Upload
martin-heidegger
View
250
Download
21
Embed Size (px)
Citation preview
MARTIN HEIDEGGER
GESAMTAUSGABE
I I . ABTEILUNG : VORLESUNGEN 19211944
BAND 55
HOLDERLINS HYMNE >DER IS' IER"
llEllVITTORIO KLOSTERMANN
FRANKFURT AM MAIN
N,IARTIN HEIDEGGER
HOLDERLINS HYMNE
UDER ISTER"
llsllVITTORIO KLOSTERMANN
FRANKFURT AM MAIN
MARTIN HEIDEGGER
GESAMTAUSGABE
IL ABTEILUNG : VORLESUNGtrN 1925-1944
BAND 53
HOLDERLINS HYMNE >DER IS' IER"
VITTORIO KLOSTERMANN
FRANKFURT AM MAIN
:
llsll
N,IARTIN HEIDEGGER
HOLDERLINS HYMNE
)t)ER ISTtrR.
ilqilVITTORIO KLOSTERMANN
FRANKFURT AM MAIN
| }_] . : ' / , : t - i {+ l - ' 1 ' :J, ! r - h,- j - l ' - :
I ' l t rdc:gg*r, I '1ar 1. . : i r , l . { - l l l , ' . t 1" ' l . t ' i ' i
l lu l . i l r , r r ' - l ! r i : . ; l l ; ' i r i : , - . ' ' l - i r? i l : :1. .n-r "
Freiburger Vorlesung Sommersemester 1942Herausgegeben von Walter Biemel
2. Auflage 1995@ Vittorio Klcstermann GmbH . Frankfurt am Main ' 1984
Druck: Druckhaus Beltz, HemsbachAile Rechte vorbehalten ' Printed in Germany
INHALT
ERSTER TEILDas Diclzten des W eseru der Strijme - die I ster-Hymne
1. Thema der Vorlesung: Anmerkungen zu Hijiderlins I-Iymnen-Di&tunga) Die Ister-Hymneb) Eriirterung des Anfangs: >>Jezt komme, Feuer!<< .
2. Die Hymnen-Didrtung als Dichtung des \{esens der StriimeWiederholung
5. Die metaphysische Deutung der Kunst4,. Hiilderlins Di&tung nidrt sinnbildlidr metaphysisc,h. Das verbor-
gene Wesen des Stromes ,
5. Der Strom als Orts&aft des Aufenthaltes des MensdrenWiedcrholung
6. Die Striime als die >s&windenden<< und >ahnungsvollen<< in>Stimme des Volkes< . . .Wiederholung
7. Der Strom als Ortschaft der Wanderschaft und Wanderschaft derOrtschafta) Der Strom ein >Riitsel< - das dichterische Vermuten und
Meinenb) Die Ei.heit von Ortschaft und Wanderschaft ist nicht die re&-
nerisch bestimmte, klare, ordnungshafte Eiaheit von Raurn undZeit. Zur neuzeitlidren Bestimmung des Wirklidren
Wiederholung: Exkurs iiber die Technik als Ort der >Wahrheit<,der das Wesen des Wirklichen bestimmt
8. Die metaphysisdae Vorstellung von Raum und Zeit und ihre Frag-wiirdigkeit.
9. Das Heimischwerden die Sorge der Dichtung Hblderli-ns - die Aus-einandersetzu-ng des Fremden u.nd Eigenen die Grundwahrheitder Ges&ichte - die Zwiesprache Hrilderlins mit Pindar undSophohles
ZWEITERTEILDie griechische Deutung des Mercchen in Soph.okles' Antigone
10. Der l\{ensdr das Unheimiichste des Unheimlichen. (Das Einzugs-Iied des Chores der Alteu und das erste Standlied.) .Wiederholung
1.2r)
1Tr . l
t7
202524
3256
39
40
46
3I
55
60
6565
VI
11.fz-
Inhalt
Die dichterische Zwiesprache zwischen Hijlderlin und SophoklesDie Bedeutung des 0elv6v. (Erliiuterung des Anfangs des Chor-Iiedes.)a) Bemerkung zumb) Zur Ubersetzung
Ubersetzenvon td 6erv6v .
Inhalt
22. Der geschidrtli& grii:rdende Geist. ErlHuterung der Verse: >>nem-lich zu HauB ist der Geist ni&t im An-fang, nicht an der Quell.Ihn zehret die Heimath. Kolonie liebt, und tapfer Vergessen derGeist. Unsere Blumen erfreun und die Sdratten urlserer W?ilderden Vers&machteten. Fast wiir der Beseeler verbrandt.<<
25. Das Di&ten des Wesens der Didrtung - der didrterische Geist alsder Stromgeist. Das Heilige das Zu-Dichtendea) Das Andenken an die Wandersdraft in der Fremde - Herakles
vom Ister zu Gast geladenb) Das Gesetz der Gesdfchte: das Eigene das Feraste - der Weg
zum Eigensten der s&werstec) Der ritselhafte Gang des Isters
24. Die Strtjme als die Dichter, die das Dichterische stiften, auf dessenGrund der Mensdr wohnt
25. Der Dichter das r2itselvolle >Zeichen<, der das Zr-Zeigend.e er'scheinen lii8t. Das Heilige als das Feuer, das den Diclter entziin-det. Die Bedeutung des Nennens der Gijtter
26. Das didrtende Stiften baut die Treppen fiir das Herunterkommender Himmlischena) >Die Kinder des Himmels< .b) Der Ister und der Rhein .
Sihlu8bemerkung - >Giebt es auf Erden ein Maas?<
Nachwort des Herausgebers
VII
1A
156
69
a1
7476
79t71,
175
t7g180
182
184
t94t97199
205
207
15.
lo.
lViederholung
15. Das Unheimliche als Grund des Mens&en.liiuteruns zu rol,ld td, 0ervd und nr6l.elv.)
(Fortsetzung der Er-
Wiederholung
Weitere Wesensbestimmungen des Menschena) Uberallhinausfahrend - erfahrungslos. (Erliiuterung des Mit-
telstiicks der zrveiten Strophe.) .b) Ho&iiberragend die Statte - verlustig der Stiitte. Die a6l"rg als
Stdtte. (Erltiuterung des Mittelstiicks der zweiten Gegenstrophe.)
lViederholung
Fortsetzung der Erliiuterung des Wesens der l6l.lE .a) Die Bedeutung des xal"6v und die r6)"pcb) Das Offene
1J
Die Versto{Jung des Menschen als des unheimli&sten Seienden.@er Bezug des Schlu8wortes zum einleitenden Wort des Ch.or-gesanges,)
Wiederholung
Die einleitende Zwiesprache von Antigone und Ismenea) Das Wesen der Antigone - das hijchste Unheimliche. ro0eiv
td 6erv6!b) Die Mehrdeutigkeit der Dichtungc) Das Wissen vom Herd und das Wiihnen. Das Ungesagte im
Gesagten
Der Herd als das Sein. (Erneutes Bedenken des Anfangs desChorliedes und des Schlu8wortes.)
Wiederholung
Fortsetzung der Ausfiihrungen iiber den Herd als das Sein .a) Zusammengehiirigkeit von Di&ten und Denkenb) 'Eotia und Sein bei Platon .
Das Heimisdrwerden im Unheimisdrsein - die Zweideutigkeitdes Unheimischseins. Die Wahrheit des Chorliedes die innersteMitte der Tragddie .
DRITTERTEILHijlderlins Dichten des Wesens des Dichters als Halbgott
Hijlderlins Stromdichtung und das Chorlied des Sophokles - dasj eweils geschichtliche Heimischwerden
859091
91
97r03r07108173
115I16t22
127150
150
I t+
l l t )
i591591+r
t45
18.
19.
20.
2I .r53
ERSTERTEIL
DAS DICHTEN DES WESENS DER STROME -DIEISTER-HYMNE
1. Thema der Vorlesung: Anmerkungen zu HiilderlinsHymnen-Dichtung
Diese Vorlesung versucht, auf einige der Didrtungen Htilder-
li:rs aufmerksam zu machen, die man >Hymnen<< nennt. Der
Titel >Hymne<< ist die deutsche Wortform des griechischen
Wortes iipvog, was bedeutet Gesang, Lied, im besonderen dann
den Gesang zum Preise der Gtjtter und zum Ruhme der Helden
und zur Ehrung der Sieger in den Kampfspielen. trpveiv: sin-gen, preisen, riihrnen, feiern und weihen und so das Fest berei-ten. So treffen wir auf die sprachliche Wendung, in der Haupt-
uud Zeitwort tpT,og und ripveiv unmittelbar geeinigt sind. Alsschijnstes Beispiel kennen wir die Worte der Antigone in derTragiidie des Sophokles, die V. 806 ff. beginnen:
6gdr' Bp', 6 1d,E ncrrpiag roliro,l,>Seht mi&, ihr der vdterlichen Erde Miinner. . .<(,
und die dann schlieBen:
otir" 6ni wpgeiolE ntb p6 tlg fipvoE iipvrloev,>> auch nicht als Bereitung des Festes feiert mich je
ein Feiergesang<<.
In weldrem Sinne aber und mit welchem Recht die im folgen-den genannten Dichtungen Hiilderlins >Hymnen<< hei8en diir-fen, muB zundchst offen bleiben. Zuerst sollen wir auf-merksam werden fiir diese Dichtung. Aufmerksam geworden,kiinnen wir dann manches uns >>merken<<, und d. h. behalten,woran wir vielleicht in guten Augenblicken etwas >>merken.<,
7
2 Das Dichten des Wesens der Str\me
und d. h. ahnen von dem, was im Wort dieses Dichters gesagtsein kiinnte.
Was die Vorlesung mitzuteilen vermag, sind Anmerkungenzu den fiir sie ausgewdhlten Didrtungen. Solche Anmerkun-gen sind stets nur eine Beigabe. So kann es sein, daB manches
oder vieles oder gar alles von dem, was angemerkt ist, ebenhinzugebracht wird und nicht >>in<< der Dichtung >steht<. Die
Anmerkungen sind dann nicht aus der Dichtung genommen,
nicht aus ihr heraus vorgelegt. Die Anmerkungen erreichen
keineswegs das, was im strengen Sinne des Wortes eine >>Aus-
legung< der Dichtung heiBen diirfte. Die Anmerkungen geben,
auf die Gefahr, die Wahrheit der Hijlderlinschen Dichtungen
zu verfehlen, nur einige Merk-male, Zeichen fiir das Aufmer-ken, Haltepunkte fiir die Besinnung. Weil diese Anmerkungennur eine Beigabe zum Gedicht sind, mu8 die Dichtung selbstzuerst und stiindig das Erste und Gegenwdrtige sein.
Die in dieser Vorlesung zugrundegelegten Texte sind derAusgabe entnornrnen, auf die knnftig jedes Hiiren des Hiilder-Iinschen Wortes zuriickgehen mu8. Diese Ausgabe wurde vonNorbert von Hellingrath um das Jahr 1911 entworfen und vonihm selbst in den wesentlichen Stiicken Band I, IV und V ge-
sclraffen.l Norbert von Hellingrath ist als achtundzwanzig-jiihriger im Dezember 1916 vor Verdun gefallen. (Zu gebrau-chen ist auch die Ausgabe von Zinkernagel.)
a) Die Ister-Hymne
Die Vorlesung beginnt mit Anmerkungen zu einer >Hymne<,
die Hiilderlin selbst nie verijffentlicht, die er au&. bei der Nie-
derschrift und im Entwurf ohne Uberschrift gelassen hat.
Norbert von Hellingrath gab dem Gediiht die Uberschrift>Der Ister< (d. h. die Donau).21 Htilderlin, Sdmtli&e Werke. Historisch-kritische Ausgabe, begonnendurch Norbert von Hellingrath, fortgefiihrt durch Friedrich Seebass undLudwig von Pigenot. Berlin, Band III,21922, Biinde I, II, IV, V, W, 21923.2 Vgl. >Andenken<, W.S. 1941142, S. 1 (GA.8d.52, S. 1).
Antnerhungen zu Hiilderlins Hyrnnendichtung 3
Das Gedicht besteht aus vier Strophen. Die vierte ist unvoll-
endet. Ob sie die SchluBstrophe des Gedichtes sein soll, liiBt
sich nicht ents&.eiden. Das Gedicht lautet (IV, 220 ff.) :
DER ISTER
Jezt komme, Feuer!Begierig sind wirZu schauen den Tag,Und wenn die PriifungIst durch die Knie gegangen,Mag einer spiiren das Waldgeschrei.Wir singen aber vom Indus herFernangekommen undVom Alpheus, lange habenDas Schikliche wir gesucht,Nicht ohne Schwingen magZum ndchsten einer greifenGeradezuUnd kommen auf die andere Seite.Hier aber wollen wir bauen.Denn Strtime machen urbarDas Land. Wenn nemlich Krduter wachsenUnd an denselben gehnIm Sommer zu trinken die Thiere,So gehn auch Menschen daran.
Man nennet aber diesen den Ister.Schiin wohnt er. Es brennet der Sdulen Laub,Und reget sich. Wild stehnSie aufgeridrtet, untereinander; darobEin zweites Maas, springt vorVon Felsen das Dadr. So wundertMich niiht, dass erDen Herkules zu Gaste geladen,
Das Didtten des Wesens der Strtime
Ferngldnzend, am Olympos drunten,Da der, sich Sihatten zu suchenVom heissen Isthmos kam,Denn voll des Muthes warenDaselbst sie, es bedarf aber, der Geister wegen,Der Kiihlung auch. Darum zog jener lieberAn die Wasserquellen hieher und gelben Ufer,Hoch duftend oben, und sdewarzVom Fichtenwald, wo in den TiefenEin Jiiger gern lustwandeltMittags, und Wachstum hiirbar istAn harzigen Bdumen des Isters,
Der sdreinet aber fastRiikwiirts zu gehen undIch mein, er miisse kommenVon Osten.Vieles wd.reZu sagen davon. Und warum hd.ngt erAn den Bergen gerad? Der andreDer Rhein ist seitwdrtsHinu'eggegangen. Umsonst nicht gehnIm Troknen die Striime. Aber wie? Sie sollen nemlichZur Sprache seyn. Ein Zei&enbraucht es,Nichts anderes, sdrlecht und recht, damit es Sonn'Und Mond trag'im Gemiith', untrennbar,Und fortgeh, Tag und Na*rt auch, undDie }limmlischen warm sich fiihlen aneinander.Darum sind jene auchDie Freude des Hiichsten. Denn wie kdm er sonstI{erunter? Und wie Hertha griin,Sind sie die Kinder des Himmels. Aber allzugedultig
Scheint der mir, nichtFreier, und fast zu spotten. Nemlich wenn
Angehen soll der Tag
Anmerhungen zu Hijlderliru Hymnendidttung 5
In der Jugend, wo er zu wachsenAnfringt, es treibet ein anderer daHoch schon die Pracht, und Fiillen gleichIn den Zawrn knirscht er, und weithin hiirenDas Treiben die Liifte,Ist der betriibt;Es brauchet aber Stiche der FelsUnd Furchen die Erd',Unwirthbar wdr es, ohne Weile;Was aber jener thuet der Strom,Weis niemand.
Das Gedicht dichtet einen Strom. Die Strijme gehilren zu denWassern. Wenn zu solcher Dichtung einiges angemerkt wird,bedenken wir, was anderen Orts von den Wassern gesagt ist:
Der Urahn aberIst geflogen iiber der SeeSdrarfsinnend, und es wunderte sichDes Kiiniges goldnes Haupt
3f U"* Geheimniss derWasser,
>DerAdler< (IY,225)
b) Eriirterung des Anfangs: >Jezt komme, Feuer!<
Das Gedicht >>Der Ister< beeinnt als ein Rufen:
l"rt io-*". Feuer!
>>Das<< Feuer ist gerufen im Sinne eines Herbeirufens. Unddoch hat dieses Rufen andere Art als das eigen:reiiihtige Her-beiholen und Herbefehlen (>Zitieren<). Der Ruf ruft zu-gleich das Gerufene an, die Anrufung bezeugt dem Angeru-fenen seine Wiirde. Was da korn'nen soll, kommt von si& aus.Nicht der Ruf bewegt erst das Kommende zum Kommen.
7
6 Das Dichten des Wesens der Striirne
\Nenn ,tdas Feuer<< jedoch von selbst kommt, weshalb wird esdann no& gerufen? Der Ruf bewirkt nicht das Kommen. Aberer ruft dem Kol'rltnenden etwas zu. Und was ist das Zugeru-fene?
Jezt komme, Feuer!Begierig sind wirZu schauen den Tag,
Die Rufend"o ,u*".r, daB sie selbst dem kommenden Feuerentgegenkommen. Warum sagen sie dies? Und wer sind die,die also rufen? Aus den ersten Versen des Gedichtes allein las-sen sich diese Fragen nicht beantworten. Zum anderen miissenwir dodr zugestehn, daB sich in diesen ersten. Worten ein merk--wiirdiger Bezug auftut. Denn was ist >das Feuer<<, das angeru-fen wird?
Das kommende Feuer soII den Tag schaubar machen. DasFeuer fiihrt den Tag herauf, ld.Bt diesen aufgehen. Wenn >derTag<< hier der Tag ist, den wir teghch kennen, dann muB dasin seinem Kotttttten angerufene Feuer die Sonne sein. Sie gehtTag fiir Tag auf. W2ire nicht dieses Alltiiglichste, dann wd.renkeine Tage. Einem solchen Kommenden, der aufgehendenSonne, noch eigens zurufen: >>Jezt komme<<, ist aber doch eini-iberfliissiges und eitles Tun. Allein, fieses >>Jezt komme<< ent-hiilt mehr. Der Ruf sagt: Wir, die also Rufenden, sind bereit.Und in solchem Zuruf verbirgt sich noch ein anderes: Wir sindbereit und sind es nur, weil wir vom kotr'-enden Feuer selbstgerufen sind. Die hier Rufenden sind die Gerufenen, die An-gerufenen, jetztin dem anderen Sinne, der bedeutet: die zumHciren Bestellten. weil Bestinrmten. Die in eine solche Bestim-mung und Bereitschaft Gerufenen heiBen die Berufenen. Wel-che Berufung ist gemeint? Unter den um dieselbe Zeit ent-standenen Gedichten Hiilderlins findet siih eines, dessen ersteStrophe so lautet:
Anmerkungen zu Hiilderlins Hymnendichtung
Des Ganges Ufer hdrten des FreudengottsTriumph, als allerobernd vom Indus her
Der junge Bacdrus kam, mit heilgemWeine vom Schlafe die Viilkerwekend.
(IV,145)
Auch hier wie in der Hymne das >vom Indus her<<, wennglei&
in der Gegenrichtung gemeint. Genannt ist Bacchus, der>Weingott<, dessen >heilige Priester<< sind die Dichter. DasGedicht (IV,I45 ff.), das von der allerobernden, aufweckendenWanderung des Bacchus sagt, trdgt die Uberschrift >Dichter-
beruf<. Den Ruf : >>Jezt komme, Feuer!<<, rufen Berufene. IhreBerufung ist der Gesang, d. h. die Dichtung. Daher sagen dieRufenden von sich Y.7 f .:
Wir singen aber vom Indus herFernangekommen. . .
Nur die in eine Berufung Gerufenen kijnnen wahrhaft rufen:>>Ko"'''e<<. Und dieses gerufene Rufen allein hat eigentlicheNotwendigkeit in sich. Dieser Ruf bleibt unendlich verschiedenvon dem, was wir einen blindlings ausgesto0enen Schrei nen-nen. Aber es bleibt doch auch bestehen, da8 das Feuer, dassie anrufen, wenn es die Sonne ist, niiht nur von selbst, son-dern auch unabldssig, unaufhaltsam und unabgrenzbar tag-tngl.i.ch komrnt. Weshalb denn dieses >>Jezt korrrrrre, Feuer!<<?>>Jezt<< - als ob bisher das Feuer ausgeblieben und eine langeNacht gewesen sei. >>Jezt<< - als ob das Aufgehen der Sonne imLauf der Begebenheiten etwas Ungewiihnliihes sei. Im Kom-men der Tage ist doch gerade das Aufgehen des Lichtes das,was am wenigsten einen Tag vom anderen unterscheiden undgar auszeichnen kijnnte. In der Abfolge von Nacht und Tagbezeichnet der Sonnenaufgang einen stets wiederkehrenden,zeitlich zwar sidr verschiebenden aber doch sonst gleiihartigenZeitpunkt, ein >>Jezt<<, das mit dem angebrochenen Tag auchsdron vergessen und in die Gleichgiiltigkeit hinabgefallen ist.
Y
8 D as Dichten des V[/ esens der Strdrne
Am Beginn des Gedichtes steht wie ein plijtzlich aufgegan-
gener Stern, der alles iberleuchtet, dieses >>Jezt<<' Das Wort
hat eine ausgezeichnete Betonun g: >>Jezt komme, Feuer!<. Die-
ses so betonte >>Jezt<< gibt dem ganzen' Gedicht seinen eigenen
rrnd einzigen Ton. Welches >>Jezl<< meint der Ruf ? Wann ist
oder wann war dieses >>Jezt<<? Das >>Jezt< nennt doch die Zeit
des Rufens der Berufenen, eine Zeit der Dichter. Eine solche
Zeit bestimmt sidr aus dem, was die Dichter in ilrrer Dichtung
zu dichten berufen sind.
Aber was ist das - Dichten? Wie kann das Dichten eine Zeit
bestimmen. ei:e >Jezt< auszeichnen? >Dichten< - lateinisch dic-
tare - heiBt niedersdrreiben, fiir das Niederschreiben vor-
-sagen. Etwas sagen, was vordem noch nicht gesagt worden.
Im dichterisch Gesagten liegt daher ein eigener Beginn. Dann
gdbe es so etwas wie eine der Dichtung entstammende und sie
bestimmende Zeit - eine dichterische Zeit. Ihre >>Zeitpunkte<<
lassen sich nicht nadr dem Kalender festlegen - nicht >datie-
ren<<. \[ir kijnnen zwar bisweilen das Jahr und den Tag, sogar
die Stunde in Zahlen der Zeitrechnung angeben, da eine Dich-
tung >>verfaBt<< und abgeschlossen wurde. Aber diese Zeitord-
nung des dichtenden Tuns ist niiht ohne weiteres das gleiche
oder gar dasselbe, was der Zeitraum des Gedichteten ist. Uber-
dies ist fie dichterische Zeit auch ieweils wieder verschieden
je na& der Wesensart der Dichtung und der Dideter' Denn
iede wesentliche Dichtung fiditet ja auch das Wesen des Dich-
tens selbst >>neu(<. Von Htilderlins Dichtung gilt dies nodr in
einem besonderen und einzigen Sinn. Fiir das >>Jezt<< seiner
Dichtung gibt es kein kalendermdBiges Datum. Auch bedarf
es hier iiberhaupt keines Datums. Denn dieses gerufene und
selbst rufende >>Jezt<< ist selbst, in einem urspriingli&eren
Sinne ein Datum, will sagen - ein Gegebenes, eine Gabe; ge-
geben nfirnliqh durch die Berufung.
Dieses >>Jezt<< haben die hier rufenden Dichter nicht aus ei-
ner Willkiir und kraft eigener List gew2ihlt und festgesetzt.
Dieses >>Jezt<< ist ihnen als ihre Zeit zugeschickt. Und deshalb
Anmerkungen zu Iliilderlins Hyrnnendidttung I
liifit sich dieses >>Jezt< auch nicht >historisch< ausmachen, et-
wa so, daB wir versudrten, bekannte Begebenheiten der Ge-
sdrichte nach Geschichtszahlen festzulegen und zu diesen
Zeitpunkten das >Jezt< des Gedidrtes in eine berechenbare Be-
ziehung zu bringen. Warum ein solcher Versuch ins Leere fiih-
ren mu8, kijnnen wir freiliih geradehin noch nicht erke'r'.en.
Viel wesentlicher ist auch, da8 wir zunaiihst beachten, wie un-
mittelbar das Nennen dieses >Jezt< und >>der Zeit<< iiberall zur
>Spradre<< der Hymnen Hijlderlins gehtirt.
In der ersten Hymne >>Wie w-enn am Feiertage. ..<< sagt der
Dichter:
Jezt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen,( IV,151)
Wieder das >>Jezt< und wieder im Zusammenhang mit dem
Tagwerden des Tages und lvieder im Zusammenhang mit ei-
uemKommen.
Jezt komme, Feuer!
Diese Auszeichnung des >Jezt<< fordert, da8 wir in diesemZeit-Wort auch etwas Ausgezeichnetes vernehmen und eineverborgene Fiille der dichterischen Zeit und ihrer Wahrheiterwarten. Das >>Jezt komme< scheint aus einer Gegenwart indie Zukunft zu sprechen. Und doch spricht es zuerst in dassdron Geschehene. >Jezt< - das sagt: Etwas hat sich sihon ent-sdrieden. Und eben dies, was sich sdron >ereignet<< hat, trdgtallein allen Bezug zum Kommenden. Das >>Jezt<< nennt ein Er-eignis. Mit dem Nennen des >>Jezt<< im ersten Vers beginnt dieerste Strophe der Hymne und damit diese im Ganzen. Undalsbald folgt auch schon in derselben ersten Strophe V. 15 dieNennung eines >>Hier<.
Hier aber wollen wir bauen.
In sich entschieden und rund steht dieser Vers in der Strophe.Wo ist dieses >>Hier<? Von woher besti-mmt sich das Wo? Wel-cher Ort ist genannt?
10 Das Dichten des lAesens der Str6me
Wir singen aber vom Indus herFernangekommen undVom Alpheus,. . .
>Indus< und >Alpheus< sind Namen fiir Strijme und Fliisse.Der eine gehiirt in das Land der >Indier<<, der andere in das
Land der Griechen. Von Strijmen her sind die Rufenden ge-
kommen. Und wohin sind sie angekommen? Unmittelbar wirdder Ort, das Hier als das entschieden Hiesige noch nicht ge-
nannt. Aber das >Hier< ist wiederum durch einen Strom be-
stimmt:
Hier aber wollen wir bauen.Denn Striime machen urbarDas Land.
An einem Strom werden die von Strijmen her Fernangekom-
menen bauen. An welchem Strom die Angekommenen wohnen
werden, sagt erst der Beginn der zweiten Strophe.
Man nennet aber diesen den Ister.
>>Ister<< galt den Rijmern als Narne fiir die untere Donau, fiir
den Strom, den die Griechen nur in seinem unteren Laufkannten und "Iorgog nannten. Die rijmische Bezeichnung fiir
die obere Donau lautet >>Danubius<. Hijlderlin aber benennt,
wie sich noch zeigen wird, gerade derr oberen Lauf der Donau
mit dem griechisch-riimischen Namen fiir den unteren Lauf
des Stromes, gleich als ob die untere Donau an die obere und
damit an ihre Quelle zuriickgekehrt sei.Wenn also der erste l{erausgeber dieser Hymnen, Norbert
von Hellingrath, dem Gedicht die Uberschrift >>Der Ister< ge-
geben hat, geschah dies mit Reclet, gesetzt freilich, daB dieseHymne nicht beiliiufig und einleitungsweise die Strcime und
die Donau erwdhnt, sondern eigens von ihr sagt, und zwar
als einem Strom. So gesdrieht es in der Tat. Die also berech-
tigte Uberschrift hat ihre Entsprechung in der Uberschrift, die
Die Hyrnnen als Dichtung des Wesens der Strijme 11
Hiilderlin selbst einer anderen Hymne gegeben hat: >Der
Rlrein<. Zu alTew:, hin wird auch dieser Strom in der Ister_
bymne besonders genannt und wieder nicht als ein beliebiger
Strom, sondern (IIL Strophe, Y. 47 ff.) als >der andere< -niimiich der andere zu dem einen, der die f)onau ist. DieDonauhymne und die Rheinhymne stehen in einem wesen-haften dichterischen Bezug. Die nachtrdgliche Wahl der Uber-schrift >Der Ister< miissen wir als gegliickt anerkennen. Uber-des hat Hijlderlin selbst eine andere Hvmne iiberschriebenmit dem Ti te l >Am QuelJ der Donau,, .
2. Die Hymnen-Dichtung al.s D ichtung de s W e sensder Striime
Schon aus diesen ungefdhren Hinweisen wird deutlich, da8 inder Hymnendichtung Hijlderlins die Strijme zur Sprache kom-men. Weshalb und in welchem Sinne, bleibt zuniichst im Dun-kel. Das Licht zu seiner Erhellung mrissen wir aus dem zuerlangen suchen, was Hijlderlin selbst von den Strilmen sagt.Bereits eine fliichtige Kenntnis seines garrze'_ dichterischenWerkes kann uns dariiber belehren, da8 Hiilderlin mit einergewissen Vorliebe in seiner Dichtung Strijme und Fliisse undtiberhaupt die Wasser nennt. So kennen wir aus der Zeit vorder eigentlichen Hymnendichtung zwei Gedichte: >Der Main<(III, 54 f.) und >Der Nekar< (III, 59 f.).
Aber auch andere Dichtungen aus der Hymnenzeit nennenoft, dem Anschein nach unvermittelt, die Strijme. Das in zweiFassungen riberlieferte Gedicht >Stimme des Volkes< (IV,L39 ff. und I42tr.) lautet in seinen beiden ersten Strophen:
Du seiest Gottes Stimme, so glaubt ich sonsr,In heilger Jugend; ja und ich sag es noch!
Um unsre Weisheit unbekiimmerrRauschen die Striime doch auch, und dennoch
12 Das Dichten des Wesens der Striime
Wer liebt sie nicht? und immer bewegen sie
Das Herz mir, hiir ich ferne fie Schwindenden
Die Ahnungsvollen, meine Bahn nicht
Aber gewisser ins Meer hin eilen.
Die Striime kiimmern sich nicht um die Weisheit der Men-
schen. Dies aber keineswegs deshalb, weil sie der Weisheit und
dem Geist abhold sind, sondern deshalb, weil sie ihren eigenen>Geist<< haben. Daher spricht Hijlderlin spd,ter in einer seinergewaltigsten Besinnungen vom >Stromgeist< (V,272 f.). Und
daher heiBen in dem jetzt angefiihrten Gedicht die Strijme
auch >>die Ahnungsvollenr<, aber auch >die Schwindenden<.R?itselhaft sind diese beiden Namen. Der eine nennt den Bezug
der Strijme zum Kommenden und der Ahnung Nahen. Der
andere nennt das Weggehen der Strijme in das Gewesene. Sie
sind beides zumal aus einem verborgenen einheitlichen Bezug
zum Gewesenen und zum Kiinftigen - also zum Zeithaften.
Ob mit dem Nennen der Strijme auch die Auszeidrnung desZeit-Wortes >>Jezt<< in den Stromhyrnnen zusammenhiingt?
Denn aude in der Rheinhymne beginnt die entscheidende zwei-
te Strophe (W, I72) mit >>Jezt aber...<. Das Stri jmen der
Strijme verlduft nicht einfach >>in der Zeit<, als sei diese nur
ein den Striimen gleichgiiltiger und iiuBerlicher Rahmen des
Ablaufes. Die Striime ahnen und schwinden in die Zeit hin-
ein. so zwar. da8 sie selbst dieses Zeithafte und die Zeit selbstsind.
Aus der ersten Strophe der Isterhymne, gleichwie aus der
sechsten Strophe der Rheinhymne erfahren wir aber auch, daBdie Strijme ein ausgezeichneter Ort sind, an dem der Mensch,
und nicht nur er, seine Wohnstatt findet. Gesetzt nun, dieIsterhymne sei eine Stromhymne und trage daher den Titel
zu Recht, dann miissen auch die Anmerkungen zu diesem Ge-
dicht vor allem auf das dichterische Wesen des Stromes auf-merksammachen.
Allein, wir tappen in der Irre umher, wenn wir fortfahren,
Die Hymnen als Dichtung des Wesens der Striime L3
in elrer iiuBerlichen und verstreuten Art aus den verschiedenen
Dichtungen Htilderlins geeignete >Stellen< iiber die Strijme
und die Gewdsser zusammenzutragen, um Llns daraus dann
im allgemeinen eine Vorstellung von dem zurecht zu zimmern,
was Htjlderlin mit den >Strijmen< und den >>Wassern<( )>ge-
meint<< haben kijnnte. Eine einzelne, in sich geschlossene
Stromdichtung selbst kann wohl allein die rechte Kunde geben.
Doch bedarf es, um sie auch nur im ersten Anklang zu hiiren,
einer Anleitung, die wenigstens dafiir sorgt, da{J wir nicht so-
gleich nach der verkehrten Richtung hiiren und so uns dann
au& in allem Besonderen verhiiren. Wir miissen daher nach
dem Bereich fragen, aus dem das Nennen der Strijme zu uns
her klingt, weil in diesem Bereich selbst die Strtjme wesentiichsind.
Wiederholung
Die Vorlesung gibt eine Folge von Anmerkungen zu einigenGedichten Hrilderlins, die man >I{yrnnen< nennt. f)as grie-chische Wort ilpvog bedeutet Gesang zum Preise der Gdtter,Lied zum Ruhme der Helden, zur Ehrung der Sieger in denKampfspielen. Das Wesentliche im >>Gesang< und Lied ist dasWort. ttrrveiv bedeutet sagen im Sinne von preisen, riihmen,ehren, weihen. Der Grundzug des so sagenden Wortes ist dasFeiern: die wesenhafte Bereitung des Festes. Der {ipvog ist nicht>Mittel< zu einer Veranstaltung, ist nicht >Umrahrnung<< derFeier, sondern im Sagen selbst liegt das Feiern und das Fest-liche. Daher finden wir die wesentliche sprachlidre \Mendung,in der das Hauptrvort iipvoE und das Zeitwort 6p.veiv auseiner einzigen Einheit kommt: iipvoc 6p'r,ei, der Festgesangfeiert. So sagt Antigone in der Tragiidie des Sophokles (V.806ff.),
oiir' iri, vupqe[oLE rdl p6 rlg flpvogiipvqoev
t+ Das Diclien des Wesens der Strcime
> auch nicht als Bereitung des Brautfestes
feiert mich je ein Feiergesang. <<
Wenn das Griechentum seine geschichtliche Einzigkeit hat,dann liifjt es sich auch nie in einem nachahmenden Sinne rvie-derholen und dies in keiner Hinsicht. Gebrauchen wir daherden Titel >Hymne< auch fernerhin, dann kann dieser Titeinr-rr dort iiber eilen bloB literatur-wissenschaftlichen Titel zurAbgrenzung von Gedichtarten hinausgebracht und wesentlichbegriindet werden, wo Dichtungen sind, die sich in einem wie-demrn einzigen Sinne auf F'est und Feier beziehen. Ob Hijlder-lins Dichtungen solchen Wesens sind und wenn sie es sind, in'rvelchem einzigen Grundzug sie festliche Gesdnge sind, lvannund rn'o dann dies gesungene Fest >ist<, all diese Fragen lassenwir offen. Wir versuchen statt dessen das ganz >Vorldufige<,niimlich aufmerksam zu lverden auf Hijlderlins Dichtung.Dern dienen die Anmerkungen. Sie geben einen Anhalt zumNachdenken. Das Nachdenken soil die Aufmerksamkeit envek-ken. Diese Aufmerksamkeit unterscheidet sich wesentlich vonder blo8en Neugier, die nur etlvas >>kennen lernen<< will, ohnees zu erkennen. Und selbst der Wille zum Erkennen ist nochnicht die Aufmerksamkeit im Sinne einer Gmndstimmung,aus der wir stets und nur den Sinn haben fiir das Wesentliche,die Bestimmung, dieses Wesentliche aus dem Ubrigen heraus-zumerken, um es knnftig zu behalten, zu >>merken<. Die An-merkungen zu den Gedichten sind selbst nicht schon die >Aus-legung< der Gedichte. Und weil die Anmerkungen von unsher angebracht sind und so >>von au8en., kommen und daheraus der Verstreuung, mu8 allem zuvor stiindig das Gedichtselbst das Erste und d. h. das Einzige bleiben. Nach dieser Artkijnnen wir in einer Vorlesung nur auf wenige Gedichte auf-merksam machen. Daher mtissen wir auswd.hlen. Darin liegteine Willkiir, und dies bedeutet: eine Beschrdnkung dessen,u'as eine Vorlesung hier iiberhaupt vermag.
Die Vorlesung beginnt mit Anmerkungen zu einem Gedicht,
Die Hymnen ak Dichtung des Wesens der Strdme t5
das Hijlderiin selbst nicht verijffentlicht hat. Das Gedicht ist
bei der Niederschrift und im Entwurf ohne Uberschrift geblie-
ben. Uber hundert Jahre spdter erst kam das Gedicht durch
die Ausgabe von Norbert von Hellingrath an das Ohr der Men-
schen. Er hat dem Gedicht den Titel: >I)er Ister<< gegeben. Die-
ser Name, der im Gedicht selbst vorkommt, galt den Rijmern
als Bezeichnung der unteren Donau, fiir den Strom also, den
die Griechen iiberhaupt nur in seinem unteren Lauf kannten
und "IotQoE nannten. Der obere Lauf der Donau hie8 bei
den Riimern >Danubius<. Hiilderlin benennt nun aber in die-
sem Gedicht gerade den oberen Lauf der Donau mit dem Na-
men fiir den unteren Lauf des Stromes. Damit hat es eine
eigene Bewandtnis. Wenn nun auch in diesem Gedicht die Do-
nau genannt ist, dann begriindet dies nicht schon das Recht,
dem Gedicht die Uberschrift >Der Ister<< zu geben. Es mii8te
denn sein, da{J das Gedicht in betonter Weise oder gar einzignur von diesem Strom sagen soll. Dann wdre das Gedicht eineStromdichtung.
Nun gibt es in der Tat >Hymnen<, die Iltjiderlin selbst mitden Namen von Strijmen, und zrvar nicht beliebigen, iiber-schrieben hat: die Hymne >Der Rhein<, die I{ymne >Am Quellder Donau<. Dies bezeugt uns hinreichend, daB Hiilderlin vonden Strijmen spricht. Aber was hei8t das? Dichtet Htilderlin>iiber<< die Strijme oder >besingt< er die Strcime? Oder dichteter erst gar das lVesen der Strijme? Und wenn dies so ist, wes-halb dichtet er die Strdme? Sie sind doch schon wirklich vor-handen;wozu sie dann noch dichten?
Wir mtichten diese Fragen kldren durch Anmerkungen zudem Gedicht >Der Ister<. Das Gedicht beginnt mit dem Ruf :
Jezt komme, Ileuer!
Da ist nicht vom Strom, sondern vom F'euer die Rede. Wir be-denken sogleich, falls wir uns um die Aufmerksamkeit bemii-hen, welchen Zeitpunkt wohl dieses >Jezt<< meint, das so be-tont am Beginn des Gedichtes steht und ihm den Ton gibt.
16 Das Dichten des Wesens der Striime
Wir beachten, daB Hcilderlin auch >sonst<< in der Hymnendich-tung das >>Jezt<<, den >>Zeitpunkt<<, die rechte und die unschick_liche Zeit, den Augenbliik heraushebt. Zum anderen abernennt die erste Strophe im ersten Vers nicht nur ein >>Jezt<<,sondern in Vers 15 nicht weniger betont ein >>Hier<<:
Hier aber wollen wir bauen.
Das >Hier< lABt sich anscheinend leichter bestimmen. Aus denfolgenden Versen und dem Beginn der zweiten Strophe ent-nehmen wir, da8 das >>Hier<< meint: >>Hier< am Strorn, der>der Ister<< heiBt.
Doch das Eigene des Stromes ist ja, dal3 er strijmt und sostets ein anderes >>Hier<< bestimmt. Hiilderlin selbst nennt imGediiht >Stim-rrre des Volkes<< die Striime die >Schwindenden<,aber auch die >>Ahnungsvollen< (IV, 1bg ff. und I42tr.):
STIMME DES VOLKES
Du seiest Gottes Stimme, so glaubt ich sonst,In heilger Jugend;ja und ich sag es noch!
IJm unsre Weisheit unbekiimmertRauschen die Strijme doch auch, und dennoch
Wer liebt sie nicht? und immer bewegen sieDas I{erz mir, htir ich ferne die Schwindenden
Die Ahnungsvollen, meine Bahn nichtAber gewisser ins IVIeer hin eilen.
Als >Schwindende< gehen sie weg, sind sie nicht mehr gegen-wdrtig - sie verstriimen und vergehen. Als >>Ahnungsvolle<<aber stehen sie im Bezug zur Zukunft. Die Strijme bezeichnenein >>Hier<< und sie verlassen das Jetzt, sei es, daB sie ins Ver-gangene oder ins Kiinftige gehen. Wie sollen wir dieses Wesender Striime fassen und deuten? Sie sind da offenbar die >Trii-ger<< einer nodr verhiillten >Bedeutung<.
J. Die metaphysische Deutung tler Kunst
Bei dem Versuch, auf das zu achten, was Hijlderlin dichtet,wenn er die Strcime nennt, werden wir freilich noch oft eineVorstellungsweise priifen miissen, die sich seit Jahrhundertenin der Dichtung, aber auch in der Auslegung von DicJetungenund in der Bestimmung des Dichtens iiberhaupt eine Giiltig_keit gesichert hat.
GemiiB dieser Vorstellungsweise faBt man z. B. die in einerDidttung besungenen Strijme und Gewdsser als wahrnehm-bare Vorkorrrmnisse der >>Natur<<. Was sie ja auch sind. DieseNaturdinge erhalten jedoch in der Dichtung die Rolle von sinn-lich fa8baren Erscheinungen, die einen Anblick darbieten undso ein >Bild< geben. Solche Bilder stellen in der Dichtung nunaber nicht nur siih selbst, sondern eine nichtsinniiche Bedeu-tung dar. Sie >>bedeuten<< etwas. Das sinnliche Bild weist aufeinen >>geistigen<< Gehalt, einen >Sinn<. Der im Bild genannteund erscheinende Strom ist ein >Sinnbild<. Unter den weit_gefaBten Begriff des Sinn-bildes ordnen wir auch das ein, was>>Allegorie.< heilJt. Das aus dem Griechischen stammende Wortsagt treffend, worurar es sidr handelt: &l"l.o - riyogerler,v. riyopefer,v(dyoqd - der iiffentliche Platz der Volksversammlung): 6f-fentlich, fiir jedermann verstd.ndlich kundtun. dllo - etwasanderes - kundtun, etwas anderes ndmlich, als das ist. wasdas Bild fi.ir sich erscheinen la8t. ,illqyogla ist eine Kundgabevon etwas anderem durch etwas - niimlich durih sinnlich Er-fahrbares und Bekanntes. Zw den >Allegorien<< rechnet manz. B. die Sagen und Mdrchen. Eine andere Art von Sinn-bildernneben den >Allegorien<< sind die >Gleichnisse<<; wieder eineandere Art sind die >Symbole<<. o{rppotrov - von oupBd}.?rerv -zusammenbringen, die Hiilfien eines Ringes aneinanderhaltenund priifen, ob sie zueinander passen und zueinandergehtiren- woraus dann zu erkennen ist, daB die Besitzer der Ringstiickes_elbst zueinandergehiiren. Das >Symbol<< ist Erkennungszei-chen, das eine Zusammengehtirigkeit ausweist und damit ins
IrI
18 Das Dichten des Vl/esens der Strdme
Recht setzt. Audr im Symbol liegt die Verweisung eines Sinn-
lichen, des Ringes, auf ein Nichtsinniiches - Seelisches - Gei-
stiges - zundchst die Zusammengehiirigkeit der Freunde, die
Freundschaft. Auch das >>Syrnbol< ist Sinn-bild.Za den Sinn-bildern nach deren weitestem Begriff kann
auch das gerechnet werden, was wir >Beispiele<< nennen, sol-ches, was als ein sinnlich anschaulicher Fall uns eine nicht sinn-lich faBbare Regel zu- und beispielt; insgleichen gehiirt zu denSinn-bildern die >Metapher< - peroqopd - Ubertragung;Sinn-bild ist in ge'lvisser Weise auch jedes >Ab-zeichen<. DieUnterschiede zwischen Allegorie und Symbol, Gleichnis undMetapher, Beispiel und Abzeichen sind flie8end und nicht ein-deutig und giiltig festgelegt. Wichtiger als die Unterschiedeist das durchgiingige Geriist, worin diese Abwandlungen des>Sinn-bildes< und dieses i iberhaupt seinen Grund hat. Das istdie Unterscheidr"rng eines sinnlichen Bereiches und eines nicht-sinnlichen Bereiches. In allem Gebrauch von Sinn-bildern wirddiese Unterscheidung als vollzogen vorausgesetzt. fJer entschei-dende Vollzug dieser Unterscheidung und ihre fiir das Abend-land ma8gebende Entfaltung und Gliederung geschah imDenken Platons. Dabei wird wesentlich, dafi der nichtsinnliche,der seelisdre, geistige Bereich die wahre Wirklichkeit ist, dersinnliche Bereich eine Vor- und Unterstufe. Bezeichnet mannun den Bereich des Sinnlichen im weitesten Sinne als den>physischen<<, dann ist der nicht- und iibersinnliche Bereicfrjener, der iiber den physischen hinaus liegt.
tlber etwas hinausgehend heiBt griechisch perd. Der iiber-sinnliche Bereich ist in seinem Verhiiltnis zum physischen derrnetaptrysische. Die Unterscheidung zwischen Sinnlichem undUbersinnlichenr ist ein Ubergang vom Physischen und der>Physik< im weitesten Sinne zum Metaphysischen und zurMetaphysik. Die Unterscheidung des Sinnlichen (cio$qt6v)und des Nichtsinnlichen (vor1t6v) ist das Grundgefiige dessen,was von altersher Metaphysik hei8t. Benennen wir mit >WeIt<<das Ganze des Wirklichen, seinen Grund und seine Ursache
Die metaphysische Deutung der Kunst
miteinbegriffen, dann lii0t sich sagen: Alle abendliindische
Weltauffassung und Weltauslegung ist seit Platon >metaphy-
sisch<. Seit derselbenZeit bestimmt man auch das \Mesen der
Kunst (t61vq - ars) und somit auch das Wesen der Dichtkunst
im Sinne der Metaphysik. Das Kunstwerk gilt in aller Meta-
physik als etwas Sinnliches, das freilich nicht fiir sich ist, son-
ietn dur Sinnliche des Kunstwerkes ist, was es im Kunstwerk
isf fiir das Nichtsinnliche und Ubersinnliche, was man auch
das Geistige und den Geist nennt. Von daher verstehen wir
einen Satz des Denkers, der in der ersten Hiilfte des vorigen
Jahrhunderts die umfassendste Metaphysik der Kunst geschaf-
fen hat. Hegel sagt in seinen >Vorlesungen iiber die Asthetik<(WW.X 1, 48): >Das Sinnliche des Kunstwerkes soll nur Da-
seyn haben, insofern es fiir den Geist des Menschen, nicht aber
insofern es selbst als Sinnliches fiir sich selber existiert.< fm
Sinne Hegels ist ein fiir sich seiber existierendes Sinnlichesz. B. das mit mancherlei Farbe iiberstrichene Stiick Stoff -dieses Ding aber ist nicht das Gemiilde Rembrandts. Das Ge-m?ilde ist aber auch nicht nur auf das stoffIiche Ding aufge-tragen, sondern dieses stoffliche Ding ist in das Gemiilde auf-gehoberr und ist ietzt, was es ist, nur durch dieses. Im Hinblickauf das metaphysische Wesen der Kunst kijnnen wir auch sa-gen: Alie Kunst ist sinnbildlich. >Bild< steht dann fiir dassinnlich Wahrnehmbare iiberhaupt, das auch der Ton seinkann. >Sinn< steht fiir das Nichtsinnliche, das verstanden undgedeutet wird und im Verlauf der Metaphysik mannigfacheBestimmungen erhalten hat: Das Nicht- und lJbersinnliche istdas Geistige, das Ideelle sind die Ideale und die >Werte<<. Wasdas Sinnbiid versinniicht ist das Hcihere und lVahre. Das We-sen der Kunst steht und fiillt mit dem Wesen und der Wahr-heit der Metanhvsik.
19
20 Das Dichten des Wesens der Strdme
4. H iilderlins Dichtung nicht sinnbildlich metap hy sis ch'
Das uerborgene Wesen des Stromes
Im Gang der Geschichte der abendliindischen Metaphysik und
Kunst ersiheint nun aude Htilderlins Dichtung' Wir liijnnen
sie sogar zeitiich genau in diesen Geschichtszusammenhang
einordnen. Die Entstehung der Hymnen fiillt in die Jahre 1800
bis 1806. Genau dieselbe Zeitspanne umfaBt die Zeit der Ent-
stehung des Hauptwerkes im Denken Hegels, der >>Phdnome-
nologie des Geistes< (1807). Hegel, der Denker, war der Freunddes Diehters Hiilderlin in der gemeinsamen Studentenzeit inTiibingen, aber audr spd.ter wdhrend der gemeinsamen Jahrein Frankfurt bis 1799. Daher wird auch Hijlderlins Dichtung,wenn sie Kunst ist, metaphysisch und d. h. >sinnbildlich< sein.Die in seinen Gedichten besungenen deutschen Strijme, derMain, der Neckar, die Donau, der Rhein, sind die >Sinnbilder<deutschen Wesens und Lebens. Nichts hindert uns, die Strom-dichtungen Hijlderlins nach dieser Hinsicht und in solcher !Vei-se zu deuten.
Vielleicht ist zwar der Sinn, den Htilderlin diesen Strom-bildern gibt, schwerer auszumadren als der Gehalt andererDichtungen anderer Dichter, die auch Striime und Fliisse undB2iche und das Meer und die Seen besingen. Diese grii8ereSdawierigkeit der Deutung mag darin ihren Grund haben, da8Hijlderlin geheimnisvoller dichtet, vielleidrt auih darin, daBseine Dichtung vielfach unvollendet geblieben ist und auch zu-weilen scion von dem drohenden Wahnsinn iibersdeattet undverwirrt wird.
Allein, die Strijme sind in Hiilderlins Dichtung keineswegsnur gradweise schwerer zu deutende Sinnbilder. Wdren sie das,dann blieben sie im Wesen immer noch >>Sinnbilder<. Und ge-rade dies sind sie nicht. Die >>Striime< kiinnen daher auch nichtals Symbole hijherer Stufe und >tieferen< >religiiisen< Gehal-tes gelten. Hiilderlins Hymnendichtung, die nach 1799 denDichter bestimmt, ist iiberhaupt nicht sinnbildlich.
Das uerborgene Wesen des Stromes 2I
Aber dann miif3te ja diese Dichtung nach dem Gesagten
-,.r,i"."frtfri" au$erhalb der Metaphysik *nd damit augerhalb
lllW"r"otbereiches der abendldndischen Kunst stehen' Dann
;;;"" alle iiblichen Auslegungen und Deutungen dieser Ge-
Ji.h," o".g"biich, weii alle Interpretation ihr Werkzeug und
ihr"n A.,fwand unbesehen der Metaphysik und der metaphy-
,ir.h"o Kunstlehre, d' h' der Asthetik entnimmt'
lVenn nun aber die Strijme in Htjlderlins Dichtung in
Wahrheit keine >Sinnbilder< sind, was sollen sie dann sonst
sein? Wie sollen wir dann noch von ihnen etwas wissen k6nnen,
wo doch all unser Wissen' und die Wissenschaft erst recht' in
der Metaphysik Grund und Halt hat? Fast scheint es so' als
sagte der Dichter selbst, da8 wir von den Strijmen nidrts wis-
sen kiinnen. Die Ister-Hymne schlieBt, genauer: sie hiirt auf'
mitdemWort:
Was aber jener thuet der Strom,
Weis niemand.
VerstijBt dann also schon das geringste Bemiihen, auf diese
Stromdichtung aufmerksam zu machen, gegen das eigene
Wort des Diihters? Nein. Die angefiihrten Verse sagen' daB
das Strijmen des hier genannten Stromes ein Tun zu eigener
Zeit und daB es verborgen ist. Diese Verborgenheit des Tuns
des Stromes zeichnet ihn aus. Von dieser Verborgenheit wei8
der Dichter. Wie ktjnnte er es sonst sagen, daB niemand vom
Tun des Stromes wisse? (Au8erdem aber miissen wir beden-
ken, daB dieses Wort, mit dem die Isterhymne abbricht, in ei-
ner eigenen Weise von jenem Strom gesagt wird, als welcher>>der Rhein.< im Unterschied (>>aber<) zum >>Ister<< gemeint ist.
Gleichwohl bleibt das >>dichterische<< Wesen des Stromes iiber-
haupt im Wissen des Dichters verborgen und bedingt jenes ah-
nende Sagen: >der scheinet. . .u)
Das dichterisdre Wort enthiillt diese Verborgenheit des
stromhaften Tuns, und zwar als ein solches. Dieses Enthiillen
ist dichterisch. Was und wieviel der Gesang hier vermag, wenn
2524 Das Didtten des Wesens der Striime
wird und was das Schicklidre ist. Doch bleibt das Eigene oftlange Zeit dem Menschen fremd, weil er es verldBt, ohne ssangeeignet zu haben. Und er verld8t es, das Eigene, weil die-ses am ehesten den Menschen zu iiberwiiltigen droht. f)asEigene ist am wenigsten das, was sich von selbst macht. DasEigene bedarf einer Zu-eignung. Und das Zugeeignete wie-derum bedarf der Aneignung. Dies alles ist wahr nur unterder Voraussetzung, da8 der Mensch zunichst nicht und nie>von selbst<< und nie durch das selbstische Machen im Eigenenist. Im Eigenen zu wohnen ist dann aber jenes, was zuletztko'nmt und selten gliickt und stets am sdrwersten bieibt. Wennaber der Strom die Ortschaft des Heinaischen bestimmt, dannist er eine wesentlich.e Hilfe fiir das Heimischwerden im Eige-nen. IJnter >Hilfe< verstehen wir hier nicht eine gelegentlicheIJnterstiitzung, sondern den stAndigen Beistand, dieses Wortin der vollen Kraft seines Nennens genommen, daB der Stromzum voraus und iiberall da-bei ist und >da<< ist.
Wiederholung
Das Gedicht >Der Ister<< nennt den Strom, den wir unter demNamen >>die Donau<< kennen. Der Strom wird genannt. Daskijnnte heiBen: er wird im Gedicht >erwdhnt<. Wir gebrauchenhier jedoch das Wort >nennen< im Sinne Hiilderlins. Fiir ihnbedeutet nennen etwas Htiheres. >>Nennen<< heiBt: das Ge-nannte im dichtenden Wort zu seinem Wesen rufen und diesesWesen als dichterisches Wort griinden. >Nennen<< ist hier derName fiir das dichterisehe Sagen. Dieses empfdngt dadurch,da8 es Nennen ist, eine einzigartige Ssslimmung, die nidetgeradehin auf andere Dichtungen und andere Dichter sichiibertragen lZi8t. Das geschichtlidre Sein der Dichtung Goethesund Sihillers ist so, daB es weder ein Nennen sein muB nochsein kann, wenngleich Goethe und Schiller mit Hijlderlin hi-storisch gleidrzeitig sind. Die Bestimmung des dichterischen
Der Stront als Aufenthalt des Mensdr.en
eoo,€Ds als Nennen stammt auch nicht nachtrdglich von uns'
!3a"* Hiilderlin selbst nennt sein Dichten ein Nennen. Von
i',u,^ Nennen spricht Hiilderlin zum Beispiel in der Hymne
lc"r-urri"ttu (VI. und VII' Strophe, IV, 184). Hier ruft der
bi&r"t Germanien an, die Priesterin, die stillste Tochter Got-
tes, und sagt zu rhr:
O trinke Morgenliifte,Biss dass du offen bist,IJnd nenne, was vor Augen dir ist,Nichtiiinger darf Geheimniss mehrDas Ungesprochene bleiben,Nachdem es lange verhiillt ist;
Und im Beginn der siebenten Strophe:
O nenne Tochter du der heiligen Erd'!Einmal die Mutter.
Desglei&en in der Hymne >Am Quell der Donau<< (IV, 160).Hier geht das Nen"en bis in das Htichste, iiber das Ne'tnender Giitter hinaus zum Nennen der >>Natur<<, der >>Natur-macht<<, unter welchem Namen Hiiiderlin das denkt, was erzuletzt das Heilige nennt. In unmittelbarer Wiederhoh:ng desWortes )>nennen<( hei8t es V. 65 f.:
Wir nennen Dich, heiliggeniithiget, nennen,Natur!dichwir , . . .
Aueh das di&terische Sagen )>von<( dem Strom ist solches Nen-nen des Stromes. Das Dichten Htilderlins ist zumal in der Zeitder Hymnendichtung dieses Nennen. Worin d.ieses Nennengriindet, wie sich aus ihm das Walten der Sprache und dasVerhdltnis des Menschen zur Sprache bestimmen und wie hier-arus erst Dichtung als Sprach- und Wort-Werk ihr gewandeltesvvesen empfdngt, all dies vermiigen wir, von auBen her kom-rrend, nicht einmal zu ahnen.
Doch miissen wir sogleich einen Blick darauf vorauswerfen,
2726 Das Dichten des Wesens der Strdme
um den Grund dafiir einzusehen, da8 wir jetzt mit Anmer'
kungen beginnen, die fragen wollen' in welcher Weise dis
>>Isterhyrnne<< vom Strom sagt. Damit wir das ganz andere
dichterisdee Sagen Hiilderlins nidrt nadr unseren gewohntex
Vorstellungen ''.iBdeuten, mu8 erst dieses Gewohnte selbst inseiner Eigenart erkannt sein. Vor allem bedarf es der Binsicht,dafi unsere geliiufige, jedoih in vielfachen Formen spielendeAnsicht iiber Dichtung und Dichter keineswegs auf einer zu-fiilligen Beliebigkeit des Meinens und einer Oberfliichlichkeitdes Denkens beruht.
Wie wir und die vor uns iiber Dichtertum und Dichtungdenken und demzufolge die Dichtung pflegen und einschd.tzen,das ist seit mehr denn zwei Jahrtausenden in seinen Grund-ziJ.gen durch wesentliche Entscheidungen begriindet. Wir diir-fen nicht meinen, solches lieBe sich durch einen Handstreichfortrdumen und durch den Vortrag einer >>neuen Ansiclt< iiberdie Dichtung iiberwinden; denn was der geschichtliche Menschvon der Dichtung htilt und halten kann, bestimmt sich ausdem, was er vom Wesen der Kunst halten mu8 und hiilt. Undwas der gesdeichtliche Mensch von der Kunst hiilt, regelt sichaus der Art, wie der geschidrtliche Mensch seinerseits vom We-sen der Kunst gehalten und getragen wird. Die Weise jedoch,
nach der die Kunst das In-der-Welt-sein des geschichtlichenMenschen durchspannt, ihm die WeIt und ihn selbst erhelltund zustellt,die Weise, wie die Kunst Kunst ist, das empfdngtGesetz und Gefiige aus der Art, wie das Weltganze iiberhauptdem Menschen geiiffnet ist. Dieser Offenheit zufolge und je
gemiifJ ist dann der Mensch selbst weltoffen. Wir gebrauchenhier >Welt<< als Namen fiir das Seiende im Ganzen und nachall den Hinsichten, in denen der Mensch am Seienden ein we-sentliches >> Interesse nimmt <<.
Gesetz und Gefiige der Welterijffnung und der Zuweisungdes Menschen in sie ist seit der Zeit Platons durch das bestirnmt.was man alsbald >>Metaphysik<< nannte. Das Ganze dessen, wasin irgendeiner Weise >ist<<, wird von Platon und seitdem unter-
Der Strorn als Aufenthalt des Menschen
s&ieden in zwei Bereiche: td cio04r6v und rd voqr6v - der mit
,l Sitto"tt vernehmliche Bereich und der mit dem votE' dem
lrn"ittig"o Auge< erfahrbare Bereich. Kant spricht von mun-
iis sensibilis und mundus intelligibilis. Die Schrift, die er
nlOA"i der Ubernahme der ordentlichen Professur der Logik
und Memphysik an der lJniversitilt Ktinigsberg ver6ffentlichte
und Friedrich dem GroBen widmete, trd.gt den Titel: De mundi
sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. (Uber die We-
sensgestalt und die Griinde der sinnlichen und der vernunft-
hafter Welt.) Der nichtsinnliche, daher auch iibersinnliche
Bereich enthelt nach Platon dasjenige, was dem fliichtigen
Weihsel des sinnlich Gegebenen enthoben ist: das Bestiindige
und daher im griechlschen Sinne wahrhaft Seiende, dl"1$6E 6v.
Demgegeniiber umfa8t der sinnliche Bereich platonisch ge-
dacht das pit iiv; man iibersetzt dies gewiihnlidr >das Nicht-
seiende<< - genauer miissen wir sagen: das nicht wahrhaft Sei-
ende, das Seiende, was nadr Platons Lehre so aussieht wie Sei-endes, dieses aber nicht ist und daher eigentlich nicht dasSeiende hei8en sollte. Fiir dieses verbietende, einschrdnkendeund abwehrende Nein und Nicht haben die Griechen das Wortp,t - das in seiner Bedeutung unterscfrieden bleibt vom orlx.orix dv nennt das, 'was bloB niiht ist; pl 6v solches, was >>ist<<,aber nicht in Wahrheit ist; z. B. ist das vorhandene Haus zwarnicht nichts, aber in ihm erscheint das Wesen von Haus nur indieser besonderen und iiberdies vergiinglichen Darstellung,nach einer besonderen GriiBe, aus besonderem Stoff und nachbesonderer Form. Das Sinnliche macht zwar et\,vas wahrnehm-bar - das Wesen -, zugleich aber zeigt es dieses Wesen nur ineiner Einschrd.nkung und Verunstaltung. Das Sinnliche ist,platonisch gedacht, ein je nur einschrdnkendes >>Nachbild< deswahrhaft Seienden, des Wesens einer Sache, dessen, worin ih-re eigentliche Wahrheit und ihr >>Sinn< besteht, d. h. das mitdem Verstand und der Vernunft (intellectus) FaBbare - dasIntelligible (mundus intelligibilis). Das Sinnliche ist Sinn-Bildund das Ubersinnliche ist >Vor-Bild< - naqd8er^1pc. Und sofern
Ir!
28 Das Dichten des Wesens der Str6me
nun die Kunst notwendig ihren Bereich des Darstellens irq
Werk hat und das Werk je aus einem sinnlichen Werkstoff;
Wortklang, Farbe, Stein, Holz, Ton, besteht, ist alle Kunst
sinn-bildlich, das Wort in der weiten metaphysischen Bedeu.
tung genommen.Weil nun seit Platons Zeiten die Metaphysik in ihrer
zweitausendjiihrigen Geschichte bis zu Nietzsche wesentliche
Wandlungen durchgemacht hat, muBte sich auch das Verhiilt-nis des sinnlichen und iibersinnlichen Bereiches und die Be-
stimmung der Bereiche selbst verschiedenartig gestalten - soverschiedenartig, daB zuletzt die platonische Unterscheidung
und Rangordnung des Sinnlichen und Ubersinnlichen siih um-kehrte. Dem reiihen inneren Wandel des Wesens der Metaphy-
sik, der bine- uns noch verborgenen Gesetz einer verborgenen
Geschichte folgt und keineswegs die Ausgeburt beliebig wech-selnder Ansichten einzelner Denker und ihrer >>sonderbaren<
Standpunkte ist, diesem Wesenswandel der Metaphysik ent-
spricht auch der Wandel des sinnbildlichen Wesens derKunst.
Deshalb sind z. B. die griechische Vasenmalerei, die pom-pejischen Wandgemdlde, die Reichenauer Fresken der ottoni-schen Zeit, die Gemiilde Giottos, ein Gem?ilde Diirers und einBild von C. D. Friedrich nicht nur ihrem Stil nach verschieden,sondern der StiI selbst ist verschiedenen metaphysisihen We-sens. \Mas in Diirers BiId der >Akelei<< Wirklichkeit heiBt, istanders bestimmt als das Wirkliche in einem mittelalterlichenFresko; genauer: beide Kunstwerke bringen das Wirkliche ineinem versdriedenen Sinn von Wirklichkeit zur bildhaften Er-scheinung. Aber diese verschiedenen Wesensarten von Wirk-lichkeit halten sich dennoch in den Grundziigen der metaphy-sischen Gliederung der Welt. Wenn zum Beispiel im Unter-schied zu Platon das einzelne sinnlich wahrnehmbare Wirklicheals das eigentlich >>Reale<< gefaBt wird und die Kunst sich dieAufgabe stellt, >>realistisch<<, >naturalistisch<< das Wirkliche inseiner Besonderung und Eigentiinlichkeit zur Erscheinung zu
Der Strom ak Aufenthalt des Menschen
bingen, so bleibt .auch
im extremsten Naturalismus node dies
i"" Jrtr" und einzige Anliegen, nicht ein einzelnes Wirkliches,
lJa"t" gerade die Wirklichheit, wie sie ist, darzustellen. Die
Wirpiat"i, des Wirkiichen, z' B. einer Landschaft, ist aber
ni&t etwas, was innerhalb der Landschaft, wie der einzelne
Baum und der einzelne Stein und der einzelne Wolkenfetzen
vorkomrnt, sondern die Wirklichkeit des Wirkliihen ist selbst
ein Nichtsinnliches. Auch da, wo die platoniscle >>Entwertung<<
des Sinnlichen nicht vollzogen wird, ist noch Platonismus, ist
MetaPhYsik'Andrerseits erkennen wir leicht, daB aus der urspriinglichen
platonisdren Weltauslegung sich ein eigentiimliches Verhiilt-
nis zur Kunst ergibt, woriiber sich Platon im zehnten Buch des
Staates ausspricht: f ygcarxil xai iil"rog d pr,pqaxil (t61v1) n6gqor . . .
tflg ddqSeiag . . . (Pol. X, 605a): Die Weisen des Herstellens und
Beistellens, die es mit dem Eingraben von Strichen und Ziigenuud iiberhaupt irgend einem Bildhaften zu tun haben, sind fernderWahrheit - d. h. dem wahrhaft Seienden. Dieses wird eigent-li& nur im rein unsinnlichen Denken erfaBt. Das Denken, diePhilosophie, steht hijher als die Kunst. Umgekehrt sagt dannNietzsche: Die Kunst ist mehr wert als die >Wahrheit< (Willezur Macht, Nr. 855), d. h. das wahrhaft Seiende des Denkens.Und demzufolge bezeichnet Nietzsche seine eigene Philosophieals umgekehrten Platonismus. Weil Platonismus, ist auch Nietz-sches Philosophie Metaphysik.
Im Hinblick auf das metaphysisih sinnbildliche Wesen derKunst verschaffen sich nun in der Deutung der Kunstwerkeund zumal derjenigen der Dichtkunst die Vorstellungen undBegriffe von Allegorie, Symbol, Gleichnis, Metapher, aber auchdie Rede von der >>Illusion<<, von der >>Formensprache<< einesKunstwerkes, eine besondere Rolle. Nach der gewohnten An-lehnung an diese Vorstellungsweisen mtjchte man auch eineDidrtung von der Art der Hijlderlinsihen Stromdichtung sinn-bildlich deuten. Die Strijme sind >Symbole<< einer anderenWirklichkeit, gesetzt, daB diese Stromgedichte nicht einfach
29
5150 Das Dichten des Wesens der Striime
Landschaftssdeilderungen sind, was sie offensichtlich nicht seix
wollen.Wenn nun aber Hijlderlins Hymnendichtung ein Nennen ist
und das Nennen das Genannte erst ins Wesen hebt und dich-tet, dann kdnnen die Stromdichtungen nicht Gedichte >iiber<Strtime sein, wobei diese, in ihrem Wesen sdron bekannt, alsBild- und Kennzeichen fiir anderes genommen werden. Wirbehaupten deshalb: Htjlderlins Stromdichtung, ja seine Hym-nendichtung im Ganzen, ist nicht sinnbildlicb. Darin liegtdie weitertragende Behauptung: Diese Dichtkunst ist nicht me-taphysisch. Insofern es Kunst im strengen abendliindischen Be-griff nur als metaphysische Kunst gibt, ist Hijlderlins Dich-tung, wenn sie nicht mehr metaphysisch ist, auch nicht mehr>Kunst<. Das Wesen der Kunst und der Metaphysik geniigennicht, um dieser Dichtung den ihr gemdBen Wesensraum zuleihen. Diese Dichtung ist aber, wenn sie nicht metaphysischist, auch keine >Philosophie<<; denn alles Denken, das seit Pla-ton >>Philosophie< heiBt, ist Metaphysik.
Der Satz: Hiilderlins Dichtung ist nicht sinnbildlich, mdchtenun aber zundchst nur als Anmerkung genommen werden, dieuns helfen soll, auf die eine Stromdichtung >>Der Ister< auf-merksam zu werden, das in ihr Gesagte deutlicher zu verneh-men. Hciiderlins Stromdichtung fa8t also nach der vermerktenBehauptung den Strom nicht als >Bild< fiir einen in irgend-einem Hintergrund wartenden hintergriindigen Sinn. DerStrom ist nicht Symbol und Kennzeichen. Nun sagt aber dieIsterhymne selbst V. 49 ff. dieses:
. . . Umsonst nicht gehnLn Troknen die Strcime. Aber wie? Sie sollen nemlichZur Sprache seyn. Ein Zerchenbraucht es, . . .
Wird uns hier nicht in aller handgreiflichen Deutlichkeit ge-sagt, da13 die Strijme ,zur Sprache< sind, also >Ausdruck<, unddaB sie >Zeichen< sind - also Kennzeichen fi.ir anderes? DerDichter bezeugt doch selbst das Sinnbildhafte seiner Dichtung.
Der Strom als Aufenthalt des Menschen
rlnrl das nicht nur hier und im Bezug auf die Striime. Denken
5" ""r
an den Beginn einer andereD Hyrnne, die iiberschrie-
*, irt ,>Mnemosyne<. So lautet der Name einer Titanin' die
i"oo A" Mutter der Musen wurde. >>Mnemosyne<<, d. h. die
6"d"ol"ttd", die An-denkende. Die Hymne >>Mnemosyne<<
(N,225) beginnt:
Ein Zeichen sind wir, deutungslos
Schmerzlos sind wir und haben fastDie Sprache in der Fremde verloren.
Wieder das >>Zeichen< - wieder >>Sprache< und >'Ausdruck('
Wie kann einer angesichts dieser Zeugnisse noch wagen, das
sinnbildlicle Wesen der Hiilderlinschen Dichtung zu leugnen?
Oder stehen wir hier vor der Notwendigkeit, das, was >)Zei-
dren< und >>Sprache<< hei8t, anders und nicht >sinnbildlich<
zu denken? Wie immer die Entscheidung hier fallen mag, das
N?idrste ist deutlich, daB wir ohne eine Kliirung des Wesens
der Striime, ohne ein Wissen von dem, was hier >>Zeichen<<
heiBt und >Sprache<<, taub bleiben miissen gegeniiber Hijlder-lins Dichtung. Diese Taubheit ist freilich kein harmloses Nidrt-hiirenkiinnen, sie ist ein Nichthorchen und Nichtgehorchen-kijnnen - ist Verstrickung in einen wesentlidren Ungehorsamund in eine unwissentliche Auflehnung gegen Solches, was si&nicht an unsere gewohnten Vorstellungen, Wiinsche und An-spriiche kehrt.
Wir fragen zum voraus: Was sagt Htilderlin von den Strij-men? In der Isterhymne Iautet der Vers 15:
Hier aber wollen wir bauen.
Der Strom gibt ein miigliches Hier - einen Ort; den Ort ge-bend verwaltet der Strom das Wesen des Ortes, d. h. die Ort-schaft. Wer diejenigen sind, die da sagen: >>Hier aber wollenwir bauen<<, bleibt zund.chst dunkel. Vermutlich sind es dochMenschen oder den Menschen zugehiirige Wesen.
50 Das Dichten des Wesetu der Str6rne
Land.scleaftsscJeilderungen sind, was sie offensichtlich nicht sein
wollen.Wenn nun aber Hijlderlins Hymnendichtung ein Nennen ist
und das Nennen das Genannte erst ins Wesen hebt und dich-tet, dann kdnnen die Stromdichtungen nicht Gedichte >>iiber<
Strijme sein, wobei diese, in ihrem Wesen schon bekannt, alsBild- und Kennzeichen fiir anderes genommen werden. Wirbehaupten deshalb: Hijlderlins Stromdichtung, ja seine Hym-nendichtung im Ganzen, ist nicht sinnbildlich. Darin liegtdie weitertragende Behauptung: Diese Dichtkunst ist nicht me-taphysisch. Insofern es Kunst im strengen abendliindischen Be-griff nur als metaphysische Kunst gibt, ist Hijlderlins Dich-tung, wenn sie nicht mehr metaphysisch ist, auch nicht mehr>Kunst<<. Das Wesen der Kunst und der Metaphysik geniigennicht, um dieser Dichtung den ihr gemd.f3en Wesensraum zuleihen. Diese Dichtung ist aber, wenn sie nicht metaphysischist, auch keine >Philosophie<<; denn alles Denken, das seit Pla-ton >Philosophie< heiBt, ist Metaphysik.
Der Satz: Htjlderlins Dichtung ist nicht sinnbildlich, mijchtenun aber zund.chst nur als Anmerkung genommen werden, dieuns helfen soll, auf die eine Stromdichtung >>Der Ister< auf-merksam zu werden, das in ihr Gesagte deutiicher zu verneh-men. Hijlderlins Stromdichtung faBt also nach der vermerktenBehauptung den Strom nicht als )Bild< fiir einen in irgend-einem Hintergrund wartenden hintergriindigen Sinn. DerStrom ist nicht Symbol und Kennzeichen. Nun sagt aber dieIsterhymne selbst V. 49 ff. dieses:
. . . IJmsonst nicht gehnIm Troknen die Striime. Aber wie? Sie sollen nemlichZur Sprache seyn. Ein Zeichen braucht es, . . .
Wird uns hier nicht in aller handgreiflichen Deutlichkeit ge-sagt, dalS die Strijme >zur Sprache< sind, also >Ausdruck<r, unddaB sie >>Zeichen<< sind - also Kennzeichen frir anderes? DerDichter bezeugt doch selbst das Sinnbildhafte seiner Dichtung.
Der Strorn als Aufenthalt des Menschen 5I
rr-d das nicht nur hier und im Bezug auf die Striime. Denken"i,
n.r, an den Beginn einer anderen Flymne, die iiberschrie-
L-" ir, >>Mnemosyne<<. So lautet der Name einer Titanin, die
i"L ai" Mutter der Musen wurde. >Mnemosyne<<, d. h. die
6ld"ol"tta", die An-denkende' Die Hymne >>Mnemosyne<<
(N,225) beginnt:
Ein Zeichen sind wir, deutungslos
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Spraihe in der Fremde verloren.
Wieder das >Zeichen<< - wieder >Sprache<< und >Ausdruck<.
Wie kann einer angesichts dieser Zeugnisse noch wagen, das
sinnbildliche Wesen der Hiilderlinschen Dichtung zu leugnen?
Oder stehen wir hier vor der Notwendigkeit, das, was >>Zei-
chen<< und >>Sprache<< heiBt, anders und nicht >>sinnbildlich<
zu denken? Wie immer die Entscheidung hier failen mag' das
Nii&ste ist deutlich, daB wir ohne eine Kliirung des Wesens
der Striime, ohne ein Wissen von dem, was hier >>Zeiihen<
heiBt und >Sprache<, taub bleiben miissen gegeniiber Htilder-
lins Dichtung. Diese Taubheit ist freilich kein harmloses Nicht-
hiirenkiinnen, sie ist ein Nichthor&en und Nichtgehorchen-kiit't'en - ist Verstrickung in einen wesentlichen Ungehorsamund in eine unwissentliche Auflehnung gegen Solches, was sichnicht an unsere gewohnten Vorstellungen, \Miinsche und An-sprii&e kehrt.
Wir fragen zum voraus: Was sagt Hiilderlin von den Strij-men? In der Isterhymne lautet der Vers 15:
Hier aber r,vollen wir bauen.
Der Strom gibt ein miigliches Hier - einen Ort; den Ort ge-bend verwaltet der Strom das Wesen des Ortes, d. h. die Ort-schaft. Wer diejenigen sind, die da sagen: >Hier aber wollenwir bauen<<, bleibt zundchst dunkel. Vermutlidr sind es dochMenschen oder den Menschen zugehiirige Wesen.
rlc332 Das Didtten des Wesens der Strtime
6- Die Strijme als die "schutindenden" und "ahnungsuollenn
in"Stimme desVolkes"
fn den beiden ersteu Strophen des Gedichtes >Stimme dgsVolkes,< hei8t es von den Striimen:
(Jm unsre Weisheit unbeki.immertRauschen die Striime do& auch, und dennodr
Wer liebt sie niiht? und irnmer bewegen sieDas Herz mir, hiir ich ferne die Schwindenden
Die Ahnungsvollen, meine Bahn nichtAber gewisser ins Meer hin eilen.
Wir bemiihen uns allerdings vergeblich um diese Verse, wennwir die beiden ersten Strophen nicht aus dem Ganzen des Ge-didrtes denken und au8erdem im Hinblick auf die Art, wieHiilderlin die zweite Fassung gegeniiber der ersten gednderthat. Daher kann jetzt, wo wir dieses Gedidrt iibergehen miis-sen, nur aus einer fast unaufheblichen Dunkelheit das erwdhntwerden, was Htilderlin hier von den Striimen sagt.
Unbekii-'"ert sind die Strijme um mensdrliche Weisheit,weil sie niirrrlich ihr eigenes Wissen haben, den >>Stromgeist<,der sie ihre eigene Bahn eilen lii8t. So sind sie dem Menschenfern und fremd. Und beinahe ist es, als ob ihr Striimen undRei8en sich jedem B ezug zu den Menschen entrisse.
Und dennoch, wer liebt sie nicht? . .
Also ist doch eine Zugehiirigkeit zu den Striimen, ein Mitgehenmit ihnen. Das Rei8ende und Gewisse der eigenen Bahn derStrijme ist es gerade, was den Menschen aus der gewiihnlichenMitte sei:res Lebens herausreiBt, damit er in einem ZentrumauBerhalb seiner und d. h. exzentrisch sei. Das Innehalten derexzentrischen Mitte des mensdrlichen Seins, der selbst >zen-tris&e<< und >>zentrale< Aufenthalt im Exzentrischen hat seine
Die Striirne in "Stimme desVolkes"
Vorstufe in der Liebe. Die eigentliche Sphdre des Stehens in
i", exz"otischen Mitte des Lebens ist der Tod' Die schwin-
a"oa"" und ahnungsvollen Strijme gehen nicht die Bahn des
M"or"h"tt. Hart steht am Ende des Verses 7 das >nicht<. Und
dennoch kiindigt sich in dieser Trennung etwas an von dem
Ungeheuren, >>wie der Gott und Mensch sich paart, und grdn-
zenlos die Naturmadet (das Heiliget) ,r.td des Mensihen Inner-
stes im Zorn Eins wird.< (V' 181). Das ahnungsvolle Weg-
schwinden der Strijme in ihre eigene Bahn ist wie ein Verlas-
sen des Bereiches der Landschaft des Menschen; ist wie eine
Untreue gegen diese. >Und dennoch, wer liebt sie nicht?< Es
will scheinen, als sei in der Gestalt der Schwindenden der
Stromgeist am besten zu behalten, als gehiire dieser rdtsel-
haften l-Intreue gerade das eigentliche Andenken. Befremd-
Iiche Ausblicke iiffnen sic.h hier in das Wesen und die Art der
Miigliihkeit, nadr der die >>Naturmadrt<< und der >>Stromgeist<
allein ergriffen werden [ann, ninrlich durch ein Mitgehen mitihnsa, welches Mitgehen dodr wieder ihre Bahn nicht geht undihr sonadr auswei&t. (Hiiiderlin schreibt einmal aus dem Nach-denken iiber das Wesen des Tragischen der griechischen Tra-giidie: >>Es ist ein grosser Behelf der geheimarbeitenden Seele,dass sie auf dem hijchsten Bewusstseyn dem Bewusstseyn aus-weicht, und ehe sie wirklich der gegenwaftige Gott ergreift,mit kiihnem oft sogar blasphemischem Worte diesem begegnetund so die heilige lebende Miiglichkeit des Geistes erhalt.<v,255).
Deutlicher sehen wir zund.chst nur dieses, da8 die Striimeselbst in ihrem Striimen zwiefach gerichtet sind. Als derSchwindende ist der Strom unterwegs in das Gewesene. Alsder Ahnungsvolle geht er in das Kommende. Der Strom isteine Wanderung von einziger Art, sofern sie zumal in das Ge-wesene und in das Kom'nende geht. Wobei wir zu bedenkenhaben, daB sich das Ahnen nicht allein auf das Kommende,
I (das Heilige) Zusatz von Heidegger,
J354 Das Dichten des Wesens der Strdme
sondem zugleich auf das Gewesene bezieht. Insgleichen geht
das Schwinden nicht nur in das Gewesene, sondern ebenso in
das Kommende. Geahnt wird zwar, na&' der gewiihnlichen
Meinung, stets nur das Kornmende. Allein, aude das Gewesene
liiBt sich ahnen. Das Gewesene erlangen wir als das Gewesene
und so als das Wesende nur in der Erinnerung. Dodr daseigentliche Erinnern ist ein Ahnen; denn die eihte Erinnerung
erschi;pft sich nicht darin, zu einem Vergangenen nur zuriick-zukehren und dabei zu beharren und in solcher Beharrungbeim Vergangenen sich zu verhd.rten. Solange das Erinnernnur ein Vergangenes bestarrt, ist es noch gar nicht Erinnern.Es geht nicht dem Inwendigen des Gewesenen nach undnimmt das Inwendige auch nicht in den Bezug zu der innerenMitte, aus der das Erinnern selbst kommt. Das Erinnern bleibtals unechtes an der AuBenfliiche des bloBen Vergangenseinsdes >>Erinnerten< haften und bezieht diese AuBenfldche wieder-um nur auf das gerade Gegenw6.rtige, was selbst nur dasAu8enwendige des eigentlich Jetzigen ist.
Echte Erinnerung ist Zuwendung zum unerschlossenen In-wendigen des Gewesenen. Echtes Erinnern ist ein Ahnen. VieI-leicht ist die Erinnerung sogar ein urspriinglicheres Ahnen alsdasjenige, das nur in ein Kommendes hinausvermutet. Undvollends wdre die Erinnerung dann die tiefste Ahmrng, wenndas I(ommende, worauf das Ahnen sonst geht, aus dem Gewe-senen kommt. Das Ahnen und gar erst die Ahnungsvollen rei-chen und gehen zumal in das Kommende und Gewesene. Ins-gleichen aber ist das Schwinden der Schwindenden nicht nurdas grobe Verschwinden in das Erledigte und Vergangene.Wegschwinden kann auch sein: das unauffdllige Weggehen indas Kommende, in die entschiedene Zugehiirigkeit zu diesem.Solches Wegschwinden in das Kommende kehrt dem Gewese-nen nicht den Riicken. Das Gewesene ist ihm vielmehr aus des-sen eigener Wesensfi-ille vertraut, so da8 das Wegschwindenin das Kommende gar nicht erst einer nachtriiglichen Zuwen-dung zum Gewesenen bedarf.
Die Strdrne in >Stimme desVolkeso
Der Strom ist zumal der in einern gedoppelten Sinne
Srhwindende und Ahnungsvolle. Dem Strom eignet so die
itill" d"r lVesens der Wanderung. Der Strom ist Wanderung
n"io", erfiillten einzigen Weise'
Wir nennen das erfiillte Wesen der Wanderung die Wander-
schaft, in der Entsprechung zur Ortschaft des Ortes. Der Strom
ist die Wanderschaft. Wir sagen nicht, er sei ein >Bild< der
Wanderschaft, etwa des Menschen auf seinem Weg von der
Geburt zum Tod. Dieser Weg kann iiberdies christlich gedeutet
werden als ein Durchgang durch das Irdische, das fiir ein Jam-
mertal gilt. Dieser Durchgang ist dann eine Ableistung von
Forderungen, durde deren Erfiillung der Besitz des Uberirdi-
schen verdient wird. Von dieser christlichen Vorstellung eines
irdischen Weges des Menschen ist das, was hier im Hinblick
auf die Strijme Wanderschaft genannt wird, grundverschieden.
Diese Wanderschaft, die der Strom selbst isf, bestimmt die Wei-
se, wie der Mensch auf dieser Erde heimisch wird. Wenn Hijl-
derlin aber >Erde< sagt, meint er keineswegs das metaphy-sisch-christlich verstandene >Irdische<<, das stets als vergdng-liche Vorstufe des Ewigen gerade iiberstiegen, aufgegeben undso >>verloren<< werden soll. Die Wandersdraft, die der Stromdsf, rvaltet und west in der Bestimmung, die Erde als den>Grund< des Heimischen zu gewinnen.
Hiilderlin hat eine Hymne gedichtet, deren Uberschrift hei8t>Die Wanderung<(. In der achten Strophe (IV, 770, V. 92ff.)sagt Hiilderlin:
Unfreundlich ist, und schwer zu gewinnen,Die VerscNossene, der ich entkommen, die Mutter.Von ihren Siihnen einer. der Rhein.Mit Gewalt wollt er ans Herz ihr stiirzen und schwandDer Zr,rriichgestossene, niemand weiss, wohin in die Ferne.
Wiedemm das Schwinden des Stromes und sein Striimen imBezug zum Gewinnen der Mutter Erde. Und in der drittenStrophe der Isterhymne ist derselbe Bezug genannt. Das be-
JI50 Das Didtten d.es Wesens der Strome
zeugt der Name >>Hertha<< - Nerthus, der germanische Namg
fiir terra mater - >>die Mutter Erde<<. Die Wandersihaft be-
stimrnt das Heimisdewerden auf der Erde. Wollte man dieses
Wesen der Wanderung auf der Erde als Diesseitigkeitslehre
i- Gegensatz zur christlichen Jenseitslehre deuten, dann bliebe
man im metaphysischen Bereich haften und in der blo8en
Umkehrung stecken. Die metaphysisdren Standpunkte derbloBen >Diesseitigkeit<< leben ganz von der Leugnung des Jen-seitigen, d. h. alles bewegt sich in der schon entschiedenen undnicht weiter befragten Unterscheidung des Sinnlichen undUbersinnlichen. Wenn Nietzsc.:he (r>Wie die ,wahre Welt. end-lich zur Fabel wurde<<) sagt, daB mit dem Hinfall einer>>wahren<< iibersinnlichen Welt auch die siheinbare sinnlicheWelt verschwinde, dann tritt er keineswegs aus der alle Meta-physik tragenden Unterscheidung heraus. Er verlegt sie nurin das Sinniiche selbst, indem er die >>Werte< und >Ideen<. alsBedingungen des Willens zur Macfrt setzt. Die vermeintlichdiesseitige >>Erde<< Hijlderlins ist aber schon deshalb nicht das>Irdische<< im christlich-metaphysischen Sinne, weil die Erdegtittlich ist. Und giittlida ist sie wiederum nicht im christlich--metaphysischen Sinne, daB sie von Gott geschaffen wdre. DasFleimischwerden und Wohnen auf der Erde hat anderes We-sen. Ihm ndhern wir uns, indem wir das Wesen der Strtjmebedenken. Der Strom ist die Ortschaft fiir das Wohnen. DerStrom ist die Wandersihaft des Heimischwerdens. Ja nochdeutlidrer: Der Strom ist sogar die Ortschaft, die in der Wan-derschaft erwandert wird.
Wiederholung
Aus dem Gedicht >>Stirn"'e des Volkes< wurden die beidenersten Strophen zu Hilfe genommen, um ein Wort Hijlderlinsiiber die Strtime zu hiiren. Das Gedicht selbst lassen wir in sichberuhen. Die beiden vorliegenden Fassungen, die um 1800/01
Die Str6me in >Stimme desVolhes"
-nfftanden sind, zeigen die Vielr2iumigkeit des Hijlderlinschen
il"ot""t. Wir ktinnen hier nicht darauf eingehen. Auch der
it ,terschied der beiden Fassungen bediirfte einer eigenen Be-
i"ar.*g.Er erschtipft sich nicht darin, daB die zweite Fassung
ia& dem Vorbild Pindars einen Mythos einfiigt' Entscheidend
ist die verschiedene Gestaltung der beiden Schlu8strophen, die
i:r der Abweichung voneinander sich eigentiimlich ergdnzen
und in ihrer Einheit erst sagen' wie Hiilderlin das Wesen der
"glimme des Volkes<< denkt. Warum in beiden Fassungen
gleichlautend die Strijme genannt sind, und wie der Zusarn-
Lenh"og der Strijme mit der Bahn des Volkes zu denken ist,
das liiBt si& erst aus einem gekldrten Wissen vom Wesen der
Strtime etket''''en. So kann die folgende Bemerkung iiber das
Wesen der Striime mittelbar wenigstens zur Verdeutlichung des
genannten Gedichtes dienen.
Die Striime sind die Schwindenden und die Ahnungsvollen.
Ihre Bahn geht in das Gewesene und in das Kiinftige, dies je-
do&. so, daB die Striime das Gewesene sind,aber auch das Kiinf-
tige. Weil das Schwinden auch in das Kiinftige gerichtet seinkann und das Ahnen in das Gewesene, bezeugt diese Nennungder Strtjme ein reiches und doch urspriinglich einiges Wesen,das wir mit dem Namen >Wandersihaft<< zusammenfassen.Gemeint ist jedoch damit nicht die Wanderschaft >der< Strijmeals eine Eigenschaft, die ihnen unter anderen audr zukommt,wobei sie dann au8erdem immer auch noch die Striime sind.Vielmehr sind sie als Strtjme gerade dies: Wanderschaft. Undwenn wir sogleich dazu fragen, wer oder was da wandere undin solcher Wanderschaft sei, dann lii8t side darauf zunddrstkeine Antwort geben; denn die Behauptung - die Striime sinddie wandernden, ist zwar richtig, aber sie ist keine Antwort,weil sie sich ja unversehens und unbestinamt auf das Erfah-rungsbild der wirklich genannten Strijme beruft, dieses in derAntwort unterstellt, statt jetzt zu bedenken, daB das Wesender Striime als Striime erst aus der Wanderschaft ersehen wer-den soll. Der Strom ist die Wanderschaft des Heimischwerdens
58 Das Dichten des Wesens der Str6me
des geschichtlichen Menschen auf dieser Erde. Hiilderlin den[.
die Erde, wie es z. B. der Name >Hertha< ankiindigt, als Q;;1,tin. Hijlderlin denkt die Erde nicht >irdisch< im christlicheqSinne als das von dem einen und einzigen Schiipfergott Ge-schaffene, zu dem derselbe Gott als Erltjser in Menschenge-stalt herabgestiegen. Nun ist dies freilich leicht gesagt, die Er_de sei fiir Hiilderlin die >>Murter Erde< und diese sei Giittin.Seitdem Norbert von Hellingrath den Deutschen erstmals denBlick fiir Hiilderlins Dichtung geiiffnet hat, steigt nun auchdie Gefahr, da8 man in der Literaturwissenschaft von >Flijlder-Iin und seinen Giittern<< redet wie von sonst einem literarischenGegenstand. IJa es nbhch geworden ist, statt der Werl<e derDichter und Denker nur die Biicher >>iiber< sie, oder gar nochAuszige aus solchen Biichern zu lesen, verschdrft sich die Ge-fahr noch einmal, da8 die Meinung sich verfestigt, die Gtjtterin der Dichtung Hcilderlins iie8en sich auf literarisihem Wegefeststellen und ertirtern. Es rnacht im Wesentlichen keinen Un-terschied, ob man dazu noch die christliche Theologie zuhilferuft und darlegt, daB die Gijtterlehre Hijlderlins eine Verfalls-form des einen wahren christlichen Monotheismus sei, oder obman mit Hilfe der Mythologie der Griechen und ihrer Abwand-lung bei den Rijmern die Gijtter >erkldrt<<. Dieser oft gut ge-meinte Eifer hat au8erdem das Verfdnglidre, daB er sich anTatsachen hiilt. So kommen also in Hijiderlins DichtungenGtitter vor. Der Dichter spricht von ihnen. LaBt uns unter-suchen, was er dariiber zu sagen hat. Was kann iiberzeugendersein als Tatsachen und die Berichte dariiber?
Als ob dieses dichterische Nennen der Giitter sich in einemgleichgiiltigen und zugdnglichen Raum abspielte und gar indem, den die eifrigen lJntersucher selbst mitbringen und dersich deckt mit dem, was die Metaphysik seit zwei Jahrtausen-den iiber Natur, Geschichte, Mensch, Gott festgelegt hat.
Man kijnnte sidr denken, daB eines Tages eine genaue, voll-stdndige, philologische, historische, theologische und metaphy-sisdre Auslegung der Dichtung Hiiiderlins alles zusammenge-
Der Strom als Ortschaft und lVand.erschaft cv
lracht hdtte, was Htjlderlin von den Giittern sagt. Dadurch
"*ii "tA
keineswegs verbiirgt, daB hieraus ein Bezug zu den
H;- entspringen kijnnte. Denn die Auslegung einer Dich-
Llo ,ru"rr"hafft< fiir sich genommen nicht einmal das dich-
l]la" Verstehen, gesetzr, daB dieses iiberhaupt auf irgend-
]r^.* W"S" >beschafft< werden kann. Das dichterische Wis-
,* ir, aber die Glrndbedingung fiir das Hijren des diihteri-
.&"o Wott"s von den Giittern'
Wenn wir nun bisweilen gezwungen sind, in den Anmer-
kungen zu Hijlderlins Dichtung von den >>Giittern< und >Gijt-
tin:renu zu reden' dann darf dies nicht den Schein aufkommen
lassen, als seien wir dariiber unterrichtet, wie eben ein Gelehr-
ter iiber das unterrichtet sein mu8, woriiber er spriiht. Die Na-
men ))Giitter< und >Gtittinnen< madren da nur unsere IJn-
wissenheit, wenn nicht gar noch Verhdngnis- und Notvolleres
kenntlich.Wie aber steht es mit den Striimen? Sie sind nicht Giitter.
Sie sind nicht Menschen. Sie sind nic],rt yorLeprnnisse der Na_
tur und nicht Bestandstiicke der Landschaft. Sie sind auch nicht
>Sinnbiider< des menschlichen >>Erdenwandels<<. Zu sagen'
was die Strijme iiberall nicht sind, hilft uns wenig, hilft aber
doch zu einigem. Zundchst ergibt sich, daB jede Bestimmung
des Wesens der Strijme befremden mu8. Wir behaupten: Der
Strom ist die Ortschaft des Wohnens des geschichtlichen Men-
schen auf dieser Erde. Der Strom ist die Wandersdraft des ge-
selichtlichen Heimischwerdens am Ort der Ortschaft. DerStrom ist Ortschaft und Wanderschaft.
7 . Der Strorn als Ortschaft der W anderschaft und
W ander s chaf t de r O r t s chaft
Der Strom ist die Ortschaft der Wanderschaft. Der Strom istaber auch die Wanderschaft der Ortschaft. Solche Siitze klin-gen, als wiirden leere Worte miteinander gekoppelt und ver-
40 Das Dichten des Wesens der Strtinrc
tausiht, welches Verfahren die ohnedies sihon bestehende Ua-
bestimmtheit ihrer Bedeutung und des von ihnen gemeinten
Wesens nur noch steigert. Dieser Sihein eines blo8en Spielens
mit Wijrtern lnBt sich nidnt sogleida beseitigen' Wir miissen
sogar zugestehen, da0 solche Siitze iiberhaupt nicht unmittel-
barverstandenwerden kijnnenwie die Aussage: Heute ist Diens-
tag. Die genannten Sdtze sind aus einem wesentlichen Grunde
in einem gewissen Verstiindigungsbezirk immer unverstdnd-
licle. Die Unverstd.ndlichkeit soldrer Sdtze griindet nicht in ei-
nem zufdlligen Mangel sonst erreichbarer Kenntnisse' Auch
wer solche Sd.tze einmal versteht, versteht sie doch nicht zu
jeder beliebigen stunde. wir sind vom Begreifen solcher siit-
ze so lange ausgeschlossen, als nicht ein wesentlicher Wandel
unseres Wesens sich >>ereignet< hat'
Wozu mtigen wir dann aber solche Sdtze vortragen? Um die-
sen Wandel vorzubereiten, eher noch, um iiberhaupt einmal
zu wissen, da8 der Strom ein >Rdtsel<< ist'
a) Der Strom ein >Rd.tsel< - das dichterisdre Vermuten und
Meinen
Diesen Namen >>Rdtsel<< gebrauchen wir dabei in seiner alten,
urspriinglichen Bedeutung. Diese meint mit Rdtsel das vom
,rRatenu, d. h. dem sorgenden Na&denken umsorgte Verbor-
gene. >Retsel<< ist immer, wenn wir das sagen diirfen, heiiiges
Riitsel. So gebraudrt Hiilderlin das \Mort, wenn er in der
Rheinhymne sagt: >... Ein Riithsel ist Reinentsprungenes'<(
(IV,175, V. 46). In der Alltagssprache hat der Name >Rdtsel<
nur die Bedeutung von einem verstedrten, und das heiBt fiir
den Verstand versteckten, d. h. verzwickten Zusarnmenhang,
der dem leeren Scharfsinn eine Gelegenheit zu Kunststiidren
und zum Kopfzerbrechen gibt (>Kreuzwortrdtsel<)' Hier liegt
wohl ein tieferer Bezug verborgen, so daB der moderne Mensch
auch noch in den leeren Stunden seiner metaphysischen Lan-
geweile, in der er mit sich selbst nidets mehr anzufangen
Der Strorn als Ortschaft undWanderschaft 4I
gei-g, doch noch zu Rdtseln' wenngleich nur zu solchen' die
T:uflichtnimmt- n...-*5u, eigentliche Reitsel aber ist Solches, dem das Raten ge-
'.-"**lnu:," heiBt so viel wie >Sorge<. Wir hijren beirn Wort
fi";^;r- nur nochdie flachere, auf den Nutzen bezogene Be'
1""r""* des Rates heraus: einen Rat geben' d' h' eine prak-
;;;-;*"isung' Rat geben aber meint eigentlich: in die Sor-
l"l""ft-"", das Umsorgte in ihr einbehalten und so eine Zu-
!"Uo.tgf."t, griinden' Sonst meint Ratgeben {ast das Gegen-
Lil, "io"
Anweisung erteilen und dann den Beratenen entlas-
,"". b* urspriingliche Bedeutungsgewalt des Wortes >Rat<
l;;, in tiota"*ins Hym'e >>Germanien< ans Licht, und
,*"t i" den SchlulSversen, die allerdings nur aus dem Ganzen
i", Hy*o" in ihrer vollen wahrheit zu denken sind. Der Dich-
ter ruft >Germanien< an, die >Priesterin< und ihre Feiertage,
und sagt zwlelzt zu ihr (IV, 185, V' 109 ff'):
Bei deinen Feiertagen
Germania, rvo du Priesterin bist
Und wehrlos Rath giebst rings
Den Kiinigen und den Viilkern'
Ringsum das Abenclland in die Sorge nehmen, nlimlich fiir
den Augenblick, da der alte Adler, >>der vom Indus kommt<'
die Alpen iiberschwingt und Germanien die Botsihaft des
Hijchsten bringt, die heiBt:
>Du bist es, auserwdhlt
>Allliebend und ein sdrweres Gliik
>>Bist du zu tragen stark geworden'( IV, 185, V.62 f . )
Diese Hinweise mdgen geniigen, damit wir die Namen >Rat<<
und >Rdtsel< iedenfalls im Umkreis dieser {Jberlegungen sorg-
fdltiger denken. Der Strom ist ein Riitsel. lVir diirfen es nicht
>Itfsen<'wollen. Aber wir miissen versuchen, uns das R?itsel als
Ritsel ndher zu bringen. Wir rvdhlen dazu die recht undich-
+2 Das Dichten des Wesens der Strdme
terische Aussage: Der Strom ist die Ortschaft der Wanderschaft.Der Strom ist die Wanderschaft der Ortschaft.
Der Strom ist die Ortschaft der Wanderschaft, weil er dn5>>Dort< und das >>Da< bestimmt, wo das Heimischwerden an-kommt, von wo es aber auch als Heimischwerden seinen Aus-gang nimmt. Der Strom gewdhrt nicht nur den Ort, im Sinnedes bloBen Platzes, den der wohnende Menseh besetzt. DerStrom selbst hat den Ort inne. Der Strom selbst wohnt.
Im Beginn der zweiten Strophe der Isterhymne heiBt es vomIster selbst: >Schiin wohnt er<. Indem der Strom selbst denOrt des Wohnens der Menschen bewohnt, behiitet er wohnenddiesen Ort in seinem Wesen, ist er seine Ortschaft. Der Stromist nun aber gleichwesentlich die Wanderschaft der Ortschaft.Das Wesen des Ortes, in dem das Heimischwerden seinen Aus-gang und seinen Eingang findet, ist so, daB es wandert. DasWesen dieses Wanderns ist der Strom. Der Ort ist dort undhier, nicht zufiillig, sondern unter dem verborgenen Gesetz ei-ner Wanderung. Der Ort ist aber niiht das einmal dort unddann hier, in einem bloBen Nadreinander und beliebigen Ne-beneinander von besetzten und dann wieder aufgegebenenPld.tzen. Der vormalige Ort bleibt im nachmaligen bewahrt.Und der nachmalige hat schon den vormaligen bestimmt. Des-halb sind das Dort und das Hier, ja sogar der Ubergang zwi-sclen beiden Orten, iiberall durde Strijme genannt. >>Hier<< amIster, dort >>vom Indus her.rl und dies Von-dort-hierher gehtiiber den Alpheus. Der Strom bestimmt die Wanderung undden in ihr gegriindeten Bezug der erwanderten und so selbstwandernden Orte. Die Wanderung geht vom Indus, also vomOsten her, iiber das Griechenland hieher an die obere Donaunach Westen. Die Donau striimt nun aber doch in Wirklichkeitgenau in der entgegengesetzten Richtung. Wenn also derStrom selbst die Wanderschaft vom Morgenland nach demAbendland wd.re und sollte sein kiinnen, dann miiBte der Isterseinem eigenen wirklichen Striimen entgegenlaufen. Nunbleibt aber der wirkliche Lauf der Donau von Westen nach
Der Strom ak Ortsduft undWanderschaft 4Z
Osten so gewiB festgestellt, daB dariiber kein Wort zu ver-
lieren ist. AJlein, im Beginn der dritten Strophe der Isterhymne
heiBt es vom rster:
Der scheinet aber fastRiikwiirts zu gehen undIch mein, er miisse kommenVon Osten.Vieles wdreZu sagen davon.
Das behutsame und behiitete Auge des Dichters sieht den
Strom >rilckwdrts gehen<< - aber das so Geschaute kann er nuraus einer dichterisdren Schau in den Bli& nehmen; >der schei-net aber fast<< - das ist als Vers dieser Didetung dideterischzu denken und hei8t nicht etwa dies: Es sieht beinahe so aus,als ginge der Strom in die Gegenrichtung, was in Wirklichkeit>natiirlich< nur ein Schein ist. Vielmehr sagt der Vers, dichte-risch gedacht: Der Strom geht in Wahrheit riicl<.wdrts. SeineHerkunft hat diese Art. Aber das zu denken, ist fast nicht imDenken eines Menschen zu wagen. Er kann es nur vermuten.Daher darf dariiber auch nicht in der aufdringlichen undleeren Sicherheit entschieden werden. aus der man iiber Tat-saehen berichtet und Feststellungen trifft, die alle Ertirterun-gen abschneiden. Vielmehr kann die Sdrau des Diihters nurvermutend auf das wahre Striimen des Stromes blicken. Sienu8 schon vor dem ersten, aber echten Scheinen des Rd.tselshaltnaihen. >Und ich mein<< - d. h. >und mir ist so<, d. h.>ich erfahre die Notwendigkeit, aus der der Strom von Ostenkommt.< DaB nun aber dieses Vermuten und Meinen keinewillkiirliche Annahme und keine leere Ansicht und kein fliich-tiger Einfall ist, vielmehr aus dem Mut und dem Gemiit derdichterischen Grundstimmung entspringt, das sagen die fol-genden zwei Verse:
Vieles wdreZu sagen davon.
44. Das Dichtan des Wesens der Striime
>Wdre zu sagen( - lvenn es nrirnlich schon dafiir an der Z-gi1wdre, wenn nicht zuvor noch vieles andere zum Austrag gu.bracht und getragen werden miiBte. Dieses dichterische $lir-sen von der Wanderschaft des Stromes, das bis in das unmittel.
bare landschaftliche Erscheinen dem greifbaren und sichtbarerr
Wirklichen entgegengesetzt ist, diirfen wir daher auch nicht
an der Erkenntnis des Wirklichen messen, die >Tatsachen<
feststellt und vorgibt, auf Grund des >>Tatstidrlichen< im Be-
sitz des >>Wahren< zu sein. Das dichterische >>Meinen< hat scine
eigene Wahrheit und diese wieder ihr eigenes MaB. Wenn wir
darauf hinweisen, dann verfdllt dieser Hinweis im voriterr-
schenden Gesichtskreis des neuzeitlideen Denkens doch leicht
der MiSdeutung. Fiir das rechnerische Tatsaihenwissen ist
Kunst eine Illusion: das Zuspielen einer Scheinwelt' Aber das
neuzeitlidr-rechnerische Denken ist in seinem umfassenden
Anspruch auf Allgemeingiiltigkeit viel zu beredrnend, als da8
es den >>Wert<< der illusionistisch verstandenen Kunst iibersehen
ktjnnte. Wenngleich niimlich die Kunst ein Schein ist, fiir die
Anstachelung des Lebens zur >Aktivit?it< bleibt sie doch un-
entbehrlidr. Im Sinne solcher Unentbehrlichkeit ist auch die
Kunst etwas >Wirkliches< und das heiBt dann Wahres. Die
Kunst hat im Verband der zum >>Einsatz<< kommenden Kriifte
ihre eigene Funktion und das hei8t hier zugleidt >>Wahrheit<.
Nietzsche hat dies bereits vor zwei Menschenaltern mit der iltm
eigenen Riicksichtslosigkeit erkannt und ausgesprochen. Nietz-
sche faBt daher folgerichtig den Begriff der >>Kunst<< so weit,
daB auch die Staatskunst, das heiBt die Politik, unter den Be-
griff der >>Kunst< fiillt. Das griechisdre Wort fiir Kunst hei3tt61vq. DaB Platons Besinnung auf das Wesen des Schiinen in
eine Eriirterung des Wesens der t61v1 einmi.indet, ist fiir die
gesamte abendliindisch-metaphysische Deutung der Kunst und
ihrer >Wahrheit<< entscheidend. Kants Nachdenken iiber das
Wesen des Schiinen und der Kunst hat dieselbe Art und Ab-
sicht.Sagen wir im Hinblick auf das dichterische Vermuten und
Der Strom ak Ortschaft undWandersdnft 4.5
iieiner- Hiilderlins, es habe sein eigenes MaB und Wesen der
W"bth"i,, dann wird damit freilich etwas ganz anderes ge-
.agt, ds die neuzeitlidr illusionistische, d. h. metaphysisihe
DJatung und Verrechnung der Kunst meint. Worin das We-
seu der dichterisdren Wahrheit inr Sinne Fltilderlins besteht
utnd benrht, kijnnen wir ahnen lernen arn lJnterschied zwi-
s&en dem dichterischen Wesen der Strijme und der Wirklich-
keit, die ihnen die Alltagserfahrung zuerkennt. An dem kaum
ve@utbaren Striimen der Donau aus dem Osten nach dem
Abendland kiinnen wir zuerst etwas ahnen vom Wesen der
Wanderschaft oder davon, daB das Wesen des Stromes von der
Wanderschaft der Ortschaft erfiilit ist. Wie eindeutig aber die-
se Wanderschaft einzig das Heimischwerden vollbringt und je-
dem abenteuerlichen Schrveifen sich fernhiilt, zeigt die Ort-
schaft, die sie erwandert. I)enn die Wanderschaft i.st nicht nul
iiberhaupt und bestimmungslos nach dem Abendland geridr-tet, sondern das >Hier<, wo die Fernangekommenen wohnenwollen und wo der Ister selbst >schtin wohntn, ist die Fleimatdes Dichters. Die zweite Strophe der Isterhymne sagt es:
. . . Es brennet der Sdulen Laub,Und reget sich. Wild stebnSie aufgerichtet, untereinander; darobEin zweites Maas, springt vor
]:1t"."" das Dach. . . .
. . . . Darum zog jener lieberAn die Wasserquellen hieher und gelben Ufer,
Hoch duftend oben, und schwarzVom Fichtenwald, wo in den TiefenEin Jdger gern lustwandeltMittags, und Wachstum hiirbar istAn harzigen Bdumen des Isters, . . .
46 Das Dichten des Wesens der Striime
Wir kiinnen . iirtlidr und zeitlich diese Landschaft genau [g.stimmen; gemeint ist das obere Donautal zwischen Beuron u14Gutenstein im beginnenden Herbst. Also nun doch eine Land-schaftsschilderung, und wenn nicht gerade eine >realistische<Abschilderung, dann wenigstens die Darstellung einer >idealenLandschaft<?
Keines von beiden trifft das didrterisch Wahre dieser Stro-phe. Zt leugnen ist aber auch niiht, daB der Dichter den eineneinzigen >wirklichen<< heimischen Ort an der Donau meint.Allein, die Wirklichkeit dieses Wirklichen fassen wir nicht mitden gewohnten Begriffen, und deshalb ist es niitig, das Wesendes Stromes zuvor deutlicher zu denken.
b) Die Einheit von Ortschaft und Wanderschaft ist nicht diereihnerisch bestimmte klare, ordnungshafte Einheit von
Raumund Zeit.Zur neuzeitlidren Bestimmung des Wirklichen
Der Strom ist Ort- und Wanderschaft zurnal in einer verbor-genen urspriinglichen Einheit. Anders als die urspriingliche istdie nachtrd.gliche Einheit, die schon Vorhandenes nur einigtin der Weise der Zusammenfassung. Dagegen ldBt die ur-sprilngliche Einheit das Einige erst entspringen, ohne da8 esvom Grunde dieser Einheit abspringt.
Gibt es fiir uns einen Anhalt, von dem aus wir die urspriing-liche Einheit von Ortschaft und Wanderschaft sicherer fassen?Ortschaft und Wanderschaft sind hier offenbar nicht zrryei an-einandergeschobene Stiicke, sondern das Eine gehiirt zumAnderen. Aber wie? Ort und Wandern, das gehiirt zusamrnenwie >Raum und Zeit<. Denn jeder Ort ist doch eine Stelle >inrRaum<<, und das Wandern ist eine Aufeinanderfolge derSchritte. Dieses Nacheinander verliuft in der >>Zeir<<. Die Ab-folge der >Augenblicke<, d. h. hier der einzelnen Punkte des>Jetzt<<, nennt man ja schon von altersher ein >FIieBen<. Nichtzufiillig wohl sprechen wir vom >Strom der Zeit<. Hijlderlin
Der Strom als OrtsdtaftundWandersdtaft +7
selbst spridrt in wichtigen Gedankengdngen von der >reiBen-
de.-Zeit< (V, 178), so wie man auch vom >rei8enden Strom<<
redet; insgleichen nennt er dieZeit die >wandelnde< (ebd. 256).
Wandeln hier als Wandern und Gehen, aber zugleiih als An-
dern (Fortnehmen). Die Einheit von Ortschaft und Wander-
schaft wdre also auf die Einheit von >>Raum und Zeit< zuriick-
zufiihren. In diesem Bezirk sind wir >>bewandert<< und >>be-
s&lagen,<. Auch bedarf es nicht erst umstdndlicher Hinweise
auf die Ermngenschaften des technisdren Zeitalters und das
ihm eigene Weltbild, um darzutun, daB wir iiber die >>Raum-
Zeit-Welt< >im Bilde< sind und iiber ihre >Raiume<< und >Zei-
ten<< rec"hnerisdr und mas&inenmiiBig so unwiderstehlich ver-
figen, daB der Raum des Planeten zusammenschrumpfb und
die Jahreszeiten und Jahre des Menschenlebens fiir die weit-
hinausrechnende Planung in kleine Zahlenwerte zusammen-
rinnen. Wir sprechen von einem raumgreifenden und zeitraf-
fenden Denken. Greifen und Raffen sind die Namen fiir eineinheitliches Beherrschenwollen von Raum und Zeit. Was isthier verstdndlicher und fragloser als die Einheit von >>Raumund Zeit<? Die Zusammenstellung beider Namen ist uns einegeliiufige Redensart geworden. Ohne daB wir die Vorgdngebedenken, die der uns geliiufigen Einheit von Raum und Zeitdie Gewi8heit ihres Bestandes gesichert haben, madren wir vondieser Einheit Gebraudr. Hier geniige der grobe Hinweis dar-auf, daB in der Entfaltung des neuzeitlichen Weltbildes, undd. h. vom mathematisch-technisdren Entwurf der leblosenNatur aus, fiir das Wirkliche der Charakter der >>Ordnung<<wesentlich wurde. >>Ordnung<< meint hier berechenbare Zu-rechnung jedes Wirklichen zu jedem Wirklichen, jedes VerhAlt-nisses unter Wirklichem zu jedem Verhd.ltnis, jedes Verhdltnis--Verhdltnisses zu jedem Verhiiltnis-Verheltnis. Ordnung isthier berechenbare Zuordnung. Das, was der Ordnung unter-steht, mu8 im voraus und darf nur so angesetzt sein, da8 essolcher Ordnung zugiinglich und durch sie beherrs&bar wird.
In solcher Absicht wird der >>Raum<< selbst auf >Koordina-
494€ Das Dicltten des Wesens der Strdrne
ten< gebracht: x y z - Koordinaten, d. h. Zuordnungslinien
Diese Koordinaten sind zugleich analytisch, und d. h. a.ithnru.tisch-algebraisch gedacht, Zahlen, die in ihrer Verdnder-lichkeit jeweils den Ort des jeweils gewd.hlten Raumelemells.bestimmen. Wird das Raumelement als bewegt gedacht, d. hals solches, das >in der Zeitfolge<< stdndig den Ort wechselt.dann wird zur vollstdndigen Ordnung des bewegten Dingeseine vierte Koordinate, niimlich die eindimensionale oZeito.notwendig. Erst in neuester Zeit wurde der entschiecieneSchritt vollzogen, der die Zeit als >Weltlinie< begreift und sieals vierte Dimension den Raumkoordinaten zuordnet. Die vier-dimensionale Raum-Zeit-Welt und nur sie bestimmt jedesWeltelement zu einem solchen. Etwas isf aber fiir die rechnen_de Betrachtung das, was es ist, nur durch das, was es leistet.Und die Leistung, d. h. Arbeit pro Zeiteinheit, bestimmt sichaus dem Produkt von Kraft und Weg dividiert durch die Zeit.Die Wirklichkeit eines Wirklichen bestimmt sich, d. h. berriBtsich, aus seiner WirkungsgrijBe. Dabei ist die Grii8e der !Vir-kung nicht eine bloBe Eigenschaft des Wirklichen, sondern dasallein giiltige wirkliche selbst. Das wirkliche ist nichts anderesals das Wirkungsquantum. Nur eine so bestimmte und be-stimmbare Wirkungsgrti8e ist ein Wirkliches. Genauer: von dic-sem Wirklichen aus wird alle >Wirklichkeit< gedacht.
Alles neuzeitliche Denken iiber das Wirkliche jeder Art istOrdnungsdenken im Sinne des Zuordnungsdenkens. Zugeord-net wird Leistung zu Leistung, Arbeit zu Arbeit. Der Namefiir menschliches Tun und Trachten, >arebeit<<, wird iibertragenauf die Leistung der mechanisihen Kraft. Arbeit ist gleichge-setzt mit mechanischer Energie. >Arbeit< wird im 19. Jahr-hundert ein'rvohldefinierter physikalischer Begriff. Umgekehrrr,r'irkt sich die Vorherrschaft des physikalischen Arbeitsbegriffesin seiner wesentlichen technischen Bedeutung aus auf die Be-stimmung der menschlichen Arbeit als >Leistung<. Das Lei-stungsprinzip ist ein wesentliches Prinzip menschlichen Han-delns und Verhaltens.
Der Strom als Ortsdtaft undWandersch.aft
Leisten und verrichten hei8t lateinisdr fttngere. >Functio<
,*-di" Verrichtung und Leistung, das, was ein Vorgang ab-"irft,na
"1 Etfol9,."rgibt' Die Wirklichkeit des Wirklichen
iot"Ut in seinem Wirken, d' h' in der Wirksamkeit, d. h. in
i,, Leistung, d. h. in der Funktion' Das Wirkliche ist nicht
J"U aur in sich Bemhende und Ruhende und Bestehende, die
Substanz, sondern die Funktion. Die Philosophie hat bereits
irn vorigen Jahrhundert die Umbildung des Substanzbegriffes
in den Funktionsbegriff klar erkannt und ausgesprochen. So-
fern nun das Wirkliche als Funktion begriffen und zu-
gleich der mathematisch-technischen Berechenbarkeit unter-
,-t"[t *i.d, muB auch das mathematische Denken sich entspre-
cihend wandeln.
Im Beginn der Neuzeit entsteht die Fluxions- und Funk-
tionsrechnung, die rnetaphysisde der Naturrvirklichheit als
einem funhtionalen Wirkungszusammenhang in Raum und
Zeit zugeordnet ist. Das Ganze des Wirklichen ist ein System
von wechselweise abhdngigen funktionalen Zustandsd.nderun-
gen. a : f (b). a ist nichts anderes als Funktion von b. >Sein<
heiBt niihts anderes als Funktionsein und Funktiondrsein vonb. Insgleichen wird das Ursachesein von etwas (Kausalitdt), alsodas Wirken eines Wirkenden, d. h. die Wirklichkeit des Wirk-lichen, >funktional< gedacht. Kant hat diese Auffassung desUrsadreseins, d. h. des Wirkens, erstmals auf den philosophi-schen Begriff gebracht: >rverursachtsein durch etwas<< heiSt: aufdieses Etwas in der Zeitreihe nach einer bestimmten Regel fol-gen. Auch die >>Zwecke< sind nur eine Art von lJrsachen, unddie Zweckmii8igkeit ist ein Ursache-Wirkungsverhdltnis, dasder Funktionalisierung muB unterworfen werden kijnnen.
WeiI nun diese Weltordnung in ihrem eigenen Bezirk fort-gesetzt durch das Geordnete neu bestdtigt und durch die An-hdufung von Erfolgen immer bestdtigter wird, miissen auchdie Grundztige dieser Ordnung und sie erst recht als das er-scheinen, was keiner weiteren tsestiitigung mehr bedarf. Die-ses ist mit das metaphvsisch Entsdreidende im Wandel des
50 Das Didtten des Wesens der Striime
abendldndischen Wirklichkeits- und Seinsbegriffes, daB 4iuGrundziige der Ordnung der >vierdimensionalen Welt<: Raurtrund Zeit, Raum sowohl wie Zeit und ihre Koppelung, zusxFraglosen gehiiren. Fragiich ist stets nur, wie wir sie miigliclstrasch und miiglidrst sicher und miiglichst vollstdndig durch-messen und ausnutzen.
Zufolge der Berechenbarkeit der raumzeitlichen Ordnungs.beziehungen gelten uns auch der Raum selbst und die Zeitselbst und ihre Einheit als so klar, da8 jeder Versuch, sie nocherkldren zu wollen, nur eine Befremdung hervorruft, zumalda ja eine solche >Erkldmng< gar keinen Nutzen abwirft. Soleistet z. B. eine Besinnung auf das Wesen der Zeit nichts fiirdie Verbesserung der Apparate der Zeitmessung, weshalb eineBesinnung auf das Wesen der Zeit mit Recht zu den ergebnis-losen Sachen gerechnet wird. Insgleichen ist auch in ihrer Wei-se die Haltung begriindet, die meint, was einer weiteren be-rechnenden Befragung nidrt wert, ihrer iiberhaupt auch nichtwiirdig sei. Somit wird der Umkreis des an sidr Klaren durchdas ausgegrenzt, wori.iber nicht mehr nachzudenken man sichstillschweigend geeinigt hat. In diesem Sinne sind Raum undZeit fi.J;r alle Raum und Zeit beherrschenden Verhaltungswei-sen das Klare. Und deshalb finden wir es auch >>in der Ord-nung<<, wenn Ort und Wanderung, Raumstelle und Stellen-wechsel, auf >rRaum und Zeit< zuriickgefiihrt werden. IhreEinheit ist ja durch ihr gemeinsames Wesen, Koordinaterr, Zu-ordnungsforrnen fiir die Weltordnung zu sein, hinreichend er-wiesen. Und doch geniigt sdron ein einziger Schritt des Den-kens, um diesen Schein von Klarheit zu zerstiiren.
Der Strorn als Ortsdtaft undWandersdnft 5l
Wiederholung
Exkurs iiber die Technik als Ort der>Wahrheit<, der das Wesen des Wirkliihen
bestimmt
Was sind die Striime in der Hymnendichtung Hiilderlins?
Nach welchen Hinsichten und in welcher Weise mi.issen wir die
Isterhymne denken, um das Stromwesen des Ister in seiner
di&terischen Wahrheit zu fassen? Stehen uns diese Hinsichten
des Denkens unmittelbar zu Gebote?
Der Strom bestimmt das Heimisclesein des Heirnisdrwerdens
des geschichtlichen Menschen. Der Strom ist die Ortschaft des
heimis&en Ortes. Der Strom bestimmt zugleich das Werden
des Heimischseins des geschi&tlichen Menschen. Der Strom ist
die Wanderschaft der Wanderung, in der das Werden des Hei-
mischseins sein Wesen hat. Der Strom ist nicht nur das Eine(Ortsihaft) und dazu auch noch das Andere (Wanderschaft).
Der Strom ist beides, und zwar in einer urspriinglichen Ein-heit. Der geschichtliche Mensch ist in dieses Stromwesen ge-griindet. Vielleicht enthiillt sich in diesem Stromwesen iiber-haupt erst etwas von der Geschichtlichkeit des geschiihtlichenMenschen. Aber der Strom ist gleichwohl kein >Sinnbild< des>menschlichen Lebens<<. Er ist iiberhaupt nicht Sinnbild. Wohldagegen miissen wir auf die Geschichtlichkeit des Menschenund ihren Wesensgrund hinausblicken lernen, wenn wir dieWesensweite des Stromes und seine Fiille fassen wollen.
Wen'' hier und iiberall in den Anmerkungen von >>demMenschen< die Rede ist. dann meinen wir stets das Wesen desgeschichtlichen Menschen der Geschichte, in die wir selbst ge-hiiren: das Wesen des abendliindischen Menschentums. >>DerMensch< bedeutet weder >der Mensdr iiberhaupt<< und die>allgemeine Menschheit,., noch audr nur den >einzelnen<Mensdeen, noch auch nur irgendeine Form der Einigung meh-rerer und vieler. Aber im Begriff des Wesens des abendliindi-
52 Das Didtten des Wesens der Striirne
schen Menschentums sind audr notwendig und daher stets diewesentlichen Beziige mitgedadrt, in denen dieses Menschen-tum steht: der Bezug zur Welt, der Bezug zur Erde, der Bezugzu den Gijttern und zu den Gegengijttern und Abgiittern. Dielse Beziige sind jedoch >>dem Menschen< niiht auBerdem, dafi>>er<< der Mensch ist, noch angefiigt, sondern die Einheit diesesGefiiges zu sein, ist das Menschsein selbst. Das Heimischwer_den des Menschen begreift somit dies volle Wesen des Mensch_seins in sich. Auf dieses allein auch ist das Wesen des Stromesbezogen.
Der Strom ist Ortschaft und Wanderschaft. Die rdtselha{reEinheit dieser Wesensbestimmungen sei formelhaft ausge-driickt in den Sdtzen: Der Strom ist die Ortschaft der Wander-schaft. Der Strom ist die Wanderschaft der Ortschaft. DiescForrneln rufen den Anschein hervor, als seien ganz lcere all-gemeine Beziehungen gemeint. Entgegen diesem Anscheinmiissen wir, und zwar dem Wort der Hymnen gemd8, eindeu-tig einzige Beziige denken, deren Einzigkeit sich deutlich durchdie im Gedicht >Der Ister< geuannten Eigennamen ausclriickt.>>Hertha< ist der germanische Name der Mutter Erde. Das Hei-matliche der Erde ist eigens gesagt in der zweiten Strophe.Der Name ,rlndus<< wird genannt. >Herkules<<, einer der grie-chischen Heroen, ist genannt, der >Isthmus von Korinth<< unclder FluB >Alpheus<<. Herakles erscheint hier in einem sehrdunklen Bezug zur Donau. Das Griechenland und das heimi-sche Land des oberen Donautales stehen in einem klar genann-ten, aber doch riitselhaften Verhdltnis. Der Ister hat den Her-kules vom Isthmos her >>zu Gast geladen<. Orte und Wande-rung, das Heriiber und Hiniiber des Fremden und Heimischenwird im Gedicht gedichtet. Aber diese Beziige sind fiir uns be-fremdlich. Und kaum bietet sich ein unmittelbar faBlicher An-halt fiir ihre Aufhellung. All dieses zwingt fast dazu, Ortschaftund WanderscJraft nach ihren uns zundchst faBlichen Bezre-hungen zu verfolgen.
Ort ist eine Bestimmung des Raumes. Wanderung, Bewe-
Der Strorn als Ortschaft und W anderschaft cc
-,-o ist Ablauf in der Zeit' Wenn schon Ortschaft und Wan-
\?Jat"n so urspriinglich zusammengehiiren' wie behauptet
l;- ;"" bietet sich die Zusammengehiirigkeit von Raum und
7);, at das an, was die Einheit von Ort und Wanderung
i,]"-an"ttt.iten mu8. Wie steht es mit >Raurn und Zeit<? Wir
ilru"a"" nicht erst die Formel ihrer Einheit zu bilden. Das Zu-
J"--"o uott beiden - > Raum und Zeit< - ist uns ld'ngst geldufig'
l" ai"r" Geliiufigkeit hat eine Ausformung erhalten, in deren
Bezirk die neuzeitliche Bestimmung und Beherrschung der
Natur und der >Geschichte< sich {estmachen konnte' Die
,W"l,u der Natur ist eine vierdimensionale Raum-Zett-Welt,
in der die Zeit (t) neben den drei Raumkoordinaten x y z die
viete Erstreckungsbahn der Zuordnung der Orter und Bewe-
gungsabl?iufe bildet. Wir brauchen aber nur das Flugzeug und
Ien Rundfunk zu nennen' um sogleich zu sehen' daB beide
Maschineneinrichtungen nicht nur im Zusammenhang mit der
neuzeitlichen Naturwissenschaft erwachsen sind, sondern da8
sie zugleich den Ablauf der neuesten Geschichte der Neuzeit
bestimmen. Denn es ist ia keineswegs nur so, daB nur dieselben
Vorgdnge, die vormals mit Hilfe des Landbrieftrdgers und der
Posthutsche eingeleitet und bewdltigt wurden, ietzt durch den
Gebrauch anderer Mittel ihre Erledigung finden. Vielmehr be-
sti'nrnen Flugzeug und Rundfunk aus sich, will sagen: aus
ihrem Masdrinenwesen und aus der Erstreckungsweite ihres
Wesens, den neuen Spielraum von Miiglichkeiten, die durch
meuschliches Wollen und fiir dessen Wirken planbar und voll-
ziehbar sind.Die Maschine der neuzeitlichen Technik unterscheidet sich
nicht nur insofern wesentlich von ieder Art >>Werkzeug<, als
sie einen eigenen Wirkungsablauf und Krafterzeugungscha-
rakter hat und somit ein anderes Mittei in der Hand des Men-
s&.en ist. Das Auszeichnende der modernen Technik liegt dar-
in, daB sie iiberhaupt nicht mehr blo8 >Mittel<< ist und nicht
mehr nur im >Dienst< fiir anderes steht, sondern selbst einen
eigenen Herrschaftsdlarakter entfaltet. Die Technik selbst for-
5+ Das Didtten des Weseru der Strime
dert aus sich und fiir sich und entwickelt in siih eine eigensArt von Disziplin und eine eigene Art von BewuBtsein d". Si":ges. so ist z. B. die Fabrikation von Fabriken zur Fabrizierun-ovon Fabrikaten, nd.mlich Masdrinen, die selbst wieder Mu..hilnen fabrizieren, also die Erstellung einer Werkzeugmur.hinun-fabrik, ein einziger in sich gestaffelter Triumph. Oru Fu.rinierende dieses Vorgangs kann weithiir und zumal in derKoppelung mit der technisihen Disziplin das >Elendu tib"._decken, in das die Technisierung den Menschen stiiBt. Viel-leicht gibt es dieses >Elend< fiir den vollendeten technisc.henMenschen gar nicht mehr. nie neuzeitliche Maschinentechnikist metaphysisdr begriffen eine eigene Art der >Wahrheit<, ausder sich das wesen der wirklichkeit alles wirkrichen bestimmt.Die Maschine, die in diese Technik geh6rt, hat nicht den Cha_rakter eines >>Werkzeuges<, denn die Technik selbst steht insich selbst.
Man kijnnte dem entgegenhalten, da8 ja dodh die Technikals Raum-Zeit-Beherrschung niemals um ihrer selbst willenbetrieben werde, also keineswegs Selbstzweck sei. \{enn sieaber nicht der Zweck selbst sei, dann kiinne sie und misse siedoch immer nur >Mittel< bleiben. Diese fiir den gemeinen Ver_stand einleuchtende Uberlegung ist gleichwohl irrig. Wer sagtdenn, da8 etwas, was nicht Mittel sei, dann notwendig Zweiksein mtisse, da8 umgekehrt, was niiht der Zweck sei, danneben doch nur den Charakter eines Mittels behalten kiinne?wer sagt denn, daB dieses Zweck-Mittel-verhdltnis iiberhauntund sogleich ausreiche als das Entweder-Oder, in das die Be-stimmung der neuzeitliihen Technik hineingepre8t werdenmiisse? Die Frage, ob die neuzeitlidre Technik ein Mittel oderZweck sei, ist als Frage schon irrig, weil sie das Wesen der neu-zeitii&en Technik gar nicht fa6t. Und dieses Wesen wirdnicht fa8bar, weil wir gerade das, worin es festgemacht ist, dieRaum-Zeit-Ordnung und die Raum-Zeit-Einheit. fiir dasFraglose nehmen.
Diese selbe Fraglosigkeit von Raum und Zeit und ihrer for-
Die metaphysisdteVorstellung uon Raum und Zeit cc
,n"lhaft gewordenen Einheit ist es nun auch, die sich uns so-
.-t"i& uh die Zuflucht anbietet, mit deren }Iilfe wir die Ein-
{"ituonOrtschaft und Wandersdraft und damit diese selbst in
ilrer Sondetung bestimmen m6drten. Weil wir in der Beherr-
,&uog von Raum- und Zeitverhdltnissen iiber ein HijchstmaB
der maschinellen Sicherheit verfiigen, hat sich der Anschein
breit gemacht, als seien wir deshalb auch des \{esens von Raum
wd.Zeit gewiB. Weil fi.ir die Physiker und Techniker die vier-
dimensionale Mannigfaltigkeit x y z t das physikalisch und
te&nisch Fraglose bleibt, ja bleiben mu8, deshalb sieht es so
aus, als sei die Einheit von Raum und Zeit solches, was einer
Befragung nicht nur nicht bediirfe, sondern ein Fragen auch
nic.ht mehr zulasse. Doch ist diese Sicherheit dieses Fraglosen
nur ein Schein. Wenige Schritte geniigen, um diesen Schein
zu zerstiiren.
8. Die metaphysische Vorstellung uon Raum und Zeit und ihreFragwilrdigkeit
Wir fragen: Was ist und wie ist dieses Selbstverstdndliche,worinnen wir uns bewegen und was Raum und Zeit hei8t?Sind Raum und Zeit etwas )Obiektives<< - vorhanden wie>Gegenstdnde<<, etwa als riesenhafte Behdlter, in denen allemiiglichen Raum- und Zeitstellen untergebracht sind? Woaber, und das heiBt doch sogleich: in welchem Raum, ist derBehiilter >>Raum<< selbst? IJnd >>wann<< (zu welcher Zeit) istder Behiilter Zeit selbst? Oder ist der Raum selbst nicht ir-gendwo und die Zeit selbst nicht irgendwann?
Solange wir den Raum und fie Zeit noch denken als in ei-nem Raum und in einer Zeit vorkommend, denken wir nochni&t den Raum selbst und die Zeit selbst. Wir miissen alsodarauf verzichten, Raum und Zeit als Gegenstdnde >>zwischen<<anderen Gegenstdnden zu denken. Raum und Zeit sind keine>Objekte<. Wenn sie aber nichts Objektartiges und Objektives
co Das Dichten des Wesens der Strdme
also der Raum, um den Viilkerkiimpfe entbrenn"rr, ,u" .fiusubjektive Einbildung des Menschen, nichts, *u, ,u, ,i.6i>irgendwo< vorhanden ist? Und ist die rei8ende Zeit rrnd ihrFortri8 nur eine subjektive Vorstellung? Wir sperren uns du-gegen, Raum und Zeit fnr bloB >subjektive< Gebilde z.u neh-men. Wenn aber Raum und Zeit mehr sind als subjektivevorstellungsformen und wenn sie doih auch wieder nicht sindwie Objekte, wenn also Raum und Zeit weder etwas Obiek-tives nodr etwas Subjektives sein kiinnen, was sind sie dann,rvenn sie doch sind? Sie sind dann in jedem Falle solches, wasim Schema des >Entweder-objektiv<< und >Oder-subjektiv<sich rricht unterbringen l2iBt. Und die Einheit von Raum undZeit geht dann auch nicht darin auf, dal3 der Raum uncl clieZeit im Vorstellen des denkenden Subjektes gewohnheitsmd-Big zusammengedacht werden.
Wie kommen dann aber Raum und Zeit zu dieser doc.lr sogel2iufigen Einheit? IJnd wenn Raum und Zeit wahrhaft sind,sind sie erst geworden und entstanden? Welches ist ihr Ur-sprung? Eine Frage weckt hier die andere. An die Stelle derKlarheit und Fraglosigkeit der Raum-Zeit-Einheit tritt e.ineernzige Dunkelheit und Fragwiirdigkeit. Wiederholen wirjetzt die vorigen Behauptungen, die uns so leicht eingingen:1. Ortschaft und Wanderschaft sind nur besondere Erscheinun-gen, gleichsam Fiille der Vereinzelung von Ort und von Zeit-ablauf, Besonderungen von rdumlichen und zeitlichen Verhiilt-nissen. 2. Raum und Zeit sind uns bekannt und klar. Uber-denken wir jetzt beide Behauptungen, dann sehen rvir: IlerHinweis auf Raum und Zeit gibt uns keine Aufhellung iibcr
Die metaphysisclte Vorstellung uon Raum und Zeit ct
^ -r.-ft rmd Wanderschaft, weil das, was ein Licht bringen
E*""ilrt
-
Dunkel bleibt. Nun mag es d.aran liegen, JaB
**Jntrichtlich des Wesens von Raum und Zeit im Dun-
Tr ""d
Leeren tappen, da8 aber die gro8en Denker seit lan-
Z ub", Raum und Zeit nachgedacht und die wesentlichen
ilri--":rgen dariiber aufgestellt haben. In der Tat erlangtejo W"t"tt von Raum und Zeit seit Platon und Aristoteles in
I-oigt"a"r Hinsidrt eine Umgrenzung. Sie hiilt sich durch-
"-Si1im Bezirk des metaphysischen Denkens und in Begrif-
Iro, di" in ihren Grundziigen durch Aristoteles festgelegt
rurden'7;1;rrr.al die neuzeitliche Metaphysik denkt das Wesen von
Raum und Zeitim' Hinblick auf die Ordnung und d. h. Mes-
sung und Grij8enbestimmung und Verteilung des Mannigfal-
tigen, das >in< Raum und Zeit gegeben ist. Wenn Leibniz
ragt: )tempus nihil aliud est quam magnitudo motus< (die
7*it ist nichts anderes als die Bewegungsgrii8e),l dann wird
dte Zeit im Hinblick auf das t in der mathematisch-physika-lis&en Formel gedacht. Zugleich aber erscheint in dieserKennzeidrnung der Zeit eindeutig die aristotelische Bestim-mung der Zeit wieder, wonach 1p6voE ist rigr$pdg xrvtoecoE - dasgeziihlte Ziihlende an der Bewegung.2 Und wenn Kant denRau"' und die Zeit fa8t als dasjenige, >>welches macht, da8das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhdltnissengeordnet werden hann< (Kr. d. r. V. B 54), damr wird dasdurchg?ingig Einheitliihe der metaphysisdren Auffassung vonRaumund Zeitilar.
Wenn nun aber Ortschaft und Wanderschaft in der DichtungHiilderlins gedichtet sind, und wenn diese Dichtung nicht inden Bezirk der Metaphysik gehiirt, dann verspri&t uns die Zu-flucht zu den metaphysischen Bestimmungen von Raum undZeit keine Hilfe fiir das Verstehen von Ortschaft und Wander-sehaft. Vielleicht verwehrt sogar die Metaphysik ihrer >Natur<I Leibniz. WW. Bd. V (Gerh.). 159.t Aristoteles, Physik 11,21g b 1.
sind, welche Miiglichkeit der Bestimmung ihres Wesens blo*.dann noch? Was nidrt objektiv und Objekt ist, aber gl"i.U*"ills/, kann nur Subjekt und subjektiv sein, d. h. von Gn"a_lder Vorstellungstiitigkeit des Subjektes. Raum
"od Z"it .;-"r'
Formen des Vorstellens, nadr denen wir Menschen die G.;.;:stdnde und die gegenstd'dlich gegebenen Abliiufe a.,tfaiii iund zwar dann und immer dann, wenn wir sie nord""ru. l.*i
nach, dergleichen wie Ortsdtraft und Wanderschaft ii.1$to.
;;;r-v""r*ehren hat freilide nicht die Art derausl*:kit.t uo
,tU*"ft.t denn dazu miiBte ja die Metaphysik dergleichen q'iu
Das Dichten des Wesens d'er Strdme Die metaphysische Vorstellung 1)on Raurn und Zeit 59
trffi't'""';$ili#J}:l*i,i#t*T:r:r."H%y,,:-"T; Zeit sind der Rahmenbau fiir das rechnend be-
rcilt""a" ordnender >welt< als Natur und Geschichte. Die-
.o rechnende, entoecrende' erobernde Durchmessung der Welt*-t"]Jt
der neuzeitlidre Mensch in einer \ffeise, deren aus-
ffi{-"T"'-TilTl'i;ffi #,'H'"J*T,ffi ;rliil"'*Y':-ilr*Vot*u"*, ob das raumgreifende und zeitraffende Vorgehen
iJ"""rl"irrlruen Menschen nur dazu dient. innerhalb des Gan-
;;;"r Planeten eine Stellung zu beziehen, die der Lebenszeit
ilI", M"or.lentums den ihm gemdBen >Lebensraum< sichert'
J". ob diese Raum- und Zeitsicherung in sich die weitertra-
gende Bestimmung hat, ihrerseits neue Miiglichkeiten des
*1o*gr"if"od"rr rrrrd zeitraffenden Vorgehens zu erreichen
uod di"r", zu steigern. Metaphysisih unentschieden bleibt' ob
-a *i" dieser Will" ,rrr planetarischen Ordnung sich selbst
seine Grenze setzt. Wenn es im Blick auf diesen Vorgang' der
alle Viilkerschaften und Nationen des Planeten erfa8t hat' mo-
mentweise so aussehen mag, als werde der neuzeitliche Mensch
zu einem blo8en planetarisihen Abenteurer' so tritt doch zu-
gleich da eine andere und fast gegenteilige Ersdeeinung in den
iordergrund: Die raumgreifenden Bewegungen stehen im
Zusamlenhang mit Siedlung und Umsiedlung' Siedeln ist als
Gegenbewegrrog ein" Bewegung zur Bindung an einen Platz'
Allein, u,r"lt tti"l ist unser Gesichtskreis viel zu beschrdnkt' als
daB entschieden oder auih nur verrnutet werden ktinnte' ob
eine Drosselung des Abenteuerli&en ein Heimischwerden in
sich schlie8t, oJ", doch wenigstens eine Bedingung desselben
auszumachen vermag.
O"rar"n und Wand.erschaft gerade kennen' Solches jedoq6 |
nicht zttkennen, ist aber die Wesensart der Metaphysik. Vyn..
um wenden wir uns dann aber iiberhaupt noch an die Meta'
physik, warum lassen wir uns dann iiberhaupt noch auf die
,"ho.r r*"i Jahrtausende hindurch herrschenden Vorstellungen
von Raum und Zeit ein? Einzig deshalb, weil die Losliisung
aus solcher Uberlieferung weder iiber Nacht, noc-h gewaltsaq,
noch besinnungslos geschehen kann' Einzig deshalb' weil nur
aus dem ausdriicklichen Hinblick auf die geliiufigen Raum-
und Zeitvorstellungen und. ihre metaphysische (nic.llt histori-
sche) Herkunft uns zunddrst erlaubt ist, auf das Andere' was
Hiilderlin didrtet, aufmerksam zu werden' Indem er die Strti'
me d.idrtet, denkt Hijlderlin in den Wesensbereich von Ort'
schaft und Wanderschaft. Das auszusprechen kommt zund'chst
nicht iiber eine leere Behauptung hinaus, zumal ja Hiilderlin
nirgends von Ortschaft und Wanderschaft spriiht' Das sei zu-
g"f"b".r. Wir miissen d'aher genauer sagen: Der denkende
ftiir*"i, auf Ortschaft und Wanderschaft soll uns nur auf
Merkmale aufmerksam machen, von denen aus das in sich ru-
hencle dichterische Wesen des Stromes deutlicher und das Hb-
ren des dichtenden Wortes beholfener wird' Und weil doch auch
ortschaftundWanderschaftbeiallerDunkelheitihresWesenseine Beziehung zu Raum und Zeit bei sich tragen' mu8- der
Versuch, Ortschaft und Wanderschaft im Wesen zu denhen'
auch stets das metaphysische Wesen von Raum und Zeit im
Gedanken behalten; denn es ktjnnte sein, da8 der lVesensur-
sprung von Raum und Zeit in dem verborgen liegt' was lvir
' . rnterdemNamenortschaftundWanderschafteinhei t l ichzudenken versuchen. Auch miiBte dann hier der merkwiirdige
Zustand seine Wurzel haben, daB wir uns zwar innerhalb von
Raum und Zeit selbstherrlich bewegen und doch zugleich aut
ihr wesen nicht achten. Damit wir jedoch in dem ietzt ge'
6160 Das Dichten des Wesens der Striime
9. Das Heimischwerden die Sorge der Dichtung Hiilderlins -die Auseinandersetzung des F'rernden und Eigenen die Grund-
utahrheit der Gesdtichte - die Zwiesprache Hijlderlinsmit Pindar und Soplnhles
Ortschaft und Wanderschaft, worin sich das dichterische Wesen
der Strtime bekundet, sind aber auf das Heimischwerden imEigenen bezogen, und dies in der ausgezeichneten Weise, daffdas Eigene, die Findung des Eigenen und die Aneignung desgefundenen Eigenen nicht das Selbstverstdndlichste und Leich-
teste ist, sondern das Schwerste bleibt und als dieses Schwelste
in die dichterisdre Sorge gestellt wird. Zwischen dem raum-
zeitlichen Ausgreifen der Weltbeherrschung und der in ihren
Dienst genomnenen Siedlungsbewegung auf der einen Seite
und dem Heimischwerden des Menschen durch Wanderschaft
und Ortsihaft waltet wohl ein geheimer Bezug, dessen ge-
schichtliches Wesen wir nicht wissen. Wir kiinnen nur >beide
Seiten<, wenn wir sie so nennen diirfen, ie nach ihrer Art in
den Blick zu fassen versuchen. Insofern wir auf die Stromdich-
tung Hiilderlins aufmerhen, bedenken wir, daB und wie der
Stromgeist einen Bezug hat zum Heimisdrwerden im Eigenen.
Das Heimischwerden im Eigenen ist die einzige Sorge der
Dichtung Hiilderlins, die in die Gestalt der >Hymne< einge-gangen ist, wobei allerdings die >Hymne<< kein fertiges litera-risches und poetisches Schema darstellt, sondern ihr Wesen aus
dem Sagen des Kommens in das Eigene erst selbst bestimmt.Das Eigene ist das Vaterliindische des Deutschen. Das Vater-ldndisihe selbst ist heimisch bei der Mutter Erde. Dieses
Hei:rrisihr.oerden im Eigenen sihlieBt in sich, daB der Menschzund.chst und langehin und zuweilen fiir immer nicht heimisch
ist. Und dies wiederum sdilieBt ein, daB der Mensde das Hei-
misihe verkennt und verleugnet und flieht, vielleicht sogarverleugnen muB. Das Heimischwerden ist so ein Durchgang
durch das Fremde. Wenn das Heimischwerden eines Menschen-
tums die Geschid:tlichkeit seiner Geschichte trdgt, dann ist das
Das Heimischwerden die Sorge Hiilderlins
Gesetz der Auseinandersetzung des Fremden und des Eigenen
aie Grundwahrheit der Geschichte, aus weldrer Wahrheit sich
d", W"t"o der Geschichte enthiillt. Deshalb muB auch die didr-
terisdre Besinnung auf das Heimischwerden ihrerseits von ge-
s&ichtlicher Art sein und als dichterisihe eine geschichtliche
/wiesprache mit den fremden Didetern fordern. Das Fremde
und dre fremden Dichter fallen dabei nicht ins Beliebige, als
sei das Fremde lediglich das unbestimmte und vielfiiltig An-
dere zum Eigenen. Das Eigene selbst, dessen Findung und An-
eignung das dichterische Besinnen und Sagen gilt, enthdlt die
Bezige zu demjenigen Fremden, durih das hindurch das Hei-
mischwerden seinen Gang geht. Dergestalt ist das Fremde des
Eigenen, sind aber auch die Dichter dieser Fremde in ihrer
Einzigkeit bestimmt. Die Zwiesprache der Hymnendichtung
Hiilderlins mit den fremden Didrtern ist jedem Zufall entho-
ben. Ihre Einzigkeit und Eindeutigkeit entspringt auch nidrt
einer gerade herrschenden >historisihen< Bildung oder der per-
siinlichen Vorliebe. Die beiden Didrter, die der Sorge Hiilder-
Iins im Zeiftauwr seiner Hymnendichtung entsprechen und ant-
worten, sind zwei Didrter des fremden und alten Landes der
Griedren: Pindar und Sophokles.Mit der eigenen Hymnendichtung Htilderlins in eines gehen
deshalb erneute Ubersetzungen und d. h. Auslegungen dieserbeiden Didrter. Daher kommt es, daB zumal im Bezug auf dasHeimischwerden und Heimischsein des Menschen in Htilder-lins Hymnendichtung immer wieder dichterische Gedanken desPindar und Sophokles anklingen. Ohne das Wissen von diesemAnklang bleibt Hiilderlins Hymnendichtung und bleiben ge-rade die Stromdichtungen unverstiindlich. Mit diesem Anklangder griechischen Dichtung in Hiilderlins eigener Dichtung mei-nen wir freilici nicht >historis<jhe<< >>Einfliisse< und Abhiingig-keiten, die man in jeder Dichtung, in jeder Kunst, in jedemDenken, in jedem Glauben nachweisen kann. Wenn man sichschon entsdrlieBt, solchen Einfliissen historisdr nachzugehen,dann muB man immer lvieder ein Wesentliches bedenken, was
62 Das Dichten des Weserus der Str6me
davor bewahrt, einem leicht verfdnglichen Schein dcr histo6-schen Betrachtung anheirnzufallen, ndmlich zu meinen, derNadrweis >historischer<< Einfliisse bringe uns das aus Einfliis-sen Erkldrte ndher. Bedenken miissen wir stets dieses: Es i,,das Vorrecht der gro8en Dichter, Denker und Kiinstler, da{lsie allein das Vermtigen haben, sich beeinflussen zu lassen. '\{6-
gegen die iileinheit der kleinen >Dichtero und Philosophen
darin besteht, zu meinen, sie hdtten alles aus ihrer eigenen Ori-ginalitd.t, was in der Tat ja auch zutrifft. Die GroBen habendas, was sie geben, nicht aus ihrer Originalitdt, sonden ausanderem lJrsprung, der sie empfindlich macht fiir den >Ein-
fluB< des Urspriinglichen der anderen GroBen. Streng genom-
men aber ist das Verhiiltnis zwischen Urspriinglichem und Ur-spriinglichem nie der >Einflufi<. Und vielleicht ist es garnicht so seltsam, da8 innerhalb des geliiufigen historischenVergleichens von Werken der Dichtung, der bildenden Kunst
und des Denhens ein Begriff fiir dieses Verhiiltnis zwischen Ur-spriinglichem fehlt und das Fehlen gar nicht als ein Mangeigespi.irt wird. WeiI Hijlderlin wie keiner seiner Zeitgenossen
das innere Vermiigen besitzen durfte, von Pindar und Sopho-kles beeinfluBt, d. h. jerzt, dem fremden Urspriinglichen aus
dem eigenen Ursprung r.rrspriinglich hdrig zu sein, deshalb hat
auch Hijlderlin allein aus der geschichtlichen Zwiesprache und
Entsprechung es verrnocht, uns diese Dichter und ihre Dich-
tung in einem urspriinglicheren Lichte zuzeigen.
Z\.ryEITER TEIL
DIE GRIECHISCHE DEUTUNG DES MENSCHENIN SOPHOKLES'ANTIGONE
10. Der Mensch dasUnheimlidtste des Unheimlichen.
(Das Einzugslied des Chores der Altenund das erste
Standlied.)
Der Anklang der genannten griechischen Dichter im Dichten
Hiilderlins hZilt sich daher auch keineswegs im Ungefdhren.
Vielmehr klingt in Htilderlins dichterischem Sagen vom Hei-
mischwerden des Mensdten eine einzige Dichtung eines einzi-
gen Dichters immer wieder an. Das ist das Chorlied aus der
>Antigone<< des Sophokles, das unmittelbar dem ersten Ge-
spr2ich zwischen dem Herrscher Kreon und der Todrter des
Odipus, Antigone, voraufgeht. Immer neu trifft uns an we-
sentli&en Stellen der Hiilderlinschen Hvmnendichtung der
dichteris&e Glanz dieses Chorliedes, wie der Glanz eines sel-
tenen und fremden Steines in einem sonst vertrauten Ge-
schmeide.Das hier genannte Chorlied ist innerhalb der ganzen
Antigone-Tragiidieflas erste Standlied..Diesem gehtvoraus dasEinzugslied des Chores, das unmittelbar dem Gespriich derbeiden Sdrwestern Antigone und Ismene vor dem Kiinigspa-last in der Morgenfriihe folgt. Den Chor bilden alterfahreneMdaner der Stadt Theben. Die griechische Welt ist in sichstark genug, um Glanz und Kraft der Jugend glei&gewi&tigmit der Besonnenheit und der Erfahrungsfiille des Alters an-zuerkennen und in der Spannung ztt halten. Das Einzugsliediles Chors beginnt (Sophokles, Antigone, V. 100 ff.):
rixrig &eliou, td xrilrLlorov Entarrilql gavlv
6+ Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
O{Bg t6:v ngor6gov griog,BqdvSrlg nor'. . .
O Strahl der Sonne, dasschiinste dem siebentorigen Thebennie zuvor also scheinende Licht,endlich erschienen warst du . . .
Der Einzugsgesan{J beginnt mit einem Anruf der aufgehendelSonne, die das strahlendste Licht iiber die Stadt ausgieBt. d6.,in demselben Gesang deutet sidr schon an, da8 gegen das Lich-te eine Verdiisterung aufbricht, die gelichtet und entschiedenwerden mu8. Das aufgehende Licht gibt dem Unverborgcnenden Raum und ist zugieich die Anerkennung des Dunkels, derVerfinsterung und der Schatten. All dieses bleibt keineswegsim einfachen Gegensatz zu:-- Hellen und Durchsiihtigen, son-dern Jegliches? was ist, wird durchwest vom Gegenwesen.Die beiden Hauptgestalten Kreon und Antigone stehen einan-der nicht gegeniiber wie Dunkel und Licht, wie schwarz undweiB, wie Schuld und Unschuld. Das Wesenhafte beider isf , rviees ist, aber je in anderer Weise, aus der Einheit des Wesensund Unwesens. Ijnser neuzeitliches Denken ist viel zu >inteilek-tuell<, d. h. rechnerisch-technisch planend, um sogleich in dieBereiche des hier gesagten Seins vorzudringen oder gar darinr>zuhause.< zu sein. Fiir unsere nddrste Aufgabe muB geniigen,dem Beginn dieses Einzugsliedes den Beginn des ersten Stand-liedes des Chores entgegenzuhalten, um Einiges zu ahnen vonder Weite und Gegensiitziichkeit der Wahrheit, in der dieseTragiidie hin und her schwankt und doch steht. Das wahrhaftStandige muB schwanken kijnnen im gegenwendigen Andrangder offenen Bahnen der Stiirme. Das bloB Starre zerbrichtaus der eigenen Erstarrung. Dem Aufgang des strahlendenLichtes entspricht, was der Beginn des ersten Chorliedes sagt(Soph. Antig. Y. 552 ff .) :
no],?,d, rd 0etvd xorl8dv dvrlp<ilnou 6elv6tepov n6l,el'
Der Mensch das Unheimlichste des Unheimlichen 65
Vielfiiltig das Unheimlicb.e, nichts doch
iiber den Menschen hinaus unheimlicher waltet.
Das s&iinste Strahlen des aufgehenden Lichtes dort, das un-
leimlichste '>\{esen<< des Menschen hier.
Wiederholung
Das Wesen des Stromes besteht darin, Ortschaft und Wander-
schaft fiir den geschichtlichen Menschen zu sein und so das We-
sen der Geschidrtlichkeit des abendliindisdren Mensdrentums
zu tragen. Ortschaft und Wanderschaft sind dabei in einer ei-gentiimlichen Weise ineinander verschrdnkt. Ihre Einheit zu
denken ist entscheidend, aber zugleich schwer. Denken wir Ortund Wanderung als Bestimmungen von Raum und Zeit, dannscheint es, die liingst geldufige Einheit von Raum und Zeit bie-te uns einen Anhalt zur Aufhellung der Einheit von Ortschaftund Wanderschaft. Eine kurze Uberlegung ergab jedoch, daBRaum und Zeit selbst in ihrem Wesen fiir uns dunkel undfragwi.irdig sind. Zwar haben alle gro0en Denker der abend-ldndischen Metaphysik jeweils aus ihren Grundstellungen dasWesen von Raum und Zeit gedacht - durch alle Verschieden-heit der jeweiligen metaphysischen Raum-Zeit-Begriffe scheintfedoch die Wesensbestimmung hindurch, die Aristoteles in sei-ner >Physik< dargelegt hat. Diese >Physik< ist die erste aus-gefiihrte >Metaphysik<< oder >>OntoLogie<< der Natur. Wennauch diese >Physik< des Aristoteles etwas wesentlich anderesmeint als die neuzeitliche Naturwissensdr.aft, die wir unter demTitel >mathematische Physik< kennen, so lliBt sich doch einWink entnehmen aus der Tatsache, da8 die fiir alle Metaphy-sik ma8gebende Wesensumgrenzung von Ort und Zeit in einer>Physik< steht. Darin liegt, grob gesagt, da8 Ort und Zeit nichtaus dem Bezug zur Geschichte und zum geschichtlichen Men-schen begriffen sind, sondem aus dem Hinblick auf bloBe Be-
66 Die Deutung des Menschen in Sophohles' Antigone
wegungsvorgenge iiberhaupt. Als soldre fallen auch die Ort"und Abldufe der menschlichen Geschichte in die
"Dimensio_nen<<, d. h. die zahlenmdBigen Durchmessungsbezirkg votrRaum und Zeit. Die fast zweieinhalb Jahrtausende lung hurr.schenden Raum-Zeit-Vorstellungen sind metaphysischer Art.Sofern nun aber Htilderlins Hymnendichtung aus aller IVIsln_physik herausfdllt, dabei jedoch im Dichten der Striime y1q1.wendig die Geschiihtlichkeit des Menschen und somit Ort undZeit dichtet, kann uns die Metaphysik zur Aufhellung vonOrtschaft und Wanderschaft und ihrer Einheit unmittelbarnichts helfen. Nun ist aber auch unser Denken noch iiberallmetaphysisch, und das nicht etwa nur deshalb, weil iiberallnoch Reste der christlichen Weltbetrachtung, und sei dies nurin der Form der Umkehrung und Verweltlichung, in Geltungbleiben, vielmehr beginnt in unserem Jahrhundert erst die Me-taphysik ihren hiichsten und volistdndigen Triumph zu erlan-gen als neuzeitliche Maschinentechnik. Es ist ein Grundirrtumzu meinen, weil die Maschine selbst aus Metallen und Stoffenbestehe, sei das Maschinenzeitalter >materialistisch<<. Die neu-zeitiiche Maschinentechnik ist >Geist< und ist als dieser eineEntsiheidung iiber die Wirklichkeit alles Wirklichen. Und weilsolche Entsiheidung wesenhaft geschichtlich ist, wird die Ma-schinentechnik als Geist auch dies entscheiden, da8 nichts ausder bisherigen geschichtlichen Welt wiederkehrt. Es ist gleichkindisch, vormalige Weltzustdnde zuriickzuerhoffen, wie zumeinen, der Mensch kiinne die Metaphysik dadurch iiberwin-den, daB er sie verleugne. Es bleibt nur die unbedingte Ver-wirklichung dieses Geistes, so zwar, da8 zugleich das Wesenseiner Wahrheit ins Wissen kommt.
Wenn wir sagen: >es bleibt nur<<, dann klingt das wie >>Fa-talismus<, wie das blo8e und miide Sichiiberlassen an den Laufder Dinge. In Wahrheit aber ist dieses >es bleibt nur< nichtder letzte Ausweg, sondern der erste noch gar nicht gegangeneGeschichtsweg in die Anfiinge der abendl,iindischen Ges&icl:t-lichkeit. Weil also unser Denken durchaus noch und entschie-
Der Merudt das Unheimlichste des Unheimlichen 67
)oner dentje metaphysisch ist, miissen wir auch die metaphy-
lla" nu,r--Zeit-Bestimmung im Biidc behalten bei dem Ver-
Ia, dur dichterische Stromwesen a:us unserem Denken her zu'i*k
". Die Einheit von Orts&aft und Wanderschaft, die keine
ilah"it der Verkniipfung, sondern eine Einheit des Ursprungs-irt,
we.d"n wir eher fassen lernen, wenn wir das Wesen der
beschichte nachzudenken versuchen. Das verbirgt sidr fiir
Hiilderlin im Heimischwerden des Menschen, welches Hei-
mis&werden ein Durchgang durch die Fremde und eine Aus-
einandersetzung mit der Fremde ist. Das Fremde freilich, durch
das hindurch die Heimkehr wandert, ist kein beliebiges Frem-
des im Sinne des bloBen unbestimmten Niiht-Eigenen. Das
auf die Heimkehr bezogene, d. h. mit ihr einige Fremde, isL
dre Herkunft der Heimkehr und ist das ge\Mesene Anfdngliche
des Eigenen und Heimischen. Dieses Fremde des geschichtli-
&en Menschentums der Deutschen ist fiir Hiilderlin das Grie-
c.hentum. Daran erkennen wir etwas Wichtiges: Das Griechen-
tum ist nicht das Gleiche oder gar das Selbe wie das >Deutsch-
1um<<. Das Verhdltnis zum Griechentum kann also gerade nichtdas der Angleichung und Anmessung sein, selbst nicht in derArt, daB das Griechentum als der MaBstab und das Vorbildder Vollendung des Menschentums genornrnen wird. DasGriechentu'n ist daher fiir Hiilderlin nie das >>klassische Alter-tum<<. Das Griechentum ist aber fiir Hiilderlin auch nicht derGegenstand eines romantischen Zuriickwollens. Und vollendsist das Griechentum fiir Hiiiderlin anderen Wesens und an-derer geschichtlicher Bestimmung als die griechische Welt des
iungen Nietzsdre. Au8erdem vergessen wir zu leiclt, da8Nietzsche auf der Htjhe seines metaphysischen Denkens dasGriedreutum zugunsten des Rijmertums verleugnet hat. Weilder Bezug Htilderlins zum Griechentum, in Sctrlagworten ge-sagt, weder klassisch, n<lch romantisch, noch metaphysisch ist,deshalb wird die Bindung Hiilderlins an das Griechentumnicht lockerer, sondem umgekehrt inniger. Denn erst dort, wodas Fremde in seiner wesenhaften Geeensetzlichkeit erkannt
68 Die Deutung des Menschenin Sophokles' Antigone
und anerkannt ist, besteht die Miiglichkeit der edrten Be2iu.hung, und d. h. der Einigung, die nicht wirre Vermischune.
sondern fiigende Untersdeeidung ist. Wo es dagegen ttot dubiibleibt, das Fremde zuriickzuweisen oder gar zu vernichtel.
geht notwendig die Miigiiihkeit des Durchgangs durch 4uiFremde und damit die Miiglichkeit der Heimkehr ins Eigensund damit dieses selbst verloren.
Wir wissen heute, da8 die angelsddrsisdre Welt des Arneri-kanismus entschlossen ist, Europa, und d. h. die Heimat, qad
d. h. den Anfang des Abendlindischen, zu vernichten. Anfiing-
liihes ist unzerstiirbar. Der Eintritt Amerikas in diesen plane-
tarischen Krieg ist nicht der Eintritt in die Geschichte, sondern
ist bereits schon der letzte amerikanische Akt der ameril<ani-
schen Geschichtslosigkeit und Selbstverwiistung. Denn dieser
Akt ist die Absage an das Anfiingliche und die Entscheidung
fiir das Anfanglose. Der verborgene Geist des Anfiinglichen imAbendland wird fiir diesen Proze8 der Selbstverwiistung clesAnfanglosen nicht einmal den Blick der Veraihtung iibrig ha-
ben, sondern aus der Gelassenireit der Ruhe des Anfdnglichen
auf seine Sternstunde warten. Wir denken das Geschichtliche
der Gesdrichte stets nur halb, und d. h. hier immer iiberhaupt
nicht, wenn wir die Geschichte und ihre GriiBe zusammenrech'
nen aus der Ldnge der Dauer des Gewesenen, statt im ersten
Gewesenen als dem Anfang das Kommende und Kiinftige zu
erwarten. Wir stehen gerade erst am Beginn der eigentlichen
Geschidrtlichkeit, d. h. des Handelns irn Wesentlichen aus dem
Wartenkiinnen auf die Zu-Sihickung des Eigenen' \ffarten'
-kijnnen ist aber nicht das taten- und besinnungslose Ablaufen-
-Ankommenlassen der Begebenheiten, nicht das Augenschlie-
Ben vor der Verdiisterung. Warten-kiinnen ist das schon voraus-
gesprungene Stehen im Unzerstiirbaren, zu dessen Nachbar-
schaft die Verwiistung gehiirt wie das Tal zum Berg. Kdnnte
aber solches je geschehen, ohne daB das geschidrtliche Men-
schentum dieses Anfdngli&en erst durch den Sdrmerz des
Opfers reif wiirde fiir das Anfiingliche als sein Eigenes?
. Die Zwiesprache zwischen Hiildcrlin und Sophohles 69
So geheimnisvoll ist das Wesen des Eigenen, daB es nur aus
:-, iiberlegenen Anerkennung des Fremden seinen eigensten
fr"r"rrtt"i"lttum entfaltet. Dieses Geheimnis des Heimischwer-
dens des geschichtlichen Menschen ist die dichterische Sorge des
Didrr"rr der Stromhymnen. Daher rnuB dieser Dichter, wenn
er aud,r nur einen ersten Strahl dieses Geheimnisses leuchten
rieht - vermutlich hat er mehr gesehen, als er sagen konnte -,
in eine geschichtliche Zwiespradte mit den Diihtern des frem-
den Landes kommen, und zwar mit ienen, in deren Dichtung
ihm das Sagen vom Heimischwerden des Menschen entgegen-
sprach. Deshalb hijren wir iiberall in Hiilderlins Hymnendich-
tung den Gegenklang einer Diihtung, die das \Mesen des Men-
scheu dichtet. Wir meinen das erste Standlied des Chores in
der Antigone-Tragcidie des Sophokles.
11. Die dichterische Zwiesprache zwisdten HiilderlinundSophokles
Es ist fast, als werde dem Dichter H6lderlin in seiner Hymnen-dictrtung dieser Chorgesang aus der Antigone des Sophoklesirnmer neu zugesprochen. Und wie sollte er es auch niiht; dennschon zeichnen sich uns die wesentlichen Beziige der diihteri-schen Zwiespradre zwischen Hiilderlin und Sophokles deutli-cher ab. Das Stromwesen nennt Ortschaft und Wandersdeaftdes geschichtliihen Menschen. Diese tragen das Wesen desHeimischwerdens. Darin liegt die Geschichtlichkeit des Men-schen. Die Geschiihtlichkeit ist die Auszeichnung ienes Men-schentums, dessen Dichter Sophokles und Htilderlin sind - dennrn Griedrentum hat sidr etwas Anfdngliches ereignet, und An-fiingliches allein grtndet Gesdrichte. Der Anldang des erstenStandliedes aus der Antigone-Tragiidie des Sophokles in d.erHymnendichtung Hiilderlins ist eine geschichtlich-dichterischeNotwendigkeit innerhalb der Geschichte, in der sich das Hei-rnisch- und Unheimisehsein des abendld.ndischen Menschen-
70 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
tums entscleidet. Vgl. Hiilderlin: Der Tod des Empedo[lur,Erste Fassung, 1. Akt, 1. Szene (III, S. 79):
Wirhaben auchAn grossen Mdnnern unsre Lust, und EinerIst izt die Sonne der Athenerinnen.Sophokles ! dem von allen SterblichenZuerst der Jungfraun herrlicfrste NaturErschien und sich zu reinem AngedenkenIn seine Seele gab. - - -
- - - jede wiinscht sich, ein GedankeDes Herrlichen zu seyn, und miiclte gern
Die immerschiine Jugend, eh'sie welkt,Hiniiber in des Dichters Seele retten,
Und fr2igt und sinnet, welche von den JungfernDer Stadt die ziirtlideernste Heroide sei,Die seiner Seele vorgeschwebt, die er
Ant igoni igenannt; . . .
Da Hijlderlin selbst die ganze Antigone-Tragiidie des Soptro-
kles iibersetzthat, scheint es angemessen zu sein, auch das ge-
nannte Chorlied naih der Ubersetzung Hijlderlins zu Gehijr zu
bringen. Allein, diese Ubersetzung ist nur aus dem Ganzen der
Hijlderlinschen Ubertragung verstd.ndli& und auch dies wie-
derum nur bei der unmittelbaren N?ihe des urspriinglichengriechischen Wortes. Das gilt zwar von ieder Ubersetzungl wir
miissen uns aber im Aufgaben-Bezirk dieser >Anmerkungen<
zur Isterhymne mit einer Aushilfe begniigen, d. h. mit einerUbersetzung, die im Hinbiicl. auf das, was es zu durchdenkengilt, einiges deutlicher umschreibt und heraushebt, ohne auf
das Ganze der Tragiidie ausdriicklidr Bezug neh"''en zu kiin-nen. Der Hinweis auf das Chorlied ist bei diesen >Anmerkun-
gen(< zu Hijlderlins Isterhymne nicht auszulassen. Aber die Art
der Ausfiihrung dieses Hinweises bleibt doch ein Not\ehelf.
Sie kann im Einzelnen nicht begriindet werden, weil die Griin-
Die Zwiesprache zwischen Hijlderlin und Sophokles 7l
sc. dte diese Erliiuterung und Auffassung allein begriinden
ii,o,..", ihren einfachen Grund haben in einer Auslegung des
Tiedtentums, die von allen bisherigen sich wesentlich unter-
.-&"id"r. DaB somit die folgende Ubersetzung und Erld.uterung
les Chorliedes den Anschein des >Dogmatisdren<< behiilt, ist
unvermeidlich'Das Chorlied umfaBt die Verse 552-575 und besteht aus
2sei Strophen mit je einer Gegenstrophe. In der Ubersetzung
gesprochen sagt der Gesang der thebanischen Alten dieses:
1. StroPhe
1. Gegen-strophe
Vieifiiltig das Unheimliche, nichts do&iiber den Menschen hinaus gnhsirnli(heres. ragend
srch regt.Der ftihrt aus auf die s&dumende Flutbeim Siidsturm des Wintersund kreuzt zwischen cienin die Tiefe sich reiBenden Wogen.Der Giitter auch die erhabenste, die Brde,abmiidet er die unzersttirlich Miihelose,umstiirzend sie von Jahr zu Jahr,hintreibend und her mit den Rossendie Pfliige.
Auch den leichtschwebenden Vogelschwarmumgarnt er und jagt
das Tiervolk der Wildnisund des Meeres einheimisch Gewogeder umher sinnende Mann.
Er iiberw?iltigt mit Listen das Tier,
das niichtigt auf Bergen und wandert,
den rauhmdhnigen Nacken des Rosses
und den niebezwungenen Stier
mit dem Holze umhalsendzwingt er ins Joch.
72 Die Deutung des l\Ienschen in Sophokles, Antigone
2. Strophe Auch in das Getijne des Wortesund ins windige Allesverstehenfand er sich, auch in den Mutder Herrschaft iiber die Stadte.Auch wie er entfliehe, hat er bedacht,der Aussetzung unter die Pfeileder Wetter, der ungattigen auch der F-rijste.Uberall hinausfahrend unterwegs erfahrungslos
ohne Ausweghommt er zum Nichts.Dem einzigen Andrang vermag er, dem Tod,durih keine Flucht je zu wehren,sei ihrn gegliickt auch vor notvollem Siechtumgeschicktes Entweichen.
2. Gegen- Gewitziges wohl, weil das Gemachestrophe des Kijnnens, iiber Verhoffen bemeisternd
verfiillt er einmal auf Argesgar, Wackeres zum anderen wieder gerdt ihm.Zwisdren die Satzung der Erde und denbeschworenen Fug der Gijtter hindurch ftihrt er:Hochiiberragend die Stdtte, verlustig der Stiitteist er, dem immer das Unseiende seiendder Wagnis zugunsten.Nicht werde dem Herde ein Trauter mir der,nicht auch teile mit mir sein Wiihnen mein \{issen,der dieses fiihret ins Werk.
DaB eine zureichende Auslegung dieses Chorliedes, auch ab-gesehen von den sdron genannten Einschrdnkungen, unserVermiigen naeh allen Hinsiehten iibersteigt, bedarf keiner um-stdndlidren Versicherung. Auch hier milssen Anmerkungen ge-niigen. Was jetzt im besonderen zu seiner Verdeutlichung er-w?ihnt wird, ist aus dem Ganzen des Chorliedes herausgegrif-fen und daher, wenn man so will, einseitig. Aber die hier ver-deutlichten >Seiten< sind doch nidet beliebige. Sie haben aus
Die Zwiesprache zu.,ischen Hiilderlin und Sophohles tc
lea Gef-ige des Gesanges schon ihre Auszeidrnung' Die vier
Iiii*", die herausgegriffen sind, stimmen in ihrer Z',rsammen-'oeb1igkeit das verborgene Gezilge des Gesanges' und sie ge-
i"o aur an, was wir im Vorblick auf das dichterische Wesen
L, St.o-"t erfragen wollen. Wenn wir in solcher Weise das
Chortied erldutern, denken wir stets auf die Erhellung des We-
sens der Strtime, d. h. des Grundgesetzes des Heimischwerdens.
lndem wir an diese Sophokleische Dichtung erinnern, sind wir
dabei, das Ilerzstiick der Hymnendichtung Htjlderlins in seiner
anfiinglichen Gestalt zu durchdenken. Wir gehen da, scheint
es, einen Umweg. Aber im Bereich solcher Bemiihungen sind
zuweilen die Umwege die ndchsten Wege.
Wir erldutern kurz:
1. Die beiden ersten Yerse (553/54) der ersten Strophe, die
dem ganzen Chorlied das Vorspiel zu sein scheinen, in Wahr-
heit aber auf seine innere Mitte hinweisen, ja der Wesensgmnd
dieser Tragtidie, ja sogar der Sophokleischen Dichtung im
Ganzen sind:
rolld rri 6ervd xorl8iv rivtlp<ilnou 6elv6repov n6l"e r'
Vielf?iltig das Unheimliihe, nichts dochiiber den Menschen hinaus Unheimlicheres ragend sich regt.
2. Das Mittelsti-ick der zweiten Strophe (V. 560):
ncvron6qog &lopog Br' orlDiv dpletor(]berallhinausf ahrend unterwegs erfahrungslos ohne Auswegkommt er zum Nichts.
5. Das Mittelstiick der zweiten Gegenstroph e (Y . 57 0 I 7 1) :
rirpirohE drol.lE iirrp rd pi1 xcldv
ltveorl 16?'pog ldtgLv.Hochiiberragend die Statte, verlustig der Stiitteist er, dem immer das Unseiende seiendder Wagnis zugunsten.
4. Die unmittelbar anschlieBenden Schlu8verse der zweiten
7+ Die Deutung des Menschen in Sophohles' Antigone
Gegenstrophe, die das ga\ze Chorlied in sidr aufnehmen qo,1so erst die entscheidenden Verse im Beginn zu ihrer Wahrheiibringen (Y.575175):
pflr' 6poi no,g6orrog
l6vorto p{r' ioov gqov6v 6g rd6'dg6or,.
Nicht werde dem Herde ein Trauter mir der,
nicht auch teile mit mir sein Wiihnen mein Wissen,der dieses fiihret ins Werk.
12. Die Bedeutung des Detv6v.(Erliiuterung des Anfangs des Chorliedes.)
*olld ta 6ervd rcorl8tv dv0qcilaou 0elv6regov n6l.eu
Vielfiiltig das Unheimlidre, nidrts dodeiiber den Menschen hinaus Unheimlicheres ragend sidr regt.
Das entscheidende Wort, das zu Beginn des Chorliedes fdllt,
heiBt rd 6erv6, td 0er,v6v. Wir iibersetzen: das Unheimliche.
Wenn jede Ubersetzung stets nur das Ergebnis einer Ausle-
gung, nicht etwa ihre Vorstufe ist, dann kann die Ubersetzung
des 6erv6v mit >>unheimlich< erst auf Grund der folgenden Aus-
legung als berechtigt oder gar als notwendig eingesehen wer-
den. Denn zundchst ist diese Ubersetzung befremdlich, gewalt-
s am oder > philolo gisch < gesp ro chen : >> f alsch.<.
a) Bemerkung zum Ubersetzen
Wer entscheidet aber und wie entsiheidet man iiber die Rich-
tigkeit einer >Ubersetzung<<? Unsere Kenntnis der Wortbedeu-
tungen einer fremden Sprache >beschaffen<< wir uns aus dem>Wijrterbuch<.. Aber wir vergessen zu leiiht, daB die Angaben
eines Wiirterbuches ja durchg?ingig auf einer voraufgehenden
Auslegung der sprachlichen Zusammenhdnge beruhen miis'
sen, aus denen die einzelnen Worte und Wortverwendungen
Die Bedeutung des 6er.v6v
a,,t,.ofrrnrien sind. Ein Wijrterbudr wird in den meisten Fdllen
T,.eichtige Auskunft geben iiber die Wortbedeutung; es ver-
T'et ub", durch diese Riihtigkeit noch nicht die Binsicht in
die Wahrheit dessen, was das Wort bedeutet und bedeuten
kann, sofern wir dem im Wort genannten Wesensbereich
nachfragen. Ein >Wijrterbuchu kann Hinweise geben fiir das
Worwerstdndnis' aber es ist niemals eine sdrlechthin und im
.voraus verbindliche Instanz. Die Berufirng auf das Wijrterbuch
bleibt immer nur die Berufung auf eine in ihrer Art und ihren
GreroLzer. meist gar nicht faBbare Auslegung einer Sprache. So-
bald wir freilich die Sprache nur als Verkehrsmittel betrachten,
ist das auf die Technik des Verkehrs und des Austausches zu-
geschnittene Wijrterbuch >ohne weiteres<< >in der Ordnung<<
und verbindlich. Auf den geschichtlichen Geist einer Sprache
im Ganzen hin gesehen, fehlt dagegen jedem Wiirterbuch dieunvnittelbare MalSstiiblidrkeit und Verbindlichkeit.
In Wahrheit gilt dies freilich von jeder {Jbersetzung, weilsie notwendig den Uberschritt vom Sprachgeist der einen Spra-che in den einer anderen vollziehen muB. Es gibt iiberhauptkeine Ubersetzung in dem Sinne, da8 das Wort der einen Spra-&e mit dem Wort der anderen zur Deckung gebracht werdenkiinnte oder auch nur diirfre. Diese Unmijglichkeit soll jedodrwiederum nicht dazu verleiten, die tlbersetzung im Sinne ei-nes bloBen Versagens abzuwerten. Im Gegenteil: Die lJber-setzung kann sogar Zusammenhd.nge ans Licht bringen, diein der iibersetzten Sprache zwar liegen, aber nicht herausge-legt sind. Hieraus erkennen wir, daB jedes Ubersetzen einAuslegen sein muB. Zugleich gilt aber auch das Umgekehrte:Jede Auslegung und alles, was in ihrem Dienst steht, ist einUbersetzen. Dann bewegt sich das Ubersetzen nicht allein zwi-schen zwei verschiedenen Sprachen, sondern es gibt innerhalbderselben Sprache ein Ubersetzen. Die Auslegung der HymnenHiilderiins ist ein {Jbersetzen innerhalb unserer deutschenSprache. Das gleiche gilt von der Auslegung, die z. B. Kants>Kritik der reinen Vernunft<< oder Hegels >Phd.nomenologie
IJ
/o Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
des Geistes<< zum Thema hat. In der Erkenntnis, dalS es sichhier notwendig um ein Ubersetzen handelt, liegt die Anerhen--nung, da8 solche n\Nerkeo ihrem Wesen nach iibersetzungs-bediirftig sind. Diese Bediirftigkeit ist aber kein Mangel, se-o-dern ihr innerer Vorzug. Mit anderen Worten: Im Wesen ds.Spradre eines geschichtlichen Volkes liegt es, gleich einem gg-birge zumal in die Ebene und in das Flache auszulaufen qn4zugleich mit seltenen Gipfeln in sonst unzugdngliche Hcihenhinaufzuragen. Dazwisihen sind die >halben Htihen< sn4>Stufen<. Das Auslegen als Ubersetzen ist zwar ein Verstdnd-lichmachen - freilich nicht in dem Sinne, wie der gemeine Ver-stand dies meint. Um im Bild zu bleiben: Der Gipfel einesdichterischen oder denkerisdren Sprachwerks darf durch dieUbersetzung nidrt abgetragen und das ganze Gebirge auf dasFladrland des Oberfliichlichen eingeebnet werden, sondern um-gekehrt: Die Ubersetzung muB auf den Pfad des Aufstiegszum Gipfel versetzen. Verstiindlichmachen darf nie hei8en,eine Didrtung und ein Denken iedem beliebigen Meinen unddessen Verstd.ndnis-Horizont anzugleichen; verstd.ndlich rna-chen heiBt, das Verstd.ndnis dafiir wecken, daB der blindeEigensinn des gewiihnlideen Meinens gebrochen und verlassenwerden mu8, wenn die Wahrheit eines Werkes sich enthiillensoll.
Diese Zwischenbemerkung iiber das Wesen des {Jbersetzensrncichte daran erinnern, da8 die Schwierigkeit einer Uberset-zung niemals eine bloB technische ist, sondern daf3 sie das Ver-hdltnis des Menschen zum Wesen des Wortes und zur Wiirdeder Sprache angeht. Sage mir, was du vom Ubersetzen hditst,und ich sage dir, wer du bist.
b) Zur Ubersetzung von td 0stv6v
Wir sollen das Grundwort des Chorliedes, das ein Grundwortdieser Tragiidie, ja des Griechentums selbst ist, iibersetzen. Wasbedeutet rd Eerv6v? Das Wiirterbuch gibt die Auskunft: Der.v6v
Die Bedeutung /es 6erv6v
Wdeutet das Furchtbare und somit Furchterregende. Die
r,,rrrht braucht aber nicht notwendig die gewiihnlidre l'urcht
td Fnr.httamkeit zu sein, die leicht in das Ausweichen und
T,ittem der Feigheit abfiillt. Die Furcht, die das Eerv6v erweckt,
tann auch die Ehrfurcht sein und die Scheu. Das 6elv6v als
das Furchtbare ist dann nicht das Fiirchterliche, sondern das
Ebrfuriht Gebietende und sie Bestimmende: das Ehrwiirdige.
Die Fur&t der Ehrfurcht ist nicht Ausweichen und Flucht,
sondem die Zuwendung der Achtsamkeit und der Achtung, die
Scheu der Verehrung, das Standhalten in der Wiirdigung des-
sen, was solche Furcht erweckt.
Das 6erv6v kann daher als das Fiirchterliche Furcht einjagen
und in die offene Flucht jagen, es kann aber auch als das Bhr-wiirdige Scheu erwecken und so binden und in den verborge-nen Schutz nehmen. Schon hieraus entnehmen wir. daB in dem.was die Griechen 6elv6v nennen, das Gegenwendige waltet. Je-desmal aber ist das 6erv6v, sei es das Fiir&terliche oder dasEhrwiirdige, doch von der Art des Vielvermiigenden, d. h. Ge-waltigen. Das Gewaltige kann sein das Uberragende und dannkommt es in die Niihe des Ehrwiirdigen; es kann auch sein dasGewalttiitige und dann kommt es in die Nlihe des Fiirchter-lidren. Das Gewaltige geht immer iiber die gewohnten und ge-wiihnlidren Kriifte und Vermijgen hinaus. f)aher ist das 0erv6vzugleich das Ungewijhniiche. Das Au8ergewiihnliche aberbraucht nicht notwendig >au8erhalb< der Gewohnheit zu lie-gen wie das Ungeheure, das unmittelbar das Gewiihnliche rve-sentlich iibertrifft, so da8 es in gewisser Weise auBerhaib desGewiihnlichen steht. Das Ungervcihnliche kann im Gegenteilauch innerhalb des Gewohnten verbleiben, indem es alles Ge-wohnte beherrscht und allem gleich wendig sich zuwendet. DasAu8ergewiihnliche ist dann das in allem Geschickte. Diese Ge-schicklichkeit ist insofern auBergewtlhnlich, als sie nichts zu-ldBt, was iiber ihr Vermiigen hinausgeht. Das Ungewtihnlicheder Allgeschicklichkeit, ihr 6er,v6v, d. h. jetzt ihr Furdrtbaresund Gewaltiges, ist die Unbeugsamkeit der Nivellierung, der
78 Die Deutung des Menschen in Sophohles' Antigone
sich nichts zt entzie}r.en vermag. So kiinnen wir in der Zu-sammenfassung ungefdhr den Bedeutungsbereich des 6etv61
umgrenzen: Es bedeutet das Dreifache: das Furchtbare, dq,Gewaltige, das Ungewiihnliche. Jedesmal ist es gegensetzlichbestimmbar: das Furchtbare als das Fiirchterliche und als dasEhrwiirdige; das Gervaltige als das Uberragende und als dasnur Gewalttiitige; das Ungewiihnliche als das Ungeheure undals das in allem Geschickte. In seinem Wesen aber ist das De rv6vweder nur das Furchtbare, noch ist es auch nur das Gewaltige,noch nur das Ungewiihnli&e und gar jedesmal dieses nur nacheiner Seite; das Eerv6v ist aber auch nicht bloB dieses alles zu-sammengehduft. Das Wesentliche des Wesens des Eer,v6v ver-birgt sidr in der urspriinglichen Einheit des Furchtbaren, Ge-waltigen, Ungewiihnlichen. Das Wesentliche alles Wesens iststets einzig. Das volle Wesen des 0erv6v kann daher nur in ei-nem Einzigen sich entfalten. Wir haben in der Ubersetzungtri DeLvri wiedergegeben durch >das Unheimliche<. Dieses Wortsoll nicht etwa eine weitere Bedeutung neben den angefiihrtenanzeigen, sondern es soll sie alle zusammen nennen, und zwarnicht durch ein iiu8erlicfres Zusammenraffen, was sprachlichunmiiglich und widersinnig ist, sondern so, daB mit dem >Un-heimlichen<, wie es im folgenden verstanden sein miidrte, derverborgene Grund der Einheit der mannigfaltigen Bedeutun-gen des 6erv6v und dieses so in seinem verborgenen Wesen ge-fa8t wird. Darin liegt sogleich das Eingestdndnis, da8 dieUbersetzung des 6erv6v mit >>unheimlich< iiber das im Grie-chischen Ausgesprochene hinsir*rtlich des Grades der Ausdriick-lichkeit hinausgeht. Wir kijnnen auch sagen, die Ubersetzungsei unrichtig. Vielleicht ist sie aber deshalb wahrer, als dieUbersetzun g durch > f urchtb ar <<, > gewaltig <, > un gewiihnlich <<.
Die Bedeutung des 0etv6v
Wiederholung
rriilderlin dicletet im Sagen der Strijme das Heimischwerden
],-i auritt zugleicJe das Unheimischsein des geschidrtlichen
t*rA"". Die Gesdrichtlichkeit der Geschichte besteht in sol-
J"m ,S"i",<, das ein solches >Werdent< ist' Der Dichter er-
b-liikt ub"t diese Geschichtlichkeit rdeso Menschen nidrt als ei-
o" i- Unbestimmten schwebende Eigenschaft eines Ideaiwe-
J"or, du, >Mensch<< heiBt. Das Dichten dieses Dichters ist
selbst das Geschichtlichsein des gesdridetlidren, abendldndi-
,.h"r, M"rrtchen. Dieses Dichteu muB daher in der geschicht-
Ii&en Zwi"sprache mit jenen fremden Dichtern bleiben, die
das wesen des Menschen in der Hinsicht auf sein Heimisch-
werden in ihrer weise gedichtet haben. Die reine Erfiillung
dieser dichterisihen Notwendigkeit im fremden Lande der
Griechen ist ein Chorgesang in der Antigone-Tragddie des So-
phokles. Hiilderlin muB in der Zeit der Hymnendichtung, aber
auch in der nachfoigenden Zeit, da ihm die Alltagswelt fremd
geworden war, in einer stdndigen Zwiesprache mit diesem
Chorgesang >gelebt.. haben, so daB das Wort der Hymnen-
dichtung aus dieser Zwiesprache spricht und sie ausspricht'
Von diesem Chorgesang Einiges zu wissen bedeutet daher,
die Quelle der Hyurnendichtung Hiilderlins rauschen zu hciren,
wenngleich nur aus der Ferne. Der Chorgesang der griechischen
Antigone-Tragiidie erschlieBt sieh uns nur durih die Uberset-
zung. Echte Ubersetzung ist stets Auseinandersetzung und hat
so ihre eigenen Miiglichkeiten und Grenzen' Deshalb war eine
Zwischenlemerkung niitig, die das Wesen des Ubersetzens'
aber auch das darin liegende Verhiiltnis zweier Spraihen zu-
einander und damit den Bezug zum Wort streifen sollte' Jede
Ilbersetzung ist Auslegung. Und alles Auslegen ist Ubersetzen.
Sofern wir genijtigt sind, dichterische und denkerische Werke
unserer eigenen Sprache auszulegen, zeigt sich, daB jede ge-
scleichtliche sprache in sich selbst und fiir sich selbst, nicht etwa
nur in bezug zu fremden, ilbersetzungsbediirftig ist' Dies wie-
79
80 Die Deutung des Menschenin Sophokles' ,4ntigone
derum zeigt an, daB ein gesdrichtliches Volk nicht von selbst.und d. h. nicht ohne sein Zwtun, in seiner eigenen Sprachebeheimatet ist. Daher kann es sein, daB wir zwar >deutsch<sprechen, und doch ganz >) amerikanisih< reden.
Wenn zur Geschiihtlichkeit wesentliih das Heimischwerdengehtirt, dann kann auch ein geschidrtliches Volk niemals vonselbst und unmittelbar in der eigenen Sprache das Geniigenseines \ffesens finden. Ein geschichtliches Volk ist nur aus derZwiesprache seiner Sprache mit fremden Sprachen. Vermutlichlernen wir deshalb auch heute noch Fremdsprachen. Wir sowohllvie die Japaner lernen die englisch-amerikanische Sprache.Dies hat seine eigene technisch-praktische Notwendigkeit, dieniemand anzweifelt, der bei Verstand ist. Die Frage bleibt nur,ob wir auBer der Niitzlichkeit solcher Sprachkenntnisse auchihre wesentliche Gefahr kennen. Sie liegt darin, daB wir nuniiberhaupt ieden Bezug zur fremden Sprache einzig aus demgeliiufigen technischen Verhiiltnis zu den geliiufigen Fremd-sprachen beurteilen. Tun wir das, dann gilt uns z. B. das Uber-setzen fiir nidrts anderes als eine technische Vorkehrung. Das>Ubersetzen< ist eirre Art >Umleitung(< des spraihlicJren Ver-kehrs. Wir ahnen kaum noch etwas davon. daB das Ubersetzeneine Zwiesprache sein kann, gesetzt nimlich, da0 die zu iiber-setzende Sprache noch die Art einer wesenhaften Sprache hat.>Ubersetzen< ist gar nicht so sehr ein >>Uber-setzen<< und Hirr-iibergehen in die fremde Sprache mit Hilfe der eigenen. DasUbersetzen ist vielmehr eine Erweckung, Kldrung, Entfaltungder eigenen Sprache durch die Hilfe der Auseinandersetzungmit der fremden. Technisch gereclmet ist das Ubersetzen dasErsetzeu der fremden Spradre durch die eigene oder umge-kehrt. Aus der geschichtlichen Besinnung gedacht ist das Uber-setzen die Auseinandersetzung mit der fremden Sprache unr-willen der Aneignung der eigenen. Darum ist es freilich nichtgleichgiiltig, ob man iiberhaupt keine Fremdsprachen mehrlernt oder ob man z. B. nur Englisch-Amerikanisch zu tech-nisch-praktischen Verkehrszwecken lernt oder ob wir (ailer-
Die Bedeutung des 6elv6v
d;ngs nicht-bl"l ,:T Beispiel) in den Sprachgeist der griechi-
s&en Sprache den Eingang suchen.
Die Entscheidung, die so bei der Wahl der fremden Spra-
shen fiillt, ist in Wahrheit eine Entscheidung iiber unsere
eigene Sprache, die Entscheidung niimlich, ob wir audr die
eigene Sprache nur als ein technisches Instrument gebraudren
oder sie als den verborgenen Schrein wiirdigen, der, zum Sein
gehiir\g, das Wesen des Menschen in sich verwahrt.
Also zuriick zum >humanistischen Gymnasium<. Nein.
Denn in geschichtlichen Augenblicken vcn der Art des jetzt
sich vorbereitenden ist jedes bloBe >>Zurtck zu< eine Selbst-
tluschung, gelte dieses Zuriick dem klassischen Altertum oder
dem Neuen Testament. Denn es wdre immer noch zu kurz
gedaiht, wollten wir meinen, das Erlernen der grieihischen
Sprache sei empfehlenswert, damit wir die gro8en Dichter und
Denker im Urtext lesen kiinnen, um so als >gebi-ldet<< zu gelten
und zufolge dieser Bildung als >>Kulturvolk< aufzutreten. Wir
lernen die griechische Spraihe, damit das verborgene \{esenunseres eigenen geschichtlichen Anfangs fiir uns sich in dieKlarheit unseres Wortes finde. Dazu gehiirt aber. daB wir daseinzige Wesen des Griechentums kennen und in seiner Einzig-keit anerkennen. Wir diirfen die griechische Sprache nur ler-nen, wenn wir sie aus wesentlicher geschichtlicher Notwendig-keit um der eigenen deutschen Sprache willen lernen miissen.Denn auih diese miissen wir erst lernen; und weil wir meinen,dies mache sich von selbst. lernen wir sie am schwersten undgefdhrden sie so am ehesten durch die blol3e Vernachldssigung.Die Sprache lernen hei8t hiiren lernen, nicht nur auf die Aus-spraihe, sondern auf das Ausgesprochene. Das Horchen undGehorchenk6nnen ist die Grundbedingung fiir das echte Lesendes echten Wortes. Hier haben Auslegen und Ubersetzen ihreigenes und einziges Element. Die Ubersetzung des Chorliedesaus der Antigone-Tragiidie (V. 352-575) haben wir S. 77 f . ge-geben. Die folgende Erlhuterung greift vier Stiicke heraus.
81
85RO Die Deutung des Mensdten in Sophokles' Antigone
1. Die beiden ersten Verse des Beginns (Y. 53515$:>Vielfiiltig das Unheimliche, nichts dodriiber den Menschen hinaus Unheirrrlicheres ragend sich regt
2. Das Mittelstiick der zweiten Strophe (V. 560):> uberall hinausf ahrend unterwegs erfahrungslos ohne
Auswegkommt er zum Nichts. <
5. Das Mittelstiick der zweiten Gegenstrophe (Y.570/7I):>Hodriiberragend die Std.tte, verlustig der Stiitteist er, dem immer das Unseiende seiendder Wagnis zugunsten. <(
4. Die ScNuBverse der zweiten Gegenstrophe (Y.575175):>Nicht werde dem Herde ein Trauter mir der,nicht auch teile mit mir sein Wdhnen mein Wissen,der dieses fiihret ins Werk. <
Zu 7. Die ersten Verse enthalten das Grundwort dieser Tragii-die, ja der griechischen Tragiidie iiberhaupt und damit dasGrundwort des Griechentums. rd 6elv6v bedeutet einmal dasFurdrtbare, zugleidr aber das Gewaltige und schlieBlich dasUngewtihnliche. Jede dieser drei in siih aufeinander bezogenenBedeutungen meint zugleich, ob ausgesprochen oder nicht, einGegenwendiges. Das Furchtbare ist das Fiirchterliche, aber auchdas Ehrfurchtgebietende. Das Furchtbare zeigt sich im Ent-setzen sowohl als audr in der Scheu. Das Gewaltige kann dasiiberall hinaus Waltende und Uberragende sein, aber zugleichdas Gewalttdtige, die Verzwingung, die alle Notwendigkeitverzwingt zu einem einzigen, einfrirmigen Zwang. Das Unge-wiihnliche ist das [Jngeheure, das unmittelbar jedes Gewohntewesentlich iibertrifft, so da8 es in gewisser Weise >au8erhalb<des Gewijhnlichen steht. Das Ungewiihnliche kann sich aberauch in der Gegenrichtung innerhalb des Gewiihdichen breitmachen als die Geschicklidrkeit in allem und jedem. Wir iiber-setzen hier td 6er,v6v durch >das Unheimliche<. Die Absicht
Das Unheirnliche ak Grund des Menschen
,r"r"y Auslegung ist, die drei vorgenannten Bedeutungen, und
ln^, tu^, ihrer jeweiligen Gegenwendigkeit, einheitiich zu
a"*"o; >einheitlich< allerdings nur in dem Sinne, da8 der
Grund ihrer urspriinglichen we&selweise gegenwendigen Zu-
sarrmengehiirigkeit erfahrbar wird. Mit dieser Ubersetzung,
die das griechische Wort fiir uns auslegt, soll nicht behauptet
sein, daB fiir die Griechen das in Begriffe gefaBt war, was un-
ser Wort >das Unheimliche< nennen miichte. Gleichwohl miis-
sen wir zugestehen, daB das griechische Wort rd 6arv6v nicht
nur das Unheimliche bezeichnet, sondern als echtes Wort sein
Gesagtes so nennt, daB es als Wort selbst von der Art des Ge-
narulten, also selbst ein unheimliches Wort ist. Eine Ahnung
dieses Charakters diirfte uns vielleicht allein schon aus der jetzt
gegebenen vorlAufigen Erlduterung aufgehen.
73 . Das Unheimliche ak Grund des Menschen.(Fortsetzung der Erliiuterung zu rol'i.d td, 6ew& und r6Le rv.)
Die beiden ersten Verse des Chorliedes nennen nun aber das6er,v6v nicht unbestimmt und beiliiufig. Am Beginn des er-sten Verses steht notrld rd Dstvd. Die echte Bedeutung von rolfui
meint nicht >>Vieles< im Sinne der blol3en Anzahl und Menge,sondern stets das Vielerlei, das Mannigfaltige, Yielfiiltige.Yiel-fach gefaltet, d. h. zusammengelegt und so vereinzelt und aisso Gefaltetes zugleich verflochten und versteckt ist das Unheim-liche. So erscheint es gefaltet und verstreut in vielen Arten,aber so, da8 es hier nicht in das Einfache seines vollen und rei-nen lryesens entfaltet ist. Alle diese Weisen des Unheimlichenbleiben daher in ihrer Urrheirnlichkeit hinter dem Unheimli-chen zuriick, das der Mensch ist. Das Unheimlichste des Un-heirnlichen ist der Mensch. Dieses Hiichste des Unheimlichenist nicht nur dem Grade und der Menge nach, sondern vorallem der Art nach dasjenige, was in seiner Art schlechthinnicfrt iibertroffen werden kann, weil es einzig ist. Demnach
84, Die Deuturug des Menscltenin Sophohles' Antigone
mu8 hier audr das Unheimlidre seinen eigenen Wesensgrund
entfalten, der im iibrigen Unheimlichen sich nidrt zeigt, y611er dort fehlt. Die e\nzige Art der Unheimlichkeit des IUsn-schenwesens mu8 nun aber im Choriied selbst ans Licht konr-men, da dieses ausschlieBlich vom Mensdren sagt - freilich auchvorn Meer und von der Erde, von den Tieren der Wildnis pnd
den Wettern, von Siechturn und Tod, von der Verstiindigkeitund dem Wort, von den Giittern und den Satzungen, denn zuall dem steht der Mensch im Bezug und all dieses hat je nachseiner Weise einen Zug und die Ziige des Furchtbaren, Ge-waltigen und Ungewiihnlichen.
Wenn nun der Mensch das hiichste 6erv6v ist und in iirmalso das Wesen der 6er,v6qg in seiner einzigen Art erscheint,und wenn wir mit Recht dieses Wesen in der Unheimlichkeit
sehen, dann kann, streng genommen, nur der Mensch rnitdem Namen >der Unheimliche< benannt werden.
Aus den voraufgegangenen Erdrterungen iiber das lVesender Strijme u'issen wir, daB Htilderlin ihr Wesen dichtet ausder dicirterischen Sorge um das Heimischwerden des geschich.t-
lich-abendliindischen Menschentums der Deutschen. DasMenschwerden ist Herkunft aus dem Unheimischen; das Hei-mische bleibt stets auf das Unheimis&e bezogen, dergestalt,da8 dieses in jenem anwest. Und wenn nun in der dichterischenZwiesprache Hiilderlins mit dem Chorlied des Sophokles dieseeigentliche dichterische Sorge des Heimischwerdens zur S;ira-che kommt, wird wohl ein innerer Bezug bestehen miissen zw'i-schen dem Heimischwerden, d. h. Unheimisdrsein des lV1en-sdeen, den Hijlderlin dichtet, :und, dem Mensihen, der von So-
phokles al5 td Eer,v6totov gedichtet wird, rvas wir iibersetzen:das Unheimlichste. Wir deuten damit auf einen Zusarnrnen-hang hin, der verrrutlich iiber den blo8 dufJeren Anklang derWiirter >unheimisch< und >unheimlich< hinausreicht. In die-sem Zusammenhang liegt nun auch der Grund, weshalb wirauf der zundihst gewaltsam anmutenden Ubersetzung desDeLv6v bestehen. Nun kann, redrt besehen, iiberhaupt der
Das Unheimliche als Grund des Menschen
oewiihnliche Wortgebrauch, den das Wiirterbuch verzeichnet,
irns kein" unmittelbare Auskunft geben, da im Chorlied das
fuort Derv6v offenbar ein dichterisches lVort ist. Als solches
fichterisches fordert es sogar die Ubersetzung selbst dazu her-
aus, da-B sie dichtend iiber das Gebriiuctrliche hinauszugehen
versuche. Wohin, in welche Bedeutungsridltung, ist freilich
llicht sogleich entscheidbar. Soll die (fbersetzung einer Dich-
tung selbst dichterisch sein, dann ist ein solcher Versuch, der
von einer Dichtung des Sophokles gemacht werden muB, in
seiner Vermessenheit einigerma8en leicht zu erkennen. Sogar
Hiilderlin hat in seiner Ubersetzung des Wortes 0er'v6v ge-
schrvankt. Es ist lehrreich filr uns, darauf zu achten. Die voll-
stiindige Ubersetzung der Antigone-Tragiidie des Sophokles
hat Hiilderlin im Jahre 1804 ersdreinen lassen' Hier iibersetzt
Hiilderlin den Beginn des Chorliedes so (V, 202):
Ungeheuer ist viel. Doch nichts
Ungeheuerer, als der Mensch.
td 6ew6v ist das Ungeheuere. AuBer dieser Ubersetzung hat
sich nodr das Bmchstiick einer friiheren Ubersetzung Hiilder-
lins erhalten, die Hellingrath in das Jahr 1801, also in das ent-
scheidende Jahr der Hymnendidrtung datiert. (V, 1) Dies
Bruchstiick umfaBt nur die erste Strophe des Chorliedes. Die
Ubersetzung lautet hier :
Vieles gewaltige giebts. Doch nichts
Ist gewaltiger, als der Mensch'
rd 0er,v6v ist hier das Gewaltige. Wenn uns iiberhaupt eine
vergleiihende Beurteilung beider {fbersetzungen Hijlderlins er-
laubt ist, darf gesagt werden, da0 die erstgenannte, also die
zeitlich spdtere, wohl die reifere ist, didrterischer als die friihere.
Zwar bringt diese durih die Ubertragung des 6er'v6v mit
>gewaltig< einen Wesenszug des 0elv6v zum Vorschein, der auf
das deutet, was die Griechen sonst die 6gp{ nennen - das drdn-
gende aus sich Aufbrechen und Hervorbrechen - das >Gewalt-
65
86 Die Deutung des Menschen in Sophohles' Antigone
-tdtige< im weitesten Sinne, der nicht auf das nur >Brutalen
eingeschrdnkt bleibt. Dagegen denkt die spdtere Ubersetzuns
des 6erv6v durch >ungeheuer<< eher auf das Ungewiihnliihe iiAuftreten und Handeln des Menschen. Im heutigen Woree-
brauch weist das Ungeheure allerdings sogleich in die Vorstel.
Iung des Riesigen; dies aber denken wir leichthin meibt nurquantitativ, nicht aus bloBer Oberfliichlidrkeit des Denkens,
sondern unter dem Zwang der unmittelbaren Erscheinungen.
Der Sprachgebraudr ist dafiir ein sicheres Zeichen. DaB iiber-
all von dem >AusmaB< die Rede sein mu-B, bekundet die An-
wesenheit des Riesigen. Aber das Ungeheure im Sinne des Rie-
sigen der >AusmaBe<< ist nur dem Ansihein nach blo8 quanti-
tativ. Das Riesenhafte selbst ist eigens >qualifiziert<. Dieser
Vorrang der Quantit?it ist selbst eine Qualit?it, d. h. eine We-
sensart, und zwar die der MaBlosigkeit. Diese ist das Prinzip
dessen, was wir Amerikanismus nennen; der Bolschewismus ist
nur eine Abart des Amerikanismus. Dieser ist die eigentlich
gefiihrlidre Gestalt der Ma8losigkeit, weil er in der Form der
demokratischen Biirgerlic,hkeit und gemixt mit Christentum
auftritt, und alles dieses in einer Atmosphlire der entsc-hiedenen
Geschichtslosigkeit.Dem Riesenhaften kann jedoch unmittelbar wiederum nur
durch das Riesenhafte begegnet werden, ohne dabei doch dem
Riesenhaften selbst zu erliegen. Deshalb miissen wir im Unge-
heuren als dem Riesenhaften das verborgene Wesen des Un-
geheuren erkennen lernen, um aus dem Wesenhaften die Aus-
einandersetzur.g zu bestehen, die ihrem ersten Ansdeein naih
auf allen Seiten gleichfiirmig ist, in Wahrheit aber aus wesens-
verschiedenen geschidatlideen Grundstellungen kornmt, deren
Verschiedenheit so wesentlich ist, daB Geschichtslosigkert und
Geschidrtlichkeit in die Entsiheidung getreten sind. Das.>Un-
geheure<< braucht nidrt notwendig nur im Sinne des Riesen-
haften gedacht zu werden. Das Ungeheure ist zugleicb und
eigentlich das Niclt-Geheure. Das Geheure ist das Vertraute'
Heimisdee. Das Ungeheure ist das Un-heimisdre.
Das Unheimliche als Grund des Meruchen
Ob und inwieweit Htilderlin an diese Bedeutung gedacht
hat, lZiBt sich nicht entscheiden. Vermutlich hat Hijlderlin das
Uog"h"ur" im Sinne des Ungewiihnlichen, Gewaltigen gedacht
und nicht im Sinne des Un-heimischen. Darauf deutet die Tat-
sa&e, daB Hiilderlin auch in der spd.teren Ubersetzung das
6e1v6v an anderen Stellen (2. B. V. 96, V. 245) nach der Arr
der friiheren Ubertragung mit >gewaltig< iibersetzt.
Indem wir das 6erv6v mit >unheimlich< iibersetzen, denken
wir in die Richtung des Nicht-geheuren. Denn das Unheim-
liche, wie es in der Ubersetzung gedacht sein will, soll nicht in
erster Linie einen Charakter des Eindrucks festhalten, der sei-ner ungewiihnlichen >>Intensitdt< wegen die Benennung des>Gewaltigen< und >IJngeheuren<< verdient. Das Unheimlichemeinen wir im Sinne dessen, was nicht daheim - nicht imHeimischen heimisch ist. Nur deshalb kann das Un-heimischein der Folge dann audr >unheirrrlich< sein in der Bedeutungdes befremdlich und betingstigend und >furchtbar<< Wirken-den. Das Wort des Sophokles, da8 der Mensch das unheirnlich-ste Wesen sei, besagt dann, daB der Mensch in einem einzigenSinne nicht heimisch und da8 das Heimischwerden seine Sorgeist. Doch nun gilt es zu zeigen, inwiefern das Chorlied selbstdiese Auslegung rechtfertigt. Um dies zu erkennen, ist niitig,sogleich das Gewicht eines Wortes zu bedenken. das die beidenersten Verse des Chorliedes abschlie8t, indem es gleichsam ih-ren Gehalt in sich auffiingt. Es ist das Wort n6l.er, dessen Kld-rung auch im Hinblick auf die Erlduterung des b. Stiickeswichtig bleibt.
Das Wort n6l.erv ist alt und bedeutet: sich regen, hervor-kommen, seinen Ort und seine Stdtte finden und innehalten.n6l,etv ist das bei Homer und Hesiod geldufige Wort fiir elvar,was wir mit >sein< iibersetzen. Allerdings bleibt fiir uns dasWort nseinu ein zwar weitgreifender, aber docJr zugleich leererund unbestimmbarer Begriff. In der Tat iibersetzt auch Hiil-deriin das n6ler ganz blaB und unbestimmt einmal mi1 ;is1.,,das andere Mal mit >es gibt<. Wir sagen statt dessen:
87
88 Die Deutung des Menschetz in Sophokles' Antigone
Vielfiiltig das Unheimliche, nichts dochiiber den Menschen hinaus Unheimliiheres ragend sich regt.
;r6l,er,v: von sich aus auf- und hervorkommen und so anwesen.6 r6trtrg ist der Nadrbar, der in der unmittelbaren Niihe seinAnwesen hat, was jedoch sagt, daB er nicht starr, bewegungs-los vorhanden, sondern im Anwesen td.tig regsam ist, hin u14her geht. r6layog: das von sic]: aus sich Regende und demnachnicht weg FlieBende, sondern in seinem Wogen Bleibende undin sich Ruhende. r6?'ayog ist so das Wort fiir >das Meer<. I{ijl-derlins erhabenste Elegie trdgt den Titel >Der Ardripelagus<(IV, 88-101), gemeint ist das iigiiische Meer. Hijlderlin nenntdieses vorziiglichste Meer der Griechen das >Erzmeeru, V. 2bdas >ausdauernde<<, d. h. das im Wechseln und Werden Ru-hende. DieElegie schlieBt (V. 288 ff.) mit folgendem Anruf :
Aber du, unsterblich, wenn auih der Griechengesang sihonDich nicht feiert, wie sonst, aus deinen Woogen, o Meergott!Tijne mir in die Seele no& oft, dass iiber den WassernFurchtlosrege der Geist, dem Schwimmer gleich, in der
StarkenFrischem Gliike sich iib', und die Giitterspraihe, das
WechselnUnd das Werden versteh', und wenn die reissende ZeilmrrZu gewaltig das Haupt ergreifft und die Noth und das IrrsaalUnter Sterblichen mir mein sterblidr Leben erschiittert,Lass der Stille mide dann in deiner Tiefe gedenken.
Das a6ler,v meint hier das verborgene Anwesen der Stille undRuhe im unverborgenen stdndigen Abwesen und Anwesen undd. h. im Ersdeeinen des Wechsels. In diesem sprechen die Gtjt-ter und sagen das Bleibende, indem sie es versdeweigen. Solchesist nur im >Andenken<< zu denken. Das n6l.erv meint nicht dieleere Anwesung des nur Vorhandenen, sondern das Bleiben,das gerade im Wandern und Strijmen ist, was es ist. Dergestaltist auch, und d. h. griechisch n6l,er, das Unheimliihe in allemSeienden und ist der Mensch das {Jnfusimlic]ste. Die Unheim-
Das Unheimliche ak Grund des Merxdten
r&keit entsteht nidrt erst zufolge des Menschentums, sondern-,'i"r", ko--t aus der Unheimlichkeit und bleibt in ihr - es
Jaet aur ihr heraus und regt sich in ihr. Das Unheimliche selbst
Liim W"r"n des Menschen das Hervor-ragende und in allen
fiegungen und in jeder Regsamkeit siih regende: das Anwe-
sende und zugleich Abwesende'
Noch sind wir gewohnt, das Unheimliche mehr im Sinne ei-
nes Eindru&scharakters zu nehmen, statt es als die Grundart
des Wesens des Menschen zu denken. Allein, wenn wir auch
entschiedener versudren, das Unheimliche als das Unheimisihe
zu fassen, erliegen wir noch leicht der Gefahr, diesen Weseus-
zug des Menschen, dem Wortlaut gemiB, nur negativ zu den-
ken: das blo8e Nicht-sein - niimlich im Heimischen, das bloBe
Fortgehen und Ausbrechen aus diesem. Fiir diese Fassung des
Unheimisdren scheint ja auch all das zu sprechen, was in der
ersten Strophe und ihrer Gegenstrophe foigt.
Der fiihrt aus auf die schdumende Flut -
Aber das ist doch kein bloBes heimatloses lJmherirren, das ei-uen Ort nur aufsucht, um ihn alsbald zu verlassen und im blo-Ben Umherfahren die Lust und das Geniigen zu haben. DerMensch ist hier nicht der Abenteurer, der aus seiner Bodenlo-sigkeit heimatlos bleibt. Vielmehr sind Meer und Land und dieWildnis die Bereiche, die der Mensch mit ail seiner Geschick-lichkeit ums&afft, nutzt und zu dem Seinigen macht, damiter durch sie sein Hiesiges finde. Das Heirnischs wird gesuchtund im gewalttdtigen Durchgang durch das dem Meer undder Erde Ungewohnte erstrebt und dabei gerade nicht erreicht.Wdre der Unheimische nur der blo8e Abenteurer, dann kiinnteer nicht ei'''''al ein 6ew6g, lnlsirnlichl sein im Sinne des Fiir&-terlichen und Gewaltigen; denn der Abenteurer ist hiichstenssonderbar und interessant. aber er erreidrt nicht den hiiherenBezirk des Der,v6v, zu dessen Wesen das Gegenwendige gehtirt,was im Mittelstiick der zweiten Strophe (V. 560) ausgesprochenist.
89
90 Die Deutung des I\4ensclrcn in Sophokles' Antigone
Uberail hinausfahrend unterwegs und doch erfahrungslosohne Ausweg
kommt er zum Nichts.
W eitere W esensb estirnmungen des M enschen 91
1ad umgekehrt. f)as Wort soll aber in dieser Ubersetzung ur-
spriinglicher begriffen werden. Das Unheimliihe meint das,
was nicht >daheim<, nicht im Heimischen heimisch ist. Ent-
sprechend denken wir dann das Ungeheure nicht nur nicht
,jr dut Riesige, audr niiht bloB als das, was nicht das Geheure
ist, sondem als jenes, was ohne das Geheure, im Nicht-geheuren
516[ aufh?ilt. Der Aufenthalt im Nicht-geheuren, das Nicht-
Heimischsein ergibt sich weder erst als blo8e Folge des Umher-
ilrens, noch besteht es lediglich im Abenteuerli&en. Das Un-
leimisch-sein ist kein bloBes Entweichen aus dem Heimischen,
sondern eher umgekehrt das zuweilen sich selbst nicht kennen-de Suchen und Aufsuchen des Heimischen. Dieses Suchenscheut keine Gefahr und kein Wagnis. Uberallhin fdhrt es undiiberallhinaus ist es unterwegs.
14. Weitere Wesensbestimmungen des Menschen
a) Uberallhinausf ahrend - erf ahrungslos.(Erld.uterung des Mittelstiicks der zweiten Strophe.)
Der Abenteurer ist lediglich nicht-heimisch; dagegen ist der0ew6tcrog das unheimlidrste Wesen in einer Art des Heimisch-seins, in jener ndmlich, die innerhalb des eigenen Wesens nichtden Eingang zu diesem findet, von ihm ausgesperrt bleibt undohne den Ausweg zum Eingang in die eigene Wesensmitte.Der eigentlich Unheimische bezieht sich gerade auf das Hei-mische und nur auf dieses zurick, aber in der Weise des Nicht-erlangens. Der Abenteurer dagegen findet gerade im stdndigund blo8 Nicht-heimischen, im Fremden an sich, das Heimi-sche; genauer gesprodren: Fiir das abenteuerliche Herz gehtdiese Unterscheidung des Heimischen und Unheimischen iiber-haupt verloren. Die Wildnis wird zum Absoluten selbst undgilt als die >Fiille des Sej:rs<. Wenn man romantisch demAbenteurer ei:re besondere Hdrte zusprechen miichte, vergiBt
Wiederholung
rd 6er,v6v iibersetzen wir mit >das Unheimliche<<' Dies deut-
sche Wort soll das im griechischen Wort Gemeinte: das Furcht-
bare, Gewaltige, Ungewiihnllshg, samt ihrer jeweiligen Gegen-
wendigkeit einheitlich und d. h. aus dem Grunde ihrer Einheit
fassen. Sophokles l?iBt den Chor sagen: aol?'& rri 6euvd - viel-
fiiltig das Unheimliche. Und dies ist in der Tat aus sich selbst,
g"*ZiB der inneren Vieldeutigkeit seines Wesens, vielfiiltig.
ii"."* vielfdltigen Wesen zufolge ist das Unheimiiche dann
auch in seinem jeweiligen Erscheinen mannigfaltig. Diese
Mannigfaltigkeit im Ersdreinen des Wesens bedingt dann erst
"ine Vielheiides Erscheinenden' Das vielfache Wesen der Un-
heirrlichkeit steigert ihr Wesen im Ganzen' ro?rtro ra 6eLvd
meint also keineswegs nur' es gdbe der Anzahf nach eine groBe
Menge von Unheimlichen. Das gahgiYnliche >gibt es< iiber-
hurrpl niclet im Sinne des bloBen Vorhandenseins' Von ihm
wiri gesagt: r6),er,, und zwar in der Betonung am SchluB der
beiden Vets". Das Unheimliche >>ist<< in der Weise des Hervor-
kommens (ragen), so zwar' daB es bei allem sich regen doch in
der Unzugdttgli"ht"it seines Wesens ruht' - Hijlderlins erha-
benste Elegie >Der Archipelagus< lii8t uns Einiges ahnen vom
\ilesen des n6ietv.
Das Unheimliche pflegen wir sonst zu verstehen als das Be-
iingstigende, als solches, wovor wir erschre&en und zuriickwei-
"h*. 5o denkend nehmen wir das Unheimlidre nach dem Ein'
dru&, den es macht. Soweit wir jedoch das Unheirnlidee in der
Bed.eutung des Ungeheuren gegenstiindlich meinen, als das'
was es un ih* selbst und nicht nur hinsichtlich des Eindrucks
auf uns ist, denken wir das Unheimliche als das Riesenhafte
92 Die Deutung des Menschen in Sopholtles' Antigone
man, daB da, wo die Gefahr als das Absolute gesetzt wird, di.
Gefahr jede Gefiihrlichkeit verloren hat.
Der Unheimisihe entbehrt das Heimische, das Entbehren ist
die Art, wie der Unheimische das Heimische besitzt' genauer
gesagt, die Weise, wie dieses, das Heimische, ienen, den Un-
heimischen, besitzt. In diesen Bez.iigen offenbart sich das We-
sen d.er Unheirnlichkeit selbst: niimlidr die Anwesung in der
Art einer Abwesung, so zwar' dafi das An- und Abwesende
selbst hier zugleich der offene Bereich aller Anwesung und Ab-
wesung ist. Zunichst fassen wir freilich am leichtesten die Ge-
genwendigkeit im Unheimliihen, ohne sogleich deutlich zu be-
greifen, wozwischen und auf welchem Grunde die Gegenwen-
digkeit besteht. Das Gegenwendige im Derv6v wird nun auch
clichterisch rein ausgesprochen. l<rvron6gog &aogog - hart gegen-
einandergestellt und doch ineinandergefiigt und eingelassen
nennen diese Worte das Wesen des 6otv6v von der Seite des
r6qoE, das ist der selbstmiichtige Aufbrude, der iiberallhin aus-
fiihrt und iiberall durcblindet und iiberall hinkommt und so
alles kennenlernt. Irovror6pog ist ein Wesen, das alles erfiihrt
und doch ohne Erfahrung bleibt, sofern es das Durdrgemachte
nicht in eine Erfahrung verwandeln kann, aus der es zur Ein-
sicht in das eigene lMesen gelangt. Vielmehr dn' orl6iv dgletat -
der Mensch kommt zum Nichts. Damit so1} nicht der Erfolg
geleugnet sein und niclrt, da$ die Meisterung der Dinge, daB
die Beute und die Fiinge der Jagd gelingen. Wohl aber zeigt
sich, dafJ all dieses Erreichte, fiir side genommen, nur wieder
zu einem Jagen anreizt und antreibt und' fiir sich genommenT
nicht die Eignung hat, den Menschen in das Eigene seines !Ve-
sens zu bringen; denn alle Geschicklichkeit und alle Gewalttat
und aile Kiinste vermiigen dem Tod nicht zu wehren' Dieser
ist aber nun keine Begebenheit gleich anderen, die sich um-
gehen lassen. Er ist auch nichts, was von auBen erst an den
M"or.h"rr >herantritt< - sondern das Menschsein in sich selbst
geht auf seinen Tod zu. Das Wissen von diesem Wesenszug sei--
i". ,"lbst hat iedodr der Mensch meist nur in der Weise, daB
W eitere W esensb estimmungen des M enschen 93
er ihm ausweicht und so zugesteht, vom Eingang in das eigene
Wesen ausgeschlossen zu sein. Auf allen Gassen des Seienden
ist der Mensch >>zuhause<<. Uberall kommt der Mensch hin,
und es sc"heint, daB er so auch )zu etwas komme<< und, wie
wir sagen, ein Vermiigen erwerbe. Genau dies kann auch das
grie&isihe Wort l6qog bedeuten. Es steht dann als >>Reichtum<
ixc. Gegensatz at nevta, der Armut. Allein, indem der Mensch
iiberallhinkommend je zu >>etwas<< kommt, kommt er doch zum
Niihts, weil er ja ar'' jeweiligen Seienden haften bieibt und in
diesem das Sein und Wesen nicht fa8t. Das >Nichts<<, zu dem
er kommt, ist das, was, gegenwendig zum Sein, den Menschen
unmitteibar vom Sein schlechthin ausschlieBt. Deshalb steht
hier orlE6v und nicht pq06v. Alles Seiende in allen Weisen betrei-
bend ist er zugleicb. (wie) aus dem Sein vertrieben, mag auch
das Seiende als Wirkliches in seiner Wirksamkeit noch so ein-wirkend und >>wirkungsvoll<<, ja sogar furchtbar und gewaltigund ungewiihnlich sein. Denn wohl kijnnen auch die Mdchteund Kriifte der Natur furdrtbar werden in ihrer Eiuwirkung,wohl kann anderes in seiner Erhabenheit die Scheu fordern,wohl kann Ungewiihnlidres zum Staunen zwingen, doch alidieses ist ein 0erv6v nur in der Art seiner Wirkung auf denMensdren, nidrt aber unheimlich nach der Art des Menschseinsselbst. Denn zu dieser Art der Unheimlidrkeit, nemlich der Un-heimisdekeit, gehijrt es, daB solches Wesen vorn Seienden selbstund von ihm als Seienden weiB und es anspricht und ausspricht.Dergleichen aber vermag kein Naturding und kein sonstigesLebewesen. Nur der Mensch steht inmitten des Seienden so,daB er zum Seienden als einem solchen sich verhiilt. Nur die-sem Wesen ist es deshalb vorbehalten, im Bezug zum Seien-den das Sein zu vergessen. Zulolge dieser Vergessenheit ist derMensch in gewisser Weise au8erhalb dessen, worin alles Sei-ende ein Seiendes ist, auBerhalb des Seins. Deshalb ver-sagt ihm das Seiende selbst dies, was der Mensch von ihm er-hofft, daB er bei ihm und nrit ihm zu etwas komme. DerMensch steht zugleich so inmitten des Seienden, daB er im Be-
94 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
zug auf es &rogog ist. Aber &noqog ist er nur als rcvto:r6gog
und umgekehrt. Im Seienden, zu dem er kommt und woriner sich heimisch meint, kommt er zum Nichts. Er ist als dervermeintlich Heimische der Unheimische.
Diese Art der Unheimlichkeit, ndmlich die Unheimischkeit,ist nur dem Menschen miiglich, weil er zum Seienden als einem
solchen sidr verhdlt und dabei das Sein versteht. Und weil erdas Sein versteht, kann er allein auch das Sein vergessen. DieUnheimlichkeit im Sinne der Unheimischkeit iibertrifft daheralle sonstigen Arten des Unheimlichen unendlich, d. h. im We-sen. Streng genomrnen ist die Unheimischkeit iiberhaupt keine
Art des Unheimlichen neben anderen, sondern sie ist wesent-lich >iiber< ihnen, was der Dichter dadurch ausdrickt, da8 erden Menschen das Unheimlichste nennt. Denken wir uns diegewaltigsten >Katastrophen<< in der Natur und im Kosmos, siesind ein Nichts von Unheimlichkeit gegeniiber der, die dasMenschenwesen in sich selbst ist, sofern der Mensch in das Sei-ende als solches gestellt und fiir das Seiende bestellt, des Seinsvergi8t, so da8 ihm das Heimische zur leeren Irre wird, dieer mit seinem Umtrieb ausfiillt. Die Unheimlichkeit des Un-heimischen besteht hier darin, daB der Mensch in seinem We-
sen selbst sins xatco,goq{ ist - eine Umkehrung, die ihn vom
eigenen Wesen abkehrt. Der Mensch ist innerhalb des Seien-den die einzige Katastrophe. Doch hier wird niitig, sogleich an-zumerken, daB wir diese Wesensbestimmung des Menschenverkennen, wenn wir das Katastrophische abwerten im Sinne
des >Katastrophalen<< und wenn wir dieses wieder abschdtzennach den Ma0stdben einer pessimistischen Weltbetrachtung.
Wir neigen alsbald zu solchen Deutungen, weil wir, ohne es
noch zu wissen, in einer langen Uberlieferung der christlichenWeltbetrachtung stehen, die unter anderem auch den Weg zurErkenntnis des Griechentums miBleitet hat, und sei das auchnur in der formlosen Form des angeblich heidnischen Klassizis-
mus von Goethe und Schiller. Wir wiirden aus der dichterischenWesensbestimmung des Menschen, die das Sophokleische Chor-
W eite re W e sensb e stimmun gsn des M ens chen 95
Ded enth?ilt, alle Schwergewichte herausnehmen, .rvollten wir
die Unheimlichkeit des unheimischen Menschen deuten als die
Seinsart eines Wesens, das aus dem >>Paradies< vertrieben und
deshalb der Erlijsung bediirftig ist. Damit wird das >>Negative<
des Unheimliclen, gesetzt, daB es ein solches ist, zum voraus
schon abgeschwdcht und beseitigt, und gerade dieses wider-
spricht der anf iinglichen und urspriin glichen Wesenserfahrung
des Menschenwesens im Griechentum. Die Geschichte des Grie-
chentums erreicht eben dort die Hiihe seines Wesens, wo es die
Gegenwendigkeit des Seins selbst bewahrt und zur Erscheinung
bringt; denn da allein ist die Notwendigkeit, in dem Grund des
Gegenwendigen zu verbleiben, statt sich auf die eine oder an-
dere Seite zu fliichten. In dem geschichtliihen Augenblick, da
die eine Seite im Gegenwendigen des Seins zum Minderen undUnteren herabgewertet wird, ftillt das Griechentum aus derBahn seines Wesens heraus und der Niedergang ist entschie-den. Das Zeidren dieses Wandels ist die Philosophie Platons.Der entscheidende Grund dafiir, daB wir Heutigen und Spd-teren das Wesen des 6elv6v, wie es durch Sophokles zum erstenMal vollstdndig, zugleich aber auch schon zum letzten Mal aus-gesprodren wurde, kaum treffen, reicht daher in Bezirke zu-riick, die im Verborgenen unsere eigene Geschichte tragen. Dieim griechis&en Denken selbst mit Platon beginnende Meta-physik blieb dem Wesgn des >Negativen<< nicht gewadrsen.Dieses rvird, obzwar es dort einer Gleichsetzung mit dem leerenNichts entgeht, doch stets als das Nichtige im Sinne des Min-deren begriffen, als das, was nicht sein sollte, als das pf1.
Nun s&eint es, dieser herabsetzenden negierenden Fassungdes Negativen sei leicht dadurch abzuhelfen, da8 man das Ne-gative zugleich positiv denkt, ja sogar als die eigentliche Posi-tivitat des Positiven. Das geschieht in der Metaphysik desDeutsihen Idealismus bei Hegel und Schelling. Ein Abglanzdieser Stellun g zur Negativitiit erscheint noch einmal beiNietzsche. In Wahrheit wird hier wie iiberall in der Metaphy-sik die platonisch-christliche Herabsetzung des Negativen fest-
96 Die Deutung des Menschen in Sophokles, Antigone
gehalten, aber zugleich wieder unschiidlidr und riicksdnoi^gemacht durch die vorausgreifende Unterbringung i*-Ab:;:luten. Diese Uberwindung der Negativitat stellt aber orr.
"i i*
andere Form dar, die Sa&e der Negativitiit beim nAlteno IIassen ,nd nicht an den wesensursprung zu riihren. sobalJwir dieses aber versuchen, zeigt sich, daB schon die B".r"rnr.,ngdes Gemeinten mit dem Namen des >Negativen<< das, *u,
"izu wissen gilt, von der >>Negation<(, vom negare, d. h. der Ver_neiuung her denkt. Verneinung aber ist eine Art der mensqh_iichen Stellungnah-e. Das Gleiche gilt von der position desPositiven. Wohl ist alles Nicht-hafte fa8bar in der Verneinung,aber die Verneinu-ng erschiipft niiht umgehehrt das W"r"n dJ,Nichthaften, sie enthdlt vor allem keinen Hinweis in den Be_reich, aus dem das Wesen des Nichthaften sich offenbart, wennes sich iiberhaupt offenbart.
Die ungebrochene Herrschaft des metaphysischen Denkensund seine reiche, vielfach abgewandelte uberlieferung machtes uns fast unm<iglich, das dichteris&e Wort navlor6gog-fuogoghinsichtli& seiner inwendigen Gegenwendigkeit zureichencl zudenken. Das Un-artige im Unheimlichen ist anderen Wesens,als daB wir es mit Hilfe von hin- und hergleitenden Negationenjemals fassen ktjnnten. Wir kommen dem Un-artigen schonnaher, wenn wir es als das Biis-artige erkennen, dabei aber dasBiise nicht im Sinne des Moraliscle-Schlechten fassen, als cha-rakter menschlichen Handelns, sondern als einen Wesenszugdes seins selbst' in dessen Bereich der Mensch seinen pfad wanldert. So sagt Htilderlin in dem Gedicht >Reif sind, in Feuergetaucht . . .< (IV, 71):
. . . Aber biis sindDiePfade.. .
Diese Randbemerkung iiber das metaphysische Wesen der Ne-gativitet soll nur andeuten, da8 auch diese vorldufige Erliiu-terung des Wesens der Unheimlichkeit irn Zwielicht sich be-wegen mu8. Wenn diese Andeutung uns jedoch davon abhiilt,
W eitere W esensb estimmungen d.es M enschen
das i' chorlied-Gesagte allzu iibereilt in unserer geliiufigen
Detkart unterzubringen, dann bleiben wir wenigstens in derHaltuDg, &e das Wort dieses Chorgesanges selbst wie etwasfnLheimliches zu erfahren bereit ist und verzichten darauf, sei-sea Gehalt in AJltagsmeinungen und Gemeirpldtze aufzulii-sen. Wir werden dann diejenigen Worte des Chorliedes, in de_nen si& die voraufgehenden verse wie in einer neuen schalesammeln, besinnlicher aufnehmen, d. h. wacher fiir den We_sensbereich, aus dem her und in den zuriick sie spre&en.
b) Hochiiberragend die Stiitte _ verlustig cler Stette.Die:16l.19 als Stdtte.
(Erliiuterung des Mittelstiicks der zweiten Gegenstrophe.)
rirplno],rg &rohg drrp rd pl xa]dv[,6veotr, 16l,paE 1tipr.v.Hochiiberragend die Stdtte, verlustig der Stlitteist er, dem immer das Unseiende seiendder Wagnis zugunsten.
Diese Verse (570/I) sind entspreihend gebaut wie d.as Mittel_stiidr der zweiten strophe. wieder folgen hart aufeinander diegegenwendigen Worte rlgiroltE-drol.rE. In dieser Wortfiigungist das ro,vron6qog-d*oQoS wieder aufgenommen. Wir habenzu fragen: in welcher Weise? Die Antwort muB ergeben, in-wiefern jetzt das inwendig gegenwendige Wesen du, Urrh"i-_lichkeit entschiedener hervorkommt. In der ersten gegenwen_digen Wortfiigung lautet das Leitwort n6goE, in d", ,weit"nlt6l,l9. Der r6goE ist der Gang und Durchgang zu etwas, wel_cher Gang zu etwas und zu niclets fiihrt. benannt .wird dabeinidrt, wohin der Gang geht und wohin der Gehende kommt;nicht gesagt ist, was auf dem Gang angetroffen, und was derGehende >>bekommt<. navror6gog sagt freilich, der Mensch kom-me iberall durch und >rbekomme,< iiberall etwas in seine Ge_walt. Das >uberallhin< lii8t jedoch die Bezirke menschlichen
98 Die Deutung des Mensdten in Sophohles' Antigone
Tuns unbestimmt; sie bediirfen hier auch keiner besonderenNennung mehr, da ja vor und uach diesem Wort das Chorlied
Vielerlei nennt.Jetzt dagegen wird die r6hg genannt, also gleichsam ein
besonderer Bezirk des n6goE und ein Feld seines betonten Voll-zugs. Die n6),rg. Man kann heute, wenn man es iberhaupt tut,kaum eine Abhandlung oder ein Buc.h iiber das Griechentupl
lesen, ohne nicht iiberall auf die Versicherung zu stoBen, dafihier, bei den Griedren ndmlich, ,Alles< >politisch< bestimmt
sei. Die Griechen ersdreinen in den meisten >>Forschungsergeb-
nissen<< als die reinen Nationalsozialisten. Dieser Ubereifer derGelehrten scheint gar nicht zu merken, daB er mit solchen >Er-gebnissen<< dem Nationalsozialismus und seiner geschichtlichenEinzigartigkeit durchaus keinen Dienst erweist, den dieserauBerdem gar nicht bentitigt. Diese Eiferer entdecken jetzt
pltitzlich iiberall das >Politische<<, und die Gelehrten des vori-gen Jahrhunderts, die als sorgfdltige Werkleute erst Texte undAusgaben schufen, nehmen sich vor diesen >)neuesten Entdek-kungen.< aus wie blinde Dummkiipfe.
Wir glauben dariiber unterrichtet zu sein, was r6lug bedeu-tet. Denn was die t6l,rg ist, bestimmt sich ja >>natiirlich< aus
dem Hinblick auf das >Politische<. Vermutlich werden das>Politische< und die n6l.r,E in einem Zusammenhang stehen.Die Frage bleibt jedoch, wie dieser Zusammenhang im vorausgedacht werden muB. Offenbar ist das >Politisc"he<. das, waszur n6l.r,g gehiirt und deshalb sich nur aus der *6hg bestimmt.Aber nicht eben umgekehrt. Ist dem aber so, ist das >Poli-
tisctre< das, was zur r6hE gehiirt und aus ihr wesensmd8igfolgt, entsprechend wie >>das Logische<< aus dem Wesen desl,6.yog und >das Ethische<< aus dem Wesen des flSoE, dann hilft
es uns wenig, wenn wir uns mit irgendwelchen Vorstellungenvom >>Politischen.< ausriisten, um damit bewaffnet das Wesender n6l6 zu umgrenzen. So wiirden wir stets nur das Bedin-gende aus dem Bedingten, den Grund aus der Folge erkld.ren'und d. h. gar nichts erkldren, sondern das Wesen der Erklii-
V[/ eitere W e s ensb e stimmungen des M enschen
rung ilur verwirren. Vermeiden wir aber diese fast unausrott-
Lare Verwirmng, die sich bei allen Erkl?irungen >'des Logi-
schen.<,, >des Asthetischen<, >des Technischen,., >des Metaphy-
sischen<, >des Biologischen<<, >des Politischen<< breit macht,
flann ergibt sich fiir den jetzigen >Fall" eine wichtige Einsicht,
die wir in folgendem Satz kurz ausdriicken:, Die n6LtE kiQt
sich nicht ,politischo bestimmen. Die a6l'rE und gerade sie ist
dann kein >politischer< Begriff. So steht es in der Tat, gesetzt'
da$ wir im Ernst der Besinnung und in der Sauberkeit der
Gedankenf olge bleiben wollen.
Aber was ist nun die r6trrg der Griechen? Auf solche Fragen
kann nie eine >Definition< antworten; oder aber die >Defini-
don< gervdhrt, selbst wenn sie in das Richtige weist, keinen
hinreichenden Bezug zum Wesenhaften. Denn dieses ktinnte
ja darin bestehen, daB es selbst von sich aus im Fragwiirdigen
bleiben will. Wer sagt uns denn, da8 die Griechen, weil sie in
der a6ltg >lebten<, auch iiber das Wesen der lt6l'19 im Reinen
waren? Vielleicht ist der Name n61,tg gerade das Wort fiir den
Bereich, der stdndig neu fraglich wurde und fragwiirdig blieb
und Entscheidungen niitig und zur Not machte, deren Wahr-
heit die Griechen jedesmal in das Grundlose oder in das Un-
zugiingliche versetzte. Fragen zoir also: Was ist die n6i'r,g der
Griechen, dann diirfen wir nicht voraussetzen, die Griechen
miiBten dies doch gewuBt haben, so daB es nur der Anfrage
bei ihnen bediirfe. Aber sind uns denn nicht vom griechischen
Denken weitrdumige Betrachtungen iiber die r6lq iiberliefert:
das umfangreiche Gesprdch Platons iiber die rol'treia, d. h.
iiber alles, was die r6l.tg angeht; die weitgespannte Vorlesung
des Aristoteles: 8m,odlpq notrrttxfl, >die Politik<? Gewi8 - aber
die Frage bleibt, von wo aus diese Denker das Wesen der r6Lug
denken; die Frage bleibt, ob die Grundlagen und Grundhin-
sichten dieses griechischen Denkens am Ende der groBen grie-
chischen Zeit noch zureichten, um iiberhaupt noch, und zwar
im griechischen Sinne, nach der r6ltE zu fragen. Vielleicht
liegt gerade in diesen spdten Betrachtungen iiber dis r6l'tE die
99
100 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
eigentliche Verkennung ihres Wesens, daIJ sie ndmlich .l^^Frag-wiirdige selbst ist und in dieser Wiirde gewahrt
""d ;.:wahrt sein will. Ist dem so, dann sieht es so aus, als miifi*wir griechischer denken ais die Griechen selbst. Br sieht ni.hlnur so aus, es ist so. Denn wir selbst miissen in bezug u.rf un,selbst kiinftighin deutscher denken als alle bisherigen Deul-schen; denn keine Uberlieferung verschenkt unmittelbar clasWesentliche, es erscheint aber auch nicht ohne die Winli,: derUberlieferung.
Vielleicht ist die n6l.rg der Ort und der Bereich, um den sichalles Frag-wiirdige und {Jnhsirnlidre in einem ausgezeichnetenSinne dreht. Die 116l,19 ist 16lo9, d. h. der Pol, der Wirbel, indem und um den sich alles dreht. In beiden Worten ist dasWesentliche genannt, was im zweiten Vers des Chorliedes dasZeitwort rr6l,erv sagt: das Bestdndige und der Wechsel. Das we-senhaft >>Polare< der n6l,lg geht das Seiende im Ganzen an.Das Polare betrifft das Seiende in dem, wonlm es, das Seicndeals das offenbare, sich dreht. Auf diesen Pol ist dann derMensch in einem ausgezeidmeten Sinne bezogen, sofern clerMensch, das Sein verstehend,inmitten des Seienden steht undhier notwendig jeweils einen >status<<, einen Stand mit seinenZustdnden und Umstdnden hat. >>status<< ist der >Staat<. ,Usobesagt r6hE doch so viel wie >>Staat<. Wir sind jedoch bereitsrvieder auf einem Irrweg, wenn wir uns, n6l.lg ais Staat den-hend, wissentlich oder gedankenlos an Vorstellungen von neu-zeitlichen Staatsgebilden halten. Da auch fiir den groben Blickdie griedeische :r6ltq z. B. vom >>Staat< des 18. Jahrhundertssich unterscheidet, versic,hert man, die griechische n6lLg seinicht so sehr >Staat<< als vielmehr >Stadt<. Aber die >Stadt<meine hier nicht den bloBen Unters&ied zum Dorf, sonderneben doch auch das >Staatliche< - die griechische .16l,19 sei der> Stadtstaat<.
Allein diese Koppelung zweier unbestimmter und hinsicht-lich ihres Bestimmungsgrundes richtungsloser Begriffe gibt nie-mals den bestimmten und auf seinen Grund gerichteten We-
W eitere W e s ensb e stimtlungen de s M enschen 101
sensbegriff der n6ltg. Aus der Koppelung halber Gedanken
ertspringt nur eine Tduschung und die Verleitung zu der An-
ei&t, nun sei alles im Reinen, wenn erst die n6l'LE als Stadt-
staat bestimmt sei. Auch hier findet man nicht zu dem Schritt,
der im Umkreis unserer Frage nadr der :16l.r.g allein die Aus-
si&t ins Freie gibt, ndmlich die r6trrg nicht aus dem Bezug zum
Staat und zur Stadt, sondern hijchstens umgekehrt diese aus
f,smBezug z:ur n6Lt"E zu denken. Aber was ist diese, wenn das
Polhafte sie auszeichnet? Sie ist weder nur Staat, noch nur
Stadt, sondern zuvor und eigentlich >die Statt..: die Sttitte
des mensdrlich gesdrichtlichen Aufenthaltes des Menschen in-
mitten des Seienden. Das besagt jedoch gerade nicht, da8 das
Politische den Vorrang habe und das Wesentliche in der poli-
tisch verstandenen n61,r,g liege und diese das Wesentliche sei.
Sondern es sagt: Das Wesentliche im geschichtlichen Mensch-
sein ruht in der polhaften Bezogenheit von allem auf die Stdtte
des Aufenthaltes, und d. h. des Heimischseins inmitten des Sei-
enden im Ganzen. Dieser Stiitte und Statt entspringt das, wasgestattet ist und was nicht - das, was der Fug ist und was derUnfug, das, was das Sihickliche ist und was das Uns&ickliche.Denn das Schickliche bestimmt das Geschick und dieses die Ge-sdiihte. Zur n6Lr1" gehiiren die Gijtter und die Tempel, dieFeste und die Spiele, die Herrscher und der Rat der Alten, dieVolksversammlung und die Streitmacht, die Schiffe und dieFeldherrn, die Dichter und die Denker. Dodr all dieses diirfenwir nie denken im Sinne des Kulturstaates des 19. Jahrhun-derts. All dieses sind nicht Ausstattungsstiicke einer staatlichenOrdnung, die darauf Wert legt, da8 >Kulturleistungen<< her-vorgebracht werden, sondern aus dem Bezug zu den Gtjtternund aus der Art der Feste und aus der Miiglichkeit des Fei-erns, aus dem Verhdltnis von Herr und Knecht, aus dem Bezugzu Opfer und Kampf, aus dem Verhiiltnis zu Bhre und Ruhm,aus dem Verhiiltnis dieser Verhd.ltnisse und aus dem Gmndeihrer Einheit waltet das, was n6l,tq heiBt. Gerade deshalbbleibt die n6hg das eigentlich Fragwiirdige, das, was nur kraft
t02 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
dieser Wiirde alles wesenhafte Tun und iede Haltung des M6a-scfien durchwaltet. Das Vor-politische und alles Politische inurspriinglidren und im abgeleiteten Sinne erst ermiiglichende
Wesen der a6l.tE liegt darin, die offene Stiitte zu sein ds1Schickung, aus der sich alle Beziige des Mensdren zum Seiel-
den, und d. h. immer zuerst die Beziige des Seienden als sol-
chen zum Menschen, bestimmen' Das Wesen der n6l"tE kommt
daher stets ans Licht nach der Art, wie das Seiende als solches
iiberhaupt ins Unverhorgene tritt: nach der Weite der Gren-
zen, zwisihen denen dies geschieht, und nach der Weise, wie
sidr in einem mit der Offenbarkeit des Seienden im Ganzen
das Wesen des Menschen bestitnmt.
Dieser Zusammenhang hat sich auch noch im Denken des
Aristoteles erhalten. Aristoteles bezeichnet im Beginn seiner
>Politik< den Menschen als lQov nol,rtlx6v. Oberfliichlich [ber-
setzt hei8t dieses oft angefiihrte Wort: >>Der Mens& ist ein po-
litisches \Mesen<<. Bei dieser Feststellung ldBt man jedoch die
Kenntnis iiber die >Politik< des Aristoteles ihr Bewenden ha-
ben. Man fragt nicht, warum der Mensih ein >politisches We-
sen<< sei und sein kijnne. Man beachtet nicht, daB Aristoteles
die Antwort auf diese Frage gleichfalls im Beginn seiner
>Politik< gibt. Der Mensch ist ein lQov nol,ltlx6v, weil er und
nur er ein !6ov l.61ov 61,ov ist - ein Lebewesen, das das Wort
hat, will sagen: das Seiende, das das Seiende als ein solches
auf sein Sein anspredren kann' Wer oder was der Mensch sei,
l?i8t sich im Sinne des Denkers, der den Menschen das >poli-
tische Wesen<< nennt, gerade nicht >politisch<< entscheiden, rveil
ja das Wesen der r6l.Lg sich aus dem Bezug zum Wesen des
Nlenschen bestirnmt (und das Wesen des Menschen sich aus
der Wahrheit des Seins bestimmt). Der Aristotelische Satz, der
Mensch sei EQov nolu,rn6v, besagt, der Mensch sei dasjenige
Wesen, das der Zugehiirigkeit zur r6],r,s f:ihig sei; darin liegt
aber gerade, daB er nicht ohne weiteres >politisch<< ist. Wie
aber vollzieht sich diese Bestimmung des Wesens des Men-
schen? Wo fiiilt das MaB-gebende Wort dieser Bestimrnung?
W eite r e W esensb e stimmungen des M enschen 105
g/ir vernehmen es als Chorgesang der Tragiidie' die Dichtung
ist.
lViederholung
[..c pilt zu verstehen, inwiefern nach dem Chorgesang der An-
Tgio"-fr"Stidie der Mensch das unheimlichste Seiende in ai-
ir[ s"i""a"n ist. Das Unheimliche setzen wir der griechischen
i"a",rt,,ttg des 6er,v6v entsprechend gleich dem Furchtbaren'
6ewaltige.r, Ungewtihnlichen' Dabei kann jede dieser Weisen
i, "irr"
gegensiitzliche Form fiir sich annehmen' Das Unheim-
ii"lr" b"d",rtet fiir uns zundchst die Einheit der drei genannten
W"ir"n samt ihren jeweils miiglichen entgegengesetzten For-
men. Das Unheimlidiste wire dann, unmittelbar gedacht, fie-
ses volle Wesen des Unheimlichen in seiner hiicJrstmiiglideen
gradweisen Steigerung naih allen miigiichen Hinsidrten ge-
i6mmen. Allein, das so gedachte Unheimlichste trdfe nicht
das, was das eigentliche und demnach einzige Wesen der Un-
heimlichkeit ausmacht - n2imlich das Unheimischsein. Vieler-
lei kann furchtbar, gewaltig, ungewiihnlidr sein, es braucht
doch niiht die Wesensart des Unheimischen zu haben' Was ie-
iloch in seinem wesen unheimisde ist, das iibertrifft alles un-
heimliche unendlich - d. h. im Wesen.
Das Un-heimische ist aber nicht bIoB das Nicht-heimische,
sondern jenes Heimische, das sich selbst sucht, aber nidet fin-
det, weil es sich sucht auf dem Wege der Entfernung und Bnt-
fremd.ung von siih selbst. Wiihrend das sonst antreffbare Un-
heirnliche nur gegenwendig ist in dem Sinne, daIJ es auBer
der jeweiligen Weise z. B. des Furdrtbaren je eine ihr gegen-
satziiche gibt, eignet dem Unheimischen eine Gegenwendig-
keit, die "rrm
Itrr"ren seines Wesens selbst gehiirt' Diese in-
wendige Gegenwendigkeit liegt in ieder Weise des Unheimi-
schen als d,essen innere \Nesensverfassung' Dagegen haben die
sonstigen weisen des unheimlichen ihre gegensdtzliche Ge-
stalt jeweils au8er sich und sind nicht in side selbst gegenwen-
104, Die Deutung des Menschen in Sophohlzs' Antigone
dig nach der Art des Unheimischen. Damit dieses in seine*\{esen miiglich sei, bedarf es einer Bedeutung und eines Gnrn]des, in dem zu ruhen und zu wesen die Auszeichnung desMenschen bleibt.
DaB nun aber im Chorlied das inwendige Gegenwendige dg50erv6ratov, d. h. des Unheimlichsten, als welches der Menschist, ausgesprochen wird, zeigen die lVorte ncrvron6goE-dropogund die Rede 6qirofu,E-&rol.r,E. Als der Uberallhinausfahrendehommt der Mensch iiberallhin und kommt dabei doch iiberallzum Nichts, sofern niimlich das, was er im Hinausfahren be-kommt, niemals zureicht, sein Wesen zu erfiillen und zu tra-gen. Das, was der Mensch unternimmt, wendet sich in sichselbst, nicht erst in irgendwelchen schlimmen Folgen, gegendas, was er dabei im Grunde sucht, ndmlich das Heimischwer-den inmitten des Seienden. Das Gegenwendige darf jedoch,soll es griechisch gedacht sein, nie als sdrlechte Eigenschaft,nicht als Mangel oder gar als >Siinde< gedeutet werden. ImGriechentum gibt es iiberhaupt keine Siinde, die ihr Gegenteilallein im christli& verstandenen Glauben hat. Aber der Satz:Im Grieihentum gibt es keine Siinde, hei8t ganz und garnicht: Hier ist alles und jedes erlaubt * sondern der Satz sagt:Das >Negative<< hat nicht die Art der >Siinde<<, d. h. die inganz besonderer Hinsicht verstandene Verfehlung und Auf-iehnung gegen einen in besonderer Hinsiiht verstandenenSihiipfer- und Erltisergott. Das sogenannte >>Negative< ist aber,wenn es und weil es nicht als >Siinde< gedeutet wird, deshalbnicht abgeschwiicht, im Gegenteil: Das Negative behiilt seineigenes Wesen und steht nicht in der Rolle dessen, was besei-tigt und iiberwunden werden kiinnte und sollte. WeiI es alsGegenwesen eigenen Wesens ist, mu8 es mit seinem Gegen-'wesen aus dem Grunde ihrer Einheit getragen und gewiirdigtwerden.
Dieser Hinweis auf das ungemd8 so genannte >>Negative<soll andeuten, daB das Un- im Un-heimischen keinen blo0enMangel, auch nicht nur ein Fehlen ausdriickt. Mit der sprach-
Weitere WesensbestimmLln.gen des Meruchen 105
11c,5en Wendung navtot6qoE-iinoqog ist die Gegen."vendigkeit im
Wesen des Nlenschen im >allgemeinen<< und >>unbestimmt<
genannt; so scheint es wenigstensl denn die zw'eite Nennung
frphotrL5-dro7'rE spricht in der Richtung eines besonderen Be-
zirkes, in dem sich das menschliche Flandeln vollzieht. Das ist
ds1 Bezirk des >Politischen<. Aber was ist dies? Wenn >>daspoiitischeo das ist, was zur Polis gehiirt und von ihr demnach
i:n Wesen abhdngt, dann liil3t sich das Wesen der Polis niemals
aus dem Politischen bestimmen, so wenig rvie der Grund aus
der Folge erkldrt und abgeleitet werden kann.
Was ist dann die n6),Lg uncl wie zeigt sich ihr Wesen, und
zwar im Sinne und nach der I)errkungsart der Griechen? Sie
ist und bleibt das eigentlich Frag-wiirdige im strengen Sinne
des Wortes, also nicht einfach nur das Fragliche fiir irgend-eine Frage, sondern jenes, auf das die eigentliche, die hijchsteund weiteste Besinnung zugeht. DaB dem so ist, IdBt sidr sogarnoch aus den spdten Betrachtungen ersehen, die uns in denWerken von Platon und Aristoteles iiberliefert sind. Platonsagt in seiner >Politeia<< (V. Buch, 475 c sqq.) unter anderemdieses:
'Edv pr\ . . . t oi grl"6ooqor paor,lei'o<oorv 6v tcig ;r67ueor.v fi oi Bcor2.i1gte viv l.ey6p.evor rcai 6uv&otal qlloooqf otoor. yvloir,rg re xci ixcv6E, . . .orlx dorL zaxdrv ncil"a . . . raig n6l"eor, . . .
>Wenn nicht entweder die Philosophen Herrscher werden inder n61.6 oder aber die jetzt sogenannten I-Ierrscher undMachthaber in echter und geeigneter Weise ,philosophieren( -ist kein Ende des flnheils fiir die 116l.r,g. <<
Der neuzeitliche Nlensch wird diese Ansicht Platons in der Tatfiir recht >platouisch<, d. b. hier fiir grundlos und verstiegenhalten. Den >Philosophenu fehlt doch bekanntlich die >Lebens-ndhe<, und unpraktisch sind sie auch. Wie sollen sie da dieStaatsgeschdfte iibernehrnen? Allein, Platon meint nicht, diePhiJosophen sollen die Staatsgeschdfte iibernehmen, weil n6trrE
106 l)ie Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
eigentLich nicht >Staat< ist und >die Geschdfte< in ihr nichtdas Wesentliche. Platon meint auch nicht, die Herrsc)ler solltensich mit >Plflosophie beschdftigen<<, als sei das eine Sache lyiudas I(dfersammeln. Die Philosophen stehen nach einem ande-ren Wort Platons im Glanz und Licht des Seins und deshalb
ist es fiir das gewiihnliche Auge sehr schwer auszumachen, oleiner ein Philosoph ist oder nicht. Das angefiihrte und vielnei8handelte Wort Platons meint vielmehr dieses: Die ;r6).LE
ist auf die Wahrheit und das Wesen des Seins gegriiredet, vonwo aus alles Seiende bestimmt wird. Von der 16l,19 gilt dieserBezug aber in erster Linie, weil sie die Stdtte ist, in der allesSeiende und all.es Verhalten zum Seienden sich sammeit. Sieist der >Pol< in allem Seienden und fiir alles Seiende in seinem
Sein. Sein aber heiBt den Griechen r6i,elv. Dann sagt also Pla-
ton nichts anderes als dies: daB alles vom >Polit ischen< herbestimmt sein mi.isse und daB das >Polit isdre< den unbeding-ten Vorrang habe. Er denkt aiso gar nicht so >>Iebensfern<,
sondern ganz modern.Doch dies zu meinen wdre nur die Kehrseite zur vorgcnann-
ten MiBdeutung Platons und wieder ein Irrtum. Die Doktrin
von dem unbedingten Vorrang des Politischen auf der einen
Seite und die Auffassung der n6)'tg als des fragrviirdigen
Grundes und der Stdtte des Seienden auf der anderen Seite
sind durch einen Abgrund voneinander geschieden. Man er-
weist daher weder dem heutigen po).itischen Denken noch auch
den Griechen einen Dienst, wenn man im Ubereifer des
>Wissenschaftsei:esatzes< alles durcheinanderwirbelt, was in sei-
ner jeweiligen geschichtlichen Einmaligkeit fiir sich im eige-
nen Wesen steht. Man dient der Erkenntnis und Bewertturg
der geschichtlichen Einzigkeit des Nationalsozialismus gar
nicht, wenn man das Griechentum jetzt so auslegt, daiJ man
meinen kdnnte, die Griechen wiren alle schon >Nationalsozia-
listen< gewesen. Fiir uns hier handelt es sich nicht um das
>Polit ische<, sondern um das Wesen der r6l 'Lg und genauer
um den Wesensbereich, aus dem her sie sich bestimmt, lvill
Fortsetzung der Erliiuterung des Wesens der n61,6 107
s'g€tr, 4rl5 dem her und dem gemiiB sie den Griechen das
Frag-wilrdige bleiben mu3. DaB der Dichter Sophokles vom
Verhiiltnis des Menschen zur r6l,Lg spricht, und zwar irn Zu-
,u-rasnhang des Sagens vom EeLv6v, das allein deutet sdeon
auf die Entschiedenheit hin, aus der die n6l'rE als die Stdtte
und Mitte des Seienden erfahren wird.
1 f . Fortsetzung der Erliiuterung, des W esens der x6'l..tg
Nach dem Wort dieser Dichtung verbirgt die r6lLg selbst in
siih die Mriglichkeit des gegenwendigen Aufenthaltes in ihr:rigkol.Lg, hodetiberragend die Stiitte; dnol.r.E, verlustig derStatte. Hierbei ist die n6)'rg nidet ein gleichgiiltiger Raum,
der die selbst wieder leeren Miiglichkeiten des >Hochragend<
und des Niedersturzes zuldBt, sondern das Wesen der ;r6hg
ist es, in die Ubersteigr.rg zu drdngen und in den Sturz zureiBen, so, daB der Mensch in beide gegenwendigen Mdglich-keiten geschickt und gefiigt wird und dergestalt beide Miig-lichkeiten selbst sein mu8. Der Mensch >hat<< diese nicht auBerund neben sich, sondern sein Wesen besteht darin, als der inder Stdtte seines Wesens Sich-versteigende zugleich der Std.tte--lose zu sein. So zu sein aber heiBt, irn Wesen vom Unheimi-schen bestimmt, €legenwcndig zu sein. In die Hijhe des eige-nen Wesensraumes aufzuragen und so diesen zu beherrschenund zugleidr in seine Tiefe abzustiirzen und in ihm verlorenzu sein. Die Unheimlichkeit folgt nicht erst aus dicser zwie-friltigen Mciglichkeit, sondern es ist das Unheirnliche, rvorinder verhiillte und fragwiirdige Grund der Einheit dieser Zwie-falt waltet, woraus diese ihr Gewaltiges hat, das den Men-schen in das Ungeheure hoch hinauftrdgt und in die Gewalt-tiitigkeit fortrei8t. Weil der Mensch die in der :r6Lr.g sp-scheinende und zugleich sich verhiillende Unheimlichkeit nachihrer duBersten Gegenwendigkeit in seinem gesclidetlichenSein mu8 walten lassen, ist er das unheimlichste Seiende. Und
108 Die Deutung des Menschen in Sr_tphokles, Antigone
das unheimischsein serbst? Es steht i'r., wesensbunde mit dern6l'rg, d' h' der Stdtte des Aufenthaltes des gescrriihtli"h";Menschen inmitten des Seienden. Der Dichter ."g, ai",
"".iklar genug. Wer die Wesensstdtte seiner Geschichl, d. h. ;;,Schickliche aller Geschicke verliert, indem er sie hochiiberra."rist nur deshalb ein solcher, weil ihm das Unseiend" ,"i;";-;:;kann. Darin liegt: Der Bezug des Menschen zum S"i"od"ntriigt in sich die M<iglichkeit dieser Verkehrung
"i"", M6J;;:
keit, die der Vermutung nach iiberhaupt im Sein a", S"i""rra"oih-ren ursprung hat. Der Mensch ist in die st:itte ,"irr;-;;:schicirtlichen Aufenthaltes, in die n6),r,E gestellt, werl u. .i.anur er zum Seienden als dem Seiendenl zufrr Seienden in sei_ner lJnverborgenheit und Verbergung sich verh2ilt und im Seindes Seienden siih versehen kur.l ,rrrl zuweilen, d. h. stets inden d.u8ersten Bezirken dieser Stdtte, im Sein sich versehenmu8, so daB er unseiendes fiir das seiende und seiendes fiirdas Unseiende nimmt.
a) Die Bedeutung des xol,6v und die r6l.po
Was hier in der Ubersetzung >d.as lJnseiende< genannt wird,heiBt bei Sophokles rd pi1 xcl,6v. Wenn wir >wijrtlich.< iiber-setzen, milssen rvir sagen ,das Un_Schijne<. Allein, das echtewtirtliche ubersetzen geht keineswegs darin auf, die >greichen<Wtirter der verschiedenen Spracheln zu setzen, sondern denUbergang in das entsprechende Wort zu finden. td za}6vheiBt das Schiine. Aber was ist das Schiine? Was meint dasgriechische xal.6v? Wir sind auch hier durch die neuzeitlicheAuslegung des Schiinen, d. h. durch die iisthetische Fassungdes Schtjnen, die dieses auf das Bewu8tsein und den ,rGenufiobezieht, zu sehr mi8leitet, um zugleich den Bereich zu fassen,den das sogenannte >Schijne< im-Si.rrre des griechischen zcl"6vmeint. Noch Platon setzt rd xol6v gleich *it
"6 d,yo06v, was
man das >Gute< hei8t, und beide nennt er in der Bedeutungdes rilqS6g, was wir mit >das Wahre< iibersetzen. Aber wenn
Fortsetzung der Erliiuterung des Wesens der n6Lq 109
wir vom >>Wahren<, >>Guten< und >Schijnen<< reden, dann be-
flegen wir uns, ob wir es wissen oder nicht, im neuzeitlich
aufkldrerischen, freitttaurerisdren Bereich, weldres >Rei&<
sidr dann das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert als das
>Reich< der >>Werte<. zurechtgelegt haben. Das alles ist vom
Griechentum sehr weit entfernt, aber dodt auch nur entfernt,
will sagen, wiederum auf es bezogen' sofern im Denken Pla-
tons unter anderem auch dieses vorbereitet wird. da8 in der
Neuzeit sich das Wesen des Schiinen aus dem BewuBtsein vom
Schiinen, d. h. aus der Empfindung desselben, d. h' aus der
cio$r1o6, d. h. iisthetisch bestimmt.
Die Asthetik ist die Art der metaphysischen, und zwar der
neuzeitlidr metaphysischen Wesensumgrenzung des Schijnen
und der Kunst. Diese neuzeitlich-metaphysische Erkld.rung des
Scihijnen erreicht in Nietzsches Metaphysik ihre Vollendung,
wo die Kunst im engeren Sinne als >Anstachlerin des Willens
zur Madrt< und nur als dieses begriffen wird. Nietzsche ge-
braucht nicht zufdllig das Wort >stimulans<. Die Kunst ge-
hiirt fiir Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht unter
die >Stimulantien<< und muB daher notwendig gepflegt wer-
den. Die Art, wie im Beginn der Metaphysik bei Platon z. B.
iiber die Dichter rrnd ihre Rolle in der r6ltg gehandelt wird,
entspricht in Wahrheit schon dem, was in der Voilendung der
Metaphysik sich ausspricht. Sofern die abendldndische Meta-
physik im Denken Platons beginnt, bereitet auch Platon diespiitere dsthetische Deutung des Schijnen und der Kunst vor.
Sofern iedoch Platon zugleich in der Uberlieferung des >>an-
fdnglichen< griechischen Denkens steht und ein Ubergang ist,
denkt er td xal6v auch nodr niiht-dsthetisch. Das bekundetsich in der Gleichsetzung des xci,6v mit dem 6v. Das Schijne
ist das Seiende, und das >in Wahrheit<< Seiende ist das Schtine.
Wir erkennen die wesensmdBige Zusammengehtirigkeit desSeienden und des Schijnen sogleich, wenn wir das Seiende und
das Schiine griechisch denken.Das Seiende ist das von sich her Aufgehende und also An-
110 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
wesende. Das Schijne aber ist nadr Platon td dxgcrv6otorov: wasam reinsten in das Erseheinen heraustritt, niimlich im Bereichder Sinne, was jedoih als dieses zugleich ist Egcoprbtcrov (dgoE);das, was in den Bezug zum Fernen und Bestdndigen versetzt,das in allem Unstiindigen hindurchscheint. In derselben Rich-tung des Erscheinens und Anwesens wird von Platon aber auchtd d1o06v gefaBt - das Gute -, d. h. jenes, was alles Erscheinen-de zu seinem Ers&einen tauglich macht und daher das allemzuvor und am reinsten Erseleinende ist. Das Gute ist die hiich-ste Idee, d. h. td guv6rcrov, und das in allem Erscheinende istdas Gute - will sagen, das, was alles in seinem Sein ermiiglicht.rd pi1 xol.6v bedeutet daher vor-platonisch das Un-seiende, je-
nes Seiende, das nicht schleihthin nichts - sondern als Seiendesgegenwend.ig dem Seienden >>zuwider<< ist - also das, was dieSinne verwirrt und il. das Bestandlose verstrickt und so nidrtszum bestdndigen Anwesen kommen IdBt, es sei denn die Miig-lichkeit des Nichtseins, die blo8e Bedrohung des Seins, die Ab-wesung und Vernichtung des Seienden. Sofern der Mensch mitdem Un-seienden )>zusn.nmen<< ist, so daB er das Un-seiendeals das Seiende nirnrnt, hat er das Seiende der Gefahr der Ver-nichtung anheimgegeben: es auf sein Spiel gesetzt. Dieses Ver-halten zum Seienden ist die t6lpa, die Wagnis. Wo dieseralle Gunst zugewendet wird und um ihretwillen jedes Verhal-ten zum Seienden ist, wie es dann sein muB, da spannt siih derBezug des Menschen zum Seienden ein in die weiteste Spannezwischen der hijchsten Hiihe der Meisterung der St?itte seinerGeschichte und der tiefsten Tiefe des Verlustes dieser Statte.Die t6trpc, die Wagnis, in der das Unseiende als das Seiendeerscheinen muB, ist die Bogenspannung, auf der das Men-
sdrenwesen hinausreicht in die gegenwendige Spa''.e des Un-heimischen. GemiiB und zufolge diesem wagnishaften Bezwg,
der ihn, den Menschen, und ihn allein dergestalt in die offeneStdtte inmitten des Seienden stellt. ist der Mensch als der we-senhaft Un-heimische das unheimlichste Seiende.
Sofern der Mensch iiberallhinausfahrend unterwegs ist,
Fortsetzung der Erliiuterung des Wesens der n6Lq 7ll
iibersteigt er die Stdtte seines geschichtlichen Wesens. Die n6hg
ist also niiht ei:l vereinzeher Bezirk, das sogenat'nte >Politi-
s&eu, innerhalb der Mannigfaltigkeit anderer Bezirke mensch-
1;&en Ausfahrens und Verfahrens (n6gog), sondern die 1167'6
ist die Stiitte, innerhalb deren Reichweite jeder r6qog sich be-
wegt. Das navton6poE - &nogog und das rirpiroh,E - d,rol'rg unter-
scheiden sich uicht wie Allgemeines und Besonderes, sondern
wie das Durchfahren der Stdtte, d' h. ihrer Reichweite, und die
Stiitte seibst. In solcher Hinsicht miissen wir den gedoppelten
gegenwendigen Bezug > iiberallhinaus unterwegs - ausweglos..
und >Stdtte iibersteigend - Statte-Ios<( zu denken versudeen,
um ztt begreifen, in welchem Sinne und warum der MensCh
das unheimli&ste Seiende inrnitten des Seienden ist.' Das Seiende selbst als das Aufgehende und Erscheinende ist
als dieses zugleich das Sich-verbergende und nur Siheinende.
So spielt das Seiende selbst seinen Schein aus und versteckt in
diesem das Unseiende. Dergestalt liiBt das Seiende selbst den
Menschen nicht r:nmittelbar heimisih sein, so daB der Mensch,
als das einzige Wesen, das sich zum Seienden als einem solihen
verhllt, aude zugleich und sogleich der Wagnis alle Gunst
schenkt; denn in ihrem Bezirk lassen sich alle Kr?ifte und Ver-
mtigen wecken und in Bewegung setzen und ins Spiel bringen'
um dadurch doch einen Stand in der Stiitte inmitten des Sei-
enden zu erlangen.lIndem der Mensch inmitten des Seienden ist in der Weise,
daB er sich zum Seienden als solchen verhdlt, muB er seinem
Wesen gemdB suchen, in einer Stiitte heimisch zu werden. Weil
aber das Seiende selbst seinen eigenen Schein ausspielt, mu8
der Mensdr im Wagnis des Heimischwerdens alles auf dieses
Spiel setzen und deshalb dern begegnen, dafi ihm das Heimi-
sche versagt wird. Stets auf dem Weg in die heimische Stiitte
und zugleich auf das Spiel der Verwehrung des Heimischen
gesetzt, ist der Mensdr im Innersten seines Wesens der Un-
heimische. Und weil nur der Mensdr, zufolge des ihn allein1 Vgl. Wiederholung S. 116 ff. Keine blinde Vermessenheit.
112 Die Deutung des Menschenin Sophokles' ,4ntig,one
auszeichnenden Bezugs zum Seierrden, dergestalt unheimisc[sein kann, gehdrt zu seinem Wesen das Hijchste an Unhei6-lichkeit. (Die Auszeichnung, das Unheimlichste zu seia, bedeu-tet also nicht ein blo8es Mehr, eine mengenmiiBige Steigerul*des Unheimlichen liinsichtlich des sogenannten >Ausmu8"ruISo wiirden rvir die Bestimnrung, das Unheimlichste zu sein.htjchstens >amerikanisch< denken.) Weil nun aber im brLv6vauch liegt das Gewalthafte und Gewalttetige, kiinnte man rnei_nen, das 6erv6rarov bedeute so viel wie: Der Mensch sei dasgewalttiitigste Wesen irn Sinne des listenreichen Tieres, dasNietzsche die >blonde Bestie< und >das Raubtier< nennt. Dieseraubtierhafte unheimlichkeit des geschichtlichen Menschen i stjedoch eine dulJerste Abart und Wesensfolge einer verborgenenUnheimlichkeit, die in der Unheimischkeit griindet, welche Un-heimischkeit selbst wieder ihren verborgenen Gruncl hat imgegenwendigen Bezug des Seins zum Menschen.
I(eineswegs also macht der N{ensch sich selbst zum unheim-lichsten Seienden, gleichsam auf eigene Faust. Vielmehr istdies >auf eigene Faust< schon eine \&eise, wie das Sein selbstden Menschen in seinenr Wesen sein LiBt. sofern er sich diesemWesen zufolge stets zum Sein verhdlt. Kant hat einmal gesagt,der Mensch unterscheide sich dadurch von allem Vieh, dal3 er:>ich< sagen kiinne, d. h. ein Selbstbewu8tsein >>habe<. Diesespezifisde neuzeitliche Kennzeichnung des Menschen mu[Jdurch eine urspninglichere iiberwunden werden, die erkannthat, da8 der Mensch darin seine Auszeichnung vor allem an-deren Seienden hat, dalJ er >ist< sagen kann, daB er i iberhaupt>>sagen<< kann. Nur weil der Mensch sagen kann: oes istn, kanner auch sagen: >ich bin<, nicht umgekehrt. Und weil derMensch >ist< sagen kann, also den Bezug zum Sein >>hat<<,kann er iiberhaupt sagen, >hat< er das Wort, ist er !G2ov L6yov61ov.
Nun mag in einigen Hinsichten deutlicher geworden sein,rvarum hier das Delv6v und in welchem Sinne es mit >unheim-lich< iibersetzt wird. Das Wort, der Mensch sei das unheim-
Fortsetzung der Erliiuterung des Wesen..s der n6l,rq l77t
fichste Wesen, wi]l nic]rt sagen, dafJ er am meisten Furcht er-
regt und Schrecl<en einjagt. So rvdre das Unheimliihe lediglich
genommen als Eindruck, den es auf uns macht. Das Unheim-
l"iche will aber nicht eindruckshaft verstanden, sondern aus dem
Un-heimischen begriffen rverden, welches Unheimische der
Grundzug des Aufenthaltes des Mensdren inmitten des Seien-
den ist'
b) Das Offene
Dieser Aufenthaltscharakter des Mensdren aber griindet darin,
daB tiberhaupt das Sein sich dem Menschen geijf{net }rat und
dieses Offene ist, als welches Offene es den Menschen fiir sich
einnimmt und so dazu bestjrnrnt, in einer Stdtte zu sein. Wir
sprechen hier vom Offenen irn Hinblick auf das, was im rechtverstandenen Wort und Begriff d?'i1$er,cr, Unverborgenheit desSeienden, selbst gesagt ist. Das Seiende ist als lJnverborgenes
im Offenen. Dieses Offene hat seinem Wesensbegriff nach ei-nen eindeutigen und einzigen Bezug und Gehalt zu dem, wasim Anfang des abendliindischen Denkens erfahren wurde undfreilich alsbald als Gmnderfahrung verloren ging. Das so ver-standene Offene zu >>sehen.,, ist die Auszeichnung des Men-schen. Das Tier ist gerade dadurdr Tier, daB es das so verstan-dene Offene nicht sieht, und deshalb kann es audr nicht das>Ist<< und das Sein sagen, d. h. i iberhaupt nicht sagen. DasTier ist &lo1ov - ohne das Wort.z
Die Unheimliclikeit des Menschen hat ihr Wesen in der Un-heimischkeit, diese aber ist, was sie ist, nur dadurch, da8 der
? Wenn Rilkes achte Duineser Elegie beginnt: >Mit allen Augen sieht dieKreatur das Offene<<, dann ist nach dem Gesagten deutlich, daB unser aufdie ril,{Serc zeigender Begriff des Offenen, wenn er iiberhaupt mit RilkesWort vergleichbar ist, hiichstens das viillige Gegenteil zu diesem denkt. DerGrund des tief unwahren Wortes von Rilke ist derselbe, der die MetaphysikNietzsches triigt, welchen Grund rvir ungenau und schlagwortmii8ig als denni&tbewiiltigten Biologismus bezeidrnen kdnnen. Dieses nur beildufig, weildas gedankenlose Zusammenwerfen meines Denkens mit Rilkes Dichtungbereits zur Phrase geworden ist.
|t+ Die Deutung des Mensdzenin Sophokbs' Antigone
Mensdr iiberhaupt im Sein heimisch ist, d. h. nicht nur ,r4u"Offene sieht<, sondern, es sehend, in ihm steht.
Die so verstandene in der Un-heimischkeit wurzelnde Un-heimlichkeit des Menschen wird im Chorlied diihterisch qi1dem Wort Der,v6v genannt, aber ni&t denkerisch entfaltet.Weil dieses unheirnische Wesen der Unheimlichkeit auch inner_halb des dichterischen Sagens nur ahnungsweise, wenn auchentschieden ans Licht komrnt, bleibt die so begriffene Unheih_lichkeit in aller nachfolgenden abendldndischen Bestimmungdes Mensihen in dem kaum Sagbaren verschlossen. Und weilnun gar seit der Neuzeit das Sein iiberhaupt und der Menschund der Bezug zwischen beiden als >Bewu8tsein<< und ausdem >Selbstbewu8tsein< gedacht werden, riickt alles, was nichtin der Rechnung der Bewu8theit aufgeht, in die dadur&. erstgesetzte Sphdre des UnbewuBten und des der BewuBtheit(ratio) Unzuglingli&en. Auf diesen fatalen neuzeitlich-meta-physischen Begriff des >UnbewrrBten<< geht das zuriic,k, wasRilke das Offene nennt. Dieses >>Irrationale< bleibt als >Domd-ne<< dem Gefiihl und Instinkt vorbehalten. Das 0er,v6v kannso nur als das eindruckshaft genommene Gewaltige, IJngeheu-re und Unheimliche erscheinen. Vielleicht hat diese dem ge-w6hniichen Meinen ausschlie8lich naheliegende Deutung des6er.v6v dazu gefiihrt, die eigentliche didnterische Wahrheit desChorgesanges zu verkennen, und zwar so sehr zu verkennen,da8 sie nicht dort gesu&t wird, wo sie allein gefunden werdenkann. Die Wahrheit des Chorgesanges ersihiipft sich keines-wegs in der Aussage, der Mensch sei das Unheimlichste im Un-heimliihen und nichts au3erdem. Zwar sieht es so aus, als niih-men die ersten Verse des Gesanges in der Tat zum voraus dieganze Wahrheit des Gesanges in dieses Eine zusammen:
Vielf?iltig das Unheimliche, nichts do&iiber den Menschen hinaus Unheimlicheres ragend sich regt.
fi . Die V er sto lJung de s M enschen als des unheimlichsten
Seienden.
(Der Bezug des Schlupwortes zurn einleitenden Wort des
Chorgesanges.)
B;lrnger- wir das SchluBwort des Gesanges in den unmittelba-
ten Bezug zum Beginn, dan'l zeigt sich, daB das SchluBwort
eine Verwerfung und VerstoBung des Menschen als des un-
heimlichsten Seieuden ausspricht. Damit wird doch gerade im
S&luBwort das Wort des Beginns bestitigt, daB nichts Un-
heimlicheres sei als der Mensch. Also liegt das entsdreidende
Wort des Chorgesanges doch darin, da8 er diese Wahrheit iber
den Menschen ausspricht, niimlidr das Unheimlichste alles Un-
heimlichen zu sein.
Allerdings nimmt das SchluBwort auf den >unheimlichen<
Menschen Bezug. Aber es ist ntitig zu fragen, weldrer Art der
Bezug sei und wie das SchiuBwort sich zum einleitenden Wort
des Chorgesanges verhalte.l
p{r'tpoi nog6oaog.l6vorto p{t'ioov gqovdrv 8E t60' dp6ot.
Nicht werde dem Herde ein Trauter mir der,
nicht aueh teile mit mir sein Wdhnen mein Wissen,
der dieses fi.ihret ins Werk.
Ein zweimaliges p{te spricht dieses SchluBwort: Nicht werde
er dem Herde ein Trauter, >nicht audr<< teile er mit mir -'
Dieses >Nicht< ist eine Verwerfung. Wir hiiren es sogleich
deutlicher: Die Verwerfung ist eine Versto8ung vom Herde'
Wer wird hier verstoBen? Von welchem Herde wird der Ver-
worfene ferngehalten? Wer verwirft hier? Wer ist am Herde?
Und was ist der Herd?
Man kann sich diese Fragen sehr einfach beantworten und
damit kundtun, daB es keine ernsthaften, fragwiirdigen Fra-
gen sind. Wer hier als der Unheimlichste verstoBen wird durch
1 Vel. S.75 f.
716 Die Deutung des Menschen in Sophohles, Antigone
den Chor der thebanischen Altesten, Iiegt klar am T"o ^ist Kreon, der Herrscher im Staat. Von der 116l.19 i51 i":.:ut
unmittelbar voraufgehenden Strophe auc-h ai" n"a".'^il.Wort: Nichts Unheimlicheres gibt es als den M"rr"h"n. **"]leben dann nur, da8 im Geschlecht der MensA""
"i"in"'",1t-leinzelne den hiichsten Grad der Unheimlichkeit, d. h. i;;:'waittatigkeit und des ubermutes erreichen
""d dud"r.h tiili.
haupt in den Bezirk des IJnheimiichen hineinreiche", d"B ;;;>sonst<( und gewiihnlich der Mensch doch ein gutmiitiges Gi-schiipf und ein harmloses wesen sei, vollends wenn er ."".a*rj-los geartet ist wie diese Antigone, die der bijse Kreon i" ;;;Tod sdriikt, weil sie sein Gebot, ihren Brude, poly."ik". u'lbestattet zu lassen, iibertreten hat.
Diese in der Tat allerdings harmlose Auslegung der Anti_gone-Tragiidie setzt voraus, da8 die Antigone, die doch auchein Mensch ist, aulJerhalb des Bezirkes des 6er,v6v bleibt. Aufsie trifft das Wort des Chorgesanges nicht zu. Die Frage, obdiese Ansicht die wesentliche wahrheit der Tragiidie ,r.r,l au-mit audr die wahrheit des chorgesanges fafit oder verfehrt,liiBt sicle offenbar nur durch eine Auslegung der ganzen Dich-tung beantworten. Allein, wir brauchen hier fiese Aufgabenicht zu iibernehmen. Es gentigt, wenn wir ein Wort derAntigone selbst vernehmen, und zwar ein Wort, das sie in jenerZwiesprache mit der Schwester Ismene sagt, die ,:las Ganze clerTragiidie einleitet. Genau beachtet ist das wort der Antigoneihr letztes Wort in dieser Zwiesprache, der das Chorliecl erstspdter folgt und die es also auch mit im Sinn hat.
lViederholung
>Uberallhinausfahrend unterwegs, erfahrungslos ohneAuswegkommt er zunl Nichts.<
pieVerstoBung, des }\llenschen aLs des Unheimlichsten
>Hochiiberragend die Stdtte, verlustig der Stdtte ist er
dem immer das Unseiende seiend
der Wagnis zugunsten' <<
n:a beiden Worte nennen das Unheimische des Menschen, und
-J^, in dem Sinne, daB der Mensch im jeweiligen Seiendeu,
i"s "t
ub"kommt<( und >in die Hand< bekommt, gerade nie
,r r"in"m Wesen kommt. Das zweite Wort nennt den eigent-
iien Bereich. innerhalb dessen der Mensch iiberall umher-
f"ht"od zu keiner Erfahrung kommt. Die r6hg ist inmitten
des Seienden die offene Stiitte alles Seienden' das sich hier zu
reiner Einheit sammelt, weil die r6l'tg der Grund dieser Ein-
beit ist und in diesen Grrnd zuriickreicht' Die 116)'r'g ist kein
besonderer oder abgesonderter Bezirk der Tdtigkeit des Men-
sdren. DaB alles Tun und Lassen des geschichtliihen Men-
sc,hen nach allen Hinsichten in der n6l6 seine Stdtte, den Ort
der Hingehiirigkeit hat, darf aber nicht mit der gesdrichtlidr
ganz anders gearteteu modernen >Totalitdt<< des >Politischen<<
zusarnmengeworfen werden. So wird nur das Griechische durch
das Moderne, aber auch das Moderne durch das Griechische
verfdlscht.Weil das neuzeitliche Denken alles Seiende vom BewuBt-
sein aus begreift, wird neuzeitlich alle Geschichte >historisch<
begriffen, d. h. nade der Art und Weise, wie sie im Bewu8tsein(der Erkundung) des Mensdren steht. Dieses Bewu8tsein istjedoch als Selbstbewu8tsein darauf aus, seiner selbst und da-mit ailes erfahrbaren Seienden unbedingt gewi8 zu sein. Diema8gebende Grundgestalt dieser GewiBheit ist die Uberseh-barkeit und Unbezweifelbarkeit alles Berechenbaren und Plan-baren. Das Bewu8tsein, das der Gesdrichte gewi8 sein will,mu8 daher das planende-handelnde Bewu8tsein sein. Die neu-zeitli&e Grundform, in der das spezifisde neuzeitliche sich aufsich selbst stellende SelbstbewuBtsein des Menschen alles Sei-ende ordnet, ist der Staat. Deshalb wird das >Politische<< zurrnaBgebenden SelbstgewiBheit des historischen BewuBtseins.
I t7
118 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
Das Politische bestimmt siih aus der bewgfitseinsmdfiig begrif-fenen, d. h. utedrnisch< erfahrenen Geschiihte. Das >politi-sihe<< ist der Vollzug der Geschichte. Weil so das Politische diutechnisih-historische Grundgewi8heit alles Handelns ist, v,rl1ddas >Politische<< durch die unbedingte Fraglosigkeit seinerselbst ausgezeichnet. Die Fraglosigkeit des >Politis&en< p14seine Totalitiit gehiiren zusammen. Der Grund dieser Zusam_mengehiirigkeit und ihr Bestand beruht aber nicht,'wie naiveGemiiter glauben, auf der zufdlligen Willkiir von Diktatoren,sondern sie griindet im metaphysischen lVesen der neuzeitli-chen Wirklichkeit iiberhaupt. Diese aber ist grundverschiedenvom Sein, in dem und aus dem das Griechentum geschichtlichwar. F'iir die Griechen ist die n6fug das schleihthin Fragwiir-dige. Fiir das neuzeitliche Bewu8tsein ist das >Poiitische< dasnotwendig und unbedingt Fraglose. Die Art, wie fiir die Grie-chen die a6l.r,g die Mitte des Seienden ist, bedeutet etwas viilliganderes als der unbedingte Vorrang der neuzeitlichen >Totalit2it des Politischen<. (Wie unbedingt dieser metaphysisch be-griiudete Vorrang >des Politischen.. gilt, zeigt sich darin, da8z. B. die kuriale Herrschaft der katholischen Kir&e sich ldngstdiese moderne politische Herrschaftsform angeeignet hat undzu behaupten versucht.)
Weil die r6hE die St?itte des Seienden ist, enthdlt sie auihdie weitesten Ausschldge der Miiglichkeiten allen menschliclenVerhaltens zum Seienden und damit des Unheimischseins. DerGrund fiir dieses offenbart sich aber darin, daB der Menschdas Seiende fiir unseiend und das Unseiende fiir das Seiendenehr.en kann, welche Miigli&keit mit der r6l.pc, mit der Wag-nis, in gewisser Weise zur Notwendigkeit wird. In der Wagnisaber wagt der Mensch niiht nur dieses und jenes, er wagt da-bei immer auch und zuerst sich selbst, und zwar nicht nur sichals Einzelnen, sondern sich im Wesen. Erst wenn wir nach die-ser Richtung denken, treffen wir auf das eigentliche Wesen desUnheimischseins.
DaB im Wort 6elv6v, genauer im Wort vom Menschen als
DieVerstolJung des Meruchen als des Unheimlichsten 119
aero Unheimlichsten, dieses unheimisdee Wesen des Mensihen
o"darht und geahnt ist, l6Bt si& aus dem Wort 6erv6v gerade-
?"g, oi" ablesen. Selbst nicht einmal die Auslegung des Chor-
leJes braucht notwendig einen Einblick in das unheimische
Wesen der Unheimli&keit des Menschen zu eriiffnen. Versteht
loan niimlich, was ja stets audr ri&tig bleibt, das 6erv6v zum
voraus und nur im Sinne des Ungewiihnlidren und Ungemei-
nen, dann zeigt sich dieses Chorlied in einem ganz anderen
Licht. Die Mehrdeutigkeit des Eelv6v und das Unbestimrnfs
dieser Mehrdeutigkeit ist der Grund fiir fie Mannigfaltigkeit
der Auslegungen dieses Chorliedes und fiir die Art, wie das
SchluBwort gedacht oder einfach als Selbstverstdndlichkeit
iibergangen wird.
Eine neuere Deutung der sophokleischen Tragiidie meint:
>Man ka'ttt das Ganze als das Hohelied der Kultur bezeiih-
nen.<< Man miisse freilich im Sinne des Dideters auch beachten,
daB zur >Kultur<< die >Religion<< gehiire r:nd in dieser allein
den Bestand habe. Aus solcher Ansicht wird dann sogleich klar,
da8 Antigone gegeniiber den >>\Merten<< >>Kultur<< und >>Staat<<
den >>Wert<< >Religion< vertritt. Solche Auslegungen kij..en
nicht verwundern, wenn man bemerkt, daB sie neben vielen
anderen aude >Luther<< zuhilfe rufen, um einen Sinn in dergrieihischen Tragtidie zu finden. Es wdre nu:r eine billige Be-
s&tiftigung, solches Vorgehen und solche Ansichten umstdnd-Iic.h zu >>widerlegen< und dabei fie eigene Meinung als dieallein richtige )>gldnzen<( zu lassen.
Dieser Hinweis auf die Mdglichkeit mannigfaltiger Deutun-gen ist niitig, um erkennen zu lassen, wie fern wir alle diesergtie&ischen Dichtung stehen und wie wenig wir von denGrundbedingungen wissen, deren Erfiillung allein uns fieWahrheit dieser Dichtung ahnen l2iBt. Damit wir uns dieserWahrheit ndhern, geniigt es iiberall nicht, da8 wir uns nuran unsere geliiufigen Vorstellungen vom Menschen und derWelt halten r::ed sie gelegentlich durch fie Beiziehung der mo-demen >Anthropologie<. und >Existenzphilosophie< >>vertie-
120 Die Deutung des Menschen in Soplrckles' Antigone
fen<. So bliebe uns das Abgriindige und Hintergriindige updMehrdeutige des griechisch erfahrenen Seins verborgen.
Wir miissen darauf gefa0t bleiben, da8 die r,vesentlicheWahrheit hier sich nicht auf irgendeine Formel bringen lii8t.Die neuzeitliche Vorstellung vom Menschen als einer >Persijn-lichkeit<, und d. h. als eines vom Selbstbewufitsein her be-stimmten Subjektes, liiBt uns auch in der dramatisch-dichte-rischen Menschendarstellung iiberali das Auftreten von sogc-nannten >Charakteren<< erwarten oder von >Typen<<, dene4man jeweils eine psychologische Formel zuordnet, in der dannihre >Eigenart< {estgehalten ist. In den Fesseln dieser Denk-weise denken wir jedoch im Hinblick auf die griechischen Tra-gtidien des Aischylos und Sophokles iiberall zu kurz. lJnsereDeutungen versagen daher vollends, wenn gar noch ein Chor-lied von der Art des jetzt zu bedenkenden zu uns sprechen soll.Denn auch dann nodr, wenn wir uns weit abstellen von derMeinung, die aus diesem Chorlied den Lobpreis des Aufstiegesdes Menschen vom einfachen Jagersmann bis zum >>Staaten-Ienker<< und zur rkulturschaffenden Persiinlichkeit< heraus-hdrt, auch dann, wenn uns das Wort am Beginn des Chorge-sanges anders trifft und solche modernen Ansichten zunichtemacht, auch dann bleibt die Frage, was diese Dichtung sagt.I)ie Frage enthiillt erst ihr Gewicht, wenn wir das SchluBwortdes Chorliedes bedenken.
Nicht werde dem Herde ein Trauter rnir der,nicht audr teile mit mir sein Wdhnen mein Wissen,der dieses fiihret ins Werk.
Das Wort spricht in einem zweimaligen >>nicht< und >>nein<eine Verwerfung aus, und zwar die Verwerfung des Menschen,der zuvor als der Unheimlichste offenbar wurde. Wen trifftdiese Venverfung? Wer sagt die Verstofiung vom Herde? Auswelcher Befugnis ist sie gesprochen?
Die einfachste Liisung der Schwierigkeiten ist die, da8 man>>erkld.rt<, der Chor sei von den thebanischen Alten gesprochen.
Die VerstoBung des Menschen ak des Unheimlichsten 721
piese rvollen von allem Ungemeinen nichts wissen und gleich-
saul >)ihre Ruhe< haben. Nach dieser Deutung des Schlu8wor-
tes ware das Chorlied dann nicht >das Hohelied der Kultur<,
sondern der Lobgesang auf die MittelmiiBigkeit und der HaB-
gesartg gegen die Ausnahme. Ein Urteil iiber diese Deutung
ist schwieriger als es scheinen mag; denn dieser Chor spielt im
Ganzen der Tragcidie und vor allem da, wo er in die Reden
6d Gegenreden unmittelbar eingreift, eine sehr merkwiirdige,
unentschiedene, schrvankende Rolle. Allein, trolz all solchen
Verhaltens, das in seiner Art einheitlich noch nicht hinreichend
gedeutet ist, bleibt doch dies Eine klar: gesetzt, in diesem
Chorgesang spreche die allem Wesenhaften ausweichende
Mittelma8igkeit des Menschen, dann kijnnten hier nicht zu-
gleich von denseiben Mittelma8igen die tiefsten Einsichten in
das Menschenwesen, und zwar in dieser Hijhe des Wissens und
in dieser lViirde des Sagens ausgesprochen werden. Dem Dich-
ter Sophokles diirfen wir eine solche Stilwidrigkeit nicht auf-biirden. Wir miissen das SchluBwort des Chorgesanges unddieses zuallererst in dem Bereich des Sagens festhalten, der sichuns ertjffnet hat. Dann freilich ist die erste Frage zur Erldu-terung des Schlu8wortes die, ob durch diese VerstoBung vomHerde auch die Gestalt der Antigone getroffen wird. Die Beant-wortung dieser Frage hiingt davon ab, ob Antigone in das dar-gestellte Wesen des Menschen gehiirt oder ob sie davon aus-genommen ist. Steht die Antigone au8erhalb des Bezuges zum6eLv6v? Soll gar diese Tragijdie gerade eine Gestalt zeigen, dievom berv6v unberiihrt und unberiihrbar ist? Denken wir jetztauch nur fliichtig an das vieldeutige Wesen des 6er.v6v, dann er-kennen wir leicht, da8 die Antwort auf diese Fragen sich darnachbestimmt, welchen Grundzug des 0er,v6v man im Auge hat,ob einen einzelnen oder alle, ob aile nicht nur zusammen, son-dern aus ihrem Grunde. Doch wir htiren zuerst auf das, wasAntigone selbst, und zwar in der einleitenden Zwiesprache mitder Schwester Ismene sagt.
I22 Die Deutung des Menschen in Sophohles' Antigone
17. Die einleitende Zwiesprache uon Antigone und lsmene
Wovon spricht die einleitende Zwiesprache der beiden Schwe-stern? Was ist geschehen? Die Briider der beiden Schwestern,Eteokles und Polyneikes, sind im eigenen Zweikampf gefallen.
Eteokles hat zuvor den Polyneikes aus der gemeinsamen Hei-matstadt Theben vertrieben. Polyneikes ist aber darnach rqileiner neu gesamnr.elten Streitmacht unter sieben Fiihrem ge-gen Theben gezogen. Kreon, der Bruder ihrer Mutter Jokaste,
der nach dem Tod der beiden Briider die Herrschaft in Theben
iibernommen hat, liiBt den Eteokles feierlich bestatten undverbietet zugleich bei Todesstrafe die Bestattung des Polynei-
kes. Antigone aber ist bei siih entsddeden, gegen dieses Verbotzu handeln. Sie glaubt, in diesem >Willen< eines Sinnes mitder Schwester zu sein. In dem einleitenden Gesprdch iedochversucht Ismene, die Schwester von ihrem Entsch-Iu8 abzubrin-
gen. Wir hijren hier nur die letzten lVechselreden, in denen
Haltung und Wesen der beiden Schwestern in einer sich stei-gernden Helle offenbar werden.
Hinsichtlich der Ubersetzung sei an friiher Gesagtes erinnert.Wenngleich die deutsche Sprache oft eher denn jede andere dieKraft des Ubersetzens des griechischen Wortes in sich birgt, hier,
ndmlich in Jer Ubertragung des Wechselgesprdches, hiingt je-
der Versuch der Ubertragung weit zuriick hinter dem griechi-
schen Wort. Auch Htjlderlins Ubertragung bleibt hier, mag sie
auch wie stets das Element des Edlen bewahren, merklich fern
von der plastischen, strengen und doc-h nicht harten Fiigung derReden und Gegenreden. Zuweilen trifft sie iiberhaupt nicht das
Wesentliche. Wort und Gegenwort der beiden Schwesteln ist
hier wie das Begegnen zweier Schwerter, deren Schdrfe, Glanz
und Wucht wir erfahren miissen, um etwas von dem Blitz z.rt
vernehmen, der aus ihrem Ineinanderschlagen leuchtet.
Wir hiiren jetzt nur die letzten Wechselreden des Gesprdchs
V. 88 ff. Ismene sagt zur Schwester im Hinblick auf deren Ent-
schiedenheit zur Ehrung des unbestatteten Bruders:
Die Zu;iesprache uon Antigone und Ismene
J. geqpdv Bni rlrulqoior tagDiov d7,etg.
r23
Ein heiBes, doch den Kalten (Toten) zugewandtes Herz
hast du.
A. 1iI7" o10'dg6oxouo' oig pritrlo$'&Deiv pe zqpf .
Doch wei0 idr, von woher gegrii8t, arn hijchsten zugefallen
mir die Not.
l. ei xai Duvflol y" dl),'&pqldvorv ig{E.
lVenn audr du viel vermagst, doch steht, wogegen
auszurichten nichts, darauf dein Sinn.
[. orixotv, iitav bi1 pd o$6vol, neno,6oopo,u.
Warum nicht dann, wenn offenbar ist, da8 die Kralt mir
schwindet, wird auch die Ruhe schon um mich gedeihn.
I. riqxilv 6d r)4gdv ori rgr6neL tdprllava.
Als Anfang aber jenes zu erjagen, unschicklich bleibt's,wogegen auszurichten nichts.
A. ei tsiro l6[eLE, i1$aqfr pAv i[ Bpo[,d10qd 6i tQ rlav6vrr rqooxeioll Dizq.ril'],' 6cr pe rcoi rilv 6E dpot 6uoporrl,lo,vno$eiv rd Esrvdv rotro' nelooplo,r, 1dp oritoootlov orl0Av rbore pl ori xc1,6g Saveiv.
Wenn dies du sagst, im HaB stehst du, der mir entstamrnt,im HaB auch trittst entgegen du dem Toten, wie sic-h'sschickt.Doch iiberla8 dies mir und jenem, was aus mir Gefdhrlich-Schweres rd.t:ins eigne Wesen aufzunehmen das Unheimliche, das jetzt
und hier erscheint.Erfahren niimlich werd'ich allenthalben Solches nichts,da8 nicht zum Sein gehiiren mufi mein Sterben.
I. d).),' ei 6oxei oor, oreile 'roito D'io"$', 6rr.dvouE p6v dp11, roig qilotg 6'6q$6E qih.
Doch lvenn's dir so erscheint, dann geh! Dies aber wisse, da8
72+ Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
ohn Wahrheit bei dir selbst du gehst, den Freunden {reilichwahrhaft Freundin bieibst.
Dieses sehr hintergriindige Wort der Ismene schlie8t das Zrvie.gesprdch der Schwestern ab. Das unmittelbar voraufgehendeWort der Ismene ist jedoch dasjenige, worin sich alles sammell,was in diesern Zwiegesprd.ch ans erste Licht kommen soll. Undwas so gleich am Beginn, obzwar noch unbegriffen, crscheine4muB, das ist nichts anderes als das Wesen der Antigone. IJasvorletzte Wort der Ismene in diesem Gesprdch lautet:
L dqlitv Di S4q&v oi rg6nel rdpfllovo.
AJs Anfang aber jenes zu erjagen, unschicklich bleibt's,
wo gegen auszuridrten nichts.
Zur Verdeutlichung dieses Wortes bedarf es einiger Hinweiseauf den Bau des ganzen Verses, dem Ahnliches wir in aller
Dichtung sonst vergeblich suchen. Am betonten Beginn steht:dg1f1v und am gleichbetonten Versende: r&pf1crvc.
tdpfllavu - das, wogegen nichts auszurichten ist und was da-
her selbst das schlechthin Unausrichtbare bleibt. Dies aber ist
das Zu-geschickte, das Geschick und sein Wesensgrund. Den-ken wir den Vers vom Ende her, dann sagt der Spruch, das
Unausrichtbare zum alles bestimmenden Anfang (Ursprung)
alles menschlichen Seins zu machen, ist ni<iht schicklich. Nun
wird im Bau des Spruihes eben dieses, daB es unschicklichbleibt, zwisihen die wesentlichen \{orte am Beginn und Endcgeriickt, so daB dieses Unschicklichsein die Spannung triigt, diei- Vers siih zwischen das ljnvereinbare &pxi und rdpflavo legt.
Ein deutscher Dichter miiBte diesen Spruch in seinem erstaun-lichen Gefi.ige sagen kiinnen. lJnsere Ubersetzung ist nur ein
schwerfdlliger Notbehelf, dem allein an der Verdeutlichung des
Wortes liegt.
Als Anfang aber jenes zu erjagen, unschicklich bleibt's,wogegen auszurichten nichts.
Die Zutesprache uon Antigone und Isrnene r25
Nur um die Schwierigkeit der Ubertragung und dercn Ferne
ee4 urspriinglichen Wort anz.udeuten, sei Hijlderlins Uberset-
zung dieses Verses angefiihrt:
Gleich Anfangs muB Niemand Unthunliches jagen (V, 191).
Diese Ubersetzung trifft das Wesentliche niiht, trotz ihres
di&terischen Charakters. &g1f bedeutet das, wovon etwas aus-
geht, so zwar, da8 das, wovon etwas ausgeht, nicht zuriick-
bleibt, sondern iiber alles hinweg, was von ihrn ausgeht, vor-
auswaltet und es bestimrnt. dgxt bedeutet zumal Beginn. Aus-
gang, Ursprun€T, Herrschaft. Zwar kann dp14 fiir sich genom-
1nen sehr oft nur soviel bedeuten wie >gleich anfangs<< und
>zundc-hst<. So driickt das Wort nur die Ordnung einer Ab-
folge aus. Allein, im Wort der Ismene ist doch dqliv im Hin-
blick auf tdp{11trva, das lJnausrichtbare, gesagt, d. h. auf jenes,
woriiber der Mensch keine Herrschali und Verfiigung hat.
Und zu alldem steht das Wort hier in einem dichterischen
Zusammenhang. Es hat daher aus vielerlei Griinden nicht die
Bedeutung, die ihm in der Alltagsspradre zukommen kann.
Das dq7,i1v, in der bloB >zeitlichen< Bedeutung genommen,
wiirde aul3erdem den >rmerkwiirdigen< Sinn, d. h. IJnsinn er-geben, im Beginn das lJnausrichtbare zu erjagen, zieme sichnicht, aber spdter und am Ende kiinnte das wohl erlaubt sein.Eine andere neuere Ubersetzung zieht offenbar das or3 im Verszu dp1{v und versteht dieses im Sinne von dg1{v ori, was be-deutet: iiberhaupt >nicht< - niimlich geziemt es sich, das Un-ausfiihrbare zu er-streben. Die Ubersetzung des Verses lautetdemzufolge:
Nfan soll nicht jagen nach Unrniiglideem.
Das ist ein Gemeinplatz ohne jeden Bezug zu dem, was im Ge-spriich zum Wort kommt; gleidr als sei Haltung und Verhai-ten der Antigone irgendein beliebiges menschlidres Tun, aufdas >>man.< allgemeine >>Lebensregeln.< anwendet. Gleich alssei das, worauf Antigones >>Jagen< geht, niiht tdp{1ova. Das,
126 Die Deutung des MenscJtenin Sophoklcs' Antigone
wogegen nichts - im Wesen nichts - auszurichten ist, td dp{1cvo,
ist d.as, was allem jenem pclav6ev widersteht, das als das Ge-
mache des iiberallhin ausfahrenden Menschen ausdriicklich in
der zweiten Gegenstrophe des Chorliedes genannt ist' Gleich
als sei das lJnausrichtbarc, wozu Antigone entschieden ist, eil
beliebiges Unmtigliches und nicht vielmehr das, 'rvas den toten
Bruder angeht, das Gesetz der Toten und damit das Grundge-
setz der Lebenden. Gleich als miiBte nidrt unmittelbar durc|
die Ilntschiedenheit zum ljnausrichtbaren dieses auch schon
zum beherrsdrenden Ausgang alles I'Iandelns geworden sein.
Wir kijnnen, gesetzt, da8 wir das Wort im Zusammenhang des
Gesprdchs und dieses Gesprdch als wesentliches Vorspiel der
garrzer. Dichtung in Geltung lassen, iiberhaupt nicht anders
iibersetzen, als so, wie wir es derrr Sinn nach versuchen'
Das oi gehiirt dorthin, wo es steht, zu nq6ret' Und dieses
Wort hat hier, wo das Unausrichtbare genannt ist, audr die
Bedeutung, die ihm die griechische Sprache zuweist' td ng6nov
ist das Schickliche im wesentlichen Sinne' das was im Gesetz
dcs Sejns gefiigt und verfiigt ist. oi rg6ner, unschicklich - ge€ren
das Schickliche - bleibt es' ndmlich das $1gdv, das Eriagen des-
sen, wogegen im Wesen nichts auszurichten, weil es das Zu-
geschickte und Schickliche ist. Wir wiirden, gleich wie beim
Wort tdpllxav<r. die Bezilge dieses Verses zur verborgenen
Wahrheit der ganzen Dichtung verkennen, wollten wir iiber-
sehen, daB in der ersten Gegenstrophe des Chorliedes eigens
vom r}1gdv, vom Jagen gesagt wird. Das Wort der Ismene
ist erfiillt vom Anklang an das Wesentliche der ganzen Dich'
tung. Aber der kiinstlerisch-dicliterische Rang dieses Verses
iiegt nicht allein in seinem Gehalt und im diesem gemdlJen
Ba.:r, ,ondern zugleich darin. da8 mit diesem Wofi fsmene das
Wesen d.er Antigone mittelbar ausspricht, d. h' so' dafi Anti-
gone in der Entgegnung das von der Schwester Verneinte be'
jaht .ei ratta 1.6!e6, 81rlaqfr trriv d[ 3po6'
ix0pd 0i tQ 0nv6vc ngooxeloq 6[x1'
\
Die Zuiesprache uon Antigone und Ismene I27
Wenn dies du sagst, im HaB stehst du, der mir entstammt,
im HaB auch trittst entgegen du dem Toten, wie sich's schickt.
Damit iibernimmt Antigone dies in ihr eigenstes Wesen, ndm-
Dch als den alles beherrschenden Ausgang das zu erjagen, wo-
gegen auszurichten nichts. Sollte das Wort der Ismene nur den
Gemeinplat'L zurn besten geben, man diirfe nichts Unm<igli-
&es wollen, dann wdre nicht einzusehen, weshalb das Fest-
halten an einer Lebensklugheit den HaB der Schwester, ja so-
gar den HaB des toten Bruders erwecken sollte. Auch wiirden
wir die Gestalt der Antigone herabsetzen, wollten lvir unter-
stellen, Ismene ahnte iiberhaupt nidrts von dem, wozu die
Sdrwester entschieden ist, trsmene spielte, modern gedadrt, die
Rolle der Ahnungslosen und Naiven. Was zur Entsdreidung
steht, ist beiden klar, wenngleich in einer verschiedenen Art
des Wissens.
a) Das Wesen der Antigone - das hijchste
Unheimlidre. narleiv td 6erv6v
Antigone weiB, daB ihr niemand die Entsdeeidung abnehmen
kann und daB sie sich in nichts absdrwdihen l?iBt. Daher sagt
sie im unvermittelten Ubergang vom harten Wort zur Milde
dieses:
- d].),' 6o pe xai rlv i! Bpoi 0uoBoutrlav
dode iiberlaB dies mir und ienem, was aus mir Gefiihrlidr-
Schweres rdt.
Und wohin geht dieser Rat?
nq,Seiv rd beLvdv roiro'ins eigne Wesen aufzunehmen das Unheimliche, das jetzt
und hier erscheint.
So fiillt das entscheidende Wort: rd 6erv6v. Es ist das dritteWort, aber das Kern-Wort, das innerhalb der kurzen Wechsel-rede unmittelbar in das Chorlied verweist. ro,rleiv td 6etv6v.Itq'Seiv erleiden, ertragen. Darin liegt zundchst, daB das Unhei-
t28 Die Deutung des Menschen in Sophokles, Antigone
mische nichts ist, was der Mensch selbst macht, sondern was um-gekehrt ihn macht zu dem, was er ist und der er sein kann.na0eiv bedeutet hier jedoch nicht die blo8e >passivitdt< clesHinnehmens und Duldens, sondern das Aufsichnehmen - dQl.qu0d rlrlgdv, das Durchmachen bis zum Ende: das eigentliche Er_fahren. Dieses norleiv - das Erfahren des 6erv6v, dieses Erlei-den und Leiden ist der Gmndzug jenes Tuns und Handelns:rd 6pd,pc, was das >Dramatisihe<<, die >Handlung< der griechi_schen Tragiidie ausmadrt. Doch eben dieses nrr$eiv ist auch dereigentliche Bezug zum 6erv6v, dieses Wort in seiner ganzenWesensfiille und rd tselhaft en Mehrdeutigkeit genommen.
In der griechischen Tragiidie sind die >>llelden< und >Hel-dinnen<<, wenn wir iiberhaupt dies Wort gebrauchen diirfen- weder >Dulder< noch >Mdrtyrer<< im christlichen Sinne, nochdie oft rnit viel Getiise und Aufwand daherfahrenden >>Herren.,im neuzeitlichen dramatischen Kunstwerk. >Das Tragische<bemi8t sich nidrt, wie der moderne Mensch meint, nach derpsychologisch >erlebbaren<< LeidenschaftIichkeit der genialenPersijnlichkeit, sondern nach der Wahrheit des Seins im Gan-zen und nach der Einfachheit, in der es erscheint. Deshalb ge-schieht in der griechischen Tragddie fast nichts. Sie fiingr an mitdem Untergang. lVas ist dieses >IJnheimliche<, worin Anti-gone sich endgiiltig beraten wei8 durch einen Rat, dessen Dii-sternis und Gef?ihrlichkeit und Schwere sie kennt? Das Un-heimliche ist nichts anderes als dieses, daB sie zum alles be-stimmenden Ausgang jenes nimmt, wogegen nichts auszurich-ten ist, weil es das Zu-geschickte-Ersdreinen (dqdvq , V. 4ST)ist, von dem keiner wei8, woher es aufgegangen. Indem sie indieses sich schickt (no0eiv), wird Antigone aus allen mensch-lichen Miiglichkeiten herausgesetzt und in den unmittelbarenWiderstreit zur Stdtte alles Seienden und in die Aufhebungdes Bestandes des eigenen Lebens gesetzt. Antigone ist im Un-heimischen in einer Weise, die jedes andere Unheimischseiniibertrifft. Sie iiberragt die St?itte alles Seienden nicht nur wieKreon, der innerhalb ihrer in seiner Weise hochragt, sondern
Die Zwiesprache uon Antigone und Ismene r29
f,ntigone tritt sogar und iiberhaupt aus dieser Statte heraus.
Sie ist unheimisch schlechthin. rd 6er.vdv Totro - dies Unheim-
liche, das Antigone auf sich nimmt, ist keineswegs das Furcht-
bare und Ungewiihnliche des friihen Todes, den zu erfahren
sie als Gewi8heit vor sich sieht, denn ilrr Sterben ist ja, wenn
ss iiberhaupt etwas ist, das, was das xatrdlE ausmacht, die Zu-
gehiirigkeit zum Sein. Ihr Sterben ist ihr Heimisdrwerden,
aber das Heimischwerden in jenem und aus jenem Un-
I eimischsein. Dies Heimischwerden diirfen wir weder christ-
tch mil3deuten, noch das zalr6g 0q,veiv in das kitschige >in
Schiinheit sterben < verf dlschen.
Riihrt das jetzt Vermerkte an die verborgene Wahrheit die-
ser griechischen Tragddie, dann ist Antigone nicht nur auch
ein 6erv6v. Sie gehiirt als menschliches Wesen nicht nur auch
zum Unheimlichsten, was innerhalb des Seienden ragend sich
regt, sondern Antigone ist innerhalb des Unheimlichsten das
hiichste Unheimliche. Aber gibt es denn innerhalb dessen, wasan sich schon das Unheimlichste ist, iiberhaupt noch eine Stei-gerung? GewilJ - wenn wir die Steigerung nicht quantitativ,
sondern wesenhaft denken und wenn wir das unheimlidrsteSeiende aus seinem trVesen begreifen: da8 ndmlich jenes dasunheimlichste Seiende ist, was in sich unheimisch ist. Aberdieses Un-heimischsein und eben dieses trdgt dann noch ein-mal Mtiglichkeiten denSteigerung( in side. Wie, wenn daszuinnerst Unheimische, allem Heimischen also Fernste, jenes
wdre, was in sich zugleich die innigste Zugehiirigkeit zum Hei-mischen bewahrt? Wie, wenn iiberhaupt nur dieses im eigent-lichen Sinne unheimisch sein kiinnte? Doch was ist hier dasHeimische? Wir miissen zuvor anderes kldren.
Wenn nimlich jetzt Antigone der unheimischste Mensch ist,und somit das Unheimlidrste alles Unheimlichsten, dann wirddoch sie zuerst vom Schlufiwort des Chores getroffen. Gilt dannnicht ihr die Versto8ung zuerst? Dieses Schiu8wort beruft sichauf einen Herd, von dem das unheimlichste Seiende versto8enbleiben soll.
130 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
b) Die N4ehrdeutigkeit der Dichtung
Schon in diesen wenigen Hinweisen auf wesentliche Worte die-ser Dichtung ist uns jetzt das Riitselhafte begegnet, da8 sie ineiner eigentiimlichen Mehrdeutigkeit sich halten. Diirfen wirda noch envarten, daB etwa das SchluBrvort davon sich aus-nehme? Der Schein der klaren Entschiedenheit des SchluBwor-tes ist vielleicht in der Tat nur ein Schein und gar der htichsteSchein.
Wenn wir hier von der Mehrdeutigkeit des Wortes der grie-chischen Dichtung sprechen, meinen wir nicht, daB der Dichtermit den Worten spiele und daB nur die dichterische Behand-lungsart des >Stoffes< sich dieses Kunstmittels bediene. Viel-mehr gilt dies: Die griechische Dichtung ist in sich mehrdeutig,weil das zu Dichtende in der Wahrheit seines Wesens mehr-deutig ist. Fiir unser heutiges Erfassen freilich miissen wirUmwege suchen und erst eine Bedeutung und eine Eindeutig-keit festmachen, um von ihr aus urspriinglicher zu verstehen.
c) Das Wissen vom Herd und das V[/iihnen. Das Ungesagteim Gesagten
Was meint das Wort vom >Herd<? Der Herd ist die Stdtte desHeimisch-seins. rcg6otLoE (rcqri und 6oticr); 6orio ist der Herddes Hauses, der Ort, an dem die Herdgdtter stehen. Das We-sentliche des Herdes aber ist das Feuer, in der Mannigfaltig-keit seines Wesens, das west als Leuchten, Erhellen, als Wd.r-men, Ndhren, Reinigen, Veredeln, Ergliihen. Das Wort 6oriawird abgeleitet von einem Stamm, der >>gld.nz.en<< und >>bren-nen< bedeutet. Dieses Feuer hat in allen Tempeln der Gijtterund in allen Wohnstdtten der Menschen seinen festen Ort undsammelt als dieser um sich alles, was sich ereignet und gespen-det wird. Der Herd ist durdr dieses Feuer der bleibende Grundund die bestimmende Mitte - gleidesam die Stdtte aller Stiit-ten, die Fleimstatt schlechthin, auf die zu alles beieinander und
Die Zuiesprache uon Antigone und Ismene 151
6iteinander anwest und d. h. iiberhaupt ist. Das lateinische
Vesta ist der riimische Name fiir die Giittin des Herdfeuers.
Ibrg Priesterinnen hieBen >Vestalinnen<. ncq6: neben - bei,
geftuer: im Umkreis derselben Anwesenheitl ncp6ozrog, der
mit in dem Umkreis der Behiitung und der Traulichkeit der
Heimstatt anwesend ist und in den Glanz und die Wdrme und
in den Strahl dieses Feuers gehiirt.
Wer spricht nun im SctrluBwort des Chorgesanges das pilt'
6poi ncp6ouog y6volto aus?, >Nicht werde dem Herde ein Trau-
ter mir der...<? Wer versti i8t mit diesem Wort den Unheim-
liihsten vom llerde? Doch offenbar die thebanischen Alten.
Sie miissen sich also auf die Zugehiirigkeit zum Herde be-rufen k6nnen. Sie miissen die Heimischen sein. Wer gibt ihnenaber das Recht, sich auf die Heimstatt zu berufen? Sind siedenn nicht audr Menschen? Gilt von ihnen nicht auch dasWort, das ihr Gesang am Beginn ausspricht? Welches immerdie Antwort auf diese Fragen sein mag, dies wird doch mit ei-nem N4al deutlich, daB aus dem Chorgesang ein Wissen vomEerv6v spricht und davon, daB innerhalb des Unheimlichender Mensch das Unheimlichste ist. Solches Wissen muB aberdoch schon i.iber das Unheirrliche und iiber das unheimlichsteSeiende hinauswissen. Soldees Wort mu8 mehr, d. h. hier We-sentlicheres wissen als nur dies, daB der Mensch das Unheim-lichste alles Seienden ist. Und wenn das Unheimlichste im Un-heimischsein besteht, dann muB dieses Wissen dem Un-heimi-schen, ja es mu8 dem Heimischen ndher sein und aus dieserNiihe das Gesetz des Unheimischseins ahnen. In der Tat beru-fen sich auch diejenigen, die den Unheimischsten vom HerdeverstoBen, in demselben Wort auf ein \Nissen, das sie als dasihrige gegen das der anderen unterscheiden:
pflr ' ioov ggovdv
nicht auch teile mit mir sein Wdhnen mein Wissen
Die Ubersetzung soll fiir uns deutlicher herausheben, daB derVerstoBene nicht das eigentliche Wissen vom Herde hat und
t32 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
haben kann. Sein Wissen muB ein Wdhnen bleiben, das leich
zum blo8en Wahn herabsinkt und darin sich verhdrtet. Wel.
cher Art jedoch das eigentlidee Wissen sei' von dem der
Unheimlichste ausgeschlossen wird, sagt dies Wort nicht.
Wenn aber die Ausschlie8ung und die unterscheidende Ab-
setzung von Wissen und Wissen gerade dort am niitigsten
ist, wo sich der Anschein breit macht, das Wissen sei iedesmalloov - das Gleiche, dann muB auch das eigentiiche Wissen dem
Schein nach so aussehen wie das Wdhnen. So sieht in der Tat
das aus, was wir das Ahnen nennen, worunter wir iedoch kei-
neswegs nur den ercten biolJen Schimmer des Wissens verstc-
hen diirfen. I)as diirften wir nur dann, wenn das >eigentliche
Wissen< in einer unbedingten >theoretischen< GewiBheit von
der Art der mathematischen Kenntnis und Berveisbarkeit be-
stiinde. Allein, das Wissen der echten Ahnung ist anderen !Ve'
sens und duldet nicht den Vergleich mit einer Form des Ken-
nens, das den Gewinn der Zweifellosigkeit mit dem Verlnst
aller Wesentlichkeit bezahJ.t, aber auch bezahlen kann und
gern bezahlt, weil dieses Wissen nur das Rechnen ist und mit
den Zahlen umzugehen wei8. (Das Rechnen als eine Art des
echten Wahns.) Jenes Wissen aber, das den Unheirrrlichsten
vom Herde verstii8t, kann aber selbst doch nur vom Herde
wissen, wenn es einer Zugehiirigkeit zum Herde entstammt.
Von dieser spricht der Chorgesang nirgends. Aber muB denn
alles, was gesagt wird, auch ausgesprochen sein? MuB niciht
vielleicht das eigentlich zu Sagende verschwiegen werden? Wo
anders freilich kann es versdrwiegen sein als im Gesagten?
Steht es so, dann verbirgt sich im ausgesprochenen Wort des
Chorgesanges ein Anderes. Der >Inhalt< des Ausgesproc-henen
erschiipft nicht die Wahrheit des Gesagten' Dariiber miissen
wir uns im voraus klar geworden sein, sobaid wir uns anschik-
ken, diese griechische Tragridie und in ihr diese Dichtung auch
nur in den schwdchsten l]mrissen zu fassen. DaB die Wahrheit
des Chorgesanges sich im vorhinein nicht in dem >Inhalt<
erschiipft, der sich in der Anmessung an den Wortlaut >ange-
Die Zwiesprache uon Antigone und Ismene t55
ben<< lhBt, war den Griechen >natiirlidr<. Das will sagen, sie
waren in ihrer Art zu sein und zum seienden sich zu verhalten
darauf vorbereitet, da8 das Wahre mit der Verborgenheit und
mit dem Sichverbergen in einem Wesensbunde steht (vgl'
Heraklit, Fragment 95). Die Griechen hatten ein >natiirliches<
Ohr fiir das Ungesagte im Gesagten und dachten und spra-
dren vom Ungesagten her.
Also bringt uns auch keine noch so genaue Angabe des >In-
haltes< des Ausgesprochenen zur Wahrheit des Wortes dieser
Dichtung. Und wenn wir uns sdron zundchst vom >Inhalt<< des
Gesprochenen leiten lassen, dann mu8 dieses Auffassen des In-
haltes wenigstens vollstiindig sein. Wir miissen bedenken, was
das ScleluBwort ausspricht. Es spricht vom >Herde<<, also von
der stdtte des Heimischen. Der Chorgesang spricht dieses wort
vom >Herd< nicht nur am Schlufi aus, sondern alles, was er
sagt, ist von diesem letzten Wort aus erst gedacht und schon
gesagt. Das SchluBwort, das vom Herde verstijBt und Wdhnen
und Wissen unterscheidet, ist keineswegs nur die Nutzanwen-
dung und die angehiingte Folgerung aus dem zuvor Gesagten'
Das Schlu8wort sagt erst das \{issen, aus dem jedes Wort des
Chorgesanges gesprochen wird. Diese Worte sagen vom 0er'v6v
und 6ew6"o'rov, als welches der Mensch >ist<' Das Wissen
aber, das sich im SchluSwort ausspricht, ist das Wissen vom
>>Herde<<, vom Ort des Heimischseins und somit vom Heimi-
sch.en selbst. Nur aus diesem Wissen kann iiberhaupt das 6erv6v
als 0er.v6v erkannt werden, und nur diese so entspringende Er-
kenntnis kann den Menschen als das Eelv6ratov erkennen.
Alles Wissen vom 6elv6v, vom Unheimlichen, ist getragen' ge-
leitet, erhellt und gefiigt von jenem Wissen, das vom Herde
weiB. Wenn aber der >Herd< das Heimis&e bestimmt und
das 6er.v6v dasienige ist, was in seiner hijchsten Gestalt vom
Herde ausgeschlossen bleiben muB, dann kann das 0eLv6v nur
das Unheimliche sein, wenn es die Wesensart des Unheimi-
sclten hat. Das SchluBwort des Chorgesanges spridrt so wenig
gegen die Auslegung des 6etv6v im Sinne des Unheimischen'
ilI
154 Die Deutung des Menschenin Sophokles' Antigone
dafi es diese Auslegung vielmehr als die allein miigliche sin-deutig fordert.
Allein, mit dieser Binsidrt kommen wir nun erst an den ech-ten Beginn des Verstehens. Denn jetzt gilt es folgendes zu be-denken: Wenn das Unheimlidre als ein solches nur wiBbar istvom Heimischen her, dann mu8 alles Sagen vom Detv6v ls-reits iiber dieses hinausgedacht haben. Doch wohin hinaus? Inder Richtung auf das Heimische, den Herd. Allein, das Wissen
von diesem spricht sich nicht unmittelbar aus. Es nennt sich
aber selbst ein qgoveiv, ein Sinnen und Sichbesinnen, das ausder qpfv, d. h. aus dem >>Herzen<< kommt, aus der innersten
Mitte des Menschenwesens selbst. Und worauf geht dieses
mitte-hafte Wissen? Wenn dieses >herzhafte< Wissen ein Ah-
nen ist, dann werden wir dieses Ahnen niemals fiir ein im Un-
klaren verschwimmendes Meinen halten diirfen. Es hat seine
eigene Helle und Entschiedenheit und bleibt doch von der
Selbstsicherheit des rechnenden Verstandes grundverschieden.
Was weiB dieses Wissen und was muB es wissen?
18. Der Herd ak d.as Sein.(Erneutes Bedenken des Anfangs des Chorliedes und des
Schluputortes.)
Die Antwort auf diese Frage wird uns gli-icken, wenn wir das
entscheidende Wort noch einmal bedenken, mit dem der Chor-
gesang beginnt und dessen Auslegung der Chorgesang selbst
ist :
roll.d td 0euvd xorl0dv dv0gcixou Eerv6tepov r6lel'
Vielfiiltig das Unheimliche, nichts doch
iiber den Menschen hinaus Unheimlicheres ragend sich regt.
Worauf blickt dieser Spruch hinaus? Er spricht vom Unheim-
lichen; er spridrt vom Unheimlichsten; er spricht aus, da8 der
Mensdr im Vielfiiltigen des Unheimlichen das Unheimlichste
Der Llerd ak das Sein
sei. Der Spruch sagt vom 6stv6v und nennt das n6J,erv - das
sifrregende Ragen, das lvechselvolle Insichruhen, das Aussich-
hervorkommen und als dieses Kommen und Gehen doch In-
sichbleiben; dies nennen die Griechen sonst qtoLg, und das ist
das Wort fiir das Sein. Und dieses Selbe nennt auch td n61.erv.
Der Spruch blickt, das Unheimliche alles und in seinen Miig-
Uchkeiten iiberblickend, auf das Sein alles Seienden. Wohin
immer das Unheimlichste als das Unheimischste hinausfahren
mag, es bleibt, sofern es als das Unheimischste noch ist, iiberall
in dem Umkreis des Seins selbst. Wobei immer das Unheim-
lichste einen Ausweg suchen mag und wohin es immer zuriick-gesto8en und hinabgeworfen wird, es fiillt dabei in den Um-kreis des Seins zuriick. Das Sein setzt dem Uberailhinausfah-renden keine Grenzen, weil dem Menschen bei seinem Umher-fahren endlos ))neues( Seiendes begegnet und zugeschickt
wird. Und dennoch findet der Mensch da keinen Ausweg undstiirzt und wei8 dabei gar nicht, was ihn beschrdnkt und nie-dersdrldgt: daB es dasselbe Sein ist, das ihm alle Tore iiffnet.Das Unheimische bleibt bei aller Unheimischkeit im Umkreisdes Seins. Das Unheimische bleibt auf das Heimische bezogen.Gesetzt, da8 es verschiedene Miiglichkeiten dieses Bezuges gibt,dann gibt es auch noch verschiedene Weisen des Unheimisch-seinsl dann hat die VerstoBung des Unheimlidren einen ent-sprechend verschiedenen Sinn.
Aus dem Chorlied selbst kennen wir zundchst nur den Un-heimischen, der im Seienden je durch eigenen Umtrieb denAusweg zum Heimischen und die Stdtte des Seienden sucht.Sein Umtrieb gilt nur der Verkehrung des Seienden in das Un-seiende. Wenn nun aber dieser Unheimliche ausgestoBen wirdvom Herde, wenn ihm das SchluBwort des Chores das edrteWissen abspricht, kommt er dann durch diese Versto8ungnicht auBerhalb des Seins zu stehen? Keinesfalls - denn ihmwird ja nidrt jede Art von qqoveiv abgesprodren, ihm wirdvielmehr dies zugesprochen, da8 er im Seienden wahrhaft zusein wiihne, ohne es doch zu sein. Die Verwerfung sagt, daB
155
136 Die Deutung des hlenschett in Sophokles' Antigone
der Unheimliche zum Herd eine Wesensbeziehung habe, abqldieienige des Vergessens und der Verblendung, der zufolge q1nicht das Sein im Blick und im Andenken haben kann. Drrrq\die Versto8ung wird ja erst in aller Hdrte gesagt, wohin ds..Unheimliche gehiirt - niimlich zum Sein, das alles Seiende bs-stimmt und in solcher Bestimmung bewahrt und in der F{u1h?ilt. Dann wdre der Herd, um den herum allein alles und zu-mal der Mensch heimisch sein kann, das Sein? Aber davolspricht das Schlu8wort des Chorgesanges doch nirgends. Ge-wi8 nicht. Und wir behaupten am allerwenigsten dies, daB esdavon sprechen sollte, weil es als Schlu8wort, das alles trrigt,eher den Charakter des Versdrweigens hat. Und doch ist derI{erd genannt - 6otiq,. Und doch beruft sich das Wort auf einWissen, das auf den Herd und das Heimische und das Hei-mischsein bezogen sein mu8. Wie anders sollte es sich sonstgegen das Wihnen des Unheimischen absetzen?
Wiederholung
Schon aus dem einleitenden Zwiegesprdch zwischen Antigoneund Ismene wird offenbar, daB auch Antigone, ja sie sogar ineinem hijchsten Sinne, dem Bereich des Eelv6v angehiirt. Siemacht das Erjagen des lJnausrichtbaren zum lJrsprung ihresWesens. Sie wiihit das Gesdrick als das, was allein sc-hicklichist. Dadurch nimmt sie das Unheimischsein auf sich. Dieses Er-fahren und Durchmachen ist das hiichste Handeln und die ei-gentlidre Geschichte ihres Menschentums, die t6lpa ihres !Ve-sens selbst. Verborgen bleibt allerdings zundchst, worin ihr Un-heimischsein besteht. Ungesagt bleibt daher auch, rvas zum
Heimischwerden und Heimischsein gehiirt. Das Chorliedscheint sich iiberhaupt iiberall nur im Sagen des Un-heimi-
schen zu halten. Das SdrluBwort aber scheint vollends dieserr
Schein zu bestdtigen. Denn auch das SchluBwort und gerade
dieses spricht verneiaend, in der Art einer Versto8ung. Dem-
Der I-Ierrl aLs das Sein t57
gefra0 ist sowohl das, was im Chorlied genannt wird, das 6elv6v,
f,3s Ungemeine und Unheimliche, als auch die Art und Weise,g/ie zuletzt von ihm gesagt wird, die Verwerfung, jedesmal
Dnegativ<<. Oder sollte dieses Negative des >Un-heimischen<<
und die >Negation<< des Unheimischen in sich gerade das
>Positive< bergen und verbergen? MuB dann aber nicht das
SchluBwort, wenn es schon mit eigenem Recht aus der Wahr-
heit die VerstoBung sagt, einem Wissen entstammen, das an-
deres weiB als nur das Unheimische? In der Tat beruft sich das
SdrluBwort auf ein Wissen, qgoveiv, das nicht auf das Gleiche
sinnt wie das der VerstoBenen.
pilr'ioov qqovdlv
nicht auch teile mit mir sein Wiihnen mein Wissen.
Die Ubersetzung soll deutlicher herausheben, da8 der, der hierdie VerstoBung ausspricht, auf ein anderes Wissen sidr beruft.Welcher Art dieses Wissen sei, wird nicht gesagt. Aber wir kijn-nen mittelbar uns dariiber klar werden, was dieses Wissen, solles mit Fug die VerstoBung aussprechen, wissen muB. Damiteiner den Unheimlidrsten alles Seienden vom heimischen Her-de verstoBen kann, mu0 er vom Herde selbst wissen. Und die-ses Wissen mu8, soll es ein echtes sein, aus der Zugehiirigkeitzum Herd entspringen und somit einer Art des Heimischseinsentstammen. Um iedoch das Unheimlichste alles Seienden zuwissen, muB ja au& das Seiende im All seiner Unheimlichkeit,und d. h. seines Seins iiberhaupt gewuBt werden. Dieses Wis-sen muB auf alles hinausdenken, was ragend sich regt -.fl6leu.Dieses vom Herde verstoBende Wissen muB vom Sein alles Sei-enden wissen; was nidrt schon notwendig einschlie8t, da8 sol-ches Wissen einen Begriff des Seins eigens denke. Das Wortder VerstoBung des Unheimlichsten alles Seienden vom HerdemuB den Herd als Heimischsein wissen, mu8 aber auch dasSein alles Seienden wissen. Ist dieses Wissen also ein zwiefaches:ein Wissen vom Herde und ein Wissen vom Sein alles Seien-den? Oder besteht das Wissen vom Sein des Seienden im Wis-
138 Die Deutung des Mensclrcn in Sophohles' Antigone
sen vom llerde? Ist demnach das Wissen vom Herde das Wis_sen vom Sein des Seienden? Solches Wissen vom Sein des Sei_enden, das nun eigens das Seiende in dieser Hinsicht denkt, istein ausgezeichnetes Denken, das seit Platon den Namen >phi_losophie< fiir sidr in Anspruch genornmen hat. Sollte nun imSchluBwort des Chorliedes ein Wissen vom Herde als Wissenvom Sein sich aussprechen, dann hieBe das, die Dichtung sageeine >>philosophische lVahrheit<. Oder liegt das nur an unsererErlduterung des Chorliedes, die das dichterische griechischeWort vom >Herde<< in den abgezogenen oder gar heutigen Be-griff vom >Sein< umfiiischt? Das ist nicht die Absicht dieserBemerkung, vielmehr liegt alles daran, die Richtun g zu zeigen,aus der dieses SchlulSwort des chorliedes als ein dichterisches\Mort verstehbar wird.
Vielleicht ist das \Nissen, das qgoveiv, des hier Sprechendennicht nur vom Didrter des Chorgesanges zu einer dichterischenAussage gestaltet, sondern selbst als ein dichtendes Wissen ge-meint. Dann wdre das SchluBwort keine bloBe Verwerfung.Dann endete das Chorlied nicht mit einer blo8en Abkehr vondem, was zuvor irn mdchtigen Wort genannt wurde. Sofernwir diese Miiglichkeit im Blick behalten, kommen wir nichtin die Gefahr, das SchluBwort in die Leitsiitze einer philoso-phischen Abhandlung umzudeuten. AuBerdem aber ist die Deu-tung des Wortes vom >Herd< im Sinne des Seins deshalb keinHineintragen spdterer Ansicht und fremder Meinung in dasGriechenturn, weil griechische Denker diese Auslegung selbstvollzogen haben. Zuvor mu8 auf das verwiesen werden, rvaszur allgemeinen Bedeutung des Wortes ioricr gesagt wurde.Damit steht in unmittelbarem Zusammenhang, daB bei FIe-siod und in den >>homerischen Hymnen<< 'Eorio als die erst-geborene Tochter des Kronos und der Rhea genannt wird (He-siod, Theogonie 454). Desgleichen nennt Pindar im Beginn derXI. nemeischen Ode 'Eoria a1s Zlvdg ieiorou / raor,yvtro xai6porlq6vou "HQaE, als Zeus' des Hijchsten Schwester und der mitihm thronenden Hera.
19. Fortsetzung der Ausfillrungen ilber den Herd als dasSein
a) Zusammengehdrigkeit von Didrten und Denken
Gesetzt nun aber, da8 die >Mythologie< nicht eine Gijtterlehre
ist, die sich die Mensihen erfinden, weil sie noch nicht >>reif<<
sind fiir eirre exakte Physik und Chemie, geserzr, daB die My-
thologie der geschichtliche >>ProzeB<< ist, in dem das Sein selbst
dichterisch zur Erscheinung kommt, dann steht das Denken
im Sinne des wesentlidren Denkens in einem urspri-inglichen
Bezug zur Dichtung. Welcher Art diese urspriingliche Zusam-
mengehijdgkeit von Dichten und Denken ist, kann hier nicht
erijdert werden; noch weniger kijnnen wir weitldufig auf die
gewiihnliche Bestimmung dieses Verhdltnisses eingehen, wo-
nach das Denken der Philosophie das Gedicht der Mythologie
vom Mythischen befreit und den verbleibenden Gehalt in das
starre Gestd.nge und Geschiebe leerer Begriffe umschmelzt.
Nade dieser Meinung ist dann das Denken iiberhaupt nichts
anderes als die >>Entmythisierung< des Mythos. Man stellt sich
diesen Proze8 vor wie die Entwdsserung eines Sumpfgeldndes,
nach deren Vollendung dann der >>trockene<< Boden i.ibrig
bleibt. Als liige das Denken schon fertig im Dichten und
brduchte nur vom >Dichterischen< befreit zu werden. Als eig-
nete dem Denken nicht ein eigener, dem Didrten gleichwesent-
licher, aber deshalb gerade grundverschiedener Ursprung.
Das Denken ist nicht der Bodensatz des entmythisierten My-
thos. Diese weit verbreitete aufkldreris&e Meinung, die dasiibliche Bild vom Wesen des abendliindischen Denkens be-
stimmt, weilJ weder, was Didetung ist, nodl versteht sie dasWesen des Denkens. Hierbei ist zu beachten, daB die >Auf-
kldrung., im Sinne der durchgiingigen Erkltirung von allemaus den vernunftmdBig einsichtigen Griinden zum Wesen der
Metaphysik gehiirt. Deshalb kornrnt auch in einem besonde-ren Zeitpunkt innerhalb der Geschidrte der Metaphysik ein
I4'0 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
eigens nach der >Aufkliirung<< benanntes Zeitalter zur Gel-tung. Die >>Aufkldrung< beginnt ihrem Wesen nach jedoch
mit dem Beginn der Metaphysik, d. h. mit dem Beginn ds1>Philosophie<<, d. h. mit jenem Denken des Seins, das von derSophistih, von Sokrates und Platon zum ersten Male vollzo-
gen rvird; damit geht zusammen, daB Platon in eine sehrzrveideutige Stellung zu den Dichtern kommt.
Von diesem Denken - dem metaphysischen - aus gesehen
ist das Denken in der Tat nach gewissen Hinsichten, wenn-
gleich nicht schlechthin, eine >Entmythisierung<<. Aber das me-taphysische Denken ist nicht das einzige Denken des Seins. Es
ist vor allem nicht das Wesen des >anfiinglichen.< griedrischen
und abendldndischen Denkens. Do& scheint' was jetzt weiter
iiber die 6,orLo nt sagen ist, die aufkldrerisdre Vorstellung des
Verhdltnisses von Dichten und Denken in ihrem Recht zu be-
stritigen. Von Philolaos, einem Denker aus der Schule des Pv-
thagoras (5./4. Jahrhundert), ist uns ein Wort iiberliefert, das
als Fragrnent 7 gezdtlnlt wird und das lautet (Dieis, Vorsokra-
tiker, I5, 410):
rd ngd,tov 6gpoo$6v, td tv, r6v 16l p6oor, tdE oqalgcE 6otic
xoleirar,.
I)as als der anfiingliche Einklang Wesende, das eini-
gende Eine, in der Mitte der Kugel wird ,Herd, ge-
nannt.
Der Herd ist demnach die Mitte des Seienden, auf die alles
Seiende, n?imlich weil es und sofern es Seiendes ist, anfdnglich
bezogen bleibt. Diese herdhafte Mitte des Seienden ist das
Sein. Das Sein ist der Herd. Denn das \Mesen des Seins ist fiir
die Griechen die q6otE - das von sich aus aufgehende Leuch-
ten, das durch nichts anderes vermittelt, sondern selbst die
Mitte ist. Diese Mitte ist das anfiinglich Bleibende und alles
Umsichsammelnde * jenes, worin alles Seiende seine Stette hat
und als das Seiende heimisch ist.
Weitere Ausfilhrungeni)ber den llerd ak das Sein
b) 'Eorlc und Sein bei Platon
Nicht zufiiilig erinnert der Denker, der das Denken beginnt,das wir >Metaphysik<< nennen, Platon, an die 'Eorio, und zwarin dem Gesprdch tiber das Schcine, im Phaidros. Dieser DialogPlatons ist ja innerhalb der Entfaltung des platonischen Den-kens selbst eine Art Mitte, aus der die eigentliche Lehre pla-
tons vom Sein des Seienden hervorkommt. In seiner zweitenRede iiber den Eros spricht Sokrates (246 ff.) vom \{esen derSeele, deren Schwingen durch das Grittliche ihr Vermiigen derSc.hwingung und des Aufschwungs empfangen. Dieser Hin-weis gibt den AnlaB, den riregougdvroE t6nog, den iiber dasHimmelsgewiilbe hinaus)iegenden Aufenthaltsort der Giitterzu beschreiben, genauer gesagt, sein Wesen nach der WahrheitimDenken zu bestimmen.
Die Beschreibung des >Lebens< der Giitter beginnt so:
6 piv 0fi p61cg fllepdv dv or)qavQ Ze$g, tLa$lvtrv nrqvdv &gpo,rq6rog nogerlercl, Elaxoop6v ldvra xai 6nlpel"oripevoE.re 6' [neto,r,orgarrd, {}ed)v re xci Ecr,p6vorv, rqrd Sv6er(o p6gq xexooplp6q.p6veu yd,q 'Eoria 3v Sedlv oinq p6vr1.
>>Der groBe Herrscher aber im Himmel, Zeus, fahrend dengefliigelten Wagen, ist der erste im Aufbruch, durchwaltendalles und es mit seiner Sorge bedenkend, dem aber folgt dieStreitschar der Gbtter und audr der holden-unholdigenGeister nach elf Ziigen geordnet. EIf sind es nur) es bleibtbestiindig zuriick Hestia in der Gijtter Heimstatt als ein-zige. <<
In dieser Erinnerung Platons an das dichtende Sagen vom Sei-enden im Ganzen und seiner Beherrschung und Verfassungkommt das Wesentliche klar ans Licht: Wenn schon die Giitter,wohnend am iiberhimmlischen, unzugiinglidhen Ort, die Blei-benden sind, dann ist unter ihnen die Bleibendste-stindigsteHestia. Sie ist die Mitte aller Bestdndigkeit und Anwesenheit -
fil
7+2 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
das Wesende im Sein, das ja die Griechen im Sinne der be-std.ndigen Anwesenheit erfahren. Wir mii8ten hier nun, dapilPlatons Hinweis auf die Dichtung des Seienden vollstiindig ge-fa8t wdre, darauf eingehen, wie er selbst zu diesem dichten-den Sagen steht und seinem eigenen Denken die alle Dichtungiibersteigende und sie also unter sich lassende Bestimmunggibt, derzufolge dann fiir alle Metaphysik die Dichtung we-senhaft >>bloBe< Dichtung bieibt. Um dann kiinftighin dasRecht und die Art der l)ichtung und der Kunst iiberhaupt vorder Macht der ratio zu retten, gibt man der Kunst die Aus-zeichnung, daB sie >Gefihlswerte< schaffe und dem >Leben<ndher sei. Der Unterschied zwischen Dichten und Denken wirdein psychologischer, und d. h. ein >dsthetischer<. Die Wirkungauf das sogenannte >Gefiihl< gilt als willkommener Ersatzfiir die Ohnmacht des Denkens und seiner leeren Begriffe. Die-se tdten angeblich das >Brlebnis<. Die mafJlose Oberfliichlich-keit des modernen Menschen vergiBt dabei nur zu bedenken,da8 er nirgends mehr urspriinglich Kunstwerke rerlebtu - ee-setzt, da8 diese iiberhaupt sich erleben lassen - wohl aber dieMaschine und ihr zersttjrerisches \Mesen. Dies ist, ob er rvilloder nic-ht, sein >>Erlebnis< und sogar sein einziges Erlebnis.
Dieser Vorrang der t61v1 beginnt da, wo die Sophistik sichzur Philosophie vollendet: im Denken Platons. Platon sagt imunmittelbaren AnschluB an die mythologische dichterischeSchilderung der Wohnstatte der Gijtter: Tdv 0i t:regouqrivtovt6nov oilTe rrE iipvrlo6 nor r6v tfrEe lorqrilg oilTe nord ripv{oel xar"dlicv. >Die iiberhimmlische Stdtte aber hat weder je einer derim Hiesigen weilenden Dichter preisend erhellt, nodh wird je-
mals einer sie wiirdigen nach der Gebiihr. < (Das Wort ripveiv fiir>diclrten<.) Die Dichter sind nach Platons Lehre au8erstande,das Seiende, wie es ist, zu enthiillen und ins reine Licht zu stellen.Sie haben daher auch nach Platons Lehre von der Poiiteia derr6l"lE innerhalb dieser einen ganz untergeordneten Rang imUnterschied zu den >Phiiosophen<. Auf diese Herabsetzungder Dichter folgt in harter Entgegensetzung dieses: Exet Ed 6Ds;
Das H eimischw erden im U nheimischsein 1+3
>Es verhdlt sich aber (mit dem iiberhimmlischen Ort) in dieser
Weise. . .< Platorr wei8, daB der denkerische Anspruch des
Wissens hier nichts Geringes und Beliebiges, sondern vielleicht
noch befremdlich ist, und daher sagt er in einem Zrvischensatz:
rol.plr6ov ydq ofiv t6 1e d),1$dE eimiv, d,l"kog te xoi neqi d)'ri$eicg
tr6yovro,, >)gewagt werden mu8 niimlich jetzt, das lJnverborgene
zu sagen, zumal von dem, der seiner lJestimmung nach im Um-
kreis der Unverborgenheit (und d. h. in bezug auf das Unver-
borgene als solches) sein aufschiiel}endes Wort zu sagen hat. <<
Was jedoch aus den angefilhrten Worten Platons {iir unserejetzige Betrachtung allein wichtig bleibt, ist die Einsicht in den
wesentlichen Zusammenhang zwischen 'Eotla und dem Sein.
Der Herd, die Heimstatt des Heimischen, ist das Sein selbst,
in dessen Licht urrd Glanz, GIut und Wdrme sich alies Sei-
ende je schon gesammelt hat. aag6orrog ist der, der im Um-kreis des Herdes weilend, mitgehiirt zu denen, die mit demHerde vertraut, so da8 jeder dem Herde Zugehiirige ein T'rau-ter ist. mag er ein >Lebender<< sein oder ein Toter.
20 . D as H eimis chw e r d,en im U nheirnischsein - die Zw eideu-tigkeit des Unheimischseins. Die Wahrheit des Chorliedes
die innerste Mitte der Traei;die
Das Schlu8wort cles Chorliedes gibt den Wink in die Heim-statt, in der alles Heirnische griindet. Damit enthiillt sich erstder Wesensgrund des Unheimischen. Dadurch bestimmt sicherst das innere Wesen des eigentlichen Unheimischseins. DasSchlu8wort klingt zwar, unmittelbar genommen, wie eine blo-Be AusstoBung des Unheimischen. Jn Wahrheit ist jedoch dieseAusstoBung aus dem Umkreis des Herdes nur der Ansto8 zumAufmerken auf das Heimische und zur Wagnis der Zugehii-rigkeit in dieses. Das SchluBwort verwirft nicht blo8 den Un-heimischen, sondern es id8t das Unheimischsein fragwiirdigwerden. Das Unheimischsein riickt aus dem Ansdrein heraus,
t44 Die Deutung des Menschenin Sophohles' Antigone
als sei es nur ein dem Menschen angeheingter Zustand und
eine zur Gewohnheit verhartete Ausstattung' Das Unheimisch-
sein zeigt sich als das noch-nicht-erweckte, nodr nidet entschie-
deoe, nocl, niiht iibernommene Heimischseinkd''nen und Hei-
mischwerden. Eben dieses Unheimischsein iibernimmt An-
tigone. Ihr Erleiden des 6erv6v ist ihr htichstes Handeln. Die-
ses Handeln ist die Bewegung und das >>Drama<< des Heimisch-
werdens. Im Heimischwerden wird das Unheimischsein erst
vollzogen. Und dies nicht etwa nur so' daB im Heimischwer-
den das Unheimisclasein den AbsdaluB findet, sondern ihr
Heimisihwerden bringt erst das wesen des Unheimischseias
ans Licht. Das Heimischwerden macht die wesenhafle zwei-
deutigkeit des Unheimischseins offenbar'
Da, Unhei*isdrsein kann sich ergehen in der bloBen Ver-
messenheit zum Seienden' um je aus diesem jeweils eillen Aus-
weg und eine Std.tte zu erzwingen' Diese Vermessenheit zum
Seilnden und im Seienden ist aber nur' was sie ist, aus der
Vergessenheit des Herdes, d. h. des Seins' Das Unheimischsein
kann aber auch diese Vergessenheit brechen drrrch das >An-
denken<< an das Sein und aus der Zugehiirigkeit zum Herd'
In dem auf das chorlied folgenden Gespriidr zwischen Kreon
und Antigone sagt Antigone, wohin sie gehiirt, von wo ge-
grii8t sie ,ia" *"is. wir meinen die verse ++9-+57. Auch Htil-
Jerhn riihrt, wenngleidr in anderer Absidet und Deutung' in
seilen >>Anmerkungen zur Antigone<< (V, 254) an diese Stele
und versteht sie unverkennbar als den >>kiihnsten Moment<
des >Kunstwerkes<<. Weil aber die Erkliirer fieser Tragiidie
noch immer danach schnappen, im Wort der Antigone eine
Erkldrung ihres Handelns zu finden, d' h' eine Aussage iiber
das Seienle, das ihr Tun verursaiht, tradntet man nur danach'
den Hinweis auf Seiendes zu finden, sei dies der herrsihende
oder alte Totenkult, sei es die familienhafte Blutsverbunden-
heit. Man verkennt, daB Antigone in ihrem \Mort weder von
jenem noch von dieser spricht. Man kann noch nicht sehen'
daB sie iiberhaupt nicht von einem Seienden spricht' So ent-
Das Heimischu'erd'enirnUnheirnisdtsein t+5
steht der Schein, als rede sie unbestimrnt - wdhrend sie dodr
nur das Einzige in aller Eindeutigkeit sagt, was hier zu sagen
bleibt (Antigone, V. M9-457):
Kreon: xaiEflr 'dr6trpag torio6'ri leqBcivetvv6pouE;
Und offenbar du wagtest, dies zu iiberschreiten
(mein) Gesetz?
Antigone : ori ldg rt y'o'. Zeig fiv 6 nqqtilag rdDe,
ori6'd ltvorxog tdlv xdrco Sebv A[,x1
tolorioD' 6r, &r,Sp6rotoiv rbgroev l6pottg,
orlOi os6verv tooottov <,)6pqv td ocr
xqgriypc$' dior' &ypantc x&oqalfl Se6v
v6plp<r 8rivoorlcl $vqtdv dvS' rlneqbqopeiv.
orl'yrip rl vtv ye xd1$6g, riltr'riei note
!fr ratta, xori8eiE olDev 8! 6tou'96vq.
Nicht n:imlich irgend Zeus wars, der mir geboten
dies.uoch auch, die heimisch bei den unteren Giittern,
Dikewars, die unter Menschen setzten dies Gesetz,
und vollends nicht so stark erschien mir dein
Gebot' daB es den ungeschriebenen wankellosen
Giitter-Spmch vermijdete je mit seinem Menscfrenwitz
zu iiberlaufen.Nicht niirnlich irgend ietzt und auch nicht
gestern erst, doch st?indig je
west dies. Und keiner wei-B, woher es eh' erschienen'
Das Bestimmende, das Antigone zu ihrem Sein bestimmt, ist
iiber den oberen und den unteren Gijttern. Aber es ist zugleich
doch solihes, lvas den Menschen als Menschen durchstimmt'
Gleiihwohl ist es nicht nur mensdrliche Satzung, die schon iiber
den Giitterspruch nichts vennag und deshalb erst recht unter
das herabfiiilt, was auch noch iiber den Giittern waltet' Zu
t+6 Die Deuntng des Menschen in Sophohles' Antigone
keiner Zeit IaBt dies Bestimmende sich irgendwo als erst ge-setzt antreffen und ist doch allem zuvor schon erschienen, ohneda[J einer ein Seiendes nennen kiinnte, daraus es entsprungel.
Dem also lJnverborgenen gehiirt das Wesen der Antigone. I1diesem lJnverborgenen geborgen und heimisch zu werden istdas, r'r'as sie se}bst nennt na$eiv td 8stvdv 'rofrto - dieses Un-heimischsein in allem Seienden durchzumachen. Indem Anti-
gone das Unheimischsein in ihr eigenes Wesen iibernimmt, istsie >>eigentlich<< unheimisch. Also wird Antigone doch nicht von
der Verwerfung am ScliluB des Chorliedes getroffen? Gewi8
nicht. Sie ist ausgenommen, aber ausgenommen nicht deshalb.
weil sie auBerhalb des 6elv6v steht, sondern weil sie das Un-
heimlichste in der hijchsten Weise eigentlich ist, ndmlich so,
daB sie es in seinem vollen Wesen iibernimmt, indem sie das
Heimischwerden im Sein auf sich nimmt.
Das Schlu8wort verwirft den Unheimischen und weist in das
Heimisdre. Das SchluBwort des Chorliedes ist von einer un-
heimiichen Zweideutigkeit, die das Unheimischsein selbst an-
geht. Das Schlu8wort spricht gegen den Unheimischen, aber
im Sinne einer aufbehaltenen Entscheidung, ous dem Blit*
auf das unheimlichste Wagnis, das nichts Geringeres wagt als
das Wesen der Unheimlichkeit selbst. Deshalb hat das SchluB-
wort den deutlichen Klang des Wissens vom Herd. Nicht rverde
der Unheimische ie ein Heirnischer, solange er nur und sofern
er einzig auf seinem Unheimischsein beharrt und so unstet im
Seienden sich umtreiben liifit. Das SchluBwort verwirft diesen
Unheimischen und ruft zugleich in das Wissen von seinem ei-
gentlichen lNesen. Das SchluBwort verbirgt in sich den Wink
auf die unentfaltete und noch unvollzogene, aber im Ganzerr
der Tragiidie sich vollziehende \&agnis, zwischen dem eigent-
lichen Unheimischsein des Menschen und dem uneigentlichen
zu scheiden und zu entscheiden. Antigone selbst ist diese hiich'
ste Wagnis innerhalb des Bereichs des 6etv6v. Diese Wagnis zu
sein, ist ihr Wesen. Sie iibernimmt als Wesensgrund dgxtt
tdp{1<rvc - das, wogegen nichts auszurichten ist, da es, keiuer
D as I:I eimischwerden im U nheimischsein
weiB woher, von sich aus erscheint. Antigone iibernimmt als
das Schickliche, was ihr zugeschickt ist aus dem, was iiber den
oberen Gijttern (Zeus) und iber den unteren Giittern (Aitq)
west. Das aber sind auch nicht die Toten, das aber ist auch
niiht die Blutsverbundenheit zum Bruder. Was Antigone be-
stimmt, ist ienes, das erst der Auszeichnung der Toten und
dem Vorrang des Blutes den Grund und die Notwendigkeit
gibt. Was das ist, liiBt Antigone, und d. h. zugleich der Dich-
ter, ohne Namen. Tod und Menschsein, Menschsein und leib-
haftes Leben (Blut) gehiiren jeweils zusammen. >Tod< und
>Blut< nennen je verschieden du8erste Bereiche des Mensch-
seins, das sich weder in dem einen erfiillt noch in dem anderen
erschilpft. Die dem Menschen und nur ihm eigene Zugehiirig-
keit zum Tod und zum Blut ist selbst erst bestimmt durch den
Beztg des Menschen zum Sein selbst. Das geheimnisvolle Ge-
dicht Hijlderlins: >In lieblicher Bldue bliihet< (VI, 27), schlieBt
mit demWort:
Leben ist Tod, und Tod ist auch ein Leben.
Wir miissen, damit wir im Bereich der griechisdren Wahrheit
der Antigone-Tragddie bleiben, auch noch iiber Totenkult und
Blutsverbundenheit hinausdenken und das Wort der Antigone
so festhalten, wie es gesagt ist. Dann erkennen wir, daB sie,griechisch gedacht, das Sein selbst nennt. Das ist der Grund
des Heimischseins, der Herd. Von hier aus wird deutlich, daB
das Gegenspiel dieser Tragiidie nicht spielt in dem Gegensatzzwischen >Staat< auf der einen und >Religion< auf der ande-ren Seite, sondern zwischen dem, was die innerste Gegenwen-digkeit des 6erv6v selbst ausmacht, sofern dieses als das Un-heimische gedacht wird: Das Gegenspiel spielt zwischen demUnheimischsein im Sinne des ausweglosen Umtriebes im Sei-enden und dem Unheimischsein als dem Heimischwerden ausder Zugehiirigkeit zum Sein. Das griechisch erfahrene Wesendes 6erv6v steht im dichterischen Blick dieser Dichtung, aberso, daB das Heimischwerden im Unheimischsein gedichtet ist.
r+7
748 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
Die lVahrheit des Chorliedes kann daher nidrt im erstenWort des Beginnes liegen, aber auch nicht im SdriuBwort. Sieverbirgt sich in dem, was das unmittelbar Gesagte nicht nurungesagt ld8t, sondern durch sein Sagen erst zum Ungesagtendichtet. Steht es jedoch so, wie sollen wir jetzt die Antwortgeben auf die Frage, wer dieses SdiuBwort sage? Nach derunmittelbar richtigen Feststellung sprechen die thebanischenAlten. Aus welcher Befugnis sagen sie das Wort iiber das Un-heimisdrsein des Menschen? Inwiefern kiinnen sie sich ausneh-men von der Versto8ung des Unheimischen? Woher stammtihr Wissen vom Herd? Welcher Art ist dies Wissen und seirrWort? Weiche Stimme, wessen Stirnrne kommt im Chorliedzum Wort? Was ist der Chor in der griechischen Tragiidie?Diese Frage soll hier nicht weitliiufig eriirtert werden. Dariiberist vieles hin und her verhandelt und sorgfiiltige gelehrte Arbeitgeleistet worden. DaB iiberhaupt die griechische Tragtidie ausdem >Chor< entstanden ist, sagt wesentlich geda&t nichts an-deres als: der Chor ist die innere Mitte der Tragiidiendichtungals Dichtung. Und das Chorlied der vollendeten tragischenDichtung wiedemm ist die Mitte dieser Mitte. Deshalb sprichtim >Chorlied<< der Dichter selbst in einer ausgezeiihneten Wei-se. Zwar spriiht er in jedem Wort der Dichtung, und er sprichtim >Chorlied< nicht etwa so, dal3 er dort gesondert noch eigeneAnsichten duBert. Vielmehr wird die dichterische Wahrheiteiner Tragddie, das vor allem Anderen und das fiir alles An-dere zu Sagende, im Chorlied gesagt. Der Chor ist nicht ailein>entwicklungsgeschichtlich< der Ursprung der Tragiidie, son-dern er wird im Chorlied wesensgeschichtiich zu ihrer Wesens-mitte, die dichterisch das Ganze der Dichtung um sich sam-melt; er ist das Zu-Dichtende.
Unter den mannigfadoen Ratlosigkeiten iiber das, worin dieWahrheit des erlduterten Chorliedes beruhe, findet sich auchdie, daB man sagt, es sei von so allgemeinem Gehalt, daB esiberhaupt ohne rechten und eindeutig besonderen Bezug zumiibrigen Inhalt der Antigone-Tragirdie bleibe und deshalb
Das H eirnischwerden im U nheimisdtsein t49
eigentlich in ihr keinen Platz habe. Doch was man als allge-
meinen Gehalt rniBversteht, ist die Einzigkeit des Sagens vom
Einzigen 6er.v6v 'nd seinem Wesensgrund, und dieses er-scheint in der einzigen Gestalt der Antigone. Sie ist das reinsteGedicht selbst.
Das dichterisch zu Sagende ist die dichterische Wahrheit.Das dichterisch wahre Wort ist jenes Wort, das das dichterischSeiende nennt. Aber was ist das dichterisch Seiende? Was heiBthier iiberall >dichterisch<? Das Dichterische scheint das zu sein,was ein Dichter sagt. Aber was sagt der Dichter? Was hat erals Dichter zu sagen, daB er dann durih dieses Sagen ein Dich-ter ist?
Der Di&ter sagt nicht erst das, was er gedichtet hat, als seidas dichterische Wort nur die sprachliche Fassung und Aus-sage des Gediihteten, das meint, des phantasiemii8ig Gestal-teten. Vielmehr ist das dichterische Sagen selbst das Dichten.Der Dichter dichtet jenes, was seinem Wesen na& ein Zu-Dichtendes ist. Das Dichterische le8t sich uie aus dem Di&.ter,sondern dieser nur aus dem Wesen der Dichtung begreifen.Deren Wesen miissen wir erfragen im Ausblick auf das, wasdas Zu-Diihtende ist, und zwar in notwendiger Weise.
Das wesensnotwendig Zu-Dichtende liegt in dem verborgen,was sich niemals irgendwo und irgendwann und irgendwie alsetwas Seiendes-Wirkliches innerhalb des Wirklichen antreffenund finden liiBt. Das wesenhaft Zu-Dichtende ist das, was sichim Seienden als Seiendes niemals finden ldBt, was vielmehr,vom findbaren Seienden aus gesehen, nur er-funden werdenkann. Aber dieses dichtende Er-finden ist nicht das Er-findeneines Seienden, sondern es ist ein reinstes Finden eines reinstenSuchens, das sich nicht an das Seiende hiilt. Das Diciten istein sagendes Finden des Seins. Solches Finden ist ein hiichstes,nicht weil hier das Zu-findende noch ganz verborgen, sondernweil es dasjenige ist, was dem Menschen immer schon entbor-gen und das Naheste alles Ndchsten ist. Dieses hiichste Findenist daher kein freies Erfinden im Sinne des willkiirli&en Ein-
150 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
bildens. Dieses Finden steht in einer einzigen Notwendigheit.
Was als das Zu-Dichtende west, kann nicht ein Seiendes sein.
Das Zu-Dichtende, in der Dichtung lVeserrde' ist nie das Sei-
ende, sondern das Sein. Wenn im Chor der Tragiidiendichtung
und wenn zumal im Chor dieser sophokleischen Tragiidie der
Dichter eigentlich spricht, dann sagt er hier dichtend das wahr-
haft Zu-Dichtende: das Sein. Und der Dichter sagt es' indem
er im alles tragenden SchluBwort des Chorgesanges den Herd
nennt. Der Herd ist das Wort fiir das Sein, ist ienes in Anti-
gones Wort genannte Erscheinen, das alles und iiber die Gijtter
bestimmt. Das Sein ist nichts Wirkliches, sondern das, was das
Seinkiinnen des Wirklichen bestimmt und zumal das Seinkiin-
nen des Menschen; jenes Seinktinnen, in dem sich das Mensch-
sein erfiillt: das Unheimischsein im Heimischwerden. Dies ist
die Zugehiirigkeit zum Sein selbst' Was west als das Sein und
nie ein Seiendes und Wirkliches ist und deshalb stets so aus-
sieht wie das Nichts, das kann nur im Dichten gesagt oder im
Denken gedacht werden. Bedenken wir wohl, was im Chorlied
genannt wird als das, was der nur im Seienden ausweglos um-
herfahrende Unheimische nicht zu meistern vermag:
rd p6l"trov' "Al6a p6vovgetlr.v or.ix Erdletnu
dem einzigen Andrang vermag er, dem Tod,
durch keine Flucht je zu wehren.
Dieses Eine ist es, dem Antigone s&on zugehdrt, was sie als
zum Sein gehiirig weiB. Deshalb ist sie, weil so im Sein hei-
mischwerdend, im Seienden die Unheimischste. Dieses Sein
und das Heimischseink6nnen wird hier dichtend gesagt. Das
Seinkijnnen des Menschen im Bezug zum Sein ist dichterisch'
Das unheimische Heimischsein des Mensdren auf der Erde ist
,> dichterisch<<.Nehmen wir vom Chorlied des Sophokles das Wort am Be-
ginn und das Wort am Schlu8 zusammen:
Das HeirnischuerdenimUnlrcimischsein 1,SI
rol].d rd 6e lvd xori8tv dv$grbnou 6elv6reqov n6l.er,.Vieif2iltig das Unheimliche, nichts dochiiber den Nfenschen hinaus Unheimlicheres ragend sich regt.
pflr ' 6poi nap6orrog
l6voLro pflr'ioov qpovdrv 6g rd0' ilp8or.Nicht werde dem Herde ein Trauter mir der,nicht auch teiie mit mir sein Wdhnen mein Wissen,der dieses fiihret ins Werk.
Hijren wir beide Worte dabei wie Aussagen und Feststellun-gen iiber Tatbestdnde. also undichterisch, dann finden wir im-mer nur dies als den >Inhalt< des Chorliedes: Der Mensch istdas unheimlichste Wesen. Und: Dieses Wesen wird von einemnicht ndher zu bestimmenden Herde, aus nicht genauer an-gegebenen Griinden, verstof3en. Nun nennt aber das SchluB-wort mit dem Herde das Heimische und sagt darin das Un-heimischsein, weil es die Zugehiirigkeit zum Heimischen unddas Nichtheimischsein des Unheimischen sagt. Dies alles bleibtnun in der Tat im Unbestimmten. Allein. dieses Unbestimmtekann in diesem IJtihepunkt des dichtenden Sagens nicht dieUnbestimmtheit der Leere und des Vagen und fast Beliebigenhaben. Die Unbestimmtheit, oder was vi'ir so nennen. ist dasUnentschiedene, aber erst zu Entscheidende fiir diese Dichtungund in ihr. Das anscheinend Unbestimmte ist das im hiichstenbestimmte Eine, das Einzige, was fiir die ganze Dichtung dasvon ihr irn voraus Zu-I)ichtende bleibt. Ihr Dichtungswiirdigesist nichts anderes als das Heimischwerden im Unheimischsein.Antigone selbst isf das Gedicht des Heimischwerdens im Un-heimischsein. Antigone lst das Gedicht des hijchsten und eigent-lichen Unheimischseins. Darin liegt aber: Dieses Sein des Men-schen, sein Unheirnisch-Heimischsein inmitten des Seienden,wird dichtend gesagt, weil es stets nur als ein Seinkijnnen derWagnis - als ein Zu-Dichtendes und dichterisch Entscheidbaresbleibt. Vielleicht ist gar dieses wesenhaft nur Zu-Dichtende,niimiich das Heimischseinkiinnen des Menschen, das Htichste.
t52 Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone
was der Dichter dichten mu8. Steht es so, dann dichtet Sopho-kles in der Antigone-Tragiidie das im hijchsten Sinne Dich-tungsrviirdige. Das Chorlied nol,trd rd Esrv6. . . ist dann iminnigsten Bezug zur Gestalt der Antigone die innerste Mittedieser Tragiidiendichtung. Und wenn demnach dieses Chorlieddie hijchste Dichtung des hijchsten Dichtungswiirdigen ist,dann kiinnte das wohl der Grund dafiir sein, daB dieses Chor-Iied dem Dichter Hiilderlin in der Zeit seiner Hymnendichtungimmer neu zugesprochen wurde. Damit sei nicht behauptet,Hiilderlin habe von diesem Bezug zur Dichtung des Sophoklesin der Form der jetzt gedeuteten und begrifflich gefaBten Be-ziehungen eigens gewuBt. Wie er es bei sich gewu8t hat, ktin-n.en wir nie wissen. DaB Htilderlin aber im Dichten der Strtime(und d. h. der Ortschaft und Wanderschaft des gesdrichtlichenMenschen) aus seiner ihm zugeschickten lssfi'n'nung in einensolchen Bezug zum Dideter der Griechen gestellt war, mag dasfolgende deutlich machen.
DRITTERTEIL
HOLDERLINS DICHTEN DES WESENS DES DICHTE,RSALS HALBGOTT
21. Hrilderlins Stromdichtung und das Chorlied des Sophohles -das i ew eils geschichtliche H eimischw erden
Das Chorlied des Sophokles und die Stromgedichte Hijlderlins
dichten das Selbe, und deshalb ist zwischen Hijlderlin und So-phokles die dichterisch-geschichtliche Zwiesprache. Weil aber
beide Dichter das Seibe dichten, deshalb dichten sie gerade
nicht das Gleiche; denn das Selbe ist wahrhaft das Selbe nurim Verschiedenen. Das Verschiedene aber ist hier das jeweilig
andere geschichtlidee Mensdrentum der Griechen und der Deut-schen. Und der Grund der geschidrtlichen Verschiedenheit die-ser Menschentiimer liegt darin, daB sie in je versdriedener Wei-se geschichtlich sind, d. h. in verschiedener Weise heimisch wer-den miissen. Deshaib sind sie im Beginn in verschiedener Weiseunheimisch. Dies jedoch sind sie aus dem einzigen Grunde,daB sie, in verschiedener Weise inmitten des Seienden seiend,zu diesem sidr verhalten und in ihm sich halten. Worin aberdiese Verschiedenheit des Heimisch-Unheimischseins im Sei-enden griindet und woraus es sich ereignet, das zu bedenkenist das Gebot eines Denkens, von dem hier nicht gesprochenzu werden braucht. Genug, wenn von daher ein kleines Lichtfdllt auf den dichterisch-geschichtlichen Bezug zwischen HijI-derlins Stromdichtung und dem Chorlied des Sophokles. Dennin diesem Licht kann sich vielieicht die Dichtung Hiilderlinsum Einiges aufhellen.
Von der Oberfldche her gesehen sieht es zwar so aus, alsgingen die Bemiihungen Hiilderlins ledigiich darauf, im Un-terschied zur griechischen Dichtung die fiir die deutsche Dich-
154 Das Wesen des Dichters ak llalbgott
tung wesentlichen >Kunstregeln.< (V, 579) zu finden. Es siehtso aus, als ob Hijlderlin in den Briefen an seinen Freund Bdh-lendorf, wo er vom Eigenen und Fremden der Griechen so-wohl als auch der Deutschen spricht, nur das Finden der echtendeutschen Dichtungsart im Auge und in der Sorge habe. Al-Iein, das ist ja dodr das Entscheidende, daB seine Darlegungeniiber die griec}ische und deutsche Didetungsart zum voraus dasWesen der Dichtung in einem urspriinglichen und wesentlichenSinne denken. Das dichtende Wort bestimr"t sich in dem, wases dichtet und wie es dichtet, aus dem, was das Zu-Dichtendeselbst ist, weil es nur als Gedidetetes >ist<. Hijlderlins Eriirte-rungen in diesen Briefen sind keine Beitriige zu einer kiinftigen
Asthetik der deutschen >Literatur<(, sondern die Besinnung aufdas, was das wesenhaft Zu-Dichtende ist. Und das ist: dasHeimischwerden des geschichtlichen Menschentums der Deut-schen innerhalb der abenditindischen Geschichte. Das Hei-mischwerden und Unheimischsein der Deutschen ist aber nichtnur deshalb ein anderes als das der Griechen, weil die Deut-
schen geschichtli& spdter sind als die Griechen und in den ge-
schidrtlichen Anfang der abendlaindis&en Geschichte im Grie-chentum eingelassen bleiben. Hijlderlin erkennt vielmehr, da8die Geschichtlichiieit beider Menschentiimer in sich eine ver-schiedene ist, sofern das Eigene der Griechen und ihr Fremdesanderes ist als das Eigene der Deutschen und ihr Fremdes. Und
zwar zeigt sich die Verschiedenheit beider Menschentiimer fiir
den Bli& Hijlderlins so, da8 sie entgegengesetzt verschiedensind, und d. h. eben wesentlich: einander begegnend und so
aufeinander bezogen. Was fiir die Griechen ihr Eigenes, ist
fiir die Deutschen das Fremde: und was den Deutschen das
Fremde, ist den Griechen ihr Eigenes.I)as Bigene und seine Aneignung ist das Schwerste. Das Ler-
nen des Fremden aber, das im Dienste dieser Aneignung steht,ist eben deshalb leictrter. Das Leidrtere verstattet eher ein Uber-treffen. Deshalb iibertreffen die Griecfren in dem ihneu Frem-den, d. h. der Darstellungsgabe, uns in unserem Eigenen - in
If iilderlins Strorndichtung und Sophokles' Chorlied t55
der >Klarheit der Darstellungn. Deshalb kiinnle es auch sein,daB einmal die Deutschen, gesetzt, da8 sie ihr Eigenes frei ge-
brauchen lernen und den Bedingungen fiir dies Lernen nichtausweiclen, in dem ihnen Fremden (dem >>Feuer vom Him-mel") das Eigene der Griechen iibertreffen, wenn sie offenergeworden sind, so dafJ >dem offenen Blik offen der Leuchten-
de< (der Himmel) ist. (>Der Gang aufs Land<, IV, 112.) Es
kijnnte sein, daB den Giittern ein >Gast-Haus< (IV, 514) undStift gestiftet und gebaut wird, dern die Tempel der Griechennicht mehr nac-hkommen.
Ob Hiilderlin in dieser Bestimmung des geschichtlichenWechselbezuges zwischen griechischer und deutscher Ge-schichtlichkeit das Anfiingliche schon getroffen hat oder nicht,diirfen wir erst zu der Zeit f.ragen, wenn Hijlderlins Wort ein-mal wahrhaft gehdrt ist und als die Dichtung, die sie ist, denihr gemiiBen Gehorsam erweckt und aus diesem Gehorsamdie gepriigte Weise des Hcirens sich gestaltet hat. Bis zu dieserZeit bleibt jedode die Einsicht entscheidend, daB die geschicht-Iiche Beziehung zwischen Griechentum und Deutschtum kei-ne Angleichung und keinen Ausglei& duldet. Deshalb bleibenalle blo8 >humanistischen< Ankniipfungen und Wiederbele-bungen (>>Renaissancen<<) in den Randbezirken der Geschicht-lichkeit hiingen. Alles liegt vielmehr daran, da8 wir erst das We-sen der Geschichte in seinem wahren Gesetz erfahren, und d. h.,da0 wir von der Not der Geschichtlichkeit getroffen werden.
\Menn aber die Geschi&tlichkeit eines Menschentums imHeimischsein beruht und wenn das lfeimischsein das Heimisdr-werden im Unheimischsein ist, und wenn solches Heimischseinnur dichtend bestimmt werden kann und dichterisch gesagtwerden muB, dann ist Hcilderlin der erste, der die deutsche Notdes Unheimisihseins dichterisih erf?ihrt, und d. h. dichtend sagt.Deshalb kommt von Hiilderlin zuerst und von ihm allein dasWort, in dem das Gesetz des Unheimischseins und Heimisch-werdens ausgesprochen wird; und zwar wird dieses Gesetz dich-terisdr in mehrfacher Gestalt ausgesprochen.
r57156 Das Wesen des Dichters ak Halbeott
Einmal durch das Dichten der Strtime in der Hymnendich_tung. Dann aber zugleich - fast wie in einer Entsprechunszum Chorlied - durch ein eigenes Nennen des Gesetze. ."lb.tlBald ist dieses Gesetz nur im Anklang genannt, bald ist esgewagter und entschieden gesagt. Das Gesetz des Heimisch-seins als eines Heimischwerdens besteht darin, dafi der ge-schichtiiche Mensch im Beginn seiner Geschichte nicht im Hei-mischen vertraut ist, ja sogar unheimisch zu diesem werdenmu8, um in der Ausfahrt zum Fremden von diesem die An-eignung des Eigenen zu lernen und erst in der Riickkehr ausihm heimisch zu werden. Der geschichtliche Geist der Geschich-te eines Menschentums mu8 diesem erst bei seinem Unhei-mischsein das Fremde entgegenkommen lassen, um in der Aus-einandersetzung mit ihm das zu finden, was fiir die Riickkehrzum Herde das Schi&liche ist. Denn Geschichte ist nichts an-deres als solche Riickkehr zum Herde.
22. Der geschichtlich griindende Geist.Erliiuterung der V erse :
onemlich zu HaulJ ist der Geistnicht im Anf ang, nicht an der Quell.lhn zehret die Heirnath.
Kolonie liebt,undtapf erVergessen der Geist.[.Jnsere Blumen erfreun und die Schatten unserer WcilderdenVerschmachteten. Fast wiir der Beseeler uerbrandt.o
Ein Wort von der zweiten Art hat Hiilderlin in der Verborgen-heit seiner Bntwiirfe zuriickgelassen. Vor wenigen Jahren erstsind uns einige Verse bekannt geworden, die auch Hellingrathentweder iibersehen oder iibergangen hat, ein Mangel, der frei-lich die Einmaligkeit seiner Hiilderlin-Ausgabe nie im gering-sten antasten kann. Die Verse sind erstmals veriiffentlicht ineiner Schrift von Fr. Bei8ner: >Hijlderlins Ubersetzungen ausdem Griechischen<<, 1955, S. 147. Diese sorgfiiltige philologi-sche Arbeit nimmt Hellingraths Fragestellung von 1910 wieder
D er geschichtlich griindende G eist
auf und bringt in Einzelheiten manche Verbesserungen. Die
unentbehrliche und nicht hodr genug zu schd.tzende Bestand-
sicherung des Wortlautes der hijlderlinschen Didrtung und ih-
rer Entwiirfe bedarf aber zugleidr der Auslegung. Diese hiingt
iedoch nicht nur ab von der Kenntnis des Wortlautes, sondern
von der Wesentlichkeit der leitenden Auffassung dessen,
was Dichtung, was Gesdrichte, was Wahrheit ist, und was iiber-
haupt >ist<< und was als >>Sein<< erfahren wird. Nach welcher
Hinsiiht die Bemerkungen dieser Vorlesung beziiglich der ge-
nannten >>Zusammenhdnge<< denken, muB aus der Deutung
des Chorliedes aus der Antigone des Sophokles klarer gewor-
den sein. Wir sind bei dieser Deutung des Chorliedes der Anti-gone-Tragiidie stiindig in der Ndhe der Htilderlinschen Strom-dichtung geblieben, auch wenn die Ungeduid der rasdeen >>Er-
gebnisse<< und billigen >Auswertungen<< diesen Umweg fiireinen Abweg halten miichte. Das in der genannten Schrift vonFr. Bei8ner mitgeteilte Wort lautet:
nerrlich zu HauB ist der Geist
nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimath.Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der Geist.IJnsere Blumen erfreun und die Sihatten unserer Weilder
den Verschmachteten. Fast wdr der Beseeler verbrandt.
Diese Verse gehtiren zu einem Entwurf der SchluBstrophe der
Elegie >>Brod und Wein<. (Fr. Bei8ner bemerkt a.a.O. zu die-sem Bruchstiick, es sei >in der steilen, verwirrt eilenden Schrift
der alles dndernden spdten Varianten<< geschrieben.) Wir kiin-
nen jetzt, wenn wir alle voraufgegangenen Anmerkungen im
Gediichtnis haben, dieses Bruchstiick aus ihm selbst verstehen.
Wovon spricht Hijlderlin? Von dem >Geist<< und vom >>Be-
seeler<<. >>Der Geist<< ist schlechthin genannt. Davon wird in un-
seren bisherigen Eriirterungen nicht gehandelt. Wer ist >>der
Geist<? Um die Zeit, da Hiilderlin diese Verse aufzeidrnete,
hatte das Wort >der Geist< im Denken der Denker Schelling
und Hegel, also der nhchsten Freunde Hiilderlins, seine we-
i l ,i ll l
ili rI
t
l
iI
159158 Das Wesen des Dichters als Halbeott
sentliche und eindeutige, wenngleich noch nicht vollentfalteteBedeutung. Wir gingen auf Abwegen, wollten wir meinen, 'vvises neuerdings mehrfach geschieht, Hiilderlin habe den meta_physischen Begriff >>des Geistes<< nur aus der >Philosophie<entlehnt und in seiner Dichtung hier und da iibernommen.Abwegig ist diese Meinung aus zwei Griinden: Einmal des-halb, weil kein Dichter, zumal nicht ein Dichter vom RangeHiilderlins, >Begriffe<< iibernimmt. Zum anderen ist die Mei-nung jedoch abwegig, weil Hijlderlin, wenn er schon in einerdichterischen Auseinandersetzung mit ihm auf dieses meta-physische Denken bezogen bleibt, darauf in der Weise einerUberwindung und Abkehr bezogen bleibt; was wiederum nichteine Vemrteilung der >Philosophie< bedeutet. Aus dem Ge-sagten wird klar, daB Htjlderlins Wort >>der Geist< seiner Be-deutung nach von der deutschen Metaphysik bestimmt ist,aber nicht mit dem identisch ist, was diese in ihren Begriffendes >subjektiven< und >objektiven<< Geistes >systematisch<denkt. Nach dem metaphysischen Begriff ist >der Geist<schlechthin >das Absolute<, das Unbedingte, was alles Seiendein seinem Sein bedingt und bestirnmt. Der Geist ist das allesBestimmende und daher das allem Seienden wesenhaft Ge-meinsame. Der Geist ist als der Geist der gemeinsame Geist.Nach dem metaphysischen Begriff hat der Geist seine Aus-zeichnung im Denken. Der Geist denkt in seinen Gedankendas, was jedem Seienden als einem Seienden zukommt, dasihm Zugeschickte. >Des gemeinsamen Geistes Gedanken,, ge-htiren aber wesentlich zum Geist, weil das Denken das Seindes Geistes ausmacht. Der Geist ist >eigentlich.<< Geist, indemer das Wesenhafte denkend sich selbst denkt und so bei sichselbst is/. Nur wenn der Geist sich selbst denkend bei sich ist,ist er wahrhaft Geist. Und seine Gedanken gehiiren ihm nichtnur, sondern haben die Auszeichnung selbst zu sein. Die Ge-danken selbst >sind< in einem ausgezeichneten Sinne. Deshalbsagt Hiilderlin in einem Vers der Hymne >Wie wenn amFeiertage . . .<:
Der geschichtlidt gri,indende Geist
des gemeinsamen Geistes Gedanken sind.
Das ist freilich kein in die Dichtung verirrter metaphysischer
Satz. Der Hymnenvers bedenkt didrterisch dieses, daB der
Geist ist und seiend allem Seienden das Schickliihe seines Seins
zudenkt. Sofern aber der Mensch das ausgezeichnete Verhiilt-
nis zum Seienden hat, ist der Mensch der ftr das Schickliche
Offene und dem Geschick Zugewiesene in seinem Nfenschsein.
Weil der Mensch und insofern der Mensch dem Geschick offen
ist und in das Geschick sich sdeickt und so das Schickliche, aber
auch das Unsdrickliche als den Wesensgrund und Ungrund des
Menschseins iibernimmt und ausfaltet, verwirft und verwirrt'
ist der Mensch geschichtlich. Und mrr weil er dergestalt ge-
schichtlich is/, kann er Geschichte >haben<<. Und nur rreil er
und soweit er Geschichte >hat<, kann er mit dieser Habe und
aus ihr Geschichte >)machen(. Ob jedodr die machbare Ge-
schichte, ob auch nur die Geschichte als gehabte das Wesen der
Geschichte bewahrt oder ob nicht schon eben dieses Haben
selbst, vollends eben dieses Machen selbst das Verlieren des
Geschichtlichseins sind im Sinne des Ungeschichtliihwerdens,
dariiber kann einiges aus dem vorher Gesagten vermutet wer-
den.Das Finden des Schicklichen im Unheimischsein ist das Hei-
mischwerden. Die Bewahrung dieses Werdens ist das Gesdricht-
lichsein, das zu seiner Wesensfiille gelangt, wenn es das ihm
Zuges&ickte als das schon Gewesene erkennt. Das dem Men-
schen Zu-geschickte ist das, was >>der Geist<< denkt und dem
Menschen zudenkt, so daB >>der Geist< im geschichtlichen
Menschen die Geschichtlichkeit bestimmt. Das Zugeschiclte
uncl Schickliche aber bleibt fiir den Menschen stets das auf ihn
Zukommende, Zukiinftige. Das Zugeschickte ist nie das Ent-
schiedene; es bleibt voll der Schickungen und ist nur aus ih-
nen. Das Zugeschic}te schickt sich so und anders und bleibt
stets im Kommen. In diesem Kommen jedoch ist es nur zu
denken, indem es als das Kommende aufgenommen und be-
161160 Das Wesen des Dichters als Halbgott
wahrt wird. Vom Wirklichen aus gerechnet, ist das Kommendedas noch nicht Wirkliche, aber doch schon >wirkende< >Unwirk-liche<. Das Kommende in seinem Kommen wird erfahren undbewahrt im Diihten. Der geschichtlich griindende Geist mufidaher zuerst seine Statte finden im >>Mut<< des Dichters. Dasandere wort fiir das >Gemiit< ist >>seele<. Seele wird hier nichtverstanden als >Prinzip< des tierisch-pflanzlichen Lebens, son_dern als Wesen des Gemiits, das in den Reichtum seines Mutesdie Gedanken des Geistes aufnimmt.
Des gemeinsamen Geistes Gedanken sindStill endend in der Seele des Dichters.
Weil in der >>Seele<< des Dichters des Geistes Gedanken aufder Erde heimisch werden, ist der Dichter >der Beseeler<<. so-fern der Dichter dichtend den Geist im Seienden walten ld8t,indem er das Seiende, es sagend, in seiner Begeisterung er-scheinen laBt. >Dichten< ist das Sagen der Gedanken des Gei-stes: Didrten ist dichtender Geist. Die Dichter sind. >>geistige<.Im Dichten aber wird das Zugeschickte der Geschichte gesagtund dadurch die Geschichte des Menschen in sein Heimisch-werden gegriindet. >>Der Geist<< ist das dichterische Wesen desHeiiigen (vgl. >Wie wenn am Feiertage. . .<<), sofern diesessidr zum Wort bringt und als das Wort den Menschen in denAnspmch nimmt. Der Geist hat die Vollendung seines Wesensdort, wo er still endet: >in der Seele des Dichters<. >Der Be-seeler< ist der dichtende Geist. (Vgl. den Entwurf zu >Brodund Wein<; IY,522: >Auch Geistiges leidet, Himmlischer Ge-genwart ziindet wie Feuer, zwlezt.<<) >>Der Geist<< und >der Be-seeler<( sind auf das Heimischsein wesentlich bezogen unddurch dieses und im Bezug auf dieses selbst in ihrem Wesenbestimmt. Wie >>der Geist<, der die Geschichte eines geschicht-lichen Menschentums griindet, ist, sagt Hiilderlins Wort:
nemlich zu HauB ist der Geistnicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Hei-math.
D er ge schichtlidt griindend e G eist
Die zund.chst niitige Erlduterung dieser beiden Verse muB kli-
ren, lvas hier heiBen soll: >>nidrt im Anfang, nicht an der Quell<.
Sagt das zweite Wort: >nidrt an der Quell<, nur in anderer
Fassung das, was gesagt wird mit: >nicht im Anfang<? Steht
es so, dann bedeutet >>Anfang<< soviel wie >>Quelle<, d. h. Ur-
sprung. Dann ergibt sidr aber eine iiberfliissige Worthdufung,
durde die zweimal dasselbe gesagt wird. Man kijnnte dies aber
daraus erkldren, da8 Hijlderiin im FortriB des dichterischen
Entwurfes beide Fassungen hintereinander setzte. Nehmen wir
dies an, verstehen wir >Anfangu im Sinne von >>Quelleu, dann
sagen die Verse: >nemlich zu HauB<, d. h' doch im Eigenen
und damit im Ursprung, und d. h. >>an der Quelle<, ist der
Geist >nicht an der Quelleo: niimiich >zu HauB ist der Geist
nicht zu HauB<. Das ist doch ein Widersprudr, jedenfalls nach
dem unmittelbaren Wortlaut genommen. Denken wir iedodrauf das Gesagte selbst, dann werden wir doch zi5gern, hier nur
einen Widersinn finden zu wollen. Wenn das Wort sagen soll-
te: >>zuhauB ist der Geist iiberhaupt nidet und nie zu HauB<,
>>zu HauBsein<< kann iiberhaupt nicht als eine Bestimmung
des Geistes gelten, dann entbehrt das Wort freilich jeden Sinn.
Das Wort ktinnte aber auch bedeuten: >nemlich zu HauB ist
der Geist<< keineswegs schon dadurch, da8 er Geist ist und so
iiberhaupt scleon sidr im Hause seines Wesens aufhdlt. Der
Geist ist und west in und aus seinem Wesensbereiih, aber er
gehiirt diesem Bereich doih noch niiht sogleich als Geist, d' h.
im freien Denken und Gebrauihen des Urspriingiichen' >>Zu
HauB< ist der Geist wohl und wesenhaft, weil er das >zu HauB-
sein<< des geschichtlichen Menschen selbst griindet, aber in sei-
nem )>zu HauB<< ist er nicht sogleich heimisch. Dichterisch ent-
hiillt sich diese Wahrheit schon durdr die Wortfiigung und die
von ihr geforderte Betonung: >>nemlich zu HauB< ist der Geist
nicht, >>nicht< ndmlidr zundchst und sogleich, nicht n?imlich
>anfiinglichu. Anfang nennt hier Beginn. AIso bedeutet hier
Anfang etwas anderes als >>Quelle<. Jetzt enthdlt der Vers
nicht nur keine leere Wiederholung, sondern jetzt enthiillt
162 Das Wesen des Dichters als Ila.lbgott
sich erst die volle Wahrheit des Wortes: >>nicht an der Queli<.Dies soll keineswegs sagen, da8 der Geist im Beginn nicht ander Quelle >>ist<<. Der Geist ist sehr wohl und stets >an derQuell<, aber im Beginn ist er >>an der Quell< >nicht zu HauB<.Deshalb muB er erst >>an der Quell< heimisch werden und da_zu mu8 der >Geist<< erst eigens >an die Quelle< gehen.
An die eigentliche Quelle zu gehen, ist der schwerste Gans.Er ist schwer, sowohl weil er in seiner Notwendigkeit a;schwersten zu erkennen ist, als auch deshalb, weil der Vollzugdas Htjchste fordert. Wie soll denn das Gehen an die QueIIeerst noch iiberhaupt eigens bedacht werden, da doch der Geistin seinem Wesen und nur aus seinem Wesen iiberhaupt undschon Geist ist. Und wenn gar ein Gehen an die Quelle dochnoch niitig sein sollte, was ktjnnte leichter sein als das Gehenzu dem, worin und wobei er schon ist? Aber dieser Anscheindes Leichtesten verhiillt das Schwerste. Dem Leidrtesten fol-gend weicht der Mensch dem Schwersten aus. Daher sagt Hiil-derlin das Wort in dem Gedicht >Andenken< (4. Strophe):
. . . MancherTriigt Scheue, an die Quelle zu gehn;1
Der Geist ist im Beginn nie >>zu HauB<<. Die beiden lVorte>nicht im Anfang<, >nicht an der Queil< diirfen gar nicht sozusarnmengestellt werden, wie es oben geschah. Das >>nidrt<bei >nicht irn Alfang< bezieht sich keineswegs auf den >>An-fang.,, sondern auf >zu HauB.<: >>zu HauB< nicht ist der Geist,ndmlidr >im Anfang<. Also ist er im Beginn >nicht an derQuell<, sofern er an ihr nicht >>zu HauB<, d. h. niiht heimischist. Aber warum ist der Geist anfdnglich an der Quelle nichtheimisch? Htilderlin antwortet unmittelbar: >>Ihn zehret dieHeimath<<.
Im Beginn der Geschichte eines Menschentums ist das die-sem zugeschickte Geschick zwar zugewiesen. Das Gewiesene istim Kommen. Das Kommende ist noch verhiillt und mehrdeu-1 Vgl. Vorlesung Winter-Semester 1941/42; GA. Bd. Sg, S. 169 ff.
D er geschichtlidt griindende G ei st t63
tig. Deshalb kann auch das, was das Schickliche ist, nicht so-
gleich eindeutig umgrenzt und klar gepflegt werden. Im Be-
ginn vermag das geschichtliche Menschentum nicht in den of-
fenen und gefiigten Miiglid*eiten seines Wesens sich frei zu
bewegen. Es ist noch gegen das ihm zugeschickte Geschick ver-
schlossen. Damit aber ist es von seinem eigenen Wesens-
ursprung in gewisser Weise ausgeschlossen. Das geschichtliche
Menschentum ist mit der entfalteten Wesensfiille seines Ge-
schicks noch nicht vertraut, in ihr nicht >>zu HauB<<. Im Beginn
ist das Himmlische noch nicht gedeutet, sondem kommt im
Anfall iiberfallend herab: >>aber wie Flammen Wirket von
oben und priift Leben (d. h. >das Eigene<<, vgl. IV, 527) ver
zehrend uns aus. <( (Entwurf zu >>Brod und Wein<< , IY, 52I ff.;
vgl. >Die Titanen<<, IV, 208 ff.). Deshalb sind die Kriifte, sich
in das Geschick wahrhaft zu sdricken, d. h' ihm schicklich zu
begegnen, noch ungefiige, ungeiibt. Die ungefiigen eigenen
Krdfte stofJen und reiben sich aneinander und bedrohen so sich
wechselweise selbst und drohen das eigene Wesen des Men-
schentums aufzureiben. Bliebe der die Geschichte bestimmende
Geist nun in diesem Beginn zurtick, wiirde er auf dieser un-
gefiigen Verschlossenheit bei sich selbst verharren, dann miiB-
te er seine eigenen Kriifte richtungslos in diesem wirren Wesen
umherjagen. Die Wesenshrtifte und Wesensmiiglichkeiten des
Zugewiesenen wiirden in solcher Wirre aneinander sich abmii-
hen und aneinander zerre\ und dabei side verbrauchen und
verzehren. Das noch unbefreite Eigene, fie Heinat selbst, rein
sich selbst iiberlassen, zehrt so am >>Geist( und bedroht ihn mit
der Auszehrung: >Ihn zehret die Heimath<.
Nun ist es aber das Wesen des Geistes, daB er nur eigentlich
ist, wenn er bei sich selbst ist. Denn nur wenn er bei sich selbst
das Ganze seiner alles bestimmenden Gedanken zu denken
vermag, kann er wahrhaft Geist, d. h' >der gemeinsame Geist<
sein. Im Geist waltet daher die Sehnsucht zu seinem eigenen
Wesen. Also mu8 der Geist um seines Wesens willen und im
Gehorsam zur Aneignung seines Eigenen gerade im Beginn,
iiirI, lI
16+ Das I4 esen des Dichters ak Halbgott
>im Anfang<<, nie >rzu HauB<, d. h. nie heimisch sein. DerGeist ist nur dann wesentlidr unheimisch, wenn er um des Ei-genen willen, aus dem Willen seines Wesens, das Unheimische,das Fremde will. Deshalb sagtHiilderlin:
Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der Geist.
>>Kolonie< - das ist nicht das blo8e Fremde des Fremdartigenund Exotischen, das der Abenteurer zu seinem betdubendenGewissen aufsudrt. Den Geist befiillt nicht eine zufZillige Lust
nach dem Fremden. Der Geist >>liebt<< Kolonie. Liebe ist derwesentliche Wille zum Wesentlichen. >>Kolonie<< ist stets das auf
das Mutterland zuriickbezogene Tochterland. Der Geist >>liebt<
Kolonie; er wiII im Fremden wesentlidr die Mutter, die freilich
nach der Hymne >Die Wanderung<< (IV, 170) >schwer a), ge-
winnen: die Vers&Iossene<<. Indem der Geist aber >Kolonieo
>liebt<<, isl er im wesenhaften Sinne >nicht zu HauB<<; er hat
das Un-heimisdrsein in den Willen seiner Liebe aufgenom-
men. Das wesentliche >>nicht zu HauB sein< ist das wesenhafteUnheimischwerden wollen. Der Wille dieser Liebe >Iiebt Ko-
lonie<< so wesentlich, da8 diese Liebe auch >>tapfer Vergessen<
liebt; >Und tapfer Vergessen<. Das >und<< bedeutet nicht bIoB:
>>und au8erdem nochu, sondern will sagen: >>und um dieser
Liebe willen und zu ihren Diensten Iiebt der Geist gerade tap-
fer Vergessen<.Was ist das - Vergessen? Sein Wesen ist so mannigfaltig
wie das des Nicht-Vergessens, d. h. des Behaltens. Die Weisendes Behaltens bestimmen sidr nach den Wesensmiiglichkeitendes Erfahrens und iiberhaupt des Denkens an etwas. >>Ver-
gessen<< - das kennen wir meist in der Form des >Nicht-mehr-
daran-denkens<. Aber dies kann heiSen, da8 etwas uns >>ent-
geht< und entgangen ist, oder daB wir selbst uns etwas aus
dem Sinne schlagen und wegsdrieben. Das Vergessen ist ein-
mal das Entfallen, ein Verlust, zum anderen das WegstoBenund Ausweichen, eine Flucht. Diese Flucht ist am leichtesten,
wenn sie irgendwohin fliehen kann, was selbst uns sogleich
D er geschichtlich grilnr)ende G e ist 165
schon gefangen nimmt, so daB wir dabei, wie wir sagen' )>uns
vergessen<. In all diesen Weisen nehmen wir das Vergessen
als ein Verhalten, das wir vollziehen und bei uns zulassen, so-
fern wir etwas vergessen und in bezug auf Manches verge8-
lich sind. Aber es ist noch eine andere Vergessenheit, bei der
nicht wir etwas vergessen, bei der wir vielmehr vergessen wer-
den und seibst die Vergessenen sind. Es kann geschichtliche
Zeiten geben, in denen der Mensch selbst nicht nur der Ver-
geBliche, sondern der Vergessene ist. Vergessensein in diesem
Sinne bedeutet dann: Nicht mehr gegriiBt sein in jener we-
sentlichen Bedeutung, die friiher umschrieben wurde.z Hijl-
derlin aber nennt hier nun das Vergessen in eins mit der Liebe
zur Kolonie. Dies Vergessen ist nicht einfach Wegsehen von
der Heimat. Es ist >>tapfer Vergessen<<. Zur Tapferkeit gehiirt
ein Wissen von dem, worauf alles im Handeln und Ertragen
zum voraus ankorn.nt. Aus diesem Wissen hat die Tapferkeit
ihren Adel gegeniiber dem bloBen >>Mut<< im Sinne der Lei-
dens&aft eines Strebens. Tapferkeit ist der wissende Mut. In
diesem Wissen liegt der Grund der Bestdndigkeit und der Ruhe
und der Umsicht, die den Tapferen auszeichnen' Das >>tapfer
Vergessen<< ist der wissende Mut zum Erfahren des Fremden,
welches Erfahren stiindig im Fremden das Eigene bedenkt'
Die Tapferkeit des Vergessens in der Liebe zur Kolonie ist die
Bereitschaft, im Fremden vom Fremden um des Eigenen wil-
len zu lernen und dergestalt das Eigene, bis es die Zeit ist,
hintanzustellen.Weil das Vergessen ein >tapferes<< ist' deshalb bleibt auf der
Wanderung in die Fremde der Zauber der Heimat bewahrt'
Das Wissen bleibt, da8 die Heimat selbst am Quell und Grund
des geschichtlichen Heimischseins wohnt und die >Ortschaft<<
ist. Deshalb beginnt Hiilderlins Hymne >Die Wanderung<(
(IV, 167) niiht mit der Trauer eines Abschiedes von der Hei-
mat, sondern mit dem Jubel des innigsten Griifiens:
t Vgl. Vorlesung Winter-semester 1941142; GA. Bd. 52, S' 188 ff'
166 Das Wesen des Dichters als Halbgott
Gliikseelig Suevien, meine Mutter,
(gliikseelig bist du zu preisen)denn nah dem Heerde des Hausses
Wohnst du, und hiirst, wie drinnenAus silbernen Opf erschaalenDer Quell rauscht, . . .
Die dritte Strophe freilich beginnt aus dem tapferen Gliickdieses Gru8es anders:
Ich aber will dem Kaukasos zu !
Hell steht es jetzt vor uns: >Kolonie liebt, und tapfer Vergessender Geist<<. Das Unheimischsein wird erfahren. Die Ausfahrtin die Kolonie verlangt ein eigentiimliches Nicht-denken andie Heimat. Zugleich aber sc,henkt auch erst die Ausfahrt wie-der das Denken an das Heimische. Die Ausfahrt ist kein blo8esIlintersichlassen, sie ist bereits der erste und daher entschei-dende Akt der Riickkehr zur Heimat. Darum sagt Hiilderlinin der SchluBstrophe des Gedichtes >Andenken<:
Es nehmet aberUnd giebt Geddchtniss die See,
Wir behaupten: In dem genannten Bruchstiick nennt Hiilder-lin das Gesetz des Unheimischseins als das Gesetz des Hei-mischwerdens. Das Gesetz ist jener Wesenszug, in den die Ge-schichte eines geschicltlichen Menschentums gesetzt ist. Alsomu8 im Gesetz dieser auszeichnen de Ztg genannt werden.Sonst bliebe es eine blofie Regel und irn Unbestimmten. AberHijlderlin spricht doch auch nur im allgemeinen von )>zuHauB<< und von >>Kolonie<. Was das Fremde ist und was dasHeimische, wird nicht gesagt. So sieht es aus, solange wir nichtdie beiden folgenden Verse bedenken:
IJnsere Blumen erfreun und die Schatten unserer Wdlderden Versihmachteten. Fast wdr der Beseeler verbrandt.
D er geschichtlich grilntlende G eist
>IJnsere Blumen<, und in solcher Betonung: >und die Sihat-
t€n unserer Wiilder< - das ist das Heimische, und zwar ist dies
genannt als das Erfreuende. Die Freude ist Behiitung und Hut
der Heimkehr in das Eigene. Nur deshalb gibt es auch die
Freude >>fiir<< andere, da0 sie in ihr eigenes \Nesen und Ge-
schick gewiesen sind und gelangen. Die Freude nimmt das un-
heimische Heimischwerden auf. Freude ist Empfang, der mit
seiner klaren Stille das Unheimischsein wie unversehens auf-
nimmt und in das Heimischrverden geleitet. Die also Gelei-
tenden sind die >Engel<<, niimlich >die Engel zum Herd des
Vaterlandes<, die der Dichter >>sonst<( singen will, wenn er
nicht, die griechischen Diihter iibersetzend, der Fremde ge-
denkt. Schatten und Blumen erfreuen den Verschmachteten'
denl >>im Feuer des Siids fielen die Loken mir aus<< (Der Wan-
derer, V. M,IY,L03).Die Blumen sind >>der Widerstral des Tages<< und die >Blu-
men< sind zugieich >die Blumen des Wortes< und >der Ge-
dankenu. Die Blumen sind auf die Dichtung und den Dichter
bezogen (vgl. IV, 257, 722). Die Schatten bringen die Kiihle,
den milden Schutz vor der iibergroBen Glut des fremden Feu-
ers. Die Blumen bringen das sanfte Leudrten, den Schutz vor
der iibermd.Bigen Helle des fremden Feuers. Die Blumen und
die schattigen Wiilder aber sind )>unsere<<: die deutschen, die
einheimischen, die in das Heimisdre einweisen und den im
fremden Feuer Verschmadrteten aus der Bedrohung des Ver-
brennens lijsen. Dies gesdrieht aber so, da8 jetzt >der Besee-
ler<, auch erst das Erfreuende als das Bestimmende des Hei-
mischen erkennt und den Gang zur Quelle als den notwen-
digen erf?ihrt. Jetzt wird diese Erfahrrng zum \ryeg' das Eige-
ne frei gebrauchen zu lernen, da das Eigene ielzt zu seiner
Bestimmun B; z:ur kiihlen Kliirung des Feuers vom Himmel'
befreit und so >eigent)"ich< geworden ist. >Fast< bis an die
Grenze der Vernichtung im Feuer muB die Wanderschaft in
das Unheimische gehen, damit die Ortsclaft des Heimischen
ihr Erfreuendes und Rettendes schenkt.
t67
rlJIll'
168 Das Wesen des Dichters ak llalbgott
Hijlderlin spricht in diesem >Brudrstiick< geschichtlich dich-terisch fiir die einzige Geschichte der Deutschen das Gesetzdes Unheimischseins als das Gesetz des Heimisdewerdens aus.Wir erkennen dies freilich nur, wenn wir das bedacht haben,
was Hiilderiin in seinen Hymnen diihtet, indem er das >Heili-
ge(< sagt. Es gentgt hier, an die erste Strophe der Isterhymne
zu erinnern. Sie beginnt:
l::t n"**", Feuer!
lange habenDas Schikliche wir gesucht, . . .
Doch auch diese Worte und fie der anderen Hymnen blieben
uns zu einem wesentli&en Teil in ihrer Wahrheit verschlossen,
weiren uns nicht die erw?ihnten Briefe erhalten, in denen Hijl-
derlin iiber das Eigene und Fremde unserer Geschichte sich
ausspricht.s Hier sei nur eine Stelle aus Hijlderlins Brief an
Biihlendorf vom'1. XIL 1801 angefiihrt:
>Wir lernen nichts schwerer als das Nationelle frei
gebrauchen. Und wie ich glaube, ist gerade die
Klarheit der Darstellung uns urspriinglich so natiirlide,
wie den Griechen das Feuer vom Himmel.< (V, 319)
Dieses Wort bediirfte freilich auch einer Erlduterung. Hier sei
nur das Niitigste angemerkt. Das Eigene der Grie&en ist >>das
Feuer vom Hirnmel<<, d. h. das Licht und die GIut dessen, tvas
die Ankunft und die Niihe der Gtitter bestimmt. Um aber die-
ses Eigene anzueignen, mu8ten die Griechen durch ein Frem-
des hindurch, n,irnlich durch die >Klarheit der Darstellungo.
Von dieser mu8ten sie befremdet und gefa8t werden, um mit
ihrer Hilfe erst das Feuer in den stillen Glanz der reinen Helle
zu bringen. Durch das ihnen Fremde, das kiihle Sichfassen-
kiinnen, wurde erst ihr Eigenes ihnen zum Eigentum. Aus der
s Vgl. die Vorlesung Winter-semester 7947142; GA. Bd. 52, S. 22 ff., S'150 ff. und S. 180.
Der geschichtlidt gri,indende Geist 169
Strenge des dichtenden, denkenden, bildenden Fassens ver-mochten sie erst den Giittern in einer hellgefiigten Anwesen-heit entgegenzukommen. Dies war das griedrische Bauen amlVesensgrund der 116l,rg. Die Schwiiche der Griechen lag darin,sich nicht fassen zu kijnnen angesichts des Uberma-Bes des Ge-sihickes und seiner Schickungen. Aus der Gewalt des Feuers,d. h. des ihnen urspriinglich >Natiirlichen<, hatten sie einUbermaB an Schicksal. Ihre Grrj8e wurde es, das Sichfassen-kijnnen gelernt zu haben (V, 258), um dadurch erst im Eige-nen )>zu Hau8u zu sein.
Das >Natiirlicheu, d. h. das als Eigenes Mitgegebene derDeutsdren aber ist umgekehrt die Klarheit der Darstellung,das Fassenhdnnen, das Bilden der Entwiirfe und Einfassungenund Geriiste. Das Bereitstellen der Rahmen und Fddrer, dasEinteilen und Gliedern reiBt sie fort. Dieses >Angeboreneuwird den Deutschen solange nicht eigentlich ihr Eigenes, alsdieses Fassenktjnnen nicht in die Notwendigkeit gebracht wird,das UnfaBliche zu fassen und sich angesidrts des UnfaBliclienzu fassen. Aus diesem Wissen von der Geschichtlichkeit derDeutschen und nur aus ihm sind die harten Worte Htilderlinsam Sdrlu8 des >Hyperion<< zu denken. (vgl. II, 282ff.) Wasden Deutsihen fehlt, was ihnen somit als das ihnen Fremdeerst entgegenkommen muB, ist >>das Feuer vom Himmel<. Die-ses miissen die Deutschen erfahren lernen. um in der Betrof-fenheit durdr das Feuer in die rechte Aneignung ihrer eigenenDarstellungsgabe gezwungen zu werden. Sonst bleiben dieDeutschen in der Gefahr und Schwiiche, aus der Ubereilungihres Vermrigens jedes Feuer niederzuschlagen und das Fassen-kiinnen und Einfassen um seiner selbst willen zu betreibenund gar das Einfassen und Einrichten fiir das Feuer selbstzu halten. Daher ist es die reine Selbsterfahrung des eigenenDichtens, wenn Hcilderlin im Unterschied zum Griechentumvon den Deutschen sagt: >da hingegen die Haupttendenz inden Vorstellungsarten unserer Zeit ist (will sagen: d,er Zeitder Deutschen), etwas treffen zu kiinnen, Geschik zu haben,
770 Das Wesen des Dichters als Halbeott
da das Schiksaallose, das 8topoQov, unsere Schwiiche ist.< Die-se Bemerkung steht in den Betrachtungen, die Htilderlin seinerAntigone-t)bersetzung mitgegeben hat (V, 258). Das Gesetzder Geschichtlichkeit eines geschichtlichen Volkes sagt, daB das>Natiirliche<< eines Menschentums nur wahrhaft seine >Natur<
ist als >das Geschichtliche< seiner Geschichte. Deshalb ist dasnatiirliche >Eigene< in seinem Gebrauch das Schwerste. Un-entbehrlich und so im Dienste des Schwersten, d. h. >>leichter<,
ist das Fremde.aDie Deutschen miissen, um ihr Eigenes frei gebrauchen zu
lernen, vom Feuer des Himmels getroffen werden. Deshalb istdie Ausfahrt in das siidliche Land unumgiinglich. Deshalb istder Nordost die VerheifJung des dichterischen Geschickes. Des-halb wird der Nordost begriiBt.
Hiilderlin ist der vom Gott des Lichtes Geschlagene. Er is,auf der Riickkehr von der Wanderung zum >>Feuer<. Er istder >versihmachtete Beseeler<. Hijlderlin spricht das Gesetz desHeimischrverdens der Deutschen aus. Doch Hiilderlin lvei8nicht nur, ruas das Gesetz der Geschichtlichkeit der deutschen-abendliindischen Geschichte sagt. Hijideriin weiB zugleich, wie
dieses Gesetz allein erfahren und gesagt werden kann. DiesesGesetz enthiillt sich nur dem Dichter! Weshalb muB das sosein? Warum muB dies Gesetz der Geschichte und damit dasWesensgesetz des abendldndischen deutschen Menschentums in
der entscheidenden geschichtlichen Zeir der Deutschen dichte-risch gesagt werden?
a Die Rede von den >Vorstellungsarten unserer Zeit< geht im besonderenauf die unbedingte Metaphysik und ihre Frage nach der absoluten Er-kenntnis des Absoluten, lvelche Frage in Wahrheit keine Frage sein kann,da das Absolute seinem Wesen nach >>bei uns<<, den Menschen, sein will unddas Erkennen des Absoluten durch uns nur der Strahl des Absoluten ist'der uns beriihrt. Vgl. meine Auslegung der >Einleitung< zu Hegels >Pird-nomcnologie des Geistes< (GA. Bd. 5, Holzwege, S. 115-208).
23 . Das Dichten des Wesens der Dichtung - der dichterisdteGeist als der Stromgeist. Das Heilige das Zu-Dichtende
Auch diese Frage hat der Didrter, ohne daB er sie in solcherWeise stellte, nach seiner Art dichterisch beantwortet. Spdterst, in seinem spdtesten und befremdlichsten Wort kommtdie Antwort: das Gedicht >In lieblicher Bldue bliihet mit /Dem metallnen Dache der Kirchthurm.<( (VI, 24) Hier sagtHiilderlin:
VoII Verdienst, doch dichterisch wohnetDer Mensch auf dieser Erde. -
Das Wort ist in seiner Herkunft dunkei und ist doih ohne denwachen Geist Htilderlins nicht zu denken. Es enthiilt eine Ein-schrdnkung eines zuvor Zugestandenen. >VoIl Verdienst...<<zwar wohnt der Mensch. Er vermag in seinem Wirken und inseinen Werken die Ftlle. Fast uniibersehbar ist, was derMensch ausrichtet, wodurch er sich auf dieser Erde einrichtet,indem er sie nitzt, abmiidet und bearbeitet, indem er sichsdriitzt und sichert und seine >>Kiinste<<, d. h. griechisch r61vq,fijrdert. >Doch< - all dieses reicht nicht in den Wesensgrundseines Wohnens auf dieser Erde. All dieses Werken und Lei-sten, Anbauen und Pflegen ist nur cultura, Kultur. Kultur istimmer nur und immer schon Folge eines >Wohnens<<, eines>zu HauB<-seins des Geistes. Dieses Wohnen aber, das eigent-liche Heimischsein, ist >dichterisch<<. Die Mitte und der Grunddes Wohnens, d. h. der >Herd des Hauses<<, ist nichts, wassich innerhalb des Wirklichen durch Machen und Leisten aus-machen und aufgreifen iiiBt. Das Wohnen selbst, das Hei-mischsein, ist das Heimischwerden eines Unheimischseins. Die-ses griindet im Dichterischen. Doch wie und woher und wannist das Dichterische? Ist es ein Gemdchte der Didrter oder sinddie Dichter und das Didrterisihe bestimmt durch die Diihtung?Aber was ist das Wesen der Dichtung? Wer bestimmt dieses?LdBt es sich aus den vielen Verdiensten der Mensdren auf der
772 Das Wesen des Dichters als Halbgott
Erde ablesen? Es scheint so, rveil ja doch die Dichtung zu denKulturleistungen gercchnet lverden hann, daran man hinter-her >>dsthetisch< und literatur-historisdr feststellt, wie beschaf-fen die Dichtung und ihre Dichter sind. Ist die Dichtung >Kul-turleistung<? Sind die Dichter die >Kultursdeaffenden<(, g€-setzt, da8 sie Dichter sind und nicht bIoB Sderiftsteller undSilbenstecher? Oder ist diese Meinung der Neuzeit iiber dieDicJrtung und die Kunst und das Denken ihre eigene geschicht-
liihe Verirrung?Wenn aber das Dichterische allen Verdiensten entgegenge-
setzt ist und nicht unter das Verdienst des Menschen fdllt undauch nichts ist, was an sich besteht, wie sollen die Mensdren
dann das >Dicleterische< je erfahren kijnnen? Und gesetzt, da8das abendliindische geschichtliche Menschentum seit langemschon auf dem Wege ist, so unheimisch zu werden, da8 es dieSage des Heimischwerdens vergi8t, mu8 dann nicht zuerstdas Gesetz des Heimischwerdens erfahren und an das Wesender Dichtung erst gedacht werden? Wer anders kann darandenken als der Didrter? Das Wesen der Dicltung mu8 erstwieder gedichtet werden. Die innerste Not der Gesihichte ver-langt die Notwendigkeit, daB ein Dichter ist, der das Wesender Dichtung vorausdichtet. Dieser Dichter zu sein, ist dasSchwerste.l
Dieser deutsche Dichter mu8 nun aber gerade dann, wenner das Wesen des Heimischwerdens ahnt und das Gesetz weiB,allem zuvor ausfahren in das Fremde, um >das Feuer< sich
entgegenkommen zu lassen und zugleich in der F remde zu
lernen, wie das Feuer zum stillen Scheinen der Giitter wurde.Dieser Diclrter muB in die geschichtlidr-dichterische Zwiespra-
1 Wir sollten also nicht meinen, der >I{inweis< auf >Hijlderlin und das
Wesen der Dichturg< sei deshalb gegeben, damit die Asthetik und Litera-turwissenschaft eine neue Gelegenheit habe, si& einen Begriff vom \{esender Dicltung zu verschaffen. Anderes steht auf dem Spiel als nur die Be-reinigung im Wirrwarr der Literaturwissenschaft. Jener ,rHinweis< mijchtegar nicht in den Wettbewerb der Absidrten der Literatur- und Philosophie-Historie treten und iiberlii8t >die Forschung< ihrem eigenen >Fortschritt<.
Der dichterische Geist als der Stromgeist
che mit jenem Dichten kommen, das in seiner Weise zuvordas Heimischwerden im Unheimiscfisein gedichtet hat. Dieserdeutsche Dichter muB lernen, das >Feuer<< zu sagen, um dannzu erfahren, was das Wort seiner Dichtung sein muB. Was istdas Zu-Dichtende dieser Dichtung? Hiilderlin nennt dies >dasHeilige<. Das dichterische Nennen dessen, was das urspriing-lich Zu-Dichtende und deshalb das Dichterische ist, ereignetsiih in Hijlderlins Hymnendichtung. Deshalb wird in dieserDichtung das Wesen des Didrtens mitgedichtet. Deshalb, unddeshalb allein, ist diese Hymnendichtung in einer wesentlichenHinsicht Stromdichtung. Der Stromgeist ist der dichterischeGeist, der die Wanderschaft des Unheimisc}seins erfAhrt und>>an<< die Ortschaft des Heimischwerdens >denkt... Der Stromkann als Strom, d. h. als die Wanderschaft, niemals die Queilevergessen, weil er strtimend, d. h. quellend, selbst st?indig die
Quelle ist und die Ortschaft seines Wesens bleibt. Das in derHymnendichtung zu Sagende ist das Heilige, das uber denGiittern die Gijtter selbst bestimmt und zugleich als das zu--dichtende >Dichterische< das Wohnen des geschichtlichen Men-sdren in sein Wesen bringt. Der Dichter solcher Dichtung stehtdeshalb notwendig zwischen den Menschen und den Giittern.Er ist nicht mehr bloB Mensdr. Er ist deshalb aber auch nochnicht und noch nie ein Gott. Der Dichter ist von diesem >>Zwi-schen< zwiscfren Menschen und Giittem aus gesehen ein>>Halbgott<. Wenn Hijlderlin das Wesen des Dichters didrtet,mu8 er das Wesen des Flalbgottes denken. Und er didrtet dasWesen des Dichters, um das >Dichterische< zu finden, iu des-sen Wesen die Wahrheit des Wohnens des geschichtlichenMenschen griindet. Dieses Wohnen entspringt dem Heimisch-werden im Unheimischsein, der Wanderschaft der Ortschaft.Das >Dichterische< ist der Geist und das Wesen der Striime.Der Dichter des Dichterischen ist der Halbgott. Diese Beziigesind von Hiilderlin in der Einfa&heit ihrer Wesensvollendungklar geschaut und gesagt in dem vollendetsten der Stromge-sdnge, in der Hymne >Der Rhein<. Die innere Angel, in der
175
17+ Das Wesen des Dicltters als lIalbgott
sich das Gefiige dieser Dichtung dreht, ist die Strophe X (IV,176 t.). Sie beginnt:
[Ialbgtitter denk' ich jezt
Und kennen muss ich die Theuern,WeiI oft ihr Leben soDie sehnende Brust mir beweget.
>Halbgiitter denk' ich jezt<<, ndmlich jetzt, da idr den Rheinund seinen Stromgeist denke. Und diesen denkt Hiilderlin>>jezt<<, d. h. zu d.er Zeit, da er sagen mu8 >Jezt aber tagts!. . .das Heil ige sei mein Wort.< (Wie wenn am Feiertage...,IV, 151). Die Einsicht, daB der Beginn der zehnten Strophedie innere Angel ist, in der sich die Rheinhymne dreht, gehiirtzu den allerersten Vorbedingungen fiir das Verstdndnis dieserDichtung Hiilderlins. Mit den Halbgiittern meint Hiilderlinnicht den in derselben Strophe erwd.hnten Rousseau - sonderndie Striime; deren >edelster< ist der Rhein selbst, der am Endeder II. Strophe schon in Vers 51 ausdrilcklich >>Halbgott<< ge-nannt wird. (Vgi. die Hcilderlin-Vorlesung Winter-Semester1934/55. - GA. Bd. 59, S. 185 ff. und S. 201 tr.) Vgl. >>Brodund Wein<<, Strophe 5,V.75 f.: >Und es scheut sie (die Himm-lischen) der Mensch, kaum wei8 zu sagen ein Halbgott, wermit Nahmen sie sind.. .n (IV, I22). }{ier ist an den >Halb-gott< gedacht einzig im Hinblick auf das Nennen der Gijtterund das nennende Sagen des Dichters.
Die Strtime sind Halbgiitter. >Die Striime< meinen nicht alleStrijme iiberhaupt oder eine beliebige Anzahl. >Die Strtjme<in einem durdr die Hymnendichtung gedichteten Sinne sind>Der Rhein<( und >>Die Donau<<, >>Der fster<; und beide sindin der Versdiiedenheit und Zusammengehiirigkeit ihres We-sens gedidrtet. Nicht zufdllig wird daher in der Isterhymneder Rhein genannt, insgleichen in der VIII. Strophe der Hymne>Die Wandemng< (IV, 170), deren erstes Wort wiederum dasLand der oberen Donau nennt: >Gliikseelig Suevien, meineMutter<. Entsprechend denkt Hiilderlin in der Rheinhymne
Der dichterische Geist ak der Stromgeist 775
etets, obzwar nirgend der Name genannt ist, an den Ister. VgI.
besonders die vierte Strophe. (Uber die Heimat und den Rhein
vgl. >Der Wanderer<<, V.37 f., V. 49 f. Hier leuchtet der Bezug
zum Taunus, zu Homburg) ztt Frankfurt, zur Heimat des Her-
zens, in der der Didrter Dichter geworden.) Aber gleichwie die
Rheinhymne im Wesen des Rheins das Wesen der Strijme dide-
tet, so dichtet die Isterhymne im Wesen des Isters das Wesen
der Strijme, und d. h. Wanderschaft und Ortschaft. Daher folgt
in der zweiten Strophe der Isterhymne' nachdem vom Ister
gesagt worden, daB er und sein Wohnen durch das Laub der
Bd.ume und das Dach der Felsen Schatten und Mafi gewahre'
das zuneichst galrLz befremdliche' zusammenhanglose und bei-
nahe wie eine irre Gedankenflucht klingende Wort:
So wundert
Mich nicht, dass er (der Ister)
Den Herkules zu Gaste geladen'
Ferngldnzend am Olympos drunten,
Da der, sich Schatten zu suchen
Vom heissen Isthmos kam,
Denn voll des Muthes waren
Daselbst sie, es bedarf aber, der Geister wegen,
DerKiihlung auch.
a) Das Andenken an die Wanderschaft in der Fremde -
Herakles vom Ister zu Gast geladen
Herkules ist vom Ister zu Gast geladen. Gast ist derjenige
Fremde, der in einem ihm fremden Heimischen zeitweise hei-
misch wird und damit selbst sein Heimisches in das fremde
Heimische bringt und von diesem aufgenomrnen wird' Herku-
Ies ist vom Ister nur zu Gast geladen. Er bleibt, der er ist, und
ist doch als der Fremde >>vom heissen Isthmos<< aus dem Lande
des >>Feuers<< im deutschen Lande gegenwdrtig. In dieser Gast-
lichkeit des Isters liegt die Bereitschaft der Anerkennung des
Fremden und seiner Fremde, d. h. des Feuers vom Himmel, das
176 Das Wesen des Dichters ak Halbeott
den Deutschen feh-it. In der Gastfreundschaft iiegt aber zu-gleich die Entschiedenheit, das Eigene als das Eigene nicht mitdem Fremden zu mischen, sondern den Fremden sein zu las-sen, der er ist. Nrrr so ist in der Gastfreundschaft ein Lernenmiiglich, ndmlich irn Lernen dessen, was der >Beruf < des deut-schen Dichters und seines Wesens sei.
Die zweite Strophe der Isterhymne, die den >Herkules<nennt, riihrt an jene Beziige, die Hiilderlin im Blick hat, wenner vom geschichtl ichen Geist sagt: >>Kolonie l iebt. . . der: Geist.<Denn diese Gastlichkeit des Isters gegeniiber dem fremdenHalbgott ist nur eine Gestalt dieser Liebe, jene Gestalt ndm-lich, der gemd8 der Geist die Kolonie auch dann noch liebt,wenn er in das eigene Heimische zuri.ickgewandert ist.
Dieses alles aber vermiigen wir nur zu verstehen, utenn wirzum voraus den Ister als Stromgeist und die Strijme als dasWesen von Ortschaft und Wanderschaft denken, wenn lvir denStromgeist als >Halbgott< und diesen als das Wesen des Dich-ters und das Dichterische in seinem Beztg zum Heimischwer-den und dieses aus dem Unheimischsein und dieses als das Zu-Dichtende wissen. Aus dem Chorlied der Antigone-Tragiidiewurde deutlich, daB und in welcher Weise das Heimischseindas vom Dichter eigentlich Gedichtete, weil Zu-Dichtende ist.Deshalb wurde in dieser Vorlesung statt von Hiilderlin fauch]von Sophokles gesprochen. Wir hijnnen im Sinne der Ister-hymne vom Ister nichts wissen, wenn wir nicht auch zugleichden von ihm geladenen Gast verstehen. Und diesen verstehenwir nicht, solange wir nichts ahnen von dem Dichten jenes
Landes und Menschentums, aus dem der Gast geladen ist. Die-ses Dichten der Griechen miissen wir dabei aber in der ljinsichtzu denken versuchen, aus der es den deutschen Dichter fern-her, aber stetig, angesprodlen hat. So ist vielleicht nicht viel,aber eiliges zum Verstdndnis der Isterhymne angemerkt, wennwir iiberhaupt den Gesichtskreis kennen, aus dem her verstdnd-lich wird, warum in einer Hymne >iiber< die Donau einer dergriechischen >Halbgiitter< genannt wird. Dennoch bleibt es
Der didrterisdte Geist als der Stromgeist 177
befremdlich, daB Hijlderlin die Donau gerade mit Herakles zu-
sammenbringt. Doih daftr besitzen wir eine einfadle Erkld-
rung) wenn wir Hijlderlins >historische<< Beziehung zum Grie-
chentum, um nicht zu sagen: seine >>literarhistorisdre<(, g€-
nau verzeicfrnen. Hijiderlin hat ni&t nur Sophokles, sondern
auch Pindar iibersetzt. In der dritten von Htilderlin bruchstiick-
weise iibersetzten >Olympisdren Ode< (V, 15 f.) spricht Pindar
davon, daB Herakles das Laub der Olive nach Olympia ge-
bracht habe >von des Isters schattigen Quellenn her. Doch die-
ser >literarhistorische Beleg< erkld.rt uns wenig, solange wir
nicht auf den Wesenszusammenhang zwischen dem Heimisch-
werden und dem Dichten, zwischen dem Dichter und dem
Halbgott, zwischen dem Heimischen und dem Unheimischen
hinausdenken.Hiilderlins lWort vom Ister, der den Herakles zu Gast ge-
laden, denkt einen ganz anderen und neuen Bezug, der fiir
den griechischen Dichter keine Notwendigkeit und deshalb
auch nicht miiglich war. DaB der griechische Halbgott zu den
Schatten und Wasserquellen des Isters zu Gast gekommen ist,
sagt aber zugleich, da8 Hiilderlin in seiner Hymnendichtung,
die das >Eigene<, >Vaterlendische< dichtet, keineswegs sich
vom Griechentum abgekehrt oder gar dem Christentum sich
zugekehrt hat. Die Gegenwart des Gastes im heimischen Ort
sagt, da8 auch und gerade in der Ortsdeaft des Heimischen
noch die Wanderschaft west und bestirnmend bleibt, wenn-
gleich gewandelt. Der Gast, d. h. der griechisihe Diihter des
himmlischen Feuers, ist die Gegenwart des Unheimischen im
Heimisihen. Der Gast macht das heimische Denken zu einem
stdndigen Andenken an die Wandersdraft in die Fremde (die
>Kolonie<). Die Aneignung des Eigenen isl nur als die Aus-
einandersetzung und gastliche Zwiesprache mit dem Fremden.
Ortschaft-sein, der Wesensort des Heimischen sein, ist Wander-
schaft irr das, waq dem eigenen Wesen nidet unmittelbar ge-
schenkt wird, sondern erwandert werden muB' Aber die Wan-
derschaft ist zugleich und notwendig Ortschaft, vordenkender
178 Das Wesen des Dichters ak Halbgott
Bezug zum Heimischen, denn sonst droht die Gefahr. vomFeuer und seinem >hei8en Strahl< getroffen, geblendet undverbrannt zu werderr.
Der Strom >ist< die Ortschaft und Wanderschaft zumal, rveiler der Stromgeist und als der Stromgeist vom Wesen des Halb_gottes ist. Das besagt hier: Der Strom ist der zwischen denMenschen und den Giittern dichtende. Das Zu-Dichtende istdas diihterische wohnen des Menschen auf dieser Erde. DieDichtung des Heimischwerdens muB aber dem wesen diesesWerdens folgen. Das Heimischwerden verlangt das Weggehenin die Fremde. Der dichtende Stromgeist muB, weil u. au, U"i_mische sucht und das Eigene frei gebrauchen lernen mu8, ausder Fremde her ins Eigene kommen. Der Strom muB derge_stalt im Bereich seiner euelle bleiben, da8 er zu ihr um J".Fremde hinflieBt. Die Dichtung der ortschaft des Heimischenist das Herkommen der Wanderschaft aus der Fremde.
Der scheinet aber fastRiikwiirts zu gehen undIch mein, ermtisse kommenVon Osten.
Der Ister scheint fast riickwdrts zu gehen. Es scheint, als gingeer iiberhaupt nicht vorwdrts und. von der euelle *"g.
"AUl,
der Ister geht nicht nur riickwdrts. Inwiefern entstehi iiber-haupt der Sdrein, da8 er fast riickwd.rts geht? Weil er ziigerndflie8t: dieses Ziigern kann nur daraus ko*m"rr, daB dem ur_spriinglichen Entspringen eine geheime Gegenstriimung ent_gegendrdngt. So enrsteht der Anblick, daB die ob"r" iorr",unter den >>Felsen< und dem Fichtenwald zuweilen steht undin wirbeln riickwdrts drringt. Der Dichter ahnt in diesem Zii-gern die geheimnisvolle Verborgenheit des Ineinander der Be_zige zwrn Fremden und zum Eigenen. Der Ister geht fast riick_wd.rts, weil er, an der Quelle bleibend, bei ihr von Osten herangekommen. Im Ziigern erscheint das strtimen nach der einenund nach der anderen Richtung. Nach keiner d.er beiden
Der dichterisclte Geist als der Strorngeist 179
Richtungen ist das Striimen unmittelbar. Der Bezug zum
Fremden ist nie das bloBe Ubernehmen des Anderen. Der Be-
z:ug z:orn Eigenen ist nie die nur selbstsichere Bejahung des
so genannten > Natiirlichen << und >> Organischen <.
b) Das Gesetz der Geschichte: das Eigene das Fernste -der Weg zum Eigensten der schwerste
Dem Gesetz der Geschichte ist alles bloB >Organische< der Na-
tur fremd, so fremd wie auch >das Logische<< der Vernunft. Was
wir historisdr als das >Organische<< und als >das Logische<< vonder Geschichte zu fassen meinen, einander entgegensetzen oder
auch einander gleichsetzen, das ist die Fassade der Geschichte.Das Gesetz der Geschichte setzt das geschichtliche Menschen-
tum in eine Wesensart, derzufolge das Eigene das Fernste undder Weg zum Eigensten der ldngste und schwerste ist. Wenndieses Gesetz der Geschichte verlassen wird, fiillt das Menschen-
tum in das Ungeschichtliche. Das Ungeschichtliche aber ist,weil es doch nur ein Abbruch gegeniiber der Geschichte bleibt,ganz anderen \Mesens als das Geschidetslose. Geschichtslos istdie Natur. Ungeschichtlich und daher katastrophenhaft, wie eskeine Natur ie sein kann, ist z. B. der Amerikanismus. Seine
besonderen Griinde hat es, daB wir zund.chst das Wesen derGeschichte an ihrem lJnwesen deutlicher fassen als an seinemWesen. Dieses zu erfahren bieibt das Schwerste. Die Findungund Aneignung des Eigenen bleibt das Schwerste nicht allein
deshalb, weil das eigenste Wesen sihwer zu finden ist, sondern
weil das Finden selbst als Weg der Wanderschaft in die Ort-
schaft des geschichtlichen \&esens die hijchste und ldngste und
reichste Besinnung fordert. Aus dem Wissen von der Last die-
ser Besinnung sagt Htilderlin im Hinblick auf den fast riick-
wdrts flieBenden Strom:
Der scheinet aber fastRiikwiirts zu gehen undIch mein, er miisse kotn-en
181180 Das Wesen des Dichters als Halbgcttt
Von Osten.Vieles wdreZu sagen davon. . . .
. . . Und warum hdngt erAn den Bergen gerad? Der andreDer Rhein ist seitwdrtsHinweggegangen.
Der dichterische Geist als der Strorngeist
Die Frage gilt dem ungewiihnlichen Gang des Isters, dem rdt-
selvollen Weg dieses Halbgottes, der geschidetlichen Bestim-
mung dieses Dichters. Die Frage bedenkt aber mit den Gang
des anderen deutsdhen Stromes, der nicht weniger als der
Stromgeist des Isters vom Osten und Asien her bestimmt zu sein
scheint, aber doch von seinem Ursprung an ein ganz anderes
Strijmen zeigt. Denn in der Rheinhymne sagt Hdlderlin (III.
Strophe, IY,175):
Die Stimme wars des edelsten der Str6me,
Des freigeborenen Rheins,
Und anderes hoffte der, als droben von den Briidern,
Dem Tessin und dem Rhodanus.Er schied und wandern wollt', und ungeduldig ihn
Nach Asia trieb die kiinigliche Seele.
Aber er ging nicht dorthin, wohin es ihn trieb' nach Osten, in
welche Himmelsrichtung ja auch der Rhein von seiner Quel-le aus eine kurze Strecke fliefit; vielmehr ist er seitwdrts ge-
gangen und er hat dann iiberhaupt die Berge verlassen' ohne
sie allerdings je zu vergessen (Der Rhein, Strophe VII):
Doch nimmer, nimmer vergisst ers.
Denn eher muss die Woblung vergehn,
Und die Sazung, und zumllnbildwerden
Der Tag der Mensdeen, ehe vergessen
Ein solcher diirfte den UrsPrung
Und die reine Stimme der Jugend'
>Ein soldrer< - d. h. ein Ausgezeichneter' der zwischen den
Mensihen und den Gi;ttern, fiir diese und fiir iene der sein
muB, der er ist. >Ein solcher< muB trotz allem in seinem
Ursprung bleiben und stets dahin zuriickkehren. Dieses Nicht-
vergessendiirfen des Ursprungs sctrlie8t jenes >tapfer Verges-
sen< nicht aus, das fiir die Wanderung in die Fremde notwen-
dig ist. Wie kann iedoch Hiilderlin in bezug auf den Ister
fragen: >Und warlm hiingt er / An den Bergen gerad?< Geht
Vieles wdre zu sagen von dem Schein, der den Strom in sei_nem Oberlauf, nahe der Quelle, so zeigt, als strijme er zurQuelle zuriick; vieles zu sagen w6re von der Meinung, diedurch diesen Schein begriindet rvird, daB hier wohl ein Not_wendiges waltet, was dem Wegstriimen dieses Stromes vomHeimischen entgegenstriimt aus der Fremde. >Vieles wd.re zusagen<(, d. h. hier dichterisch zu sagen, d. h. zu dichten. Denndas Viele, was hier zu dichten wdre, ist ja nichts Geringeresals das schlechthin Dichterische selbst, auf dessen GrunJ d",Mensch wohnet. Hijlderlins ganzer >Dichterberuf< ist demDichter in diesem fast prosaisdr klingenden Wort gegenwiirtig.Auch diirfte wohl kaum sonst ein Dichter diesen so undichte-risch klingenden Satz: >Vieles wd.re zu sagen davon<<, in einerGedichtstrophe wagen. Hier aber sind fie worte von der hiich-sten dichterischen Bestimmung durchstimmt. Desharb klingensie und sind sie auch dichterischer als irgend sonst eine ,poeti-sche< Wendung.
c) Der rdtselhafte Gang des Isters
Ritselhaft bleibt der Ister in seinem oberla*f nahe der euelle,dieses stehenbleiben seiner dunklen wasser unter den iiber-ragenden Felsen, dieses wirbelnde Riickwdrtsdrehen der Strii-mung nach den s&on verlassenen Ufern. Sonst strijmen dochdie Strijme weg von ihrer Quelle. Der aber zeigt eine geheim_nisvolle Anhiinglichkeit an das heimische Land und seine r"-genden Felsen mit ihrem >hochduftenden Fichtenwald<. War-um ist das so?
1.82 Das Wesen des Dichters ak Halbgott
denn der Ister nicht auch weg aus den Bergen seines oberenLaufes in die weite Ebene des Ostens? Aber der Ister muIJ iavon Osten her kommen, er geht riid<wdrts in die Ortschaft des>Quells der Donau<. llier, in diesem Fast-riickwdrts-gehen,ist noch ein anderes Nicht-vergessen-kijnnen des Ursprunges.Hier wohnt einer so nahe dem Ursprung, da8 er ihn schwerverld.Bt (vgl. >Die Wanderung<, V. 18f., IV, 167); nicht weiler nur im Heimisclen, einzig darauf sich versteifend, verharrt,sondern weil er sihon an der Quelle das Unheimische zu Gastgeladen hat und vom Unheimischen ins Heimische gedrringtwird. Der Ister isf jener Strom, bei dem schon an der euelledas Fremde zu Gast und gegenwzirtig ist, in dessen Strijmendie Zwiesprache des Eigenen und Fremden st[ndig spricht.
24. Die Striime als die Dichter, die das Dichterischestiften, auf dessenGrund der Menschtaohnt
Warum ist das so? Gibt es darauf eine dichterische Antwort?Kann irgendwoher aus dem Bezirk mensdrlicher Verdiensteund menschlidrer Geschichte eine Antwort auf dieses Geschickdieses Halbgottes kommen? Kann iiberhaupt aus dem mensch-lichen Wohnen, das selbst nur dicb.terisch zu wohnen vermag,das Dichterische und seine Bestimmung erkld.rt werden? Nein.Alle >psychologische<< Zergliederung des dichteris&en Schaf-fens, alle historischen Berichte iiber die Mannigfaltigkeit vonTypen der Dichter, alles iiber die Dichtung und die Dichtervon aufJen her fallende Gerede von ihrer Bestirnmung, alles>dsthetische<< GenieBen von Dichtung bleibt jederzeit verbanntaus dem Bereich, in dem allein die Antwort sich ereignen kann.Die Frage nach der dichterischen Bestimmung kann nur dich-terisch gefragt und didrterisch beantwortet werden. Insglei-chen wei8 nur der Denker, was das Denken ist. Nur der Dich-ter entscheidet iiber Dichtung, nur der Denker entscheidetiiber Denkertum, niemand sonst. Aber diese entscheiden nie
Die Strijme als Stifter des Dichterischen
aus ihrer Menschheit, sie entscheiden nur aus dem, rvas das
Zu-Dichtende, was das Zu-Denkende ist. Sie entscheiden aus
dem allein, dem sie sdeon zugehijren. Und von daher ist die
Antwort nadr dem \ffarum ihrer Bestimmung auch schon ge-
sprochen. Wahr ist deshalb zufolge dieser Bestimmung allem
voraus fiir den Dichter dies eine:
IJmsonst nicht gehnIm Troknen die Striime.
Warum sie nidrt umsonst strdmen, was der Grund ihrer Not-
wendigkeit ist, hat die Hymne schon in Vers 16 angezeigt:
Denn Strtime machen urbarDas Land.
Zundchst scheint es, als sei hier nur die naturhafte, Iebendige
Kraft des Wassers im Unterschied zur Trockenheit und Leb-
losigkeit des Landes gemeint. Aber die Strtime sind die Dich-
ter, die das Didrterische stiften, auf dessen Grund der Mensch
wohnet. Der didrterische Stromgeist macht in einem wesent-
iichen Sinne urbar, er bereitet den Boden fiir den Herd des
Flauses der Geschichte. Der Dichter ijffnet den Zeit-Raum, in-
nerhalb dessen iiberhaupt eine Zugehiirigkeit zum Herde und
ein Heimischsein miiglich ist. Doch in welcher Weise geschieht
dieses? IJmsonst nicht gehen die Strijme. Sie haben in sich die
entschiedene Bestimmung. Wohl ist die Wahrheit dieser Be-
stimmung in der Bemfung entschieden. Doch darf sie deshalb
nur wie ein dunkler geschichtsloser Drang hingenommen und
in jenem fatalen Sumpf der sogenannten >>Erlebnisse<< >>aus-
gelebt< und >ausgedriickt< werden? Oder bedarf nicht diese
Berufung, u;eil sie eine geschichtliche ist, die erst Ges&ichte
stiftet, der Besinnung und des dichterischen Fragens? Wie woll-
ten wir nach allem bisher Angemerkten daran zweifeln? Des-
halb fragt auch der Dichter: >rAber wie?<< Welche Bewandtnis
hat es mit dem Gehen der Striime? Wenn wir schon nicht wis-
sen diirfen, was je ein jeder tut, wie ist es mit ihrem Tun iiber-
185
184 Das Wesen des Dichters als Halbgott
haupt? Dieses miissen die Dichter wissen, um die Strijme alsStrijme zu kennen und ihrem verborgenen Wesen in einer se_henden Treue zuzugehiiren :
Sie sollen nemlichZur Sprache seyn. Ein Zeichenbraucht es,Nichts anderes, schlecht und recht, damit es Sonn'Und Mond trag' im Gemiith', untrennbar,Und fortgeh, Tag und Nacht auch, undDie Himmlisdren warm sidr fiihlen aneinander.
Hiitten wir nicht in den voraufgegangenen Bemerkungen denVersuch gewagt, um iiberhaupt den Bereich zu kldren, in dendas Wesen des Stromes geh6rt, behielten wir jetzt niiht strengim Blick, da8 die Striime das Heimischwerden im Unheimisch-sein erwandern, beddchten wir nicht, da8 dieses Erwandernder heimischen Ortschaft und ihres Herdes das Didrten deseigentlich Zu-Dichtenden ist, wiiBten wir nicht, da8 die Dich-ter iiber den Menschen und unter den Giittern zwischen beidenals die Halbgiitter fiir beide das Heilige nennen miissen, dannstiinden rvir jetzt ratlos und ohne jeden Anhalt vor diesen>>Versen<<. Doih wenn wir nun auch das bisher Angernerktebedenken und es nicht nur >ranwenden<<, sondern emeut durch-fragen, werden wir nicht so vermessen und voreilig sein, diejetzt gehiirten Worte unmittelbar verstiindlich machen zu wol-len. Die Strijme >>sollen zur Sprache seyn<(. >>Ein Zeichenbraucht es...
21. Der Dichter das riitseluolle "Zeichenn, der das Zu-Zeigendeerscheinen liilJt. Das Heilige als das Feuer, das den Dichter
entzilndet. Die Bedeutung des Nennens der Gijtter
Schon bei dem ersten Hinweis darauf, da8 Htilderlin im Denken>der<< Striime >Halbgiitter< denkt und in diesen das dichte-rische Wesen des Dichters verborgen sein ldBt, wurde das Ge-
Der Didtter das riitseluolle >Zeicheno 185
wicht darauf gelegt, da8 der Halbgott hier als der Sagende,die Gijtter mit Namen Nennende, erfahren ist. Die Strijmeals die Halbgcitter sollen in einem einzigen Sinne des Wortes>zur Sprache seyn<(, die zum Wort und zum Sagen des WortesGerufenen. Weil nun aber in Vers 51 unmittelbar darauf ge-sagt ist: >Ein Zeiehen braucht es<, miichte es nAher liegen und>richtiger< erscheinen, das Wort >>Sprache< hier nicht wiirtlich,sondern in dem iibertragenen Sinne von >Zeichen<< und in derblasseren Bedeutung von >Ausdruck< zu nehmen. Die Strijmesollen als >>Ausdruck fiir etwas<< dienen, eben als >Zeichen fiir<etwas anderes, ndmlich die Dichter. Die Strijme sind also dochund nach dem eigenen Wort Hiilderlins >Symbole<< fiir dasWesen der Dichter. Die Strijme sind Naturerscheinungen, abersie krjnnen und sollen als Zeichen dienen fiir Anderes, wasanderer Art ist, aber durch solche Zeichen bezeichnet werdenkann. Hcilderlin sagt deshalb eindeutig genug: >Ein Zeichenbraucht esn.
Wenn wir es so meinen, halten wir fiir ausgemacht, was dassei: >>ein Zeidhen<<. Wir meinen dies zu wissen. Und falls wirgar den Namen >Zeichen<< durdr den gewidetigen Titel>Symbol< ersetzen, dann scheint alles im Reinen zu sein. Aberes ist nichts im Reinen - sondern alles nur im Verwirrten undOberfliichlichen. (Es ist die Flucht in eine Redensart und insSchLagwort, das einen unechten Glanz von Tiefsinn bei sichtriigt. Aber die Tiefe dieses Tiefsinns ist die Grundlosigkeitdes Sumpfes.)
Aber selbst wenn wir uns anstrengten, den Namen wie>>Zeichen< und >Symbol<< eine gegriindete Bedeutung zu ver-leihen, wdre doch vorher zu fragen, ob wir gleichwohl damitnicht schon auf einem Irrweg gehen, gesetzt, daB der Weg, derhier gegangen werden mu8, zu einer Erlduterung des Hrilder-linschen Wortes von den Striimen fiihren soll. Was steht dennim Gedicht?
186 Das Vf/esen des Dichters ak Halbgott
Ein Zeichen braucht es.. . . damit es Sonn'
Und Mond trag' im Gemi.ith', untrennbar,
Und fortgeh'. . .
Das Zeichen hat hiernach ein Gemiit, ja das Gemiit ist offen-bar nicht eine Zugabe des >Zeichens,<, sondern sein eigent-
liehes Wesen. Sonne und Mond, und zwar untrennbar - dasGestirn des Tages und das Gestirn der Nacht - sollen in ihrer
Zusammengehiirigkeit in diesem Gemiit dieses Zeichens be-
wahrt und behalten bleiben. >Und fortgeh'<< - Wer oder was
soll fortgehen? Das Zeichen? Und in welchem Sinne soll es>>fortgehen<<? Soil es weggehen oder weitergehen? Aber wie?
Welch merkwiirdiges Zeichen - ein Zeichen, das ein Gemiit
hat. Ein Zeichen braucht es aber nicht nur, damit Sonne und
Mond in einem Gemiit getragen sind, sondern - dies meint
das >>und< am Beginn von Vers 54 - damit es audn fortgeh.
Das Zeichen, das es brauiht, mu8 so sein, daB es den Tag,
aber die >>Nacht audt<<, durchwandert. Denn die Nacht ist die
Mutter des Tages; in ihr bereitet sich das Tagen und Aufgehen
des Heiligen vor. Deshalb muB das Zeichen zumal die Nacht
hindurch fortgehen und in der Nadet, da alles verhiillt ist, ein
Zeigendes sein, das die eigene Klarheit der Nacht kennt und
in ihr die Lichter des Geistes behiilt. Das Zeichen mu8 diese
Nacht durchwandern.>Ein Zeideen braucht es<, damit auch, das sagt wieder das
>und<< am Ende von Vers 54, >die Himmlischen w'arm sich
fiihlen aneinander<<. Die Zusammengehiirigkeit der Giitter ist
also bedingt durch dieses Zeichen, dadurch, daB dieses ist - die-
ses selbe Zeichen aber trdgt Sonne und Mond im Gemiit, es
vermutet nicht nur Sonne und Mond, sondern blickt zu ihnen,
und zwar stdndig, hinauf und ist von ihrer Anmut erfiillt.
Aber auch von der Langmut und Sanftmut des Wechsels von
Nacht und Tag. Ein rdtselvolles >Zeichen<<, das zumal ein Ge-
miit hat und dabei so ist, daB sogar die Gijtter seiner bediirfen.
Der Dichter das riitseluolle "Zeichenn
Das Gemiit ist der Wesensgrund alles Mutes und als dieserdie Wesensauszeichnung des Menschen: dann wiire ja das>>Zeichen<<, dessen es bedarf, eine Art Mensch, aber doch wie-der nicht nur Mensih, denn sonst kiinnte doch statt >Zeichen<<
sogleich >>Mensdr<< gesag"L werden, genau in der gleichen Deut-
lichkeit, mit der auch >die Himmlischen(< genannt sind. EinZeichen, von der Art der Menschen und doch nicht nur Mensch
und zugleich bedingend die Zusammengehiirigkeit der Gijtterund doch wieder nicht ein Gott - also zwisdeen den Menschenund den Giittern, also ein llalbgott? Die Strijme >so]len nem-
lich zur Sprache seyn(<. >Ein Zeichen braucht es . . .<<
Das >Zeichen<<. das Hijlderlin hier nennt, als Halbgott zuverstehen, mijdhte eine starke Zumutung sein und eine >>Aus-
legung<, der Verse, die an Gewaltsamkeit nichts mehr zu wiin-schen iibrig liiBt. Doch wenn wir alles bisher Gesagte neu be-denken, ist diese Deutung des Wortes >Zeichen<< nicht so ganzauBerhalb jeder Miiglichkeit. DaB Hijiderlins dichterisihesWort, und demgemii8 noch mehr jede ihm auch nur entferntgemriBe Erlduterung, im Rtitselhaften bleibt und bleiben soll,setzen wir freilich bei all diesen Anmerkungen voraus. Hiilder-lins Wort soll ia nidrt der Gemeinheit des ailtiiglichen Mei-nens angepaBt werden, sondern unser Denken soll das Wortder Dichtun g zumr MaB nehmen und es das MaB sein lassen,das es ist. Deshalb miissen wir bei aller Befremdlichkeit demgegebenen Hinweis noch einen Schritt weiter folgen. Wenndas hier gemeinte Zeichen in seinem Gemiit die >Welt< triigtund, zwischen den Menschen und den Himmlischen stehend,der Halbgott ist, dann kann, wenn Hijlderlin in Wesen derStrijme >Halbgiitter denkt.. und den Halbgott als Wesen desDichters begreift, das Zeichen nur der Name sein fiir den Diih-ter. Dann sagt das Wort: >Ein Zeichen braucht es. . .<( )>nur<<
dieses: Ein Dichter und Dichter miissen sein. Einen Dichterbraucht es. Der Dichter wdre dann selbst Zeichen. Der Dichter
wdre nicht nur das, was durih ein Zeichen, die Striime, be-zeichnet wurde. Der Dichter wd.re selbst Zeichen. aber wieder
187
188 Das Wesen des Dichters ak Halbcott
nicht zur Bezeichnung von anderem, sondern so, daB er alsDichter >Zeichen< ist. Das voraufgehende Wort: >Sie (die
Str6me) sollen nemlich I Zur Sprache seyn<<, erhiilt dann einestrenge Bedeutung, iene im voraus behauptete, wonach >Spra-che< hier nicht blo8 unbestimmt und im iibertragenen, wei-teren Sinne soviel bedeutet .wie >>Ausdruck<<, sondern die Spracheim eigentlichen und urspriinglichen Sinne: das lVort. Wenn-gleich diese Uberlegungen im Zusammenhqng der Isterhym-ne bleiben, die ais Stromhymne das Heimischwerden sagt,welches Heimischwerden nur diihterisih siih ereignen kann,so daB es vor allem des Dichters bedarf und es daher diesesZeichen braucht, so mddrten wir doch auch jetzt noch Beden-ken tragen, das Wort >>ein Zeichen( zu verstehen im Sinnevon >>ein Dichter<,
Das Wesen des Dichters lvird von Hiilderlin iiberall in seinerHymnendichtung gedichtet. Aber das hijchste Wort vom Wesendes Dichters sagt er im Schlu8vers der Schlu0strophe des Ge-dichtes >>Andenken<:
Was bleibet aber, stiften die Didrter.
(Wohl ist es kein Zuf.all, daB die Niederschrift dieser Schlu8-strophe auf demselben Folioblatt steht, auf das Hiilderlin dieIsterhymne geschrieben und entworfen hat. Vgl. IV, 367.)
Wir beachten jetzt, ohne auf die Wahrheit dieses Worteseinzugehen, nur dieses, daB es in dem Gedicht steht, das >An-denken<< iiberschrieben ist. Andenken meint hier nicht bloB Den-ken an das Gewesene (ndmlich die Wanderschaft in die Frem-de), sondern zugleich vor-denken >>an<< das Kommende, dasBedenken der Ortschaft des Heimisdeen und ihres zu stiftendenGrundes. An-denken ist als dieses mehrfach geridrtete Hinden-ken zu dem, was eigentlich vomDidrter gesagt tverden muB, einHinzeigen. Der Dicfrter ist als Dichter der Hinzeigende und der-gestalt ein Zeigendes, somit ein >>Zeichen<<, freilich kein ding-haftes Zeichen, kein Zeichendirrg, das wir fiilscirlicherweise fiirdie eigentliche Art von >Zeichen< nehmen. Der Dichter ist ein
Der Dichter das riitseluolle ,Zeichen"
Zeichen, das eine >>Seele<< hat, in der des Geistes Gedanken still
enden: ein Zeichen, dem das >>Gemiith<< eignet, darin es die
Sterne des Himmels trdgt. Das Zeigen ist solcher Art, daB es das
Zuzeigende erst erscheinen liiBt. Aber solches Zeidten kann nur
deshalb sagend das Zusagende erscheinen lassen, weil es von
diesem Erscheinenden als dem Zu-Dichtenden zuvor schon be-
schienen ist. Dieses Zeichen muB daher angesiihts des >Feu-
ers<< geblendet und gesdrlagen sein. Daher kann es zuerst das
Wort nicht finden, so daB es scheint, als hdtte das Zeigen die
Sprache verloren. Uns ist der Entwurf zu einer Hymne er-
halten, die neben einer anderen Uberschrift auch den griechi-
schen Namen >>Mnemosyne< trtigt. Wir diirfen dieses griechi-
sche Wort im Sinne Hiilderlins ohne Gefahr mit >>Andenken<
iibersetzen; denn dieser Name nennt die Mutter der Musen
und damit den SchoB und den Ursprung der Didntung und
somit deren Wesen. >>Mnemosyne<<, der Grund des Andenkens
an das dichterisch Zu-Denkende, an das Bleibende, das allem
Bleiben und Wohnen des Mensihen erst den Grund gibt' was
die Dichter stiften. Diese mit dem griechischen Namen >Mne-
mosyne < iiberschriebene Hymne be ginnt (IY, 22 5) :
Ein Zeichen sind wir, deutungslos
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren.
>Ein Zeidren sind wir...<< Wer >wir<? >Wir<, das meint hier
nidrt unbestimrnt und iiberhaupt >die Menschen,<, sondern
jene, von denen Htjlderlin in der Hymne >Wie wenn am Feier-
tage . . .( sagtl
Doch uns gebiihrt es, unter Gottes Gewittern,
Ihr Dichter! mit entbliisstem Haupte zu stehen,
Die Dichter sind >ein Zeichen<< - sie >haben fast die Sprache
in der Fremde verloren.<. Das ist derselbe Klang desselben Ge-
dankens: >>Fast war (in der Fremde niimlich) der Beseeler (d' h'
der Dichter) verbrandt<< und wdre so vernichtet worden und
189
190 Das Wesen des Dichters ak Halbgott
hitte damit das verloren, was ihn auszeichnet: das Wort, dieSprache. >Die Sprache<, d. h. hier das Sagen-kiinnen, ist dasWesen des Zeigens, weldres Zeigen-kiinnen die Dichter in ih-rem Wesen als Zeidren bestimmt.l
Die Sprache selbst ist >des Wortes Gewalt<<, >wdchst schla-fend<, >>das uralt Zeichen<< (>Brod und Wein<, V. 68ff.). >EinZeiihen sind wir<, die Didrter; wir sind zum. Zeigen berufenund haben das zu Zeigende (das Feuer) erfahren. Aber nochvermiigen wir nicht das Deuten. >Lang und schwer ist das Wortvon dieser Ankunft aber / WeiB (zuerst: Hell) ist der Augen-blik. Diener ds1 Flirnmlischen sind / Aber kundig der Erd, ihrSihritt ist gegen den Abgrund / Jugendlich mensdrlicher dochdas in den Tiefen ist alt.<< (Zu Vers 87ff. von >Brod undWein<<, IV,522). Jetzt sind wir aus der Fremde zuriickgekehrt,unterwegs auf der Riickkehr in das Heimische. Das sagt aber,wir miissen ietzt erst das Eigene suchen und es frei gebrauchenlernen. Weil diese Didrter erst am Beginn sind und noch iiber-w6.ltigt vom fremden Feuer, sind >>wir<<, fie Didrter, noch ohneDeutung - wir vermiigen noch nicht zu deuten und zu zeigen.Wir sind vom Feuer fast wie ausgebrannt, so daB >derSdrmerz.< sich nodr nicht riihrt. Der S&merz aber ist das ei-gentliche Wissen des Unterschiedenseins, in dem das einanderZugehilren der Menschen und Gijtter erst die Geschiedenheitder Ferne und damit die Miiglidrkeit der N2ihe und so dasGlncl. des Erscheinens hat. Der Schmerz gehtirt zulor Zeigen-kiinnen, er gehiirt zum Didrter als das Wissen von seinem eige-nen Wesen. Und das ruht je darin, jenes Zwischen zu sein, indem der Halbgott steht und das er auszutragen hat: das>Zwisdeen<< zwischen den Himmlischen und den Mensdren.Der Entwurl zur Hymne >>Mnemosyne<< hat neben dieserUberschrift die andere, die einfach lautet: >Das Zeiihen<< (IV,569). Aus dieser Uberschrift wird klar, da8 hier >>das Zei&.en<<sdrleclthin und wesenhaft genannt ist. >Ein Zeiehen<< bedeu-
I Vgl. IV, 525, dsgl. IV, 248: >Es fesselt kein Zei&en<. Vgl. die VorlesungWinter-Semester l94ll42 (GA. Bd. 52, S. 52 tr.).
Der Dichter das rtitselooLle ,Zeichen* I91
tet daher nicht das duBerliche >eines<( bloBen >>Anzeichens<<
und >reines< >>Signals<. Das Zeichen ist Zeigen, das wesentlich
zum >Deuten<(, zu Schmerz und zur Sprache in Bezug steht.
Zeichen meint hier nicht >bloBes Zeigen nac"h<<' sondern Zei-
chen, das nur erst im Beginn seines Zeichenseins steht. Wie
sollte sonst anders derselbe Diihter sagen kiinnen in der Ister-
hymne:
Ein Zeichen braudrt es'
Nichts anderes, schlecht und redet, . . .
Einzig nur dieses ist die Not der Wanderschaft in die Ortschaft
des Eigensten der Deutschen: >Ein Zeichen< (ein Dichter),
>Nichts anderes, schlecht und recht<< - Not ist dieses unbeding-
te Stiften des Bleibenden. >Schleciht und recht.., das will
sagen: Das Zeigen des Zeichens muB einfaih sein und mit der
einfachen Eindeutigkeit ist es zugleich lotrecht. Es zeigt das
Zuzeigende und nichts sonst'2 Aber diesem Einfachen im Ler-
nen des Eigenen zu geniigen und dieses >schlecht und recht<(
iiberhaupt zu wissen, ist das Schwerste. Was Hiilderlin in die-
sen Worten strenger Forderung fast wieder undichterisch (dem
Anschein und Anlaut nach) ausspricht, sagt er in der Titanen-
hymne (IV,209) so:
Mich aberumsummetDie Bien und wo der Akersmann
Die Furchen machet singen gegen
Dem Lidrte die Viigel. Manche helfen
Dem Himmel. Diese siehet
Der Dichter.
Der Dichter ist das Zei&ten, das so ist, daB sein Gemiit Sonne
s Es bedarf nidrt des gespreizten Aufwandes und der lauten Gesten und desverwirrenden Getijses und der riesigen Monumente des undeutsdren Monu-
mentalen der Riimer und A-merikaner. Dessen bedarf es aucb ni&t, wett
das Zeichen re&t, d. h. geradehin gerichtet bleibt auf das Zusagende' wenn
es alles andere nicht kennt, was dem Eigenen abtraglich ist und eine Stij-
rung.
-Y
r92 Das Wesen des Dichters ak Halbgott
und Mond im Blick hat, >untrennbar<<. Das Zeichen bleibtdem Tag und >>der Nacht audr< verbunden und iibersteht denUbergang von dem einen zum anderen. Ein Zeichen brauchtes atrch, damit
Die Himmlischen warm sich fiihlen aneinander.
Der Dichter sieht jene Seltenen, die dem Himmel heifen. DerHimmel, die Himmlisdren selbst sind der Hilfe bediirftig, undzwar der Hilfe des Zeichens und d. h. des Dichters. Dieser mu8die Giitter nennen, sie sagen in ihrem Wesen. >Ein Zeichenbrauiht es. . .<(; der Dichter muB seiz, d. h. die Halbgiitter,die >>Heroen<; die Halbgijtter sind die Strijme.
IJmsonst nicht gehnIm Troknen die Striime. Aber wie? Sie sollen nemlichZur Sprache seyn.
Das Zeiihen, der Halbgott, der Strom, der Dichter, all diesnennt dichterisch den einen und einzigen Grund des Heimisdr-werdens des geschichtlichen Menschen und seine Stiftung durchrien Diclter. Weil diese Beziige in Hijlderlins Stromdichtungzum voraus stets irn dichterischen Blick stehen, deshalb kehrensie in den reichsten diihterischen Abwandlungen immer neurvieder. Deshalb kann es auch nicht verwrrndern, dafJ in derHymne des Stromes, der in der Isterhymne eigens und mehr-fach genannt und gedacht wird, nlimlich in der Rheinhymne,die achte Strophe dieses sagt:
Es haben aber an eignerUnsterblichkeit die Gijtter genug und bediirfenDie Hirnrnlischen eines Dings,So sinds Herodn und MenschenUnd Sterbliche sonst. Denn weilDie Seeligsten nichts fiihlen von selbst,Muss wohl, wenn solches zu sagenErlaubt ist, in der Gijtter Nahmen
Der Dichter das riitseluolle ,Zeichen.n
Theilnehmend fiihlen ein Andrer,
Den brauchen siel jedoch ihr Gericht
Ist, dass sein eigenes HausZerbredte der und das Liebste
Wie den Feind schelt'und sich Vater und Kind
Begrabe unter den Triimmern,
Wenn einer, wie sie, seyn will und nicht
Ungleiches dulden, der Sdrwdrmer.
Ein Andrer mu8 sein, der anders ist als die Giitter und in sei-
nem Anderssein >IJngleiches dulden muB<<. Dieser Andere
wird gebraucht, indem er >theilnehmend fiihlt< in der Giitter
Namen. Das teilnehmende Fiihlen besteht darin, daB er Sonne
und Mond, das Himmlische im Gemiit triigt und diesen Anteil
am Himmlischen den Menschen zuteilt und so mit den Giittern
und Menschen, zwischen ihnen stehend, das Heilige teilt, ohne
es doch je zu zerteilen oder zu zerstiid<eln. Dieses Mitteilen
geschieht dadurch, da8 dieser Andere auf das Heilige, es nen-
nend, zeigt und selbst das Zeichen ist, das die Hirnrnlischen
brauchen. Denn das >Fiihlen<< und das >im Gemiith tragen<<
ist die Art des Menschen. Der Mensch ist der Mensch, indem
ihm jeweils so und so zumute ist, in weldeem Zumutesein das
Ganze des Seienden als ein soldees sich zeigt und sidr offen-
bart. Das Zeiehen (>der Beseeler<) aber trtigt alles urspriing-
lich i:n Gemiit, dergestalt, dafJ es, das Heilige nennend, das
Hirnrnlische sich zeigen leBt - das Heilige als das Feuer, das
den Dichter entziindet.s
, Uber das Bediirfen der Himmllsshen vgl. aus dem Motivkreis der Tita-nen: IV,216 f.: Wo nemlidr
Die Himmlischen eines Zaunes oder Merkmals,Das ihren WegAnzeige, oder eines BadesBediirfen, reget es wie FeuerIn der Brust der Mii.ner sidr.
VgI. Entwurf, IV, 3L4 f. Wie allein die Himmhsdaen sind und die Himm-lisctreu werden, erst wenn >ein drittes< ist, >>auch Gijtter bindet ein Sihik-saal<<,
r95
-l'-194. Das Wesen des Dichters ak Halbgott
So ist der Dichter iiber die Mensdren hinaus und doch denGijttern ungleich, aber audr den Menschen. Daher muB dieserAndere das Ungleiche in Beziehung zu den Gijttern sowohlals auch zu den Menschen dulden. Dieser Andere, dessen esbraucht, ist der Halbgott, der Dichter, der Strom, das Zeiclen.Damit die Gijtter )>warm sich fiihlen aneinander<< (>Der Ister<,V. 56), miissen sie iiberhaupt etwas fiihlen kijnnen. >Von selbstaber<< >fiihlen sie nidrts<. Die Gtitter sind >gefiihllos<<, >>vonselbst<<, d. h. in ihrem eigenen Wesen beharrend, vermd,gen sienie zum Seienden sich zu verhalten. Dazu bedarf es eines Be-zugs zum Sein (d. h. zum >>Heiligen<<, das >iiber<< ihnen ist),das ihnen gezeigt wird durch den Anderen, der das Zeichenist. Wd.re nicht dieses Zeichen und sein Zeigen und sein Mit-einanderteilen, dann blieben die Himmlischen ohne jede Miig-lichkeit, fiir ein Anderes ein Gefi.ihl zu haben und miteinan-der zu sein. Indem die Giitter durch das Zeigen das Heiligefiihlen und so >etwas( fiitrlen, fiihlen sie in solchem F'iihlensich selbst. Indem sie sich selbst fihlen, fiihien sie sich als Gtit-ter und so in ihrem Zueinandergehiiren. Dieses Fiihlen ist soein >>warm sic}, fiihlen<. Wdre nicht dieses Zeichen, dann blie-ben die Himmlischen in das Bezuglose des Einandemichtken-nens zerstreut.
25. Das dichtende Stiften baut die Treppen fiir das Herunter-kommender Himmlischen
Durih das Zeiihen, d.h. durch die Striime, finden die Himm-lisihen in die Einheit ihrer Einigkeit, welche Binigkeit keinemseine Einzigkeit nimmt. Einigkeit der Himmlischen unterein-ander ermiiglicht zugleich erst den einzigen Bezug zu denSterblichen.
Die Sterbli&en aber diinten nadr dem Gebet, vgl. IV,lZgf.: >denn immer-hin h:iLt den Gott ein Gebet auf . . .<, u,nd 579: >dess diirsten die Sterbli&euwegen dem, weil/Ohne Halt verstandlos Gott ist.<
Das Dichten ak Herunterhommert des Himmlischen 195
Darum sind jene auchDie Freude des Hdchsten. Denn wie kd.me er sonst
Herunter?
Ilie Striime sind >zur Freude< des hijchsten Gottes, des Vaters
Aether. Die Striime gewdhren iiberhaupt erst die Miiglidrkeit
einer Freude, die zuerst darin besteht, daB ein Bezug der
Himmlischen zu den Sterblichen, d. h. den Erdensiihnen sich
ijffnet. Vgl. >Der Einzige<<, erste Fassung, V. 66 ff. (IV, 188)
Denn nimmer herrstfit er [der Vater] allein.
Und n'eiss nicht alles. Immer stehet irgend
Eins zwisihen Menschenund ihm.
Und Treppenweise steigetDer Himmlischenieder.
Wo Treppen sind, da ist dichterisdr die Wohnstatt den Men-
schen erijffnet (vgl. Iy,277 f.). Und weii die Dichter die Strti-
me sind, bleibt das Wohnen auf das Wasser bezogen (IV, 224):
Will einerwohnenSo sei es an TrepPen,Und wo ein Hiiuslein hinabhiing
Am \{asser halte dich auf.
Das diihtende Stiften baut die Treppen fiir das Herunterkom-
men der Himrnlischen. Und deshalb miissen auch die Didrter
selbst sein wie das LJntere, die Erde, auf der die Treppen zu
bauen sind.. . . Undwie Hertha grtin
Sind sie die Kinder des Himrnels.
>Hertha<< ist der germanisdre Name fi.ir die >>Mutter Erde<<,
die Terra mater Nerthus, von der Tacitus in seiner Germania,
Kap.40, berichtet:
Nec quicquam notabile in singulis, nisi quod in commune Nerthum,id est Terram matrem, colunt eamque intervenire rebus hominum,
invehi populis arbitrantur. Est in insula Oceani castum nemus, dica-
196 DasWesen des Dichters als Halbgott
tumque ln eo vehiculum, veste contectum; attingere uni sacerdoti
concessum. Is adesse penetrali deam intellegit vectamque bubus femi-
nis multa cum veneratione prosequitur. Laeti tunc dies, festa loca,
quaecumque adventu hospitioque dignatur. Non bella ineunt, non
anna sumunt; clausum omne ferrum; pax et quies tunc tantum nota,
tunc tantum amata, donec idem sacerdos satiatam conYersatione mor-
talium deam templo reddat. Mox vehiculum et vestis et, si credere
velis, numen ipsum secreto lacu abluitur. Servi ministrant' quos
statim idem lacus haurit, Arcanus hinc terror sanctaque ignorantia,
quid sit illud, quod tantum perituri vident.
>Sie sei nicht bei allen Germanen verehrt, sondern nur bei einem
Bund swebischer Stdmme, die glauben, daB sie um die Dinge der
Menschen sich sorge und zu den Volkschaften gefahren komme' Auf
einer Insel des Oceanus ist ein heiliger Hain und als Weihegesdrenk
in ihm aufgestellt ein Wagen, mit einem Tudr iiberde&t. Ihn anzu-
riihren ist einzig dem Priester verstattet. Er erkennt die Anwesung
der Gijttin im Heiligtum und die Kiihe einspannend geleitet er die
Giittin rnit hoher Ehrfurcht. Froh sind dann die Tage und festlich die
Orte, die iiberall die Gijttin durch ihr l(ommen und Zugastsein wiir-
digt. Kriege werden dann nidrt gefiihrt. Waffen niclt ergriffen. Weg-
gesdalossen ist zugleich Eisen; Friede und Ruhe sind ietzt allein im
Sinn, finden jetzt allein die Liebe - bis derselbe Priester die Giittin,
der das Zusammensein mit den Sterblichen genug ist, ihrem Heilig-
tum zuriickgibt. Alsbald werden der Wagen und die Tiidrer r:nd,
wenn man es glauben will, die Anwesung der Gtjttin selbst in einem
verborgenen See gewaschen. Sklaven tun den Dienst, die sogleich
derselbe See versdrlingt. Von da stammt der geheime S*rre&en und
das heilige Ni&twissen, weldren \Mesens dasjenige sei, was nur Tod-
geweihte zu Gesidrt bekommen...
Von Hiilderlins Dichtung der >Mutter Erde< sagt uns vor al-
lem die SchluBstrophe der Hymne >Germanienu (IV, 184f.);
dann aber auch die Hymne >Der Mutter Erde<. (IV, 154ff.)'
insgleic-hen das Bruchstiick 4 (IV, 2851.; vgl. ebenda 525) >Wie
Hertha griin( - das Griin ist die Bestimmung der Gtittin Erde,
ist daher selbst aus dem Heiligen bestimmt und >heiliges
Griin<:
Das Dichten als Herunterkommen des Himmlischen
Und das heilige Griin, der Zeuge des seeligen, tiefenLebens der Welt. . . .
(>DerWanderer<<, IV, 105, V.,$1 f.)
a) >Die Kinder des Hi',''mels.<
Die Schwierigkeit fiir das Verstehen der Verse der Isterhymneliegt aber zund.chst in der Bestirnmung dessen, was hier mit>sie die Kinder des Himmels<< gemeint ist. Wir versuchen zweiMtiglichkeiten der Deutung einfadr hinzustellen. In den vor-aufgehenden Versen wird ein Doppeltes in der Mehrzahl ge-nannt: die Himmlis&en und die Strtime. Bedeutet: >die Kin-der des Hirnp1"1t,, soviel wie >die Himmlischen<<. als die Kinderdes Hiichsten, d. h. des >>Vaters Aether<<, dann sagten die Verse:die Hirnrnlischen sind >gleichwie< (Entwurf IV,567) die Mut-ter Erde >>griin<<. Weil der Hiichste des Hirnmels mit denKindern, den Hirnrnlischen, herunterkommen kann durch dieVermittiung der mit-teilenden Zeidren, deshalb sind dieHimm-lischen so nahe wie das Aufgehen und das Wachstum der grii-nenden Erde, die ja selbst Giittin ist. Das >>IJnd<< in Vers 58bedeutete dann: >Und deshalb<<, weil sie herunterkornmenki innen.. .
Oder bedeutet >die Kinder des Himmels<< soviel wie dieStriime? In der Tat heiBt es in der Hymne >Die Wanderung<<V. 94: >>von ihren Siihnen einer, der Bhein<< - von ihren, ndrn-iich der Mutter Erde. Hiernach sind die Strtime doch Siihneder Erde, >Erdensijhns.<, und das meint in Hiilderlins Spradeestets die Menschen. Nach dem Wort der Isterhymne sind dieStrijme aber >Kinder<< des Hi'nmels, also Gtittersiihne. Dochwir wissen schon, die Striime sind Halbgiitter; sie sind Siihneder Erde und Kinder des Hi'n'.'els zugleich. Dionysos - der>Gott<< derDichter - ist der Sohn des Zeus und der Semele. Aberwie sind die Strijme >Kinder des Himmels<? Die Antwort gibtder Beginn der Hymne >Die Wanderung<< (vgl. IV, 167):
797
198 Das Wesen des Dichters als Halbgott
Gliikseeiig Suevien, meine Mutter,
denn nah dem Heerde des Hausses
Wohnst du, und htirst, wie drinnen
Aus silbernen Opf ersihaalen
Der Quell raus&t, ausgesdriittet
Von reinen Hdnden, wenn beriihrt
Von warmen Stralen
Krystallenes Eis und umgestiirzt
Vom leichtanregenden Li&te
Der schneeige Gipfel iibergiesst die Erde
Mit reinestem Wasser.
Deuten wir die >Kinder flss Flirnrnsls<< als fie vom Himmel
ko'r,'r'enden Wasser, und d. h. als die den Wasserquellen der
Erde entspringenden Striime, dann besagt das >>und< in V. 58:
Weil d.ie Striime das Zeichen sind, das $enne und Mond im
Gemiit, d. h. im Mut von Erdensijhnen tragt' sind sie, obzwar
die Kinder des Himmels, doeh zugleich wie die Mutter Erde
und sind so zugleich deren Kinder.l
t In der 1799 entstandenen Di&tung >Emilie vor ihrem Brauttag< (III,
21 ff.) ist au& die Mutter Erde mit dem Namen Hertha genannt (ebenda
S. 28j. In der Gegend tles Varusthals wird der Helden geda&t:
'Hier urten in dem Thale schlafen sieZusammen,, spra& mein Vater, >lange s&on,Die Riimer mit den Deutscben, und es habenDie Freigebonren sidr, die stolzen, stillen,Im Tode mit den WelteroberernVers6hnt. und Grosses ist und GrdsseresZusammen in der Erde Sc.hoos gefallen'Wo seid ihr, mehe Todten all? Es lebtDer Mens&engenius, der Sprache Gott,Der alte Braga noih, und Hertha griintNo& i--er ihren Kindern, und WalhallaBlaut iiber r::rs, der heimatli&e Hi--el;Doc,h euch, ihr Helilenbililer' {ind'i& nicht..
Hier wird Hertha, die Griiaende, -it
ihren Kindern genannt; genannt
Das Didtten ak Herunterkommen des Himmlisdten 199
Nach alldem miissen wir wohl die Verse der Isterhymne sodeuten, daB mit den >Kjndern des Himrnsl5,, die Striime ge-meint sind und die Striime als die Halbgiitter und diese Ge-nien der Sprache als die Diihter. Genannt sind die Strtimezundchst in ihrem gemeinsamen Wesen, das Zeichen zu sein,das zeigend zwischen den Giittem und den Menschen steht.
b) Der Ister und der Rhein
Nach &eser allgemeinen Ne'''nung des Wesens der Strijme wer-den >die<< beiden Strtime eigens genannt und in ihrem Eigen-wesen unterschieden, damit aus der Verschiedenheit erst dierdtselhafte Fiille des >Reinentsprungenen(< sichtbar werde.Deshalb sagt Hiilderlin noch in demselben Vers ankni.ipfend:
Aber allzugedultigScheint der rnir, nichtFreier, und fast zu spotten.
>Der<<, das ist der Ister, von dem scihon im Beginn der drittenStrophe mit denselben Worten des ahnend-fichtenden Wis-sens gesprochen wird:
Der scheiuet aber fastRiikwiirts zu gehen...
So jetzt: >Aber allzugedultig / S&eint der lorrir<<.IJnd >>der<<,der Ister, ist entgegengestellt >dem Andern<< durch das Wort>nicht freier<<. Der Ister entbehrt jenes Freieren, das dem Ur-sprung und Quell des Rheins gesihenkt ist. So fragt die schonerwdhnte vierte Strophe der Rheinhymne, V. 54 ff.:
Wo aber ist einer,Um frei zu bleiben
sind die Erdensiihne (vgl. III, 8 ff. >Der Mensda<<), aber zuglei& und zuvorist gennnnt >der alte Braga<, der Menschengenius, der Gott der Spra&e.(Vgl. Jakob Grimm, >Deuts&e Mythologie< Ir, S, 19.1 f.: auf Bragi wird dieGabe der Dichtkunst und der BeredsanLeit bezogen.)
200 Das Wesen des Didtters ak Halbgott
Sein Leben lang, und des Herzens Wunsch
Aliein zu erfiilIen, so
Aus giinstigen Hiihn, wie der Rhein?
Und so aus heiligem Schoose
Glnklich geboren, wie jener?
Der trster dagegen ist nicht so frei und so hoch geboren, daB
er aus giinstiger Hdhe entspringen, und d. h. herabstiirzen
und aus der Wucht des Stiirzens sogleich fort etlen kann wie
der Rhein. Gem?iB diesem hohen Ursprung trieb diesen seine
ktinigliche Seele >ungedultig< (5. Strophe) nade dem Osten.
Der Ister dagegen: >>der scheint allzugedultig<. Und er
>siheint<< riickwirts zu gehen. Ist gar beides, was da so
>sc-heint<<, dasselbe? Das >allzugedultige< Strijmen ist ein zij-
gerndes, verweilendes, fast stehendes, ja sogar fast riickwdrts
gehendes FlieBen, das von der Queile nidrt forteilt, von ihr
nicht weg wiII, bei ihr geduldig verweilt' Er >>gerad< hdngt an
den Bergen, und zwar >gedultig<<, ja >allzugedultig<<, weil esja doch sonst die Art der entspringenden Strijme ist, daB sie
>>springen<< und >eilen<< und jaudrzen und toben. Dieser da-
gegen >>sdreint< >allzugedultig<, und dergestalt scheint er fast
dem Wesen eines entspringenden Stromes entgegenzuhandeln
und er scheint so )>zu spotten<<.
NernlichwennAngehen soll derTagIn der Jugend, wo er zu wa&sen
Anftingt, es treibet ein anderer da
Hoch schon die Pracht. . .
Da, wo es gilt, jung zu sein und zu entspringen und zu wa&-
sen, da ist der andere, der Rhein, ganz anderen Wesens, das
in der Rheinhymne gedichtet ist und die nicht das Wort scheut
vom >Rasen des Halbgotts< (V. 51). Wahrend der Rhein so
>>aus giinstigen Hiihn< kommt, so daB >ein Jauchzen sein
Wort ist<<,
Das Dichten als llerunterhonrrLen des Himmlischen 201
Ist der betriibt;
Die Trauer durchstimmt den Ister, den eigentlich heimatlichenStrom des Dichters - d. h. fiesen selbst in seinem dichterischenWesen. Doch diese Betriibnis ist die >heilige Trauer<< und alsdiese das urspriingliche Wissen von der dichterischen Bestim-
mung dieses Dichtersl Wissen von der Notwendigkeit des ge-
duldigen Verweilens >>nahe dem Ursprung<. Denn ohne diesesdichtende Verweilen in der einzigen Notwendigkeit des Sa-gens dessen, was alles Heimischsein und Wesen begrii:rdet,wiirde das Land nie >>urbar<< durch den Strom und nie zurOrtschaft des Wohnens des Mensclen, das ein dichterisches ist.
Es brauchet aber Stiche der Fels
Und Furchen die Erd',Unwirthbar wd.r es, ohne Weile;Was aber jener thuet der Strom,Weisniemand.
Was dem Ister bestimmt ist und was er als ein Sohn der Mut-ter tut, weiS er wohl, denn ohne sein geheimnisvolles Verwei-len und Wohnen nahe dem lJrsprung, ohne dieses Wohnen,bei dem der Fremde vom hei8en Isthmos her zu Gast geladenist, >>ohne diese Weile<, kiinnte kiinftig fiir die Deutschen keinDichterisches sein und ohne &eses nie ein geschichtliches Woh-nen in ihrem Eigensten, >>nahe dem Heerde des Hausses<<. Wasdagegen jener Strom >thuet<<, der Rhein, weiB niemand. DasTun des Rheins ist ganz verborgen, weil er n?imlich >seitwdrts
hinweggegangen<< (V. 47 ff.), da er doch urspriingliih, nachOsten getrieben, dann fie Alpen verlassend, unmittelbar derheimatlichen Mutter ans Herz stiirzen wollte (>Die Wande-rurg<<, V. 94 ff.).
Von ihren Sijhnen einer, der Rhein,Mit Gewalt rvollt er ans Herz ihr stiirzen und schwandDer Zurtckgestossene, niemand weiss, wohin in die Ferne.
202 DasWesen des Dichters ak Halbgott
Anders jedoch der Ister:
Der s&.einet aber fastRiikwdrts zu gehen undI&. mein, er miisse kottt*enVon Osten.
Der Ister verweilt an der Quelle und verldBt schwer den Ort,weil er nahe dem Ursprung wohnt. Und er wohnet nahe demUrsprung, weil er in die Ortschaft heimgekehrt ist aus derWanderscbaft in die Fremde. Der Ister geniigt dem Gesetz desHeimischwerdens als dem Gesetz des Unleimischseins. Sogriindet er das dichterische Wohnen des Menschen und ist des-halb in seinem eigenen Wesen, das das Wesen des Dichters ist,der den Dichter diihten mu8.
Die verborgene di&teris&e Wahrheit der Rheinhymnekommt erst jetzt zum Scheinen, .wenn diese Dichtung als dienotwendig gegenwendige Dichtung des Stromwesens begrif-fen, und d. h. aus dem Bezug zur Isterhyr'.e gedacht ist. DieHymnen dieser Striime jedoch stehen in einem urspriinglicheinigen Bezug zur Hy'nns >>Germanien<. Nicht, als ob sie si&darin zusamm.enfassen lieBen. Denn die Beziige der einzelnenHymnen unter sich folgen einem uns noch verborgenen Gesetz.Erst wenn wir dieses ahnen, verm<igen die Deutsdren zu wis-sen, welches Gesetz ihrer Geschichte ihnen gedichtet und wieihr Wohnen schon dichterisch gegriindet ist. Die Isterhymnegibt uns, in den rechten Gesichtskreis gehalten, wesentlicheWinke. Aber gerade diese Hymne ist in manchem ein Entwurfund bricht ab - gleich als miiBte bis ins Au8erste das Wesenfieser Dichtung bezeugt werden, deren Dichter ein Zeichenist. Das Zeiehen zeigt - indem es zeigt, macht es offenbar, aberso, daB es zugleich verbirgt. So geheimnisvoll sagt Hiilderlinin der Isterhymne, daB er >der< Dichter ist und das Sdricklicheseiner Dichtung weiB, indem er >>betriibt<< nur s&.wer fie fastverlorene Spraihe findet, um, das Wort sagend, das Zeichenzu sein (>Mnemosyne<, V. 1 ff.).
Das Didtten ab Herunterhommen des Himmlisch,en 203
Ein Zeichen sind wir, deutungslos$ehrnsrzles sind wir und haben fastDie Sprache in der Fremde verioren.
SchluBbemerkung - rGiebt es auf Erden ein Maas? o
Diese >Anmerkungen<< zur Isterhy-'re sollten auf den Ge-sichtskreis aufmerksatn machen, aus dem das Wesen der Strii-me gedichtet wird. Dieses Dichten der Strtjme ist in sich zu-gleide das Dichten des Wesens der Dichtung. Und deshalbwalten hier verborgene Beziige. Woliten wir, was zundchst sehrnahe liegt, das Dichten der Dichtung dahin umdeuten, da8dieser Di&ter, wenn er das Wesen der Dichtung dichte, sichganz und nur in seinem eigenen >Geschdft< verstriike, dannwdre mit dieser Meinung alles verloren. Dieses Dichten diesesDi&ters dreht si& nicht um das eigene Ich des Diihters. Keindeutsdrer Diihter hat je diese Ferre zum eigenen Ich erlangt,die Hiilderlins Hyr"''sndiihtung bestimmt. Das ist der eigent-liihe Grund, weshalb wir Heutigen, die trotz aller >>Gemein-
schaft<< metaphysisch, und d. h. geschichtlich in fie Subjekti-vitdt verstrickt bleiben, dem Wort dieser Dichtung so s&werdas rechte Hiiren entgegenbringen ktinnen. Was dem heutigen,neuzeitlichen, aus dem Selbstbewu8tsein und der Subjektivi-tdt denkenden Menschen das Hiiren dieser Dichtung lange Zeitversagt, ist nur dieses, daB Hiilderlin rein aus dem dichtet, wasin sich als das Zu-Dichtende west. Wenn Hiilderlin das Wesendes Dichters dichtet, dann dichtet er Beztige, die nicht in der>Subjektivitdt<< des Menschen ihren Grund haben. Diese Be-ziige haben ihr eigenes Walten und Wesen und Strijmen. DerDichter ist der Strom. Und der Strom ist der Dichter. Beidesind dasselbe auf dem Grunde ihres einzigen \{esens, Halb-giitter zu sein, im Zwischen zwischen den Gijttern und denMenschen zu sein. Das Offene dieses Zwis&en ist offen in dasHeilige, das iiber den Giittern und Mensihen west. Die Einheitvon Ortschaft und Wanders&aft kann nicht aus >Raum< und
204 Das Wesen des Dichters als Halbgott
>>Zeit<< begriffen werden, denn der uns geliiufige Raum unddie uns gewob:ete Zeit sind selbst Abkiimmlinge eines Berei-ches, der aus sich erst alle Offenheit entspringen ld.Bt, r,veil erdas Lichtende und fli&tend-Er-eignende]1 ist.
Am Beginn dieser >>Anmerkungen<< wurde die naheliegendeMeinung zuriickgewiesen, die Strijme seien >>poetisehe<< >>Sym-bole<, und >Bilder<< und >>Zeichen<< zur Versinnbildlichungvon etwas anderem. Jetzt erkennen wir den Grund fiir dieseZuriickweisung. Die Strtime kijnnen deshalb nicht >poetis&eBilder< und >Zeichen fiir<< etwas sein. weil sie in sich selbst>die Zeichen<< sind, welche >>Zeichen<< nicht mehr >>Zeichen<fiir anderes sind, ni&t Symbole fiir anderes, sondem diesesvermeintliche Andere seibst. Die Dichter sind als Dichter dieseStriime und diese Strijme sind die Dichter. >Dichterisch<< griin-den sie das Wohnen der Menschen auf dieser Erde. Die Striime,d. h. der Rhein und der Ister, sind nicht Sinnbilder. Das Strom-wesen bildet nicht den >>Sinn<< des Wesens des Dichters ab unddar. Die Strtime sind in ihrem Wesen die Zeichen als die ur-barmachenden Zeigenden. Diese Zeigenden sind die Dichter.Die Dichter sind diese Strtime. Das Dichtersein west aus demStromwesen. Das Stromwesen kann iiberhaupt nicht geogra-phisch getroffen und angeschaut werden, um nachher erst in diesinnbildliche Funktion iiberzugehen. Das Stromwesen ldBt sichim voraus nur vom menschlichen dichteris&en Wohnen hererfahren; das >Bild< des Stromes, das verrrreintlich erst >>Sinn-bild< werden sollte, zeigt sich erst und nur im Lichte des Wesensder Dichtung. (Schon vor der Zeit der Stromdichtung erkenntHijlderlin den Strom als >>den Bruder des Himmels<. Vgl. AnDiotima >Komm und siehe die Freude um uns . . .,, (II, 59).) Ge-radehin auf den giingigen Wegen des Vorstellens ist das nicht zuverstehen. Auch soll nicht die Meinung aufkomrnen, diese An-merkungen reichten schon aus, um die Wahrheit dieser Di&-tung zu denken oder auch nur dafiir, das di&terische Wort
I Die e&ieen Klammern stehen in der Handschrift.
Das Dicltten als Herunterhommen des Himmlischen 205
und das Wort selbst in seinem eigenen Wesensraum zu erfah-
ren. Diese Dichtung fordert von uns eine lJmwandlung der
Denkungsart und des Erfahrens, die das Ganze des Seins an-
geht. Erst miissen wir die angeblidr natiirlichen >>Vorstellun-
gen<( von den angeblich geographisCh >wirklichen<< Strij-
men und den angeblich historisdn wirkli&en Di&tern und
Menschen verabsdrieden, erst milssen wir iiberhaupt die Wirk-
lichkeit dieses Wirkliihen als die vermeintlidr maBgebende
Wahrheit fahren lassen, um in das Freie zu kommen, in dessen
Bereich das Dichterisdre ist.
Freilich, dieser Verzicht auf die geographischen MaBe ist
leichter gefordert als befolgt. Denn woher sollen wir, wenn die-
ses MaB fiir das Wirkliihe und das Seiende nicht gilt, das MaB
nehmen? Htjlderlin selbst fragt in seinem spdtesten und ge-
waltigsten Gedicht, das ein uahrhaftes 6erv6tatov ist (>In lieb-
licher Bldue bliihet . . .<, VI, 25):
Giebt es auf Erden ein Maas?
Und er antwortet unmittelbar und entschieden:
Es giebt keines -
Das klingt wie der Bescheid auf das Aussichtslose und die Ver-
zweiflung. Und dodr nennt es ein Anderes und zeigt in ein
Anderes, gesetzt, daB wir dichterisch auf dieser Erde wohnen
und das Gedichtete in seinem Erscheinen und in seiner Her-
kunft erfahren, und das heiBt ertragen und erleiden, statt es
zu erzwingen und zu belauern. Versuchen wir das nur eigen-
miichtige Setzen und Erraffen des Ma8es, dann wird es maB-
Ios und zerfiillt in das Nichtige. Bleiben wir nur gedankenlos
und ohne die Wachheit des priifenden Ahnens, dann zeigt
sich wiederum kein MaB. Sind wir aber stark genug zum Den-
ken, dann kann es geniigen, daB wir die Wahrheit der Dich-
tung und ihr Gedi&tetes nur aus der Ferne, und d' h. kaum,
bedenken, um von ihr pliitzlich betroffen zu sein. Selbst der
Dichter folgt diesem Gesetz. Seine Hymne >Die \Nanderungo,
206 Das Wesen des Dichters als Halbgott
die alles in siih birgt, was hier stiickweise vermerktschlieBt mit der Weisung:
Zum Traume wirds ihm, will es EinerBesclleichen und straft den, derIhm glei&en will mit Gewalt.Oft iiberrascht es den,Der eben kaum es geda&t hat.
NACHWORT
Heidegger hat drei Vorlesungen Hiilderlin gewidmet, im
W.S. 1954/55 >Germanien<< und >>Der Rheinu (GA Bd. 59), im
W.S. 194,1/42 >Andenken< (GA Bd. 52) und im S.S. 1942 >Der
Ister<<. Angekiindigt war diese Vorlesung unter dem Titel >HtiI-
derlins Hymnen<<. Es war eine einstiindige Vorlesung, die erste,die der Herausgeber bei Heidegger htiren konnte. (Sie begannam2I. April 42 und wurde am 14. Juli beendet.)
Das Ms. umfaBt 62 Folio-Bldtter, die Wiederholungen 22Bliitter. Dem Herausgeber lag eine Abschrift von Frau Viettavor, die mit demOriginal kollationiefi wurde. Zusiitzlictr konntedie eigene Nachsihrift des Herausgebers herangezogen werden.
Die Gliederung der Vorlesung und fie Titel der Kapitel
stammen vom Herausgeber. Es war Heideggers ausdriicklicherWunsdr, wenn keine Gliederung von ihrn selbst vorliege, solleeine solche vom Herausgeber gemacht werden. Bei den groBen(vierstiindigen) Vorlesungen hat Heidegger gewiihnlich selbstzu Beginn den Plan einer Gliederung vorgetragen, der aller-dings nicht irnrner bis zum SchluB ausgefiiLhrt werden konnte.IJei den einstiindigen Vorlesungen pflegt so eine Gliederung zufehlen.
Wer &e Wirkung jeder Vorlesungsstunde unmittelbar er-fahren durfte, ihre Gesihlossenheit, die Verflechtung der Ge-dankenfi.ihrung, die innere Bewegung des Gedankenganges,wird sich bewuBt, wie schwer eine entsprechende Titelgebungdurchzufiihren ist. Es ist deswegen keineswegs falsche Besihei-denheit, wenn im vorliegenden Band bei der Titelgebung be-sonders sparsam verfahren wurde. Verweise auf andere Vor-Iesungen stammen von Heidegger selbst.
Die Vorlesung ist vom Herausgeber in drei Teile gegliedert.Im ersten wird das Wesen der Strtime erdrtert, die nidrt sinn-bildlicl metaphysisch verstanden werden sollen. Ortschaft und
wurde,
208
wanderschaft Nachwort
ru; n mfjffi "rT.lj: u:", L".J* l,:n en B es ti:rr _
*"d;;";;:;;: "",**1*"fi:"i:fi,j,1XH"*;*X"{,:,j:{ii'#'Jfi #;::-":y-a,sZwiesprachezwi-
BT:dl: E tT;n:: ffiffi "::Tft ri ;lffi ::ffi'J:-"",T, ff***h;k t $::t" **#*
i+,p*fi}frfitffi:'*ffi;ffdas lVesen der Hda". ai"rrr""i"irJ;HffJ:"" sedichtet hat uno wie der Stromgeist
::Ji',"rt*n',f;#*:Tti,*:til{:**:lfi, *, f,il- ;*:;::.::', "**" "
"l"i# il,.":rr": !*,.0 " " * I"""' ru;;,;;:*f$:.
u u'o* chrich ars
"x Hli:l ET:l.:;it ti ;i1,1,"*[ J;: #;','"tt:i:$;e--r ;:n*1ru;lm::fr J""#",.H"r":,,?fmit sophokr;;;;;ffT:il:il:iT,f er Auseinanderserzung
NacJzwort
5:"x']:,"t":"n der Abschrift 209
3.,i"",:": J: ig"l' 3i"',ff :::*nL o#,^oj, " : ̂ , 0"., u " lJ,
mcichte i"h b"roo J"i ;;l;i:3,.firu i*i::: :r#:i: Hft "T,ilt ii=."_:' J"t
- fiir diese HilfeDeY,i, den 1. Oktober 19g5
Walter Biemel
i;',"ffik*i**-ffi+**#tr