iiberden Faschismus in signifikanter Weise aufzeigen. Als Folge des ver-starkten Eindringens der Heimwehrbewegung in die vom Justizpalast-brand (15. Juli 1927) geschreckten Schichten des Kleinburgertums undder Bauernschaft treten seit Ende 1927 diese beiden gesellschaftlichen

1 Nolte, ,,Vierzig Jahre Theorien", a.a.O., S. 31ff.; De Felice, Le interpretazioni,S. 163ff.2 Befragung Otto Leichters, a.a.O. Im Falle Zibordis ist dieser EinfluB jedochdeutlich belegbar. Wie Bauer erst 1936 bestimmte er den Faschismus schon1922 dreifach als ,,Gegenrevolution des Biirgertums, eigentlich gegen eine,rote'Revolution, die nicht stattgefunden hat", Aufruhr der Mittelschichten und wirt-schaftlich Verunsicherten und ..Revolution der Kriegsteilnehmer" (siehe hiezuweiter unten, S. 42).* Jahrgange 22ff. (1929ff.)

OTTO BAUERS FASCHISMUSTHEORIEN 37

Gruppen als Trager der faschistischen Bewegungen ins Blickfeld.1

1929, im Jahr der hauptsachlich von der politischen Rechten ent-fachten Kampagne zur Verfassungsanderung, schwieg Bauer zuunserem Thema im Kampf. Aus den Worten Bauers beim sozial-demokratischen Parteitag desselben Jahres geht hervor, da8 er dieTriebkrafte der faschistischen Heimwehren in Osterreich nicht ganzrichtig einschatzte. Er sah namlich diese bloB als von GroBunter-nehmern finanziert und von den biirgerlichen Parteien und Regie-rungen ,,gemacht" an, wenn ihm auch nicht entging, was er die Verselb-standigung der einmal etablierten ,,Bewegung" ihren Auftraggeberngegeniiber nannte.2 Eine solche allzu grobe Vereinfachung und Schema-tisierung war nicht bloB ein theoretischer Irrtum sondern auch einFehler, der praktisch-politische Auswirkungen hatte. Stattdessentrugen zur gleichen Zeit Julius Deutsch durch die Herausgabe einesSammelwerkes der ,,Internationalen Kommission zur Abwehr desFaschismus",3 Otto Leichter, der in der demoralisierenden Wirkungder Wirtschaftskrise auf die Arbeiterorganisationen ein gefahrlichesElement in der Ausbreitung des Faschismus erkannte,4 und vor allemJohann Hirsch durch seinen scharfsichtigen Aufsatz iiber die ,,Sozio-logie des Austrofaschismus"5 zur Weiterentwicklung der Theorie bei.

Die Aufnahme dieser Erkenntnisse durch Otto Bauer, der weiterhinden Faschismus in Osterreich noch ganz in den Bahnen des LinzerProgramms und als Vorstufe des Ubergangs der ,,Bourgeois-Republik"zur Monarchie interpretierte, bedurfte eines starkeren AnstoBes. Auchder Durchbruch der NSDAP zur Massenpartei bei den deutschenReichstagswahlen im September 1930 anderte nichts Grundsatzlichesan der Einschatzung der faschistischen Erfolgschancen und derTheorie.6 Es hat in der Tat den Anschein, als hatten in Osterreich dasScheitern der faschismusverdachtigen Regierung Vaugoin (1930) undder geringe Erfolg der uneinigen Heimwehrbewegung bei den National-

1 Otto Bauer, ,,Nach dem Parteitag", in: Der Kampf, 20. Jg. (1927), S. 548. Zuihrer Rolle in den biirgerlichen Parteien siehe ders., ,,Kapitalsherrschaft in derDemokratie", ebd., 21. Jg. (1928), S. 335ff.2 Parteitag 1929, Protokoll des sozialdemokratischen Parteitages, abgehaltenvom 8. bis 10. Oktober 1929 im Arbeiterheim Ottakring in Wien, Wien 1929,S. 20f.3 Der Faschismus in Europa, Eine Ubersicht, hrsg. v. Julius Deutsch im Auf-trage der Internationalen Kommission zur Abwehr des Faschismus, Wien 1929,bes. S. 3ff. Vgl. auch Julius Deutsch, Antifaschismus! Proletarische Wehrhaftig-keit im Kampfe gegen den Faschismus, Wien 1926, vor allem Kapitel II und III.4 Otto Leichter, ,,Was lehrt die Entwicklung des Heimwehrfaschismus?", in:Der Kampf, 22. Jg. (1929), S. 452.5 Ebd., S. 222ff.6 Siehe Otto Bauer, ..Geistige Weltkrise", in: Der Kampf, 23. Jg. (1930), vorallem S. 451.

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ratswahlen im Spatherbst desselben Jahres sowie der ganzliche Fehl-schlag des Pfrimer-Putsches am 13. September 1931 in der sozial-demokratischen Partei und bei Otto Bauer einen voreiligen Optimismusbeziiglich der Zukunft Osterreichs verstarkt, auch wenn die Moglich-keit, die biirgerlichen Freiheiten gegen weitere faschistische Putschemit Hilfe des Republikanischen Schutzbundes verteidigen zu miissen,nicht mehr ausgeschlossen wurde.1

Erst als sich in nachster Nahe das ungebrochene Vordringen desFaschismus zeigte, namlich als am 24. April 1932 aus den Gemeinde-und Landtagswahlen in Wien und in einigen anderen Bundeslanderndie Nationalsozialisten als die Erben der Heimwehrbewegung und inWien mit iiber 15 Prozent fast ebenso stark wie die Christlichsozialenhervorgingen, trat eine grundlegende Wende ein. Schon im Mai-Heftdes Kamfif analysierte Bauer die neue Lage.2 Nicht nur erweiterte erhier seine Faschismustheorie in wesentlichen Punkten, wie beziiglichder Rolle der wirtschaftlich und sozial bedrohten gesellschaftlichenSchichten mit kleinbiirgerlichem BewuBtsein und der Arbeitslosenund Jugendlichen als Massenbasis der faschistischen Bewegung oderin deren kleinbiirgerlichem Antikapitalismus; auch der Faschismuswurde von nun an als Gefahr wirklich ernst genommen. Bisher hatteBauer in einem Atemzug meist auch vom Bolschewismus gesprochen.Ebenso trat auch gegeniiber dem Nationalsozialismus als Hauptfeinddie Habsburger-Restauration in der Bewertung zuriick.3 Das Umden-ken ging allerdings nicht so weit, da8 er (worauf Norbert Leser hin-gewiesen hat) die vom Gang der Ereignisse iiberholte kurzfristigeAlternative Kapitalismus oder Soziahsmus schon jetzt, so wie er esein Jahr spater tat, zugunsten der Erhaltung der parlamentarischenDemokratie revidiert hatte.4

Die t)bernahme der Regierungsmacht im Deutschen Reich durchHitler und ihre rasche Befestigung Anfang 1933 sowie die Einleitungeiner ahnlichen Entwicklung in Osterreich durch DollfuB' Staatsstreichim Marz 1933 (sogenannte ,,Selbstaufl6sung" des Parlaments) wardann fur Otto Bauer der letzte AnstoB, seine Faschismustheorie nochintensiver zu entwickeln. Im Zusammenhang mit der Entwicklungdes Monopolkapitalismus einerseits und des Sozialismus nach dem

1 Parteitag 1931, Protokoll des sozialdemokratischen Parteitages, abgehaltenvom 14. bis 15. November 1931 im Kammersaal in Graz, Wien 1931, S. 30.2 Otto Bauer, ,,Der 24. April", in: Der Kampf, 25. Jg. (1932), S. 189ff.3 Ebd., S. 192.4 Leser, a.a.O., S. 456ff. 1933 fiel Bauer allerdings in das Gegenteil, in einehalbe Kapitulation vor DollfuB (siehe seine Rede auf dem Parteitag vom 14.bis 16. Oktober 1933, gedruckt in: Archiv, Mitteilungsblatt des Vereins furGeschichte der Arbeiterbewegung, 3. Jg. (Wien 1963), S. 45-67).

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Ersten Weltkrieg andererseits widmete er dem Faschismus breitenRaum.1 Wahrend jedoch der erste Teil seiner Studien schon 1931erschien,2 ist der zweite, uns hier besonders interessierende Teil ver-loren gegangen. Das Manuskript hiezu stand namlich kurz vor derFertigstellung, als die Niederschlagung des Aufstands des Republikani-schen Schutzbundes Bauer zur Flucht in die Tschechoslowakei zwangund die Wiener Polizei neben seinen ,,ubrigen Schriften auch 15 dickeHefte mit Exzerpten und Entwiirfen" beschlagnahmte.3 Die Spurdieser Manuskripte ist bis in die Depositenabteilung des Landes-gerichts fur Strafsachen I in Wien zu verfolgen, wo sie angeblich 1945,,in den Wirren der letzten Kriegstage vernichtet" wurden.4 Dieserunersetzliche Verlust wird nur dadurch etwas gemildert, daB ,,eineZusammenfassung der als Fortsetzung geplanten drei weiteren Bande"5

1936 unter dem Titel Zwischen zwei Weltkriegen? in Bratislava er-schienen ist.

INNENPOLITISCH-HISTORISCHE FASCHISMUSTHEORIE

Eine Anzahl von Aufsatzen, die in der zweiten Halfte des Jahres 1933und Anfang 1934 erschienen sind und auf die Elemente und ,,dasWesen des Faschismus" naher eingehen, konnen als das direkte Er-gebnis der verloren gegangenen Studie angesehen werden.6 Die An-fange dieser intensiven Beschaftigung mit dem Faschismus gehen aufdas Jahr 1932 zuriick, in dem sich ein sozialdemokratischer Parteitagerstmals ausfuhrlich mit dem Faschismusproblem befaBte; das Haupt-referat hiezu hielt Bauer unter dem Titel ..Faschismus, Demokratieund Sozialismus".7 Dies ist auch der Tenor seines Buches von 1936.Allen diesen Darstellungen und Analysen ist gemein, daB sie grund-satzlich am Bonapartismus-Modell orientiert sind. Dieses wurde jedochmit dem neuen empirischen Material, das die Geschichte gerade1933-34 in rascher Folge lieferte, ausgestaltet und trat allmahlich

1 Siehe Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 7.a Otto Bauer, Kapitalismus und Sozialismus nach dem Weltkrieg, 1. Bd:Rationalisierung — Fehlrationalisierung, Wien 1931.3 Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 75.4 Schreiben Dr Michael Neiders (Bundesministerium fur Justiz) an Prof. ErnstK. Herlitzka vom 27. April 1972, Nr 178/72, Verein fur Geschichte der Arbeiter-bewegung.5 Manfred Ackermann, Rede iiber Otto Bauer, Wien o.J. [1969], S. 13.6 Otto Bauer, ,,Um die Demokratie", in: Der Kampf, 26. Jg. (1933), S. 269ff.;ders., "Der deutsche Faschismus und die Internationale", ebd., S. 309ff.; ders.,..Klassenkampf und .Standeverfassung'", ebd., 27. Jg. (1934), S. Iff.7 Parteitag 1932, Protokoll des sozialdemokratischen Parteitages, abgehaltenvom 13. bis 15. November 1932 im Arbeiterheim Ottakring in Wien, Wien 1932,S. 34ff.

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immer starker zuriick gegeniiber anderen Erklarungsmomenten, ohneallerdings ganz zu verschwinden.

Die vordringlichste Aufgabe der marxistischen Theoretiker und derArbeiterbewegung uberhaupt in jenen Jahren des faschistischenSieges war, von der Drohung des Faschismus ausgehend, diesen inseinen Erscheinungsformen vorerst einmal zu erfassen. Wie beiahnlichen Versuchen zur gleichen Zeit, etwa Arthur Rosenbergs1 undRichard Lowenthals2 oder den vorhergehenden Arbeiten Thalheimersund italienischer Kommunisten und Sozialisten3 liegt der besondereWert der Faschismusanalyse Bauers aus den Jahren 1933 bis 1936 indem ausgewogenen Verhaltnis von Empirie und Theorie, das auch vonansonsten scharfen Kritikern geschatzt wird.4 Ernst Nolte hat deshalbin Bezug auf die Faschismustheorien von den Jahren 1933 bis 1939als der groBen Zeit der sozialistischen Theoretiker gesprochen.6 Alsder Faschismus praziser phanomenologisch erfaBbar geworden war,trat wieder in zunehmendem MaBe die Tendenz hervor, zu generali-sieren, den Akzent auf die allgemeinen Elemente der verschiedenenFaschismen zu legen und die Differenzen zwischen ihnen unterzu-bewerten. Dies gilt allgemein fur die verschiedensten Faschismus-theoretiker seit etwa 19356 wie im besonderen fur Otto Bauer zwischen1933 und 1938. Dieser ProzeB schlug sich oft in einem Verlust derAussagekraft dieser Theorien und in dogmatischer Erstarrung nieder.

1 Siehe Faschismus und Kapitalismus, Theorien uber die sozialen Urspriingeund die Funktion des Faschismus, hrsg. v. Wolfgang Abendroth, Frankfurt,Wien 1967, S. 39ff. und 75ff.2 Paul Sering [Richard Lowenthal], ,,Der Faschismus", in: Zeitschrift fiirSozialismus, September-Oktober 1935, ital. Obersetzung in: Renzo De Felice,II fascismo, Le interpretazioni dei contemporanei e degli storici, Ban 1970,S. 296ff.8 Siehe u.a. Ercoli [Palmiro Togliatti], ,,Au sujet du fascisme", in: L'lnter-nationale Communiste, 9. Jg. (1928), S. 1124ff. (nachgedruckt in: Paolo Alatri,L'antifascismo italiano, Roma 1964, Bd 2, S. 85ff., und De Felice, II fascismo,S. 106); ferner Palmiro Togliatti, Lezioni sul fascismo [1935], Roma 1970;Ignazio Silone, Der Fascismus, Zurich 1934; Angelo Tasca, La naissance dufascisme, Paris 1938, deutsch: Glauben, gehorchen, kampfen, Wien, Frankfurt,Zurich 1969.* Siehe Hans-J6rg Sandkiihler und Rafael de la Vega, Einleitung, in: Austro-marxismus, hrsg. v. dens., Frankfurt, Wien 1970, S. 18; vgl. auch Kurt Kliem,Jorg Kammler und Riidiger Griepenburg, ,,Einleitung, Zur Theorie des Faschis-mus", in: Faschismus und Kapitalismus, S. 8f.; De Felice, II fascismo, S. 183f.,191ff.; R. Griepenburg und K. H. Tjaden, ,,Faschismus und Bonapartismus",in: Das Argument, 8. Jg. (1966), S. 461ff.8 Nolte, ,,Vierzig Jahre Theorien", S. 52.6 De Felice, Le interpretazioni, S. 11; vgl. auch John M. Cammet, ..CommunistTheories of Fascism, 1920-1935", in: Science and Society, 31. Jg. (1967), S.156f.; Nolte, a.a.O., S. 56ff.

OTTO BAUERS FASCHISMUSTHEORIEN 4 1

Im Fall Bauers hat sich dieser ProzeB, wie uns heute scheint, nichtnachteilig auf die Qualitat seiner Faschismustheorie ausgewirkt. Hohe-punkte seiner Versuche zur Erfassung und theoretischen Durch-dringung des Faschismus sind, jeweils unter verschiedenen Aspekten,seine Darstellung in Zwischen zwei Weltkriegen? (1936) und seine letzte,unvollendete Arbeit Der Faschismus (1938).1

In einem eigenen Kapitel des erstgenannten Werkes hat Bauer seineTheorie uber Wesen, Machtubernahme und Zukunftsaussichten desFaschismus, wie es bei oberflachlicher Betrachtung scheint, vollstandigdargelegt.2 Der Abdruck dieses Kapitels in der Textsammlung Faschis-mus und Kapitalismus3 hat dazu beigetragen, diesen Eindruck zuverstarken. Es sei hier schon festgestellt, daB die Isolierung diesesKapitels aus dem Gesamtzusammenhang des Buches zu einer Akzent-verschiebung und ungenauen Interpretation fiihren muBte.4 Allerdingshat Bauer zur Fehlinterpretation seiner Theorie insofern beigetragen,als er in dem betreffenden Kapitel den Faschismus tatsachlich innen-politisch-soziologisch und im Rahmen des Bonapartismus-Modellsdarstellt, Ansatze zu einer ganz anderen, auf seiner Imperialismus-theorie basierenden sozial-okonomischen Faschismustheorie aber ananderen Stellen seines Buches darlegt. Die Herstellung eines engendialektischen Verhaltnisses zwischen den beiden Interpretations-modellen, wie er es zwei Jahre spater getan hat, ist ihm noch nichtgelungen. Trotzdem laBt sich das Faschismus-Kapitel seines Buchesvon 1936 in sein Faschismus-Modell von 1938 ganz gut einordnen,aber dies wiederum nicht so bruchlos, daB man nicht von zwei ver-schiedenen Faschismustheorien sprechen konnte. Daher soil hierzunachst der Inhalt seiner Faschismusanalyse aus dem Kapitel ,,DerFaschismus" in Zwischen zwei Weltkriegen? kurz wiedergegeben wer-den.5

Vorausgeschickt sei, daB ein grundlegendes Merkmal von BauersFaschismustheorie in der zwar nicht expliziten, jedoch durchgangigenUnterscheidung von faschistischer Bewegung und Faschismus an der

1 Posthum veroffentlicht in: Der sozialistische Kampf - La lutte socialiste,Paris, Jg 1938, S. 75-83; nachgedruckt in: Die Zukunft, Sozialistische Monats-schrift fiir Politik und Kultur, Wien, Jg. 1948, S. 33-41.2 Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 113-142.8 Faschismus und Kapitalismus, S. 143-167.4 Siehe Nolte, ,,Vierzig Jahre Theorien", S. 54; Griepenburg und Tjaden,..Faschismus und Bonapartismus", a.a.O., S. 461; De Felice, II fascismo, S.194ff.; auch Ernest Mandel, ,,Einleitung, Trotzkis Faschismustheorie", in:Leo Trotzki, Schriften uber Deutschland, hrsg. v. Helmut Dahmer, Bd 1,Frankfurt 1971, S. 3616 Die eingeklammerten Zahlen im Text geben die Seiten an nach der Ausgabevon 1936.

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Macht besteht, in anderen Worten: zwischen den friihen faschistischenOrganisationen und Parteien einerseits, und dem nach ihrer Regierungs-beteiligung in Italien und Deutschland entstandenen Herrschafts-system andererseits. Dieser Differenzierung liegt eine unterschiedlichesoziologische Bewertung des Faschismus vor und nach der Macht-ubernahme sowie eine Wandlung seiner politisch-gesellschaftlichenFunktion zugrunde. Aus der urspriinglich autonomen faschistischenMassenbewegung, der sich die Kapitalistenklasse nur ,,als Werkzeugzur Niederwerfung der Arbeiterklasse bedienen" will (S. 122, 129),wird die faschistische Diktatur schlieBlich ,,dennoch unvermeidlichzum Vollzugsorgan der Bediirfnisse, der Interessen, des Willens derKapitalistenklasse" (S. 130).

,,Der Faschismus ist das Resultat dreier eng miteinander verschlun-gener sozialer Prozesse", beginnt Bauer sodann seine Analyse. Er ist dasResultat 1) der Bildung von faschistischen Milizen, bestehend ausdeklassierten Kriegsteilnehmern, 2) der Pauperisierung breiter Massenvon Kleinburgern und Bauern, die sich um die faschistischen Milizenscharen, infolge der Wirtschaftskrise, und 3) des Bestrebens derKapitalistenklasse, ihre gesunkenen Profite durch Steigerung der Aus-beutung der Arbeiterklasse wieder zu erhohen, wobei sie sich gegen dieArbeiterschaft der faschistischen Milizen und Massenbewegungenbedient (S. 113f.). Dieses Erklarungsmuster ist fast wortlich identischmit jenem, das der italienische Linkssozialist Giovanni Zibordi schonim Jahr der Machtubernahme Mussolinis verwendet hatte,1 ein deut-licher Hinweis auf die Beeinflussung Otto Bauers, der selbst italienischsprach und Kontakte mit in Wien im Exil lebenden italienischenSozialisten hatte.2

Sodann fuhrt er naher aus: Als eine soziale Folge des ErstenWeltkrieges sind paramilitarische Verbande, getragen von deklassiertenehemaligen Offizieren und Unteroffizieren, entstanden. Diese wurdenzur Brutstatte einer ,,eigenartigen, militaristischen, antidemokrati-schen, nationalistischen Ideologic" (S. 113f.). Diese Friihform derfaschistischen Ideologic weist sich als ausgesprochen ,,kleinburgerlich"aus, da sie sich gegen das Kapital, jedoch nur gegen das groBe undparasitische, zugleich aber auch gegen das Proletariat richtet. Siedriickt nur die spezifische Lage der Schichten zwischen diesen beidengroBen Klassenkraften aus (S. 115f.). In Perioden schwerer wirtschaft-licher und sozialer Erschutterung gelang es den ; ,,Wehrverbanden",,,Milizen" etc. pauperisierte oder sozial bedrohte mittelstandische und

1 Giovanni Zibordi, Critica socialista del fascismo, Bologna 1922, abgedruckt in :De Felice, II fascismo, S. 39-53, hier S. 39.2 Befragung Otto Leichters, a.a.O.

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bauerliche Massen, aber auch einen Teil des Proletariats (Arbeitslose!)unter ihren EinfluB zu bringen (S. 114, 133).

Das hatte zur faschistischen Machtubernahme nicht ausgereicht.Aber die wirtschaftlichen Krisen haben auch die Profite der Kapitali-stenklasse verringert. Diese ist daher bestrebt, die Verluste durchverscharfte Ausbeutung der Arbeiterklasse wieder wettzumachen. DieArbeiterschaft, die in der biirgerlichen Demokratie beachtliche poli-tische und gewerkschaftliche Machtstellungen einnimmt, ist durch dieWirtschaftskrise in ihrer Widerstandskraft geschwacht. Aber auch dievon ihren kleinbiirgerlichen und bauerlichen Wahlermassen verlasseneBourgeoisie ist politisch geschwacht. Sie kann sich aus diesem Grundzur Unterdriickung der Arbeiter nicht mehr der Mittel des parlamen-tarischen Rechtsstaates bedienen. Sie unterstiitzt und besoldet dahereine gesetzwidrige ,,Privatarmee", die faschistische Bewegung. Diesewachst ihr aber als Massenbewegung iiber den Kopf und bereitetsich zur Machtergreifung vor. Vor der Wahl, die rebellischen Massen-bewegungen der Kleinbiirger und Bauern niederzuwerfen und so ,,dasniedergeworfene Proletariat zu entfesseln" oder die Regierungsmachtan die faschistische Partei zu iibergeben, entschlieBen sich die indu-striellen und agrarischen GroBeigentiimer, selbst keineswegs faschi-stisch geworden, fur letztere Alternative (S. 114, 122ff., 133ff.). DieMachtubernahme des Faschismus resultiert also aus einem Gleich-gewicht der beiden groBen Klassenkrafte, ,,oder vielmehr der Schwachebeider Klassen" (S. 129).

Der Faschismus an der Macht errichtet nun wie der Bonapartismusseine terroristische Diktatur iiber alien gesellschaftlichen Klassen, auchiiber die Bourgeoisie. Wirtschaftlich bleibt diese jedoch herrschend, jasie kann ihre Stellung wieder befestigen (S. 129, 134). Aber: ,,die ausder Wirtschaftskrise hervorgegangene, vom Faschismus weiter ent-wickelte .dirigierte Okonomie' zwingt die faschistische Diktatur tag-taglich zu wirtschaftlichen Entscheidungen, die die Interessen balddieser, bald jener Fraktion der herrschenden Kapitalistenklasse ver-letzen und dadurch die regierende faschistische Herrenkaste in Gegen-satz zu Fraktionen der herrschenden Kapitalistenklasse setzen" (S.134). Es kommt daher zu schweren Spannungen innerhalb der faschi-stischen Diktatur und zu einer zunehmenden Verengung ihrer sozialenBasis (S. 135). Diese umfaBt wegen der wirtschafts- und auBenpoli-tischen Erfolge des Faschismus anfangs neben der ganzen Kapitalisten-klasse auch breite Volksmassen, die in ihrer antikapitalistischen Sehn-sucht eine ,,zweite Revolution" erwarten. Um nicht die Unterstiitzungvon Kapital und GroBgrundbesitz zu verlieren, wirft der Faschismussolche Kleinbiirgerrebellionen in den eigenen Reihen blutig nieder(S. 131ff.). In der weiteren Folge desillusionieren nach Otto Bauer die

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inflationistische Wirtschaftspolitik und die Opfer der wirtschaftlichenund militarischen Kriegsriistung breite Massen. Auch viele Schichtender Bourgeoisie, deren politischen Traditionen und Ideologien derfaschistische Totalitatsanspruch widerspricht und die an der Ver-meidung von Kriegen interessiert sind, geraten in Widerspruch zurfaschistischen Diktatur und der Politik der faschistischen Regierungs-schicht. Aber: ,,die kriegerischen Elemente der Kapitalistenklasse, vorallem die Riistungsindustrien und die mit dem Offizierkorps versipptegrundbesitzende Aristokratie, erlangen die Oberhand" (S. 135f.). 1936prognostiziert Bauer daher einen neuen Weltkrieg, wenn die Arbeiter-klasse den Faschismus nicht revolutionar stiirze.

Es handelt sich hier um eine freie Variation des Bonapartismus-Modells, das vom weltgeschichtlichen Zusammenhang in der Epoche desmonopolistischen Kapitalismus weitgehend absieht und dessen Unter-schied vom Konkurrenz-Kapitalismus zur Zeit Louis Napoleons furunwesentlich erachtet. Ware dies die vollstandige Faschismusinter-pretation Bauers, so trafen die Einwande Griepenburgs und Tjadensgegen Thalheimers Faschismusbegriff als abstrakt, bloB politisch undtrotz Verwendung von Marxschen Kategorien dessen gesellschafts-theoretischem Ansatz eigentlich zuwiderlaufend1 auch auf den Bauerszu. Dann lage hier auch ein kaum erklarbarer Riickschritt in dertheoretischen Entwicklung Bauers vor. Denn Bauer hatte schon vordem Ersten Weltkrieg durch die Untersuchung der politischen Folgender Weiterentwicklung des Kapitalismus in seiner monopolistischenPhase2 einen wesentlichen Beitrag zur austromarxistischen Imperialis-mustheorie3 geleistet. Erst 1933-34 hatte er sich neuerlich damit, undzwar mit der Bedeutung des Imperialismus fur das Faschismus-problem,4 auseinandergesetzt.

Als sich auch in Deutschland die faschistische Diktatur etablierthatte, war es daher fur Bauer besonders naheliegend, den Faschismusin die allgemeinen Entwicklungstendenzen des Monopolkapitalismuseinzuordnen. In der Tat finden sich in Zwischen zwei Weltkriegen?auBerhalb des Faschismus-Kapitels eine Anzahl von Textstellen, dieden Faschismus in einen weiteren Erklarungszusammenhang stellen.Dort wird der Faschismus, vor allem sein Entstehen, seine ,,dirigierte

1 Griepenburg und Tjaden, a.a.O., S. 471f.2 Vgl. Otto Bauer, Die Nationalitatenfrage und die Sozialdemokratie [Marx-Studien, Bd 2], 2. Aufl., Wien 1924, S. 491ff.; ferner ders., ,,Osterreich und derImperialismus", in: Der Kampf, 2. Jg. (1908-09), S. 17-22; ders., ,,Das Finanz-kapital", ebd., 3. Jg. (1909-10), S. 391-397.8 Vor allem Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital, Eine Studie iiber die jiingsteEntwicklung des Kapitalismus [Marx-Studien, Bd 3], 1. Aufl. Wien 1910.4 Bes. Bauer, ,,Der deutsche Faschismus und die Internationale", a.a.O.

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Wirtschaft", der ,,nationale Sozialismus" und seine AuBenpolitik, ausder sich verstarkenden Struktur des monopolistischen und staatlichregulierten Kapitalismus und des Imperialismus abgeleitet.1

So fiihrt Bauer die reibungslose Abdankung der Bourgeoisie vor derpolitischen Herrschaft des Faschismus darauf zuriick, da8 die dadurchherbeigefuhrte Machtkonzentration der Konzentration im okono-mischen Bereich entspricht. Das monopolkapitalistische Wirtschafts-system tendiert iiberall innenpolitisch zur verscharften Ausbeutungund Unterdriickung der Arbeiterklasse, auBenpolitisch zum imperialis-tischen Kampf um Sicherung von Absatz- und Rohstoffmarkten(S. 70ff.).2 Insbesondere aber in Deutschland, wo der liberale Kapitalis-mus nie so vollstandig gesiegt hat wie in England und den VereinigtenStaaten, hat sich die staatliche Dirigierung der Wirtschaft friiher undvollstandiger durchgesetzt als in den westlichen hochkapitalistischenLandern (S. 72f.). Durch den Ersten Weltkrieg und die Wirtschafts-krisen hat dieser Etatismus noch zugenommen. Gerade aber dieBenachteiligung einiger groBer Staaten bei der Neuverteilung derEinfluBspharen hat in ihnen einen ..kriegerischen Nationalismus"gestarkt, ,,in Deutschland und Italien den Faschismus zur Machtgefiihrt, in Japan eine militarische Autokratie befestigt" (S. 214f.,220f.).

AUSSENPOLITISCH-OKONOMISCHE FASCHISMUSTHEORIE

Entsprechend den geanderten Bedingungen der illegalen Sozialdemo-kratie war die von 1934 bis 1938 in Prag erscheinende Zeitschrift DerKampf - Internationale Revue3 mehr aktuellen Ereignissen und organi-satorischen Fragen gewidmet als theoretischen Problemen, wie sie eineFaschismusanalyse aufwarf. Die dort publizierten Aufsatze OttoBauers bringen daher nur bruchstiickweise allgemeine Aussagen zumThema4 und bieten keine Anhaltspunkte fiir eine Weiterentwicklungseiner Faschismustheorie. Immerhin scheint sich Bauer in den Jahrenseines Briinner Exils weiterhin mit der italienischen Faschismus-literatur5 befaBt zu haben.6 Seine Frau, Helene Bauer, veroffentlichtein diesen Jahren einen Artikel iiber die Wirtschaftspolitik des Faschis-

1 Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 7Off., 77ff., 214ff., 220ff.2 Siehe auch Bauer, ,,Der deutsche Faschismus und die Internationale", S. 313f.3 Seit Mai 1934; ab Nr 7 (November 1934) mit dem zitierten Untertitel.4 Vgl. etwa Bauers Aufsatze ,,Habsburg vor den Toren?", a.a.O., 2. Jg. (1935),S. 97ff., und ,,Spanien und Osterreich", 3. Jg. (1936), S. 89ff.; vgl. auch dieRezension von Zwischen zwei Weltkriegen? von Willi Muller, 3. Jg., S. 305ff.5 Ebd., 5. Jg. (1938), S. 51ff.6 Auswirkungen in seinem Buch Die illegale Partei, Paris 1939, Neuauflage:Frankfurt 1971 [Marxismus Bibliothek, Nr 13], S. 176ff., 180ff.

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mus,1 der mit Bauers Beurteilung des faschistischen Etatismus unddessen Funktion ubereinstimmt.

Auch Der sozialistische Kampf - La lutte socialiste, den Bauer nachseiner im April 1938 erfolgten Ubersiedlung nach Paris herausgab,liefert keine neuen Anhaltspunkte. Zur selben Zeit, im Friihsommer1938, arbeitete Otto Bauer jedoch schon an einem Buch, das 1939unter dem Titel Die illegale Partei in Paris aus seinem NachlaB heraus-gegeben wurde. Dessen letztes, noch unvollendetes Kapitel ,,Derfaschistische Etatismus" hat Bauer noch in seinen letzten Lebens-wochen erweitert und zur Veroffentlichung als Broschiire vorbereitet,,,die der Analyse des Faschismus, seiner Staats- und Gesellschafts-ordnung, seiner inneren Widerspriiche und den Problemen der anti-faschistischen Revolution gewidmet war". Noch am Tage vor seinemTode am 5. Juli 1938 hatte er sich damit beschaftigt. Dieses Manuskript-Fragment, das jedoch eine zusammenhangende Faschismusanalyseenthalt, wurde posthum in seiner Zeitschrift veroffentlicht.2 Nebenbeisei auf den depressiven Zustand Bauers in seinen letzten Lebenstagenhingewiesen,3 der auch darin zum Ausdruck kam, daB sich in demManuskript die wenigen Auslassungen meist an Stellen befinden, wovon schwerwiegenden Zukunftsprognosen wie dem Sieg des Faschismusund dem Weltkrieg die Rede ist. Wo der antifaschistische Auf standbehandelt werden sollte, bricht das Manuskript ab.4 Dieser Aufsatz,der den Titel Der Faschismus tragt und bisher nur einmal nachgedrucktwurde,5 ist die wohl wichtigste Arbeit Otto Bauers uber den Faschis-mus; sie ist jedoch praktisch unbekannt geblieben. Erganzt durchZitate und Hinweise aus der etwa gleichzeitig verfaBten ,,illegalenPartei" enthalt sie folgende Bestimmung des Faschismus.6

1) Die allgemeinen Bedingungen des Faschismus liegen nach BauersTheorie aus dem Jahre 1938 in der Entwicklung des Monopolkapitalis-mus und den daraus resultierenden imperialistischen Tendenzen be-grtindet. Die liberale Phase des Kapitalismus wurde seit dem letztenViertel des 19. Jahrhunderts von der monopolistischen Konzentrationdes Kapitals, zunehmender Organisierung der gesellschaftlichen Krafteund Protektionismus iiberwunden. Auf internationaler Ebene kam esdagegen zu verscharfter Konkurrenz. ,,Der Imperialismus suchte der

1 ,,Konjunkturaufschwung und Faschismus", in: Der Kampf, InternationaleRevue, 3. Jg. (1936), S. 469ff.2 Siehe S. 41, Anm. 1.3 Leichter, Otto Bauer, S. 14f.; Bourdet, Bauer et la revolution, S. 58.* Der sozialistische Kampf, Jg. 1938, S. 83; siehe auch S. 80f.5 In: Die Zukunft, Jg. 1948, a.a.O.8 Die eingeklammerten Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die Erstveroffent-lichung in Der sozialistische Kampf, a.a.O.

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Kapitalistenklasse jedes Landes die monopolistische Beherrschungerweiterter Absatzmarkte, Anlagespharen und Rohstoffquellen zu er-obern. Zugleich entwickelten sich mit der Demokratie die Gewerk-schaften, die bauerlichen Genossenschaften, die Mittelstandsorgani-sationen, die soziale Gesetzgebung. Den Gewerkschaften traten dieUnternehmerverbande gegenuber", die innerhalb der Grenzen derstaatlichen Sozialgesetzgebung Lohne und Arbeitsbedingungen ver-einbarten (S. 76). Die Tendenz zur zunehmenden etatistischen Organi-sation der Wirtschaft bei Aufrechterhaltung der kapitalistischenEigentumsordnung und Einkommensverteilung erreichte einen vor-laufigen Hohepunkt im ,,Kriegssozialismus" des Ersten Weltkrieges.Nach 1918 wurde die Tendenz zur staatlichen Steuerung der Wirtschaftwieder riickgangig gemacht, um jedoch bald neuerdings aufzuleben.,,Einerseits zwangen die schwere Wirtschaftskrise von 1929, die inter-nationale Kreditkrise von 1931 die Staaten zu immer tieferen Ein-griffen in das Wirtschaftsleben. Andererseits zwingt die Entwicklungder modernen Kriegstechnik jeden Staat, durch staatliche Reglemen-tierung der Wirtschaft seine wirtschaftliche Kriegsriistung zu starken.[. . .] Wahrend aber in den demokratischen Landern die Widerstandeder einander widerstreitenden Sonderinteressen der demokratischenSteuerung der Wirtschaft enge Schranken setzen", erlangt diese in denfaschistisch gewordenen Landern in einem als ,,nationaler Sozialismus"bezeichneten faschistischen Etatismus ihre vollkommenste Aus-pragung. Wenn ,,die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktiv-krafte [. . .] zu der auf das Privateigentum an Produktionsmittelngegriindeten [. . .] Gesellschaftsordnung" in einen solchen Wider-spruch geraten ist, dafi ohne schweren Nachteil und Funktionsstorun-gen die kapitalistische Wirtschaft ,,nicht mehr dem Walten des indivi-duellen Profitstrebens uberantwortet bleiben kann" (S. 77), dann,,kehrt die kapitalistische Bourgeoisie in ihrem Greisenalter [. . .] zumtotalitaren Absolutismus zuriick", wie sie schon in ihren Anfangendem monarchischen Absolutismus als okonomische Basis gedient hat(S. 76f.).

Aus seiner Monopolkapitalismus-Theorie leitet Bauer alle anderenElemente des Faschismus und seine Genese ab.

2) Die besonderen Bedingungen der Machtubernahme des Faschis-mus in den 1938 ,,vollfaschistischen Landern",1 Deutschland undItalien,2 sind dreifach:a) der aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangene aggressive Imperia-1 Bauer verwendet diesen Begriff in Die illegale Partei, S. 149.! Bauer bezog 1936 auch Japan als faschismusahnliche ,,militarische Autokratie"in den imperialistischen Erklarungszusammenhang ein (Zwischen zwei Welt-kriegen?, S. 221, 217).

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lismus der besiegten und unbefriedigten Machte, der im Gegensatzzum ,,konservativen Imperialismus" der Sieger eine Revision derMachtverteilung in der Welt anstrebt (S. 75);b) die Krise der jungen biirgerlichen Demokratien in denselben Landernals Folge der Aufeinanderfolge von halber, die kapitalistische Gesell-schaftsordnung nicht aufhebender Revolution und Konterrevolutionund eine daraus resultierende Verscharfung der Klassengegensatze imGegensatz zu den westeuropaischen Staaten, wo die Nachkriegs-Massenbewegungen die Autoritat der vom Sieg gestarkten Bourgeoisieund die biirgerliche Demokratie nicht zu erschiittern vermochten(S. 75f.);c) die wirtschaftlichen Krisen, die Italien und Deutschland amschwersten getroffen haben, mit all ihren sozialen und politischenFolgen (S. 75, 81).1

Der siegreiche Faschismus stellt ,,nicht nur eine wesentlich neueStaatsordnung, sondern auch eine wesentlich neue Wirtschafts- undArbeitsverfassung her", die im Rahmen der dargestellten Gesamt-entwicklung des Kapitalismus zu begreifen ist (S. 75).

3) Die faschistische Wirtschaftsverfassung ist der unter Punkt 1beschriebene Etatismus. ,,Der Staat regelt die Preise und die Lohne,den Konsum und die Produktion, die Einfuhr und die Ausfuhr, dasGeld- und das Kreditwesen, die Verteilung von Kapital und Arbeitauf die einzelnen Produktionszweige und die Verteilung des Ein-kommens auf Konsum und Akkumulation." Der faschistische Etatis-mus, seine ,,Wehrwirtschaft", dienen unmittelbar staatlichen Macht-zwecken: der militarischen Aufriistung und der wirtschaftlichenAutarkic2 Seine imperialistischen Ziele gibt der Faschismus als Kampfgegen ,,Marxismus" und ,,Bolschewismus" aus, und tragt sich alsVorkampfer der kapitalistischen Konterrevolution den konservativ-imperialistischen Landern an (S. 80).

Der Faschismus ,,steigert die kapitalistische Ausbeutung auf dashochstmbgliche MaB. Er hebt den kapitalistischen ProduktionsprozeB,indem er ihn seinem Zwangsgebot unterwirft, zu hochster Leistungs-fahigkeit." Aber ,,indem er alle Sonderinteressen der einzelnen Unter-nehmerschichten dem als Gesamtinteresse verkleideten Interesse derKriegsriistung unterordnet, gerat die das Wirtschaftsleben steuerndeBiirokratie unvermeidlich in Konflikt bald mit dem, bald mit jenemSonderinteresse. In diesen sich haufenden Konflikten driickt sich derWiderspruch aus zwischen gesellschaftlicher Steuerung des Wirt-

1 An dieser Stelle und beim vorhergehenden Absatz waxen die logischen Ansatz-punkte zur Verkniipfung mit der oben dargestellten innenpolitisch-historischenFaschismustheorie von 1936.2 Bauer, Die illegale Partei, S. 183 (iiber Deutschland), 185 (iiber Italien).

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schaftsprozesses und privatem Eigentum an den Produktionsmittelnund den Arbeitsprodukten" (S. 81, 77).

Die Voraussetzung der faschistischen Volkswirtschaft ist die faschi-stische Arbeitsverfassung und die Voraussetzung beider ist ,,das.totalitare' politische Unterdruckungs- und Herrschaftssystem" (S. 79).

4) Der Faschismus hat nach Zerschlagung der Arbeitsverfassungder privatkapitalistischen Gesellschaftsordnung seine eigene Arbeits-verfassung etabliert. ,,Der Faschismus hat die Gewerkschaften aufge-lost und durch Organisationen, die nicht Interessenvertretungen derArbeiter, sondern Mittel des Staates zur Beherrschung der Arbeitersind, ersetzt. Er hat das Streikrecht aufgehoben. Er hat das Verhaltniszwischen dem Unternehmer und den Arbeitern nach dem Vorbilddes militarischen Kommandoverhaltnisses [. . .] umgestaltet. [. . .] Andie Stelle der Kollektivvertrage, die von Unternehmern und Arbeiternfrei vereinbart wurden, hat er das behordliche Diktat der Lohne undArbeitsbedingungen durch die Treuhander der Arbeit, Organe desStaates, gesetzt" (S. 78). Er hat ferner die Freiheit des Arbeitsplatzesund der Berufswahl aufgehoben, Arbeitszeit und -leistung erhoht, dieReallohne gesenkt (S. 79).*

5) Mit Hilfe eines Propaganda- und Organisationsmonopols be-herrscht und kontrolliert eine ,,neue Biirokratie" als ,,Sachwalterin derKlasseninteressen der Kapitalistenklasse" terroristisch alle Lebens-auBerungen der Gesellschaft. Diese regierende Kaste ist aus derfaschistischen Partei hervorgegangen, sie hat sich die staatliche Biiro-kratie unterworfen und ist mit ihr verschmolzen (S. 82).

Da der Faschismus seinen eigentlichen Zweck, die gesamte undstarkste Mobilisierung aller gesellschaftlichen Ressourcen fiir denKrieg, nicht gegen eine unterdriickte, feindliche Bevolkerungsmehrheitdurchzusetzen vermag, bedient er sich ,,des ganzen gewaltigen Systemsseiner Propaganda^ ] seiner Organisationen, seines Terrors, um dieArbeitermassen [. . .] zu gewinnen", sie wenigstens zu entpolitisieren.2

Unter dem Eindruck seiner wirtschaftlichen Teilerfolge, vor allem derBeseitigung der Arbeitslosigkeit, hat er so tatsachlich ,,die ganzeArbeiterklasse in mehr oder weniger starkem MaBe unter den EinfluBseiner Propaganda gebracht" (S. 81) .3 Trotzdem bleibt die Arbeiter-schaft die potentielle Hauptkraft gegen den Faschismus.

Aber auch ,,breite Schichten der faschistischen Partei", die rebel-lischen Kleinbiirger, Bauern und Intellektuellen der Aufstiegszeit desFaschismus, halten an den urspriinglichen ,,kleinbiirgerlich-soziali-stischen VerheiBungen" fest. Der ihnen eigentiimliche ,,Antikapitalis-1 Vgl. hiezu und zu Punkt 3 ders.. Die illegale Partei, S. 177f., 183ff.» Ebd., S. 149f.« Auch ebd., S. 52, 157.

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mus", die wirtschaftliche Reglementierung und die ,,totalitare Dikta-tur" bringen sie in Opposition gegen die faschistischen Herrschafts-gruppen. Diese bedienen sich zur Beherrschung der kleinbiirgerlichenKlassen derselben Mittel wie zur Unterdriickung der Arbeiterklasse:partieller Zugestandnisse und brutaler Unterdriickung im Falle vonRebellionen sowie in Deutschland des Antisemitismus, der dieantikapitalistischen Stimmungen befriedigt (S. 83).x SchlieBlich sindnoch die schon erwahnten Meinungsverschiedenheiten und Gegen-satze zwischen der herrschenden Klasse und der regierenden Kaste,die in dieser selbst starke Konflikte hervorrufen, ein Faktor derGefahrdung des faschistischen Herrschaftssystems.

Wenn alle drei Arten von Unzufriedenheit und Opposition zusam-menwirken, dann, so wollte Bauer wahrscheinlich ausfiihren, ist dieStunde der aus Massenstreiks hervorgehenden ,,antifaschistischenRevolution" gekommen, die sich nicht mit bloB politischen Erfolgenzufrieden geben werde (S. 83).

Dieser Faschismusdefinition entsprechen nur die Herrschaftssystemein Deutschland und Italien seit der Mitte der DreiBigerjahre. Bauernimmt aber an, daB der Faschismus auch dort als Modell wirksamwerden kann, wo offensichtlich nicht die selben gesellschaftlichenVoraussetzungen gegeben sind wie in den ,,vollfaschistischen Staaten",2

oder wo schon die territoriale und bevblkerungsmaBige Machtbasisfehlen oder ungeniigend sind.3 In solchen Landern, in Osterreich 1934,in Rumanien, Polen, Ungarn und den baltischen Staaten sind etwazur gleichen Zeit gegenrevolutionare Diktaturen entstanden, denendie Massenbasis fehlt und die nur ungenau mit dem Faschismusgleichgesetzt werden konnen. Dort haben die reaktionaren regierendenParteien, wenn sie von faschistischen Kleinbiirgerbewegungen bedrohtwurden, die faschistischen Herrschaftsmethoden nachgeahmt und..halbfaschistische Diktaturen" aufgerichtet (S. 80) .*

Im Vergleich mit Bauers Faschismustheorie von 1936 fallt zunachstauf, wieviel starker 1938 die universellen und bkonomischen Bedin-gungen (Imperialismus) hervorgehoben sind, vermutlich eine direkteFolge der verstarkten Expansion des deutschen Faschismus (Okku-pation Osterreichs) und weiterer Niederlagen der Arbeiterbewegung.Im gleichen MaBe tritt das Bonapartismus-Modell zuriick, ohne jedochganz aufgegeben zu werden, vom Klassengleichgewicht ist iiberhauptnicht mehr die Rede. In der zugrunde gelegten Imperialismuskonzep-

1 Vgl. auch ebd., S. 180f.2 Ebd., S. 187, 149.3 Ebd., S. 187; vgl. auch Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 201.* Auch Bauer, Die illegale Partei, S. 157.

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tion, immer noch eng verbunden mit der Hilferdings und Luxemburgs,ist eine (eher auBerliche)1 Annaherung an leninistische Thesen, vorallem an die vom Sterben des Kapitalismus in seiner monopolisti-schen, imperialistischen Phase,2 zu registrieren, was der Notwendigkeitdes Abbaus von Schranken zu den Kommunisten und einer soziali-stisch-kommunistischen Einheitsfront im Zeichen des antif aschistischenWiderstandes entsprochen haben diirfte, oder mit dem Versuch erklartwerden kann, die praktischen Positionen der nach links gewandertenosterreichischen ..Revolutionaren Sozialisten" in der Theorie einzu-holen. Das fiihrte auch zu einer Annaherung an die kommunistischenFaschismustheorien,3 fur die die enge Verkniipfung mit dem Imperialis-mus und der Kriegsgefahr schon seit den Zwanzigerjahren ein kon-stantes Thema waren,4 daher auch ein pessimistischer Grundzug beziig-lich der Vermeidbarkeit des Faschismus und die fast unerschutterlicheErwartung der sozialistischen Revolution nach dem Sturz des Faschis-mus.5 Hierher gehort auch die eigentlich ganz un-sozialdemokratischeThese - verstanden als Rechtfertigung reformistischer Praxis -, einewichtige Voraussetzung fiir das Aufkommen des Faschismus sei dasSteckenbleiben der Nachkriegsrevolutionen im Politischen gewesen.Ebenso hat Bauer in seinen Stellungnahmen zum Faschismus die fiirdie meisten sozialdemokratischen Interpretationen charakteristischeBewertung, die Spaltung der Arbeiterklasse durch die kommuni-stischen Parteien und deren lange Zeit nicht in erster Linie gegen denFaschismus gerichtete Strategic seien mehr oder weniger mitverant-wortlich fiir den faschistischen Sieg gewesen, aufgegeben, obwohl ernoch 1936 diese Thesen wiederholt hatte.6

Trotzdem ist Bauers letzte Faschismustheorie in ganz wesentlichenZiigen von der, die im Sowjetkommunismus seit 1933 verbindlich war,7

1 So ist der faschistische ,,Etatismus" in einem gerade umgekehrten Bedin-gungsverhaltnis zu monopolkapitalistischen Machtgruppen gesehen.I W. I. Lenin, Der Imperialismus als hochstes Stadium des Kapitalismus [1917],in Ausgewahlte Werke, Moskau 1971, S. 283 und passim.* Auch verbale Anklange kommen wie schon 1936 vor: ,,Faschismus, der nichtsanderes ist als die Diktatur der kriegerischen Fraktion der Kapitalisten- undJunkerklasse [. . . ] " (Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 220, 228).4 Cammet, a.a.O., S. 157; vgl. auch die Belegstellen in Komintern und Faschis-mus, Dokumente zur Geschichte und Theorie des Faschismus, hrsg. v. TheoPirker, Stuttgart 1965, und bei De Felice, Le interpretazioni, S. 58ff.; ders.,II fascismo, S. 16ff.6 Typisch hiefiir ist auch die in diesem Zusammenhang zu sehende HaltungBauers zum ,,AnschluB" Osterreichs, vgl. etwa: Heinrich Weber [Otto Bauer],,,Osterreichs Ende", in: Der Kampf, Internationale Revue, 5. Jg., S. 121, 127.• Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 291ff.' Siehe Bernhard Blanke, Reimut Reiche und Jiirgen Werth, ,,Die Faschismus-Theorie der DDR", in: Das Argument, Heft 33 (1965), S. 35ff.; Iring Fetscher,

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unterschieden. Solche Punkte sind die besondere Bewertung der Rolledes Kleinbiirgertums und der faschistischen Massenbasis, die sogarals in die Arbeiterklasse hineinreichend gesehen wird, die Beachtunghistorischer Faktoren wie der Schwache der demokratischen Traditionin den faschistisch gewordenen Landern oder der spezifischen Folgendes verlorenen Weltkrieges und die klassenmaBige Verselbstandigungder Staatsmacht im Faschismus. Gegen die letztgenannte These wandtesich unter direktem Bezug auf Otto Bauer Georgi Dimitrov auf demVII. WeltkongreB der Kommunistischen Internationale im Jahre 1935.Im Kontrast zur Diirftigkeit der stalinistischen Definition des Faschis-mus als ,,die offene terroristische Diktatur der reaktionarsten, ammeisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente desFinanzkapitals"1 steht das differenzierte, eine groBe Zahl von empi-rischen Befunden in logischen Zusammenhang bringende Erklarungs-muster Bauers, in dieser Eigenschaft wie teilweise auch inhaltlichverwandt dem Trotzkis2 und Togliattis.3 Bauer gibt nicht nur dieallgemeinen Bedingungen des Faschismus (Monopolkapitalismus, Im-perialismus) an, die fur sich genommen nicht erklaren konnten, warumdas kapitalistische System beim Versuch seiner Erhaltung und Siche-rung in einigen Landern mit parlamentarisch-demokratischen Regie-rungen auskommt, in anderen aber zum Faschismus, zu halbfaschi-stischen oder biirgerlich-konservativen Diktaturen und in wieder ande-ren zu Militardiktaturen fiihrt; er gibt auch die besonderen, historisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen an, die hinzukommen miissen, umdie Entstehung des Faschismus zu erklaren.4

Auf andere Vorzuge von Bauers Faschismustheorien wurde schonwiederholt hingewiesen. Auf die Einzelheiten einzugehen, in denen derseit seinem Tode weitergeschrittene ForschungsprozeB seine Konzep-tion in Frage stellte oder der Geschichtsverlauf sie widerlegt hat,wurde die Moglichkeiten dieses Aufsatzes iibersteigen. Es spricht aberfur die auch heute noch gegebene Relevanz der FaschismustheorienOtto Bauers, daB diese oder ahnliche anderer Autoren5 in den letztenJahren in der Bundesrepublik Deutschland und zum Teil auch in

,,Zur Kritik des sowjetmarxistischen Faschismusbegriffs", in Karl Marx und derMarxismus, Munchen 1967, S. 218f.1 Georgi Dimitroff, Ausgewahlte Schriften, Bd 2, Berlin 1958, S. 525.2 In der Form einer Rekonstruktion durch Ernest Mandel, ,,Trotzkis Faschis-mustheorie", a.a.O., S. 7ff.; siehe auch S. 67ff.3 Togliatti, Lezioni sul fascismo; ders., ,,A propos du fascisme", a.a.O.4 Auf dieses Problem hat in allerjiingster Zeit Manfred Clemenz, Gesellschaft-liche Urspriinge des Faschismus, Frankfurt 1972, S. 11, 19ff., 206ff. aufmerksamgemacht.5 Vor allem Paul M. Sweezy, Theorie der kapitalistischen Entwicklung [1942],Frankfurt 1970, S. 385ff.

ST.

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Italien wieder ,,entdeckt" wurden und in die Wissenschaft Einganggefunden haben, was in Neuauflagen der schon ,,klassisch" gewordenenTexte und in der Ubernahme der ganzen Theorie oder wesentlicherElemente durch Historiker und Politologen1 zum Ausdruck kommt.

1 Wolfgang Abendroth, ,,Das Problem der sozialen Funktion und der sozialenVoraussetzungen des Faschismus", in: Das Argument, 12. Jg. (1970), S. 251ff.;vor allem Reinhard Kiihnl, Formen biirgerlicher Herrschaft, Reinbek bei Ham-burg 1971, und andere Arbeiten dieses Autors; Wilhelm Alff, ,,Der BegriffFaschismus", in Der Begriff Faschismus und andere Aufsatze zur Zeitgeschichte,Frankfurt 1971, S. 14ff.; Heinrich August Winkler, Mittelstand, Demokratieund Nationalsozialismus, Koln 1972, bes. S. 163ff.; Clemenz, a.a.O., S. 213ff.